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A uf den ersten Blick scheint es im- mer dieselbe Geschichte zu sein: Es geht um die Nadel, die im Heu- haufen verschwunden ist, die eine Infor- mation, die sich hinter einem Wust von Informationen verborgen hält. Amerikas Geheimdienste haben, so scheint es, das Problem längst von der anderen Seite aus in Angriff genommen: „Wenn du nach einer Nadel im Heuhau- fen suchst, brauchst du einen Heuhau- fen“, sagt Jeremy Bash, der einmal Stabs- chef beim früheren CIA-Direktor Leon Panetta war. Einen gigantischen Heuhaufen. Einen, der sich zusammensetzt aus Milliarden Minuten, die Menschen grenzüberschrei- tend täglich telefonieren. Dazu kommen die Datenströme in den modernen Hoch- leistungskabeln des Internets, die alle paar Sekunden Informationen vom Um- fang des gesamten in der Washingtoner Kongressbibliothek gesammelten Wissens rund um den Erdball transportieren. Und dann auch noch die Milliarden Mails, die jeden Tag international verschickt wer- den – eine Welt voller unkontrollierter Kommunikation. Und also eine Welt vol- ler potentieller Bedrohungen, jedenfalls aus der Berufsperspektive von Geheim- diensten. Das sei die „Herausforderung“, wie es in einer internen Darstellung des amerikanischen Abhörgeheimdienstes National Security Agency (NSA) heißt. Diese Herausforderung hat der Vier- Sterne-General Keith Alexander defi- DER SPIEGEL 27/2013 76 MS-UNGER.DE Verbündete Obama, Merkel am Brandenburger Tor MICHAELA REHLE / REUTERS Ehemalige NSA-Abhöreinrichtung in Bad Aibling Angriff aus Amerika Geheimdokumente zeigen, wie umfassend die USA in Deutschland und Europa spionieren. Jeden Monat überwacht die NSA dabei eine halbe Milliarde Kommunikationsvorgänge, EU- Gebäude werden verwanzt. Die Affäre bedroht die diplomatischen Beziehungen.

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Auf den ersten Blick scheint es im-mer dieselbe Geschichte zu sein:Es geht um die Nadel, die im Heu-

haufen verschwunden ist, die eine Infor-mation, die sich hinter einem Wust vonInformationen verborgen hält.

Amerikas Geheimdienste haben, soscheint es, das Problem längst von deranderen Seite aus in Angriff genommen:„Wenn du nach einer Nadel im Heuhau-fen suchst, brauchst du einen Heuhau-fen“, sagt Jeremy Bash, der einmal Stabs-

chef beim früheren CIA-Direktor LeonPanetta war.

Einen gigantischen Heuhaufen. Einen,der sich zusammensetzt aus MilliardenMinuten, die Menschen grenzüberschrei-tend täglich telefonieren. Dazu kommendie Datenströme in den modernen Hoch-leistungskabeln des Internets, die allepaar Sekunden Informationen vom Um-fang des gesamten in der WashingtonerKongressbibliothek gesammelten Wissensrund um den Erdball transportieren. Und

dann auch noch die Milliarden Mails, diejeden Tag international verschickt wer-den – eine Welt voller unkontrollierterKommunikation. Und also eine Welt vol-ler potentieller Bedrohungen, jedenfallsaus der Berufsperspektive von Geheim-diensten. Das sei die „Herausforderung“,wie es in einer internen Darstellung desamerikanischen AbhörgeheimdienstesNational Security Agency (NSA) heißt.

Diese Herausforderung hat der Vier-Sterne-General Keith Alexander defi-

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Verbündete Obama, Merkel am Brandenburger Tor

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Ehemalige NSA-Abhöreinrichtung in Bad Aibling

Angriff aus AmerikaGeheimdokumente zeigen, wie umfassend die USA in Deutschland und Europa spionieren.Jeden Monat überwacht die NSA dabei eine halbe Milliarde Kommunikationsvorgänge, EU-

Gebäude werden verwanzt. Die Affäre bedroht die diplomatischen Beziehungen.

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niert, der heute NSA-Direktor und gleich-zeitig Cyber-Kommandochef des US-Mi-litärs ist, also Amerikas oberster Cyber-Krieger. Bei einem Besuch in MenwithHill, der großen Abhörstation der Britenin der Nähe von Harrogate in Yorkshire,stellte er angesichts der geballten techni-schen Abhörkapazität schon 2008 einesimple Frage: „Warum können wir eigent-lich nicht alle Signale immer abfangen?“

Alle Signale zu jeder Zeit – das wäreder ideale Heuhaufen, von dem die NSAträumt. Und was die Nadel ist, eine Spurdes Terrornetzwerks al-Qaida etwa oderdie Industrieanlagen eines gegnerischenStaates, die Pläne internationaler Dro-genhändler, aber auch die Gipfelvor -bereitung von Spitzenpolitikern befreun-deter Staaten, das wird von Fall zu Fallbestimmt – der Heuhaufen wird’s schonliefern.

