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Der Spiegel Magazin No 43 Vom 17 Oktober 2015

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Der Spiegel Magazin No 43 Vom 17 Oktober 2015

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Heimwerker weltweit setzen ein Zeichen. Pack mit an: globalflagproject.com

Die Gerüchte, dass die Fuß-ball-WM 2006 gekauft sein

könnte, sind mindestens so altwie die Entscheidung für Deutsch-land am 6. Juli 2000. Der Frage,ob die WM-Macher um „Kaiser“Franz Beckenbauer und den heu-tigen DFB-Chef Wolfgang Niers-bach wirklich Foul spielten, umden Zuschlag zu bekommen, gehtder SPIEGEL schon seit Jahren

nach. Erst in den vergangenen Monaten wurde aus dem Verdacht Gewissheit:Robert Louis-Dreyfus, der 2009 verstorbene Ex-Adidas-Chef, bekannt aus demSteuerverfahren gegen Uli Hoeneß, dem er einen Kredit zum Zocken an derBörse gegeben hatte, lieh auch dem deutschen Bewerbungsteam Geld – 10,3 Mil-lionen Schweizer Franken. Es handelte sich um Schwarzgeld, das nie im offiziellenHaushalt der deutschen WM-Macher aufgetaucht ist, von diesen aber offenbardringend gebraucht wurde, um Deutschland die WM zu besorgen. Dazu konntendie SPIEGEL-Redakteure Jörg Schmitt, Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, UdoLudwig sowie SPIEGEL-Mitarbeiter Jens Weinreich entscheidende Papiere ein-sehen. „Für die Funktionäre des Deutschen Fußball-Bunds schlägt nun die Stundeder Wahrheit“, sagt Latsch: „Entweder sie versinken mit im Fifa-Korruptions-sumpf, oder sie machen Platz für den überfälligen Neuanfang.“ Seite 10

Google-Chef Larry Page meidet die Öf-fentlichkeit, Interviews gibt er äußerst

selten, und selbst zu Google-Veranstaltun-gen schickt er Stellvertreter. Dabei gibt eskaum einen Menschen auf der Welt, überden wir mehr wissen sollten, den wir ge-nauer verstehen sollten als ihn. Page ver-folgt das Ziel, die Welt durch Technologiezu verbessern, und er treibt deswegen seinen Konzern zu immer fantastischerenProjekten, etwa jenem des selbstfahrendenAutos. Unklar bleibt, wem solche Visionenam Ende nützen werden: tatsächlich der Menschheit oder doch nur Googles Bilanz? Im SPIEGEL-Gespräch mit USA-Korrespondent Thomas Schulz erklärtPage nun in seltener Offenheit seine Motive und beklagt dabei den allgemeinenZukunftspessimismus. Er sagt: „Wir müssen den Menschen helfen, wieder begeis -tert davon zu sein, am Fortschritt zu arbeiten.“ Seite 104

Wir haben alles – und wollen weniger. Viele Men-schen haben damit begonnen, ihr Leben zu ver-

einfachen, auf Besitz zu verzichten oder das Geld-verdienen mit dem Gewissen in Einklang zu bringen.SPIEGEL WISSEN spürt dieser gesellschaftlichen Be-wegung nach. In der Arbeitswelt spricht man von„downshifting“: weniger Stunden am Arbeitsplatz,mehr Zeit für die Familie. Unternehmen müssen sich auf eine Generation mit anderen Lebenswerten einstellen. Die neue Ausgabe von SPIEGEL WISSEN, „Weniger ist mehr – Wege aus Überfluss und Überfor -derung“, ist ab Dienstag, 20. Oktober, im Handel.

3DER SPIEGEL 43 / 2015

Betr.: Titel, Larry Page, SPIEGEL WISSEN

Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung

Das deutsche Nachrichten-Magazin

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4 Titelbild: Montage DER SPIEGEL, Fotos W. Schuering / Imagetrust, A. Scheuber /Bongarts /Getty images, K. Nietfeld /dpa, P. Pavani /AFP

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Angehörige bei der Beerdigung eines

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Die Porsche-SagaProzesse Es war eine der bizarrsten Über-nahmeschlachten – und ein spannenderWirtschaftskrimi: Der kleine Sportwagen-bauer wollte den großen Volkswagen- Konzern schlucken. Die verantwortlichenManager Wendelin Wiedeking und HolgerHärter stehen jetzt vor Gericht. Seite 70

