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Der Siegeszug des mechanistischen Menschen Vom (un)aufhaltsamen Aufstieg der instrumenteilen Vernunft: Alle Realität wird eindimensional, quantifiziert und in Mechanismen gepreßt / Mit der Universal- maschine Computer kann sich das Lineare und Standardisierte unbegrenzt ausdehnen / Sinnlichkeit, Einfühlung, Chaos und Autonomie werden eliminiert / Frauen können als Grenzgängerinnen Unruhe entfachen in den heiligen Hallen des Zweckrationalen - von Christel Schachtner / taz 29.8.87 Es ist eine Art von Vernunft in dieser Welt, deren Macht wächst und wächst. Neu ist nicht die Existenz dieser Vernunft, nicht ihr Machtstreben, neu ist, daß der Charakter ihrer Macht totalitär zu werden beginnt, und das bedeutet eine verschärfte Gefährdung, Diskriminierung und Ausgrenzung all dessen, was sich ihr entzieht. Die Vernunft, von der ich rede, hat der Frankfurter Soziologe Max Horkheimer in den vierziger Jahren die instrumentelle genannt. Unter dem Diktat der instrumentellen Vernunft wird alle Wirk- lichkeit, zum Mittel, zum Ding, zur Apparatur — auch der Mensch, sein Denken, seine Emotionalität, seine Sprache, seine Sinnlichkeit, sein Körper. Wir Frauen sind von den Ansprüchen instrumenteller Vernunft nicht ausgenommen, doch haben wir es als gesell- schaftliche und biologische Wesen immer auch mit dem Nicht-Instrumentalisierbaren zu tun, wir gelten selbst als dessen Trägerinnen. So sind wir stets verdächtig, wenn nicht unheimlich, gerade deshalb aber in besonderer Weise herausgefordert und vielleicht befähigt, die der instrumentellen Vernunft eigene Normalität zu durchschauen, ihre Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, nicht zuletzt bei uns selbst. Daß sich die instrumentelle Vernunft — obschon hervorgebracht und entfaltet in einer patriarcha- lischen Kultur— auch in uns eingelagert hat, ist wahrscheinlich. Menschenbilder geformt nach dem Muster instrumenteller Vernunft — wie sehen sie aus? Angefangen sei mit der weiblichen Variante. Sie begegnet uns in Rosemarie Voges Hörspiel „Olympia Männertrost". Olympia Männertrost ist eine von vielen, eine von vielen aus der Serie Romantik. Sie ist schön, makellos schön. Alles stimmt, alles funk- tioniert. Sogar eine Stimme wurde ihr einprogrammiert, denn, so Olympia, „ein Mann will sich ja ein bißchen unterhalten können, mal eine Antwort bekommen oder eine mitfühlende Frage" Im Jahre 1994 war Olympia in Serie gegangen und auf den Markt gekommen, aber herumexperimentiert hat man schon früher. Ich erinnere an die

Der Siegeszug Des Mechanistischen Menschen - 1987

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Vom (un)aufhaltsamen Aufstieg der instrumenteilen Vernunft: Alle Realität wird eindimensional, quantifiziert und in Mechanismen gepreßt / Mit der Universalmaschine Computer kann sich das Lineare und Standardisierte unbegrenzt ausdehnen / Sinnlichkeit, Einfühlung, Chaos und Autonomie werden eliminiert / Frauen können als Grenzgängerinnen Unruhe entfachen in den heiligen Hallen des Zweckrationalen - von Christel Schachtner 1987

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Der Siegeszug des mechanistischen Menschen

Vom (un)aufhaltsamen Aufstieg der instrumenteilen Vernunft: Alle Realität wird

eindimensional, quantifiziert und in Mechanismen gepreßt / Mit der Universal-

maschine Computer kann sich das Lineare und Standardisierte unbegrenzt

ausdehnen / Sinnlichkeit, Einfühlung, Chaos und Autonomie werden eliminiert /

Frauen können als Grenzgängerinnen Unruhe entfachen in den heiligen Hallen

des Zweckrationalen - von Christel Schachtner / taz 29.8.87

Es ist eine Art von Vernunft in dieser Welt, deren Macht wächst und wächst. Neu ist

nicht die Existenz dieser Vernunft, nicht ihr Machtstreben, neu ist, daß der Charakter

ihrer Macht totalitär zu werden beginnt, und das bedeutet eine verschärfte Gefährdung,