Wie nah Amerikas NSA, in trauter Zu-sammenarbeit mit anderen westlichenGeheimdiensten, diesem Ideal gekom-men ist, hat in den vergangenen Wochenein junger Amerikaner enthüllt, der äu-ßerlich so gar nichts von jenem Heldenhat, als der er jetzt in aller Welt von de-nen gefeiert wird, die sich von Amerikasgigantischer Überwachungsmaschineriebedroht fühlen.

Es ist ein Fiasko für die NSA, die, an-ders als etwa der US-Auslandsgeheim-dienst CIA, lange Zeit weitgehend ohneöffentliche Aufmerksamkeit lauschenkonnte. Snowden habe den USA „unwi-derruflichen, schweren Schaden zuge-fügt“, klagte Direktor Alexander am vorvergangenen Wochenende in einemInterview mit dem amerikanischen Fern-sehsender ABC.

Snowdens NSA-Dokumente umfassenweit mehr als nur ein oder zwei Skandale.Sie sind eine Art elektronischer Schnapp-schuss der Arbeit des mächtigsten Ge-heimdienstes der Welt aus rund zehn Jah-ren. Der SPIEGEL hat eine Reihe vonDokumenten aus diesem Archiv einsehenund auswerten können.

Die Unterlagen belegen, welche zen-trale Rolle Deutschland im weltumspan-nenden Überwachungsnetz der NSAspielt – und wie die Deutschen selbst zumZiel der Angriffe aus Amerika werden.Jeden Monat speichert der US-Geheim-dienst die Daten von rund einer halbenMilliarde Kommunikationsverbindungenaus Deutschland.

Vor der Spionagewut ist niemand si-cher, jedenfalls fast niemand. Nur einehandverlesene Gruppe von Staaten istdavon ausgenommen, die die NSA alsenge Freunde definiert, Partner zweiterKlasse („2nd party“), wie es in einem in-ternen Papier heißt: Großbritannien,Australien, Kanada und Neuseeland. Die-se Länder seien für die NSA „weder Zie-le, noch verlangt sie, dass diese Partnerirgendetwas tun, was auch für die NSA

illegal wäre“, heißt es in einem „strenggeheim“ eingestuften Dokument.

Für alle anderen, auch jene Gruppevon rund 30 Ländern, die als Partner drit-ter Klasse („3rd party“) zählen, gilt dieserSchutz nicht. „Wir können die Signaleder meisten ausländischen Partner dritterKlasse angreifen – und tun dies auch“,brüstet sich die NSA in einer internenPräsentation. Zu diesen Ländern, die imFokus der Überwachung stehen, zähltlaut der Auflistung auch Deutschland.Damit bestätigen die Unterlagen, was imBerliner Regierungsviertel seit langemvermutet wird: dass die US-Geheimdiens-te mit Billigung des Weißen Hauses ge-zielt auch die Bundesregierung ausfor-schen, wohl bis hinauf zur Kanzlerin. Daüberrascht es kaum, dass auch die Wa-shingtoner Vertretung der EuropäischenUnion nach allen Regeln der Kunst ver-wanzt wird, wie ein Dokument zeigt, dasder SPIEGEL eingesehen hat.

Die neue Qualität der Enthüllungen istaber nicht, dass Staaten sich gegenseitigauszuforschen versuchen, Minister aus-horchen und Wirtschaftsspionage be -treiben.

Was die Dokumente enthüllen, ist vorallem die Möglichkeit der Totalüberwa-chung eigener und fremder Bürger, jen-seits jeder effektiven Kontrolle und Auf-sicht. Unter den Geheimdiensten derwestlichen Welt scheint es eine Aufga-benteilung und einen teilweise regen Aus-tausch zu geben. Denn der Grundsatz,ein Auslandsnachrichtendienst dürfe sei-ne Bürger nicht oder nur aufgrund indi-vidueller Gerichtsbeschlüsse überwa-chen, ist in dieser Welt der globalisiertenKommunikation und Überwachung aus-gehebelt. Der britische Dienst GCHQ

darf alle Menschen bis auf Briten über-wachen, die NSA alle bis auf Amerikaner,der deutsche Bundesnachrichtendienst(BND) alle, nur keine Deutschen. So ent-steht die Matrix einer hemmungslosenRundumüberwachung, in der jeder demanderen mit verteilten Rollen behilflichsein kann.