Die KrabbelapothekeBiotechnik Insekten sind Überlebenskünst-ler; extrem erfolgreich wehren sie sich gegen Viren und Bakterien. Forscher fahn-den nun in Käferblut und Madenspuckenach den Medikamenten von morgen. Siehoffen auf Mittel gegen Krebs und Malaria –und auf neue Antibiotika. Seite 114

Der Hass wächstTürkei Der Terroranschlag von Ankara hatdas Land nicht geeint, sondern die poli tischen Lager und Konfessionen weiter gegeneinander aufgebracht. Präsident Erdoğan bekämpft vor der Wahl im Novem -ber seinen kurdischen Herausforderer Selahattin Demirtaş. Seite 88

Schwarzgeld-Rot-GoldWM 2006 Bei der Fußballweltmeisterschaftpräsentierte sich Deutschland als Party -nation. Doch das Sommermärchen hat eineschmutzige Vorgeschichte. Das Bewerbungs-team um Idol Beckenbauer und den heuti-gen DFB-Chef Niersbach hatte eine schwar-ze Kasse. War die WM gekauft? Seite 10

In diesem Heft

5DER SPIEGEL 43 / 2015

Titel

WM 2006 Bei der deutschen Bewerbung für die Weltmeisterschaft gab es eine schwarze Kasse 10

Funktionäre Verstößt die DFB-Betriebsrente für Präsident Wolfgang Niersbach gegen die Prinzipien des Ehrenamts? 18

Fifa Die ehemaligen Reformer Theo Zwanziger und Mark Pieth fordern die Auflösung der Fifa-Exekutive 22

Deutschland

Leitartikel Warum die Deutschen keinen Grund für ein moralisches Überlegenheits-gefühl haben 6

CDU rückt von Einwanderungsgesetz ab / Vertriebenenstiftung weiter ohne Führung / Grüne stellen AKW-Rückbau-Gutachten infrage / Kolumne: Der schwarze Kanal 24

Migration Die vielen Flüchtlinge überforderndie Republik – und die Kanzlerin 28

Opposition Die grüne Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt will Spitzenkandidatin für die Bundestags-wahl 2017 werden 37

Geheimdienste Der BND hörte auch ohne Auftrag der Amerikaner westliche Partner ab 40

Lobbyismus Interessenvertreter umgarnen die Mitarbeiter von Abgeordneten mit exklusiven Reisen 42

Umwelt Warum sich die Bürger nicht mit der Fracking-Technologie versöhnen wollen 44

NS-Kunst Wie Hitler-Fans riesige Nazistatuen aus der DDR in den Westenschmuggelten 48

Sicherheit Der Ärger der Mieter über Rauchwarnmelder 51

Recht Wie eine Mutter verzweifelt versucht, den Tod ihres Kindes im Kreißsaal aufzuklären 52

Gesellschaft

Sechserpack: Das Ende des Playmates /Herbstliche Rezeptideen für Obelix 56

Eine Meldung und ihre Geschichte Der letztePriester verlässt die Antarktis 57

Heimat Wie Flüchtlinge Deutschland erleben 58

Homestory Ein Fehler im Führerschein verstört amerikanischeSicherheits behörden 66

Wirtschaft

Muss Volkswagen manipulierte Autos zurückkaufen? / Lufthansa-Personal stellt Ultimatum / Asmussen wechselt aus dem Arbeitsministerium zur KfW 68

Prozesse Der abenteuerliche Wirtschafts-krimi um die geplante Übernahme von VW durch Porsche 70

Datenschutz Facebook will zu viel über seine Nutzer wissen 81

Eurokrise Der Ökonom Alexander Kritikos wirft der griechischen Regierung Unternehmerfeindlichkeit vor 82

Rohstoffe Umweltschützer bereiten Klage gegen die Holzfirma Schweighofer vor 84

Ausland

Deutschland sollte von Saudi-Arabien mehrVerantwortung in der Syrienkrise einfordern / Die USA stoppen ihren Abzug aus Afghanistan 86

Türkei Nach dem Anschlag von Ankara vertiefen sich die politischen Gräben im Land 88