Diskriminierung und Ausgrenzung all dessen, was sich ihr entzieht. Die Vernunft, von

der ich rede, hat der Frankfurter Soziologe Max Horkheimer in den vierziger Jahren die

instrumentelle genannt. Unter dem Diktat der instrumentellen Vernunft wird alle Wirk-

lichkeit, zum Mittel, zum Ding, zur Apparatur — auch der Mensch, sein Denken, seine

Emotionalität, seine Sprache, seine Sinnlichkeit, sein Körper. Wir Frauen sind von den Ansprüchen instrumenteller Vernunft nicht ausgenommen, doch haben wir es als gesell-

schaftliche und biologische Wesen immer auch mit dem Nicht-Instrumentalisierbaren zu

tun, wir gelten selbst als dessen Trägerinnen. So sind wir stets verdächtig, wenn nicht

unheimlich, gerade deshalb aber in besonderer Weise herausgefordert und vielleicht

befähigt, die der instrumentellen Vernunft eigene Normalität zu durchschauen, ihre

Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, nicht zuletzt bei uns selbst. Daß sich die

instrumentelle Vernunft — obschon hervorgebracht und entfaltet in einer patriarcha-

lischen Kultur— auch in uns eingelagert hat, ist wahrscheinlich.

Menschenbilder geformt nach dem Muster instrumenteller Vernunft — wie sehen sie

aus? Angefangen sei mit der weiblichen Variante. Sie begegnet uns in Rosemarie Voges

Hörspiel „Olympia Männertrost". Olympia Männertrost ist eine von vielen, eine von

vielen aus der Serie Romantik. Sie ist schön, makellos schön. Alles stimmt, alles funk-

tioniert. Sogar eine Stimme wurde ihr einprogrammiert, denn, so Olympia, „ein Mann

will sich ja ein bißchen unterhalten können, mal eine Antwort bekommen oder eine

mitfühlende Frage" Im Jahre 1994 war Olympia in Serie gegangen und auf den Markt

gekommen, aber herumexperimentiert hat man schon früher. Ich erinnere an die

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Androiden des 18. Jahrhunderts, die künstlichen Menschen, die vorwiegend weibliche

verkörperten. Auch sie waren schön, schön und jung, jedoch „unbelebt und kalt wie

glänzender Marmor" (Christine Woesler de Panafieu). Die imaginierte Weiblichkeit

instrumenteller Prägung ist automatenhaft und auf den Mann hin orientiert. Sie soll dem

Mann schmückendes Ambiente sein, sie soll seine Schaulust anregen und sich ausfüllen

lassen von männlicher Phantasie. So meinte schon Wolfgang Goethe, als er sagte: „Das

Weibliche ist das einzige Gefäß, was uns Jüngeren noch geblieben ist, um unsere Idea-

lität hineinzugießen.” Der idealisierte Frauenkörper ist der seines Inneren entleerte, aus-

tauschbare Körper, reduziert auf eine Hohlform, auf einen schönen Mechanismus. Die

Automatin Olympia wollte mehr sein: Sie griff zu Büchern, studierte Kant, Rousseau und

Fichte, entwickelte Eigenleben. Olympia mußte zurück ins Labor. In den Augen ihrer

Erfinder hatte sie sich als gefährliche Fehlentwicklung entpuppt. Ihr Fehler: zu goßes

Schwergewicht auf der Fähigkeit zur analytischen Operation.

Außen hart und innen hohl

Die Automatenfrau hat ein männliches Gegenstück: die Kampfmaschine Mann. In der

Freikorpsliteratur der zwanziger und dreißiger Jahre tritt uns dieser Entwurf von Mann

entgegen als Stahlnatur, als prächtiges Raubtier voller ungeahnter Energien, als eiserner

Organismus, als hartes gepanzertes Schiff. Eben feiern diese Stahlnaturen ihr Comeback

auf der Kinoleinwand: als Rambo I und II, als Rocky I, II, III, IV. So wie die neuen

Helden von Angelika Wittlich in „Kino, Kino" beschrieben wurden, brauchen sie den

Vergleich mit ihren Vorgängern nicht zu scheuen. „Es regieren Waffen und Fäuste,

Muskeln wölben sich, der stahlharte Blick ist dem zu vernichtenden Gegner ständig auf

der Spur. Seine Statur ist hart erarbeitet, sein Leben zu keusch, sein Kampfeswille zu

ungebrochen. seine Ideale allzu vaterländisch. Vielleicht ist er ja außen hart und innen

hohl. Aus Plastik ? Ohne Leben und Gefühl? Eine gut geölte Maschine? Mehr nicht?"