Dokumente zeigen, dass die Dienstedas in dieser Situation Naheliegende undin Deutschland gesetzlich verankerte tun:Sie tauschen sich aus. Und sie kooperie-ren intensiv miteinander. Das gilt, nebenden Briten und den Amerikanern, für denBND, der der NSA bei der Internetüber-wachung assistiert.

Der SPIEGEL hat sich entschieden,vorliegende Details über Geheimopera-tionen, die das Leben von NSA-Mitar-beitern gefährden könnten, nicht zu pu-blizieren, ebenso wenig die entsprechen-den internen Codewörter. Anders sieht

es mit den Informationen über die all -gemeine Überwachung von Kommunika -tion aus. Sie gefährden keine Menschen-leben, sondern machen ein System erfassbar, dessen Dimension jede Vorstel-lungskraft sprengt, was in einer Demo-kratie diskutiert werden muss. Eine sol-che weltweite Diskussion ist Snowdenseigentliches Anliegen, die Motivation fürseinen Geheimnisbruch. Er sagt: „Die Öf-fentlichkeit muss entscheiden, ob dieseProgramme und Strategien richtig oderfalsch sind.“

Die Fakten, die dank Snowden nun derWeltöffentlichkeit zugänglich werden, wi-derlegen vor allem die Verteidigungsliniedes Weißen Hauses. Die Überwachungsei nötig, um Terroranschläge zu verhin-dern, argumentierte US-Präsident BarackObama auch bei seinem Besuch in Berlin.Und NSA-Chef Alexander rechtfertigtesich, in den USA habe die NSA dazu bei-getragen, zehn Anschläge zu verhindern.Weltweit sollen sogar 50 Terrorplots mitNSA-Hilfe aufgeflogen sein. Das magsein, ist aber nur schwer überprüfbar undbestenfalls ein Teil der Wahrheit.

Recherchen in Berlin, Brüssel und Wa-shington und die Dokumente, die die Re-daktion einsehen konnte, offenbaren, wieallumfassend die Überwachung der USAangelegt ist.

Deutschland nimmt in diesem globalenSpionagesystem eine zentrale Rolle ein.Die NSA hat für die einlaufenden Daten-ströme ein Programm entwickelt, das denNamen „Boundless Informant“, grenzen-loser Informant, trägt und dessen Exis-tenz der Londoner „Guardian“ enthüllthat, mit dem Snowden kooperiert. Es istdafür gedacht, die Verbindungsdaten aussämtlichen einlaufenden Telefondaten

und der übrigen Kommunikation „nahe-zu in Echtzeit“ aufzubereiten, wie es ineiner Beschreibung heißt. Erfasst werdennicht die Gesprächsinhalte, sondern dieMetadaten: also von welchem Anschlussmit welchem Anschluss eine Verbindungbestand.

Es sind jene Vorratsdaten, um derenSpeicherung in Deutschland seit vielenJahren erbittert gerungen wird – und de-ren Erfassung das Bundesverfassungsge-richt im Jahr 2010 untersagte.

„Boundless Informant“ erzeugt Kartender Länder, aus denen die von der NSAgesammelten Daten stammen. Die amstärksten überwachten Regionen befin-den sich im Nahen Osten, dazu kommenAfghanistan, Iran und Pakistan, die beideauf der Weltkarte der NSA blutrot mar-kiert sind. Deutschland ist, als einzigesLand Europas, gelb ausgewiesen, ein Zei-chen beträchtlicher Ausspähung.

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Deutschland ist gelb ausgewiesen,

ein Zeichen beträchtlicher Ausspähung.

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Eine NSA-Tabelle, die der SPIEGELerstmals veröffentlicht (siehe Grafik), do-kumentiert, wie massiv das Aufkommenaus dem in Deutschland überwachten Da-tenverkehr ist. Danach fing die Agencyim vergangenen Dezember die Metada-ten von durchschnittlich rund 15 Millio-nen Telefongesprächen täglich und etwa10 Millionen Internetverbindungen ab.Am 24. Dezember waren es rund 13 Mil-lionen Telefonverbindungen und halb soviele Internetverbindungen.

An Spitzentagen, wie etwa dem 7. Ja-nuar dieses Jahres, stieg das Aufkommenauf fast 60 Millionen überwachte Kommu-nikationsvorgänge. Metadaten über bis zueine halbe Milliarde Verbindungen sam-meln die Amerikaner Monat für Monataus Deutschland. Aus der Bundesrepublikfließt damit einer der größten Ströme derWelt in den gigantischen Datensee desamerikanischen Geheimdienstes.