Diplomatie Wie Angela Merkel die türkische Regierung zu Zugeständnissen in der Flüchtlingskrise bewegen will 93

Polen Die nationalkonservative Spitzenkandidatin Beata Szydlo und ihr volksnaher Wahlkampf 94

Israel Die neue radikale Rechte setzt die Regierung von Benjamin Netanyahu unter Druck 96

Vatikan Eine Begegnung mit Krzysztof Charamsa – dem homosexuellen Priester, der mit seinem Coming-out den Vatikan erschütterte 98

Global Village Ein britischer Unternehmer verleiht Panzer für Partys 100

Wissenschaft

Autolärm, Vogelzwitschern, Schiffsgetröte – wie unterschiedlich klingen Städte? /Fehler machen Roboter sympathisch 102

Internet SPIEGEL-Gespräch mit Google-Gründer Larry Page über intelligente Maschinen und sein Ziel, die Welt zu verbessern 104

VW-Skandal Wie deutsche Autoherstellersystematisch die TÜV-Prüfer blockieren 112

Biotechnik Little Pharma – Forscher suchen in Käfern, Motten und Fliegen nach den Medikamenten der Zukunft 114

Bücher Der schwedische Psychologe Carl-Johan Forssén-Ehrlin über seine umstrittenen Einschlaftricks für Kinder 117

Kultur

Friedensnobelpreisträgerin Malalaim Kino / Netflix im Filmgeschäft /Kolumne: Besser weiß ich es nicht 118

Ukraine Der Schriftsteller Serhij Zhadan über den andauernden Krieg im Land 120

Literatur Buchpreisträger Frank Witzel überrascht mit einer skurrilen Geschichte aus der alten Bundesrepublik 124

Raubkunst Eine neu entdeckte Liste zeigt am Beispiel einer Familie das Ausmaß der Nazibeschlagnahmungen 128

Krisen Nicholas Müller von der Popband Jupiter Jones musste eine schwere Angststörung überwinden 132

Opernkritik Kirill Petrenko dirigiert Strauss 136

Bestseller 123

Impressum 138

Leserservice 138

Nachrufe 139

Personalien 142

Briefe 144

Hohlspiegel/Rückspiegel 146

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Larry Page

Er hat Google gegründet und will mit seinen Produktendie Welt verbessern. „Ich halte es für unerlässlich“, sagtPage im SPIEGEL-Gespräch,„dass große Unternehmenauch große Ambitionen ent-wickeln.“ Seite 104

Nada

Sie ist aus Syrien geflüchtetund hat nach ihrer Ankunft inFranken einen Apfel gepflückt;dafür wurde sie von der Poli-zei verwarnt. Die Lehrerinlangweilt sich in ihrer Unter-kunft und ist enttäuscht vonDeutschland. Seite 58

Nicholas Müller

Er ist ein Popstar, der Angsthatte, auf der Bühne zu sterben:Wegen schwerer Panikattackenmusste der Sänger der deut-schen Band Jupiter Jones seineKarriere beenden. Mit einemneuen Album wagt er sich zurück ins Geschäft. Seite 132Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ

Die Fußballweltmeisterschaft im Sommer 2006 war einWendepunkt der deutschen Geschichte. Das Land desHolocaust hatte damals bereits andere Schritte der

Rehabilitierung hinter sich, es war zu einer stabilen Demo-kratie gereift, es hatte sich friedlich wiedervereinigt. Nunwurde Deutschland auch noch sympathisch: Es richtete einperfektes Turnier aus und zeigte sich dabei so herzlich undweltoffen wie nie zuvor. Sogar den Pokal überließ JürgenKlinsmanns Elf großzügig den Italienern. Die WM warDeutschlands Schritt ins Reich der freundlichen Völker.

Was nach dem Sommermärchen geschah, ist fast noch mär-chenhafter. Das Image Deutschlands in der Welt wurde besserund besser (von Griechenland einmal abgesehen). Nicht nurin den USA gilt das „Modell Germany“ in fast allem als Vor-bild. Deutschland beeindruckte durch seine Wirtschaftskraft,und die Deutschen wurden zuden Gutmenschen unter denVölkern.