Die Kampfmaschine Mann und die Automatenfrau haben Gemeinsamkeiten: Beide sind

Objekte vorgegebener Zwecke, beide sollen funktionieren wie eine Maschine — die

Automatin zur Zwecke des Gefallens, des Funkelns und Glänzens, die männliehe Stahl-

natur zum Zwecke des Kampfes und Tötens.

Der Mensch als Maschine - eine Idee, ein Modell, eine Realität. Kurt Eissler hat Anfang

der achtziger Jahre innerhalb der US-Armee zahlreiche Tendenzen beobachtet, die

darauf hinausliefen, die Armeeangehörigen in Automaten zu verwandeln. In der Arbeits-

welt vollzieht sich nach Studien der Arbeitswissenschaftlerin Gertraude Krell nichts

anderes. Der arbeitende Mensch werde auf die Funktionsweise einer Maschine reduziert.

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Ebenso Gestalt angenommen hat die weibliche Automatenschönheit als Miß Europa, als

Fotomodell, als Mannequin. Und ich frage: Wer von uns Frauen bringt es schon fertig,

der verordneten Weibs-Bilder sich gänzlich zu entledigen? Die Maschinisierung der

Menschen ist nicht nur von außen andrängendes Schicksal. Wir tragen das unsrige dazu

bei, dem Modell ähnlich zu werden, Leib und Seele zu formen nach berechenbarem

Muster mit Hilfe von Trainings und Kuren nach Art der Wartung, Reparatur und Instand-

setzung. 1984 ließen sich in den US A 95.000 Frauen ihre Brust vergrößern, 16.200 ihre

Brust und 20.900 ihren Bauch straffen, 43.200 ihr Gesicht liften. Die Schönheitsrepa-

raturen der Frauen steigen von Jahr zu Jahr.

Die Produkte instrumenteller Vernunft mögen äußerlich unterschiedlich sein, eins ist

ihnen gemeinsam: der Verlust am Eigensinn. Instrumentelle Vernunft entwirft und

schafft eine Welt, die sich öffnet für fremde Zwecke, die gesteuert und manipuliert

werden kann, die sich reibungslos einpaßt in Kontroll- und Macht-Interessen. Nicht alles

freilich kann sie in den Griff bekommen. Es bleiben Reste, irritierende Reste. Sie wurden

und werden als Schreckensbilder an die Wand gemalt. Immer wieder waren es im Ver-

lauf abendländischer Zivilisation Frauen, die als Symbolfiguren herhalten mußten. Ihre

Namen: Hexe, Flintenweib, alte Schachtel, Hure, rote Krankenschwester, Emanze. Sie

stehen für eine ungebändigte Sexualität, für ungezügelte Sinnlichkeit und unbeherrsch-

bare Körperlichkeit, für Unverwertbarkeit und Autonomie, für Chaos und Naturnähe.

Weiblichkeit in dieser Form gilt als gefährlich, sie ist verwiesen auf einen Platz außerhalb

der Zivilisation. Instrumentelle Vernunft schließt Frauen ein und schließt sie aus. Sie

macht sie zu Grenzgängerinnen.

Starr, erfolgreich, in Mechanismen gepreßt

Instrumentelle Vernunft modelliert die Welt, sie modelliert aber auch den Bezug zur

Welt, das Wie des Wahrnehmens und Handeln. Zwei Prinzipien scheinen mir für dieses

Wie typisch: das Prinzip der Gerichtetheit und das Prinzip der Getrenntheit bzw. des

Trennens.

Was wäre unter einem gerichteten Weltbezug zu verstehen? Das Gegenteil dazu wäre:

ein spontanes Sich-Öffnen für das, was wir sehen, hören, fühlen, riechen, ein Mitschwin-

gen auf den Wogen sinnlicher Erfahrung, ohne zu fragen warum und wozu, so, wie es

uns Kinder in ihren Spielen vormachen. Zeit wird von ihnen nicht in Rechnung gestellt.