Eine weitere Übersicht aus dem NSA-Datenschatz zeigt, wie viel kleiner derUmfang der Daten ist, die aus Ländernwie Frankreich und Italien fließen (sieheGrafik). Für Frankreich verzeichnen dieAmerikaner im selben Zeitraum täglichim Durchschnitt gut zwei Millionen Ver-bindungsdaten, an Heiligabend sind esknapp sieben Millionen. Für das ebenfallserfasste Polen schwanken die Werte inden ersten drei Dezemberwochen zwi-schen zwei und vier Millionen.

Mit klassischem Lauschen oder Abhö-ren hat die Arbeit der NSA nur noch we-nig zu tun, sie ähnelt eher einer struktu-rellen Kompletterfassung. Zu glauben,aus den Metadaten lasse sich weniger ab-leiten als aus abgefangenen Kommunika-tionsinhalten, wäre freilich ein Irrtum.Für Ermittler sind sie eine Goldwährung,denn sie zeigen nicht nur Kontaktnetz-werke, sondern ermöglichen auch Bewe-gungsprofile und sogar Vorhersagen überdas mögliche Verhalten erfasster Kommu-nikationsteilnehmer.

Glaubt man Insidern, die den deut-schen Teil des NSA-Programms kennen,dann gilt das Interesse vor allem mehre-ren großen Internetknotenpunkten, diein West- und Süddeutschland angesiedeltsind. Aus den geheimen NSA-Unterlagengeht hervor, dass Frankfurt im weltum-spannenden Netz eine wichtige Rolle ein-nimmt, die Stadt ist als Basis in Deutsch-land aufgeführt.

In der hessischen Metropole hat dieNSA Zugang zu jenen Internetknoten-punkten, die vor allem den Datenverkehrmit Ländern wie Mali oder Syrien regeln,aber auch mit Osteuropa. Vieles sprichtdafür, dass die NSA diese Daten teils mit,teils ohne Wissen der Deutschen absaugt;angeblich werden sogar die einzelnen Fil-tereinstellungen, nach denen die Datengesiebt und sortiert werden, miteinanderbesprochen. Daneben nimmt sich das Sys-tem „Garlick“, mit dem die NSA jahre-

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„Du sollst zerstört werden“Der NSA-Aussteiger William Binney über Snowdens Flucht

Der Mathematiker William Binney, 69,stand mehr als 40 Jahre lang in denDiensten der amerikanischen Abhör-agentur NSA, war unter anderemtechnischer Leiter und verantwortlichfür 6000 Mitarbeiter. Zuletzt arbeiteteer an einem weltweiten Datenerfas-sungsprogramm namens ThinThread,einem Vorläufer heutiger Überwa-chungsprogramme.

SPIEGEL: Herr Binney, haben die Ent-hüllungen von Edward Snowden Sieüberrascht?Binney: Nein, ich sage seit Jahren, dassdie NSA den weltweiten Datenver-kehr beobachtet, aufzeichnet und aufJahrzehnte speichert. Hier überraschtdas keinen. Ich war nur ein wenig ver-wundert über die Dokumentennum-mer einer gerichtlichen Anweisung,mit der das Telefonunternehmen Veri -zon zur Herausgabe von Daten auf-gefordert wurde.SPIEGEL: Inwiefern?Binney: Das Dokument trug die Num-mer 13-80, also im Jahr 2013 die 80.Anweisung an eine Firma, Daten her -auszurücken. Ich frage mich, wer dieanderen 79 Firmen sind.SPIEGEL: Sie selbst waren unter ande-rem für die Automatisierung der welt-weiten Datenerfassung zuständig.Hilft die Masse der Informationen beider Suche nach Terroristen?Binney: Nein, ich habe mein ganzesBerufsleben gegen die Datenflut ge-kämpft, in der wir nun zu ertrinkendrohen. Den Anschlag von Bostonkonnten wir so nicht verhindern. Waswir brauchen, sind zielorientierteProgramme, die im Einklang mit un-serer Verfassung stehen, besondersdem 4. Zusatzartikel, der die Privat-sphäre schützt. Nur Terroristen, ihreKontaktpersonen und deren Umfeldsollten in das Raster fallen, alle an-deren müssen als unschuldig gelten.Wir können nicht die ganze Welt,inklu sive unserer eigenen Bevölke-rung, unter Generalverdacht stellen.Die USA entwickeln sich zu einemtotalitären Staat, wenn wir nichts da-gegen tun.SPIEGEL: Sie waren selbst Whistle -blower, haben vor der Macht derDienste gewarnt. Snowden hat Siepersönlich erwähnt. Was würden Sieihm jetzt raten?