Das Erleben darf Umwege machen, Pausen einlegen, darf Schleifen, Kringel und

Pirouettendrehen wie auf dem Eis. Ein gerichteter Weltbezug dagegen ist absichtsvoll,

zeitökonomisch, zweckbestimmt, strategisch; er dient der Erreichung vorab definierter

Ziele, er will steuern. Der Weg zum Ziel muß geradlinig verlaufen; er wird systema-

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tisiert, quantifiziert, verregelt. So wird er starr, jedoch erfolgreich da, wo Wirklichkeit —

ganz nach dem Geschmack instrumenteller Vernunft — in Mechanismen gepreßt ist, wo

sie nicht mit Überraschungen und Zufällen aufwarten kann. Das Prinzip der Gerichtetheit

durchzieht unseren Alltag wie ein roter Faden; es herrscht in den Apparaten der Büro-

kratie mit ihren formalisierten Arbeitsabläufen, es bestimmt die standardisierten Bewe-

gungsmuster am Fließband, es regiert die verregelten Versuchs-anordnungen einer

experimentierenden Wissenschaft, es nimmt uns in Beschlag auf unseren alltäglichen

Wegen, z.B. wenn wir, eine Rolltreppe hocheilend, alles, was uns blockiert, die alte Frau,

die langsamer geht, das Kind, das die Gehspur verstellt, nur noch als lästigen Störfall

einstufen. Das Prinzip der Gerichtetheit steckt aber nicht nur in den Köpfen der Men-

schen, in ihren Bewegungen und Tätigkeiten; es hat sich mannig-faltig materialisiert: in

einer betonsüchtigen Architektur, in einer Natur und Menschen strangulierenden Ver-

kehrs- und Stadtplanung und — meiner Ansicht nach am vollkommensten — in der

neuen Geistmaschine, im Computer.

Computertechnologie ist Steuerungstechnologie. Sie wurde von Anfang an verwendet

zur Steuerung von Raketen; sie eignet sich genauso zur Steuerung von Heizungen, von

Waschmaschinen, von Industrierobotern, zur Steuerung von Arbeitsprpzes-senem

Verwaltungs- und Dienstleistungsbereich, ja sogar zur Steuerung von therapeutischen

Situationen, wie Joseph Weizenbaum mit seiner ELIZA zeigte. Der amerikanische

Computer-Wissenschaftler entwickelte von 1964 bis 1966 am Massachusetts Institute of

Technology (MIT) ein Computerprogramm, mit dem man Gespräche führen konnte.

ELIZA konnte unter anderem die Gesprächsrolle eines an der nondirektiven Gesprächs-

führung von Rogers orientierten Psychotherapeuten übernehmen. Während Weizenbaum

ELIZA als Parodie auf Rogers Methode auffaßte, entwickelten Personen, die mit ELIZA

„kommunizierten", eine intime emotionale Bindung zu ihr. Psychiater erwogen ihren

Einsatz in Nerven-kliniken. Die Anwendungsmöglichkeiten von Computern sind univer-

sal, und das bedeutet: Mit seiner Unterstützung kann das Prinzip der Gerichtetheit

immer mehr Lebensbereiche und die dazugehörigen Menschen in ihren Bann ziehen.

Ein gerichteter Weltbezug schließt aus. Aber was? Gefühle etwa? Meine These: nicht

unbedingt, denn auch Gefühle lassen sich instrumentalisieren, können von strategi-

schem Nutzen sein beispielsweise als verkaufsfördernde Verkäuferfreundlichkeit. Etwas

anderes ist es mit solchen Gefühlen, die die Menschen auf Abwege führen, mit plötz-

licher Verliebtheil, mit Wutausbrüchen oder mit Verzweiflung. Das Prinzip der Gerichtet-

heit duldet keine Regungen, die sich ihrer Logik verschließen. Unerwünscht sind unvor-

hergesehene und unberechenbare Gefühle, aber auch individuelle Rhythmen wie sie

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Menschen bestimmen in ihrem körperlichen Wohlbefinden, in ihrer Bewegung, in ihrem

Denken, in ihren Stimmungen und in ihrer Leistungsfähigkeit. Die feinen Unterschiede,

die persönlichen Eigenheiten und Vorlieben müssen verschwinden.

Nun zum Prinzip der Getrenntheit bzw. des Trennens. Sein Gegenteil kommt zum

Tragen, wenn wir in ein Musikstück, in einen Film, in den Anblick einer Landschaft

versinken. Versinken bedeutet angerührt sein, sich verlieren, mit seinem Gegenüber

verschmelzen. Das setzt voraus, daß wir dieses nicht als antlitzloses Objekt begreifen,

sondern als ein Jemand mit Innenleben, dem wir uns öffnen mit unseren Gefühlen,

Gedanken und Körpersensibilitäten. Robert Musil hat dieser Annäherung an Wirklichkeit

einen unersetzbaren Erkenntniswert beigemessen, als er schrieb: „Sie wissen, man

begreift überhaupt nichts mit dem Verstand, nicht einmal das Daliegen eines Steines,

sonden alles nur durch Liebe. In einem namenlosen Annäherungszustand und Verwand-

schaftsgrad." Ähnliches sagt Ingeborg Bachmann: „Denn die Tatsachen, die die Welt

ausmachen — sie brauchen das Nichttatsächliche, um von ihm aus erkannt zu werden."

Wo das Prinzip der Getrenntheit regiert, ist solche Annäherung verpönt. Als erkenntnis-

fördernd gilt allein die Distanz. Wir sollen erkennen, indem wir uns distanzieren, indem

wir uns die Außenwelt als ein für uns fremdes Objekt gegenüberstellen und wir uns

selbst als separate Einheit begreifen. Der Mathematiker und Wissenschaftshistoriker

Morris Berman erblickt in der Trennung „die Weltsicht der Moderne: des Technolo-

gischen, des Zweckrationalen, des Logos". Das Prinzip der Getrenntheit steht in engem

Zusammenhang mit dem Prinzip der Gerichtetheit, denn nur aus der Distanz heraus ist

der zweckgerichtete Zugriff denkbar, läßt sich Wirklichkeit in Gebrauch nehmen. Mehr

noch. Die Biologin Sarah Jansen schreibt: „Nur wer sich außerhalb der Natur stellt, kann

sie auch beschädigen, verletzen und vernichten." Im Prinzip der Getrenntheit herrscht

ein Geist, der sich Mitleid, Brüderlichkeit, Arglosigkeit und Verletzbarkeit wegdenkt. Er

umgibt sich mit Instrumenten, die ihm das Du vom Leibe halten. Man denke an das

Arsenal an Meßgeräten und Apparaturen, wie es uns in der Medizin zur Verfügung steht.

Die Schriftstellerin Christa Wolf warf kürzlich in einer Arbeitsgruppe für psychosoma-

tische Medizin die Frage auf, ob dieses Arsenal vielleicht als Ausdruck eines unbewußten

Bedürfnisses des Arztes zu sehen sei, des Bedürfnisses nämlich, vor der haut- und see-

lennahen Begegnung mit dem Patienten, der Patientinzu flüchten in die scheinbar objek-

tiven Aussagen und Leistungen seiner Apparate. Wieder sind es die Maschinen, die auch

diesem Prinzip instrumenteller Vernunft in die Hände arbeiten, und wieder ist es der

Computer, der dies am perfektesten tut. Wir können mit Hilfe eines Computers Lebens-

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welten bearbeiten, wir können sie sogar — wie im Kriegsfall — auslöschen, ohne daß wir

mit den Folgen unseres Tuns in Berührung kämen. Wir können mit seiner Hilfe Kontakte

zu vielen Menschen herstellen, aber wir nehmen sie nicht mehr als Menschen aus Fleisch

und Blut wahr, sondern — so der Arbeitspsychologe Walter Volpert— „als abstrakte

Partner, als Informations-Austauscher".

Neue Geistmaschine Computer

Instrumentelle Vernunft setzt auf die Maschinisierung der Realität. Menschen erhalten in

ihren Modellen maschinenhafte Züge und werden dem Modell gleich, wenn sie sich von

ihren Prinzipien leiten lassen. Der Aufstieg der instrumenteilen Vernunft knüpft sich an

die ihr eigene Perspektive des Verfügen-Wollens, mit der sie mächtigen Interessen aus

der Sphäre der Politik, der Ökono-mie, der Wissenschaft, des Militärs entgegenkommt,

mit der sie aber auch einzelnen Individuen dient, ihrem Bestreben zu verfügen: über

sich selbst und andere. Instrumentelle Vernunft ist eine Art, die Welt zu sehen und mit

ihr umzugehen. Mit der neuen Geistmaschine, dem Computer, hat diese eine Art

Chancen, sich flächendeckend auszudehnen. Wie die Fangarme eines Kraken greift die

Universalmaschine Computer nach immer mehr Lebensfeldern und zwingt sie unter ihre

Logik. Wir stoßen auf sie am Arbeitsplatz, am Bankschalter, in der Bibliothek, im Super-

markt, in der Aufnahmestation eines Krankenhauses. Die instrumentelle Vernunft hat in

der Computertechnologie ein Medium gefunden, das den gesamten Alltag zu koloni-

sieren beginnt. Verbunden mit dieser Kolonisierung ist der Triumph des Eindeutigen, des