Binney: Ich wurde von FBI-Agentenmit gezogenen Waffen unter der Dusche überrascht. Ich weiß, wasWhistle blower durchmachen müssen.Du sollst moralisch zerstört werden.Aber ich denke trotzdem, Snowdensollte in die USA zurückkehren, sicheinem Gerichtsverfahren stellen undeine komplette Aussage machen. Nurso kann es erneut zu einer öffentlichenDis kussion über den Überwachungs-staat kommen. Er könnte immer nochaus der Sache herauskommen. Straf-taten der Regierung öffentlich zu ma-chen ist nicht strafbar – Spionageschon. Wir müssen uns mehr mit Prismbeschäftigen. Aber zurzeit dreht dieRegierung die Geschichte allein auf dieFrage, ob Snowden ein Verräter ist. SPIEGEL: Müsste Snowden bei einerRückkehr nicht fürchten, Jahrzehnteins Gefängnis zu wandern, wie viel-leicht Bradley Manning, der Daten anWikiLeaks weitergegeben hat?Binney: Manning ist Soldat, steht voreinem Militärgericht. Snowden kämevor ein ziviles Gericht, wie mein Kol-lege Thomas Drake, einer der wich-tigsten Whistleblower der letzten Jah-re. Am Ende kam er mit einem Jahrauf Bewährung davon. Was hatSnowden davon, im Ausland zu blei-ben? Er wird auf der ganzen Welt ge-sucht, muss ständig fürchten, entführt,gefoltert oder ermordet zu werden. SPIEGEL: Sie selbst waren jahrelang fürdie Kommunikation zwischen deut-schen und amerikanischen Geheim-dienstmitarbeitern verantwortlich, be-suchten Deutschland viele Male. Wel-chen Eindruck hatten Sie von dendeutschen Geheimdiensten?Binney: Sie waren immer hilfreich.Deutschland war ein starker Partner, wirteilten dieselben Ziele. Heute kreuzensich in dem Land mehrere der mäch-tigsten Datenleitungen der Welt, dortstehen einige der wichtigsten Server.

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Massenhafter ZugriffErfasste Telefon- und Internetdaten durch

das „Boundless Informant“-Programm der NSA, in Mio.

Deutschland Telefon

Frankreich Telefon

Italien Telefon

Deutschland Internet

lang aus Bad Aibling die Satellitenkom-munikation überwachte, vergleichsweisebescheiden aus.

Das Verhältnis zwischen den Vereinig-ten Staaten und Deutschland sei traditio-nell „so eng, wie es nur sein konnte“, sag-te der US-Journalist und NSA-ExperteJames Bamford der „Zeit“. „Wegen derNähe zur Sowjetunion hatten wir wahr-scheinlich mehr Horchposten in der Bun-desrepublik als irgendwo sonst.“

Derlei Partnerschaften, heißt es in denUnterlagen, böten „einzigartige Zugängezu Zielen“. Nicht mit allen dieser Aus-landspartner teile man das eigene Signal-aufkommen, heißt es weiter, in vielen Fäl-len stelle man als Gegenleistung Ausrüs-tung und technische Unterstützung zurVerfügung. Oft würde die Agency auchGeräte und Training anbieten, um Zu-gang zu erwünschten Zielen zu bekom-men. Die „Arrangements“ seien typi-scherweise bilateral und liefen außerhalballer militärischen und zivilen Beziehun-gen, welche die USA mit den jeweiligen

Ländern habe, heißt es in einer geheimeingestuften Unterlage.

Diese internationale Arbeitsteilungdurchlöchert das in Artikel 10 des Grund-gesetzes garantierte Post-, Brief- undFernmeldegeheimnis. Das darf von deut-schen Behörden nur in eng definiertenAusnahmefällen ausgehebelt werden.

Jeder amerikanische Analyst könne„jederzeit jeden ins Visier nehmen“, sagtEdward Snowden in seinem Videointer-view, „sogar einen US-Bundesrichter undden US-Präsidenten, sofern er dessenMail-Adresse kennt“.

Wie skrupellos die US-Regierung ihreNachrichtendienste vorgehen lässt, do-kumentieren mehrere Lauschangriffe aufdie EU in Brüssel und Washington, beidenen nun erstmals nachgewiesen ist,dass die NSA dahintersteht.

Vor etwas mehr als fünf Jahren fielenim Brüsseler Justus-Lipsius-Gebäude Si-cherheitsexperten mehrere sonderbare,fehlgeschlagene Anrufe im Umfeld einerganz bestimmten Durchwahl auf: Sie alle

landeten in der Nähe der Nummer, diefür die Fernwartung der Siemens-Tele-fonanlage des Gebäudes bestimmt ist.

In Brüssel stellten sich die Behördendaraufhin die Frage: Wie wahrscheinlichist es, dass ein Techniker oder ein War-tungscomputer die Durchwahl für dieFernwartung gleich mehrmals knapp ver-fehlt?

Die Sicherheitsbehörden verfolgten dieFalschanrufer zurück, und die Überra-schung war groß, als sich herausstellte,wo der Anruf seinen Ursprung hatte: Erkam von einem Anschluss nur ein paarKilometer Luftlinie in RichtungBrüsseler Flughafen, aus demVorort Evere.

Dort hat die Nato ihr Haupt-quartier – und es gelang denSicherheitsexperten der EU-Behörden, den genauen Ort zulokalisieren: einen vom restli-chen Hauptquartier separier-ten Gebäudekomplex. ZurStraße hin sieht man einenFlachdachbau mit Klinkerfas-sade und einer großen Anten-ne auf dem Dach. Das Gebäu-de ist durch hohe Zäune undSichtschutz von der Straßeabgetrennt, überall wachenKameras. Im Innern arbeitenTelekommunikationsexper-ten der Nato – und eine gan-ze Truppe von NSA-Agen-ten. In Sicherheitskreisenwird dieser Ort als eine ArtEuropa-Zentrale der NSAbezeichnet.

Eine Überprüfung derFernwartungsanlage ergab,dass sie mehrfach aus genaudiesem Nato-Komplex an-gerufen und auch erreichtwurde. Das hatte potentiell

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NSA-Hauptquartier in Fort Meade: „Jederzeit jeden ins Visier nehmen“

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Gläserne Leitungen Das unterseeische Kabelnetz

New Jersey

Lichtwellenleiter

verdrillteStahlseile

PET-Folie

Kupfer-rohr

Poly-carbonat

Wasserbarriereaus Aluminium

Ummantelungaus Polyethylen

Paraffin

Norden/D

Bude/GB

TAT-14

Das ringförmig angelegte Transatlantische Telefonkabel (TAT) verbindet die USA mit Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und Dänemark.

1,9Terabit an Datenkönnen pro Sekunde

auf beiden Routen vonTAT-14 insgesamt übertragen

werden. Das entsprichtdem Inhalt von 240 Stunden

Spielfilm.

gravierende Konsequenzen: Jeder EU-Mitgliedstaat hat im Justus-Lipsius-Ge-bäude Räume, in die sich die Minister zu-rückziehen können, samt Telefon- undInternetanschlüssen.

Noch skrupelloser agiert die NSA aufheimischem Boden, in Washington. Ineinem eleganten Bürogebäude an der KStreet residiert die Delegation der EU,offiziell eine diplomatische Vertretung.

Doch dieser Schutz hilft wenig. Wie einDokument der NSA beschreibt, das derSPIEGEL in Teilen einsehen konnte, hatdie NSA das Bürogebäude nicht nur ver-wanzt, sondern auch das interne Com-puternetzwerk infiltriert – doppelt hältbesser. Das Gleiche gilt für die EU-Mis-sion bei den Vereinten Nationen in NewYork. Die Europäer seien ein „Angriffs-ziel“, heißt es in dem Papier, Stand September 2010, ganz offen. Eine An -frage mit der Bitte um ein Gespräch lie-ßen NSA und Weißes Haus unbeant -wortet.

Nun soll eine hochrangige Experten-kommission, auf die sich die EU-Justiz-kommissarin Viviane Reding und ihr US-Kollege Eric Holder verständigt haben,das Ausmaß der routinemäßigen Daten-schnüffelei feststellen und die Recht-schutzmöglichkeiten für EU-Bürger erör-tern. Im Oktober soll es einen Abschluss-bericht geben.

Wie systematisch die Agency ihr glo -bales Überwachungsnetz auslegt, zeigteine Übersicht aus Fort Meade, demNSA-Hauptquartier. Darin aufgeführtsind zahlreiche Geheimoperationen zurÜberwachung des Internets und des in-ternationalen Datenverkehrs. Die NSA„schöpft im Informationszeitalter aggres-siv ausländische Signale ab, die durchkomplexe globale Netzwerke fließen“,

heißt es in einer internen Selbstbeschrei-bung.