Linearen, des Formalen und Stan-dardisierten, ist der „Verzicht auf Subjektivität zu-

gunsten gesicherter Objektivität" (Christa Wolf). Abgedrängt wird - da nur noch als

Störfall interpretierbar - das Ungebändigte, Unberechenbare, Uneindeutige, Bewegliche,

Überraschende, Zufällige, das Vielfältige und Nicht-Planbare. Das alles aber gehört zum

Leben, ist Kennzeichen lebendiger Prozesse. Wer sich ihm zu entziehen versucht, ent-

zieht sich dem Leben, und das in einer Zeit, in der es mehr denn je lebensnotwendig ist,

dem Leben verbunden zu bleiben, seine Zusammenhänge und Kreisläufe zu verstehen

und sich selbst als Teil davon, soll sich ein Weg auftun für eine andere, nicht-tötende

Art, in der Welt zu sein.

Mit der Widerständigkeit vagabundieren

Was also tun? Ein Entweder-Oder anzupeilen, erschiene mir fragwürdig, bliebe man doch

damit der imperialistischen Logik instrumenteller Vernunft verhaftet, die ihrerseits nur

richtig oder falsch, ja oder nein kennt, und außerdem: Einzelne Aspekte instrumenteller

Vernunft können auch hilfreich sein, z.B. das Abstandnehmen, wenn eigenes Wollen aus

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gesellschaftlichen Zwängen herausgelöst und gegen sie behauptet werden soll. Was mir

als Ziel im Sinn ist, ist ein wechselseitiges Sich-Beeinflussen unterschiedlicher Weisen,

die Welt zu sehen und sie zu gestalten. Damit rede ich gegen ein Entweder-Oder, auch

gegen ein bloßes Nebeneinander, wofür ich spreche ist ein Drittes: ein Aneinander-

wachsen, damit sich daraus ungeahnt Neues entwickle. Voraussetzung hierfür ist, daß

den Störfällen zu ihrem Recht verholfen wird. Instrumentelle Vernunft muß sich von

ihnen in Fragestellen lassen. Wer, wenn nicht wir Frauen, wäre dazu geeignet, Sand ins

Getriebe instrumenteller Ordnung zu streuen? Als Grenzgängerinnen sind wir es gleich

zweifach: einmal, weil wir in den Kathedralen instrumenteller Vernunft ohnehin keine

gesicherten Plätze haben, die uns Untertanengeist nahelegten, und zum anderen, weil

aus unserem Lebenszusammenhang kaum wegzudenken ist, was diese Kathedralen

erschüttern könnte. Wir begegnen ihm als diejenigen, die Lebentragenund weitergeben

sowie als diejenigen, die in einer Gesellschaft mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung

dafür vorgesehen sind zu bearbeiten und zu umsorgen, was sich nicht kreuztabellieren

oder in Fakten zerlegen läßt: die psychische und physische Bedürftigkeit von Kindern,

Kranken und Alten, von gestreßten Chefs und ausgepowerten Lebensgefährten. So ver-

strickt in die Rhythmen und Wechselfälle menschlichen Lebens werden uns Fähigkeiten

abverlangt wie das Eingehen-Können auf Unbezähmbares, Sensibilität für Unvorherge-

sehenes, Sich-Öffnen für das Auf und Ab von Stimmungen, Geduld, Empfindungsbereit-

schaft für das Nicht-Sagbare, kurz: Nähe zum Nicht-Instrumentalisierbaren. Ich möchte

damit nicht einstimmen in den Ruf 'motherhood is beautiful', wie er aus dem Mütter-

manifest ertönt, weil ich auch die einengenden Aspekte dieser Nähe sehe und weil ich

fürchte, daß uns das genannte Motto zu sehr an den einen Ort Familie bindet. In einer

von instrumenteller Vernunft durchherrschten Welt gibt es für uns keinen Ort, nirgends.

Der Nachteil, eine Frau zu sein, ließe sich in einen Vorteil verkehren, wenn wir anfingen,

mit unserer Widerständigkeit herumzuvagabundieren, wenn wir in den Kathedralen

instrumenteller Vernunft, im Berufsleben, in der Welt der Politik, der Wissenschaft und

Wirtschaft überraschend und offensiv für eine Vernünftigkeit einstehen, die dort so

schnell als unsachlich, emotional, irrational abgetan wird. Das hieße, über die Forderung

nach Gleichberechtigung hinausgehen, das hieße, der alten eingeschränkten, lebensver-

neinenden Rationalität eine andere Art Denken und Sehen, eine andere Art Handeln,

eine andere Art Verantwortung entgegensetzen. Ich will konkreter werden — will bei-

spielhaft einige Möglichkeiten benennen, wie für die Anwesenheit des Nicht-Instrumen-

talisierbaren Sorge getragen werden kann.