Was da geschieht, zeigt ein weiteresbislang unveröffentlichtes Papier, das be-schreibt, wie die NSA Zugang zu einemganzen Bündel von Glasfaserkabeln er-halten hat, die mit einem Datendurchsatzvon mehreren Gigabit pro Sekunde ar-beiten und damit zu den größeren Ver-bindungslinien des Netzes zählen. DerZugang sei neu und betreffe auch meh-rere Kabel, „die den russischen Markt be-dienen“, schwärmt die NSA darin. DieTechniker aus Fort Meade kommen da-nach an „Tausende von Leitungsbündelnweltweit“. Und in einer weiteren Opera-tion überwacht der Nachrichtendienst einDatenkabel, durch das der Verkehr in den„Nahen Osten, Europa, Südamerika undAsien geleitet wird“.

Doch nicht nur die Geheimdienste be-freundeter Nationen sind willige Helferder NSA. Spätestens seit der Enthüllung

des Programms „Prism“ ist klar, dass dieAbhörspezialisten der NSA auch in gro-ßer Zahl Inhalte bei den wichtigen ame-rikanischen Internetfirmen abgreifen.

Deren Chefs haben einen direkten Zu-griff des Dienstes energisch dementiert.Doch es scheint Dutzende Konzerne zugeben, die jenseits von „Prism“ wissent-lich mit der NSA zusammenarbeiten.

Ein besonders guter Kooperationspart-ner, so heißt es in den Dokumenten, seiein Konzern, der in den USA tätig seiund an Informationen gelange, die Ame-rika durchquerten. Gleichzeitig bietet dieFirma durch ihre Beziehungen „einzigar-tigen Zugang zu anderen Telekommuni-kationsunternehmen und Internetprovi-dern“. Das Unternehmen sei „aggressivdabei, den Datenverkehr über unsereBildschirme zu leiten“, heißt es in einemGeheimpapier der NSA. Die Kooperationbestehe schon seit 1985.

Dabei handelt es sich offenbar um kei-nen Einzelfall. Ein weiteres Dokumentbelegt die Willfährigkeit diverser Kon-zerne. Es gebe „Allianzen mit über 80großen globalen Firmen, die beide Mis-sionen unterstützen“, heißt es in dem Pa-pier, das „streng geheim“ eingestuft ist.„Beide Missionen“ – das meint in derSprache der NSA die Verteidigung eige-ner, amerikanischer Netze, aber ebensodas Abhören ausländischer Netze, also:die Abteilung Attacke. Zu diesen Part-nern gehören Telekommunikations -unternehmen, Hersteller von Netzwerk-Infrastruktur, Software- sowie Sicher-heitsfirmen.

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Die Europäer seien ein „Angriffsziel“,

heißt es offiziell in einem NSA-Papier.

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Die Zusammenarbeit ist nicht nur fürden Nachrichtendienst, sondern auch fürdie Unternehmen heikel, denn sie betrifftFirmen, die ihren Kunden in den Ge-schäftsbedingungen Zusicherungen ma-chen, was die Sicherheit ihrer Daten an-geht. Diese Firmen sind zudem an die Ge-setze ihrer Heimatländer gebunden.

Die Abkommen zwischen den betreffen-den Konzernen und der Behörde sind des-halb streng geheim. Selbst in den internenUnterlagen werden sie nur mit Codenamengenannt. „Es gab lange sehr enge, streng ge-heime Beziehungen zwischen vielen Tele-kommunikationsfirmen und der NSA“, sagtder Experte Bamford. „Jedes Mal, wenneine solche Kooperation doch auffliegt, wirdsie für kurze Zeit eingestellt, nur um dannwieder von Neuem zu beginnen.“

Die Bedeutung dieser besonderen Artöffentlich-privater Partnerschaften hat

NSA-Chef Alexander unlängst noch ein-mal besonders hervorgehoben. Bei einemTechnologie-Symposium in einem Vorortvon Washington forderte er, Industrie undRegierung müssten eng zusammenarbeiten.„Wir könnten unsere Mission nicht ohnedie Hilfe so vieler Menschen wie Ihnen ma-chen.“ Im Publikum saßen die Expertenjener Firmen, die offenbar, glaubt man denDokumenten, Kooperationsvereinbarun-gen mit der NSA getroffen haben.