Ein denkbarer Ansatzpunkt: die Berufswelt. Was mir als Paradebeispiel instrumenteller

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Vernunft als erstes ins Auge sticht, sind die beruflichen Senkrechtstarter, meist männ-

lichen Geschlechts. Sie stehen hoch im Kurs, aber sie zahlen das für einen Preis, den die

Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim beschreibt als „Einpassung in ein Leben, das in

vielerlei Hinsicht einseitig und bedürfnisfern ist, gezähmt und diszipliniert, kurz: strom-

linienförmig durchorganisiert auf das Ziel 'Leistung'!" Das ist ein Preis, der den Verzicht

auf viele Hoffnungen und Sehnsüchte, auf zwischenmenschliche Bindungen, auf Irrita-

tionen und Schmerz beinhaltet, der Abkoppelung von der Fülle des Lebens verlangt. Das

kann nicht ohne Auswirkungen auf ihre Arbeit und deren Produkte bleiben. Es besteht

das Risiko, daß unter den Bedingungen pfeilförmiger Karrieren enstandene Produkte und

Handlungen von menschlichen Bedürfnissen abheben, ja, in gefährlichen Gegensatz zu

ihnen geraten. Als Alternative schweben mir Berufsbiographien mit Brüchen vor, die

Begegnungen mit dem von der instrumentellen Vernunft Ausgesperrten beinhalten,

Begegnungen, wie sie sich in der Kindererziehung, in der Sorge für Kranke, beim Tätig-

werden in Initiativen zur Unterstützung von Ländern der Dritten Welt oder zum Schutz

der Natur ereignen. Wo wir Frauen an der Einstellung von Arbeitskräften mitwirken,

könnten wir darauf drängen, solche Brüche als berufsqualifizierende Merkmale zu

werten. Laufbahnregelungen müßten sich dem anpassen z.B. durch Wegfall von Alters-

grenzen, die gerade Frauen—etwa nach einem späten Hochschulstudium — den Weg in

den Beruf versperren.

Gesprächsnetze durch die Institute

Ein anderer Ansatzpunkt: die computerisierte Bearbeitung von Wirklichkeit. Eine Mathe-

matikerin, die computergestützte Tests für medizinische Zwecke entwickelt und durch

führt, klagte in einer Gesprächsrunde über die von ihr geforderte verkürzende Realität-

ssicht, die nur Meßbares erfasse, den ganzen Menschen aber außer acht ließe. Wieder-

holt habe sie in ihrem Arbeitsteam Unbehagen geäußert über diese unzureichende Per-

spektive, die zu falschen Schlüssen verleite. Aber — was sei das schon. Ich denke, das

Benennen des Ausgegrenzten wirkt bereits subversiv. Wollten mehr Mathematikerinnen

ihrem Beispiel folgen, so könnte dies eine Tendenz erschüttern, wie sie nicht nur in der

Medizin, sondern auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen anzutreffen ist: die Tendenz,

nur das für real zu halten, was sich messen, in Zahlen transformieren und verrechnen

läßt. Gegen die Macht dieser Tendenz etwas zu behaupten, was man nicht in Tabellen

und Kurven, ja, oft nicht einmal in Worte zu fassen kriegt, kostet Mut. Er hat Aussicht zu

gedeihen, wo es Frauen gelingt, sich ihrer Verlustwahrnehmungen wechselseitig zu ver-

sichern, so zu vergleichen, sich überihre Konsequenzen klarzuwerden sowie die Anwen-

dung ausgeblendeter Sicht- und Denkweisen auf die zu bearbeitenden Fragen und

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Themen zu diskutieren. Was es dazu braucht, sind Gesprächsnetze, die sich spinnweb-

artig durch die Institute, Abteilungen, Tagungen, Berufsorganisationen und Stadtviertel

ziehen, die heute hier und morgen dort den Zweifel an der instrumentellen Vernunft

schüren und sich beliebig erweitern lassen.