Wie die Zusammenarbeit von BNDund NSA genau aussieht, wird in denkommenden Wochen nun das Parlamen-

tarische Kontrollgremium des Bundestagsuntersuchen müssen, das für die Aufsichtüber die Geheimdienste zuständig ist. DieBundesregierung hat sich in Briefen andie Amerikaner gewandt und um Aufklä-rung gebeten. Kann es ein souveränerStaat hinnehmen, dass auf seinem BodenMonat für Monat eine halbe MilliardeKommunikationsdaten gestohlen wer-den – erst recht, wenn dieser Staat vonseinem Gegenüber als Partner dritterKlasse bezeichnet wird, bei dem überdies,wie ausdrücklich festgestellt wird, jeder-zeit abgehört werden kann.

Bislang hat sich die Bundesregierungentschieden, nicht mehr als höfliche Fra-gen zu stellen. Doch mit den nun bekann-ten Fakten steigt auch der Druck auf An-gela Merkel und ihre schwarz-gelbe Ko-alition, die im September wiedergewähltwerden will und die Empfindlichkeit der

Deutschen beim Thema Datenschutz nurzu gut kennt.

In den Geschichten des blinden Schrift-stellers Jorge Luis Borges ist die „Biblio-thek von Babel“ vielleicht das geheim-nisvollste aller Labyrinthe: ein Univer-sum voller Bücherregale, verbundendurch eine spiralförmige Treppe, dessenAnfang oder Ende keiner findet. Wande-rer irren in dieser Bibliothek umher, aufder Suche nach dem Buch der Bücherund werden dort alt, ohne es zu finden.

Wenn je ein reales Bauwerk dieser unmöglichen Bibliothek nahe kommen

könnte, dann wird es gerade in derkleinen Stadt Bluffdale, in den Ber-gen Utahs, errichtet. Dort, an derRedwood Road, steht vor einerfrisch geteerten Straße ein Schildmit schwarzen Lettern auf weißemGrund: Militärisches Sperrgebiet,Zutritt verboten. In Papieren desPentagons, Formblatt 1391, Seite134, tragen die Gebäude dahinterdie Projektnummer 21078. Gemeintist das Utah Data Center, vier rie-sige Serverhallen mit Gesamtkostenvon etwa 1,2 Milliarden Euro.

Erbaut von 11000 Arbeitern, solldie Anlage als Speicherzentrum alldessen dienen, was sich in den Da-tenschleppnetzen der NSA ver-fängt. Gerechnet wird dann bald inder Speichereinheit Yottabytes, wo-bei ein Yottabyte eine Billion Tera-byte oder eine Billiarde Gigabytesind. Heutige handelsübliche exter-ne Festplatten fassen etwa ein Te-rabyte. 15 dieser Festplatten könn-ten die komplette Kongressbiblio-thek speichern.

Der Mann, der als Erster Infor-mationen über das Utah-Zentrum

öffentlich gemacht hat und vermutlicham meisten über die NSA weiß, ist JamesBamford. Er sagt: „Die NSA ist der größ-te, teuerste und einflussreichste Geheim-dienst der Welt.“

Seit den Terroranschlägen von 2001wird die Zahl der Mitarbeiter laufendaufgestockt, die Budgets werden erhöht.Zumindest für das Jahr 2006 hat derSPIEGEL nun erstmals in interne Zahlender US-Regierung Einblick nehmen kön-nen, die aus Snowdens Dokumentenstammen. Demnach arbeiteten 15986 Mi-litärs und 19335 Zivilisten bei der NSA,der Jahresetat betrug 6,115 MilliardenDollar; offiziell liegen die Zahlen unterVerschluss.

NSA-Chef Keith Alexander wird nichtohne Grund „Alexander der Große“ ge-nannt. „Was auch immer Keith will, be-kommt er“, sagt Bamford.

Trotzdem glaubt Bamford nicht, dassder Dienst seine eigentliche Aufgabewirklich zur Zufriedenheit seiner Auf-traggeber erfüllt. „Ich sehe keine Anzei-chen, dass die erhöhte Überwachung Ter-roranschläge aufhält. Der Anschlag vonBoston wurde nicht verhindert.“

Eines allerdings hat die NSA genauvor ausgesehen – die Richtung, aus derihr die größte Gefahr droht. In den Un-terlagen, die jetzt erstmals ans Licht kom-men, bezeichnet sie Terroristen und Ha-cker als die größten Gefahren. Noch be-drohlicher sei es, heißt es da, wenn einInsider auspacken sollte.

Einer wie Edward Joseph Snowden. LAURA POITRAS, MARCEL ROSENBACH,

FIDELIUS SCHMID, HOLGER STARK, JONATHAN STOCK

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Was immer Alexander der Große will,

bekommt er auch.

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Snowden-Sendung in einem Zug in Hongkong: Geheimnisvolles Labyrinth