Die Stärke des Widerspruchs liegt in seiner Unberechenbarkeit. Nicht die traditionellen

organisierten Formen von Gegenmacht vermögen gegen die instrumenteile Vernunft

etwas auszurichten, sie funktionieren nach den gleichen Gesetzen und tragen deshalb zu

ihrer Verstärkung bei; geschwächt wird die instrumentelle Vernunft am ehesten, wenn

sie es mit ihrem Gegenteil zu tun kriegt, mit schweifenden Gegenkräften, die durch-

drungen sind von Phantasie und auch mal von einem bißchen Subversion, Sabotage und

List (s. Christina von Braun).

Langsamkeit und Vielfalt

Ein dritter Ansatzpunkt: Kindheit. Mit dem Pädagogen Hartmut von Hentig betrachte ich

die Kindheit als eine Phase, in der es die unmittelbare Begegnung mit der gegenständ-

lichen und — so weit noch vorhanden — natürlichen Welt zu fördern gilt. Wer es gelernt

hat, mit einer beweglichen, schillernden Wirklichkeit umzugehen, sich von ihr vielfältig

berühren zu lassen, sich zu freuen an sinnlichen Wahrnehmungen und dahintreibenden

Phantasien, dem kann die instrumentelle Vernunft nichtso leicht etwas anhaben. Kindern

diese Kernerfahrungen zu erhalten, heißt nach Haitmut von Hentig, sie lange in einer

vieldeutigen Wirklichkeit zu lassen. Dies wäre zu bedenken, wenn wir als Mütter, Lehre-

rinnen oder Erzieherinnen die Einführung von Computern in den Schulen und bald schon

in Kindergärten mitentscheiden.

Und schließlich will ich in einem übergreifenden Sinn Verlangsamung propagieren. Die

instrumentelle Vernunft verlangt Tempo, die historische Situation, in der wir leben,

dagegen Verlangsamung. Ein Langsamer-Werden erlaubt Umwege, Vielfalt und vor allem

Fehler. Zukünftige Entwicklungen müssen fehlerfreundlich sein — der Reaktor von

Tschernobyl war es nicht.

Ich habe bereits angesprochen: Der kritische Zweifel muß sich un-berechenbare Wege

suchen, er muß sich von der eindimensionalen Logik instrumenteller Vernunft befreien,

soll er ihr wirkungsvoll entgegentreten. Ich weiß schon, daß das so einfach nicht ist. Das

Rütteln an den Kathedralen instrumenteller Vernunft ist ein riskantes Unternehmen,

denn, so Christa Wolf: „Ahnt man, ahnen wir, wie schwer, ja, wie gefährlich es sein

kann, wenn wieder Leben in die Sache kommt", wenn Bewegung entsteht, wenn Unruhe

aufkommt und Sicher-Geglaubtes ins Wanken gerät. Es läßt sich denken, wie gefährdet

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die sind, die die Unruhe entfachen. Sie werden Aggressionen auf sich ziehen, Diskrimi-

nierung erfahren, Einsamkeit fühlen und vielleicht als verrückt gelten. Mir scheint,

anders ist der Fortschritt nicht zu haben.

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v. Braun, C. - 1985. Nicht ich. Frankfurt

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S.9-28

Goethe, W. - 1948, In: Beutler. E, Gedenkausgabe der Werke, Briefe. Gespräche. Bd. 26,

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Bielefeld

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Krell, B. - 1984, Das Bild der Frau in der Arbeitswissenschnfl. Frankfurt/Main Seager, J.,

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Weizenbaum, l. - 1977, Von der Macht der Computer und der Ohnmacht der Vernunft,

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Woesler de Panafieu, Ch. - 1984. Das Konzept von Weiblichkeit als Natur- und

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244-268

Wolf, Ch. - 1983, Vorausserzungen einer Erzählung: Kassandra. Darmstadt

Wolf, Ch. - 1986. Krankheit und Liebesentzug. taz vom27.IO.I986

Der vorliegende Text ist die schriftliche Fassung eines Vortrags, der im Rahmen der

Ringvorlesung „Veränderungen in Situationen und Selbstverständnis von Frauen" im

Sommersemester '87 an der Universität München gehalten wurde. Die Autorin legt Wert

auf die Feststellung, daß ihre Analysen und Überlegungen nicht allein einsamer Denk-

arbeit entspringen, sondern sie wichtige Anregung und Unterstützung in den Gesprächen

mit ihrer Kollegin Marcsi Rerrich und den Frauen der Gruppe „Tangente" erhielt.