Das Land, das das schlimmsteVerbrechen der Menschheitsge-schichte zu verantworten hat,schien sich vorgenommen zu ha-ben, in Zukunft moralisch stetsauf der richtigen Seite zu stehen,als seltenes Beispiel von An-stand und Aufrichtigkeit inmit-ten einer verlotterten Welt.Deutschland führte keine Krie-ge mehr, es war – zumindestzeitweise – der glühendste Ver-fechter des Klimaschutzes, esöffnet in diesen Tagen für Hun-derttausende Flüchtlinge dieArme. Und dann sind seine Bür-ger auch noch ordentlich kran-kenversichert.

Mit seiner sozialen Markt-wirtschaft schien Deutschlanddie Gesetze des Kapitalismusaußer Kraft zu setzen, wonach es einer gewissen Skrupello-sigkeit und Grobschlächtigkeit bedarf, um sich durchzusetzen.Erfolg und Anstand schienen sich nicht länger auszuschließen.Gefühlt stand Deutschland kurz vor der Heiligsprechung.

Die muss verschoben werden. Eine Serie von Enthüllungenhat das Bild vom guten Deutschland schwer beschädigt. DieDeutschen stehen jetzt als Trickser da, als Nation der Schumm-ler mit beträchtlicher krimineller Energie. Volkswagen, einesder deutschesten Unternehmen Deutschlands und Inbegriffder Zuverlässigkeit, hat die Abgaswerte seiner Autos so dreistmanipuliert, dass „Made in Germany“ vom Gütesiegel zumWarnhinweis geworden ist.

Und Deutschlands Politiker sind keineswegs so rechtschaf-fen und ehrlich, wie es das Vorbild der bodenständigen Kanz-lerin Angela Merkel glauben macht. Nach Karl-Theodor zuGuttenberg steht nun auch die zweite Hoffnungsträgerin der

Union im Verdacht, bei ihrer Doktorarbeit nicht nur ge-schlampt, sondern auch geschummelt zu haben. Derzeit prüftihre Hochschule in Hannover, ob Ursula von der Leyen, diebislang heißeste Kandidatin für Merkels Nachfolge, ihrenDoktortitel zurückgeben muss.

Und jetzt auch noch das schöne Sommermärchen. Der hei-tere Wendepunkt der Nachkriegsgeschichte, er wurde aufschmutzigem Wege erworben. Wie der SPIEGEL nun enthüllt,hätte es die WM in Deutschland ohne schwarze Kasse garnicht gegeben, sie hätte in Südafrika stattgefunden. Vielesspricht dafür, dass die deutsche WM auch das Ergebnis vonBetrug und Bestechung war; an ihr haften nun Worte, dienicht zu einem Märchen passen.

Es waren nicht irgendwelche grauen Hintermänner, diegegen Regeln verstießen. Es waren vermeintliche deutsche

Lichtgestalten wie Franz Be-ckenbauer, der bislang so ge-nannte Kaiser. Es waren hoheFunktionäre des deutschen Fuß-balls, darunter der heutige DFB-Präsident Wolfgang Niers-bach. Jener Niersbach, dernoch vor Kurzem die Korrup -tion innerhalb der Fifa vomThron der Anständigen herabgeißelte – und der bereits alsnächster Chef der Uefa gehan-delt wurde.

Vielleicht ist es unmöglich,anständig zu bleiben unter denBedingungen eines gnadenlosenKapitalismus – und erst rechtunter den Bedingungen einerdurch und durch korrupten Fifa.Ohne schmutzige Tricks hätteDeutschland als Bewerber umdie Fußballweltmeisterschaftwohl keine Chance gehabt.Aber das entschuldigt nichts.

Ein Land, das mit sich im Reinen sein möchte, muss die Größehaben zu verzichten, wenn sich ein Ziel nur auf unsauberemWege erreichen lässt. Der Anspruch auf Anstand sollte deut-sche Leitkultur bleiben. Es ist ein Unterschied, ob man deneigenen Ansprüchen nicht genügt oder ob man sie von vorn-herein aufgibt.

Das Bild vom hässlichen Deutschen wurde irgendwannvom Image des makellosen Deutschen abgelöst. Beides warenExtreme. Nun scheint sich ein realistisches Bild herauszukris-tallisieren. Deutschland ist nicht schlechter, aber eben auchnicht besser als andere Nationen. Es ist ein Land mit großenStärken und allerhand Schwächen.

Es gibt also keinen Anlass für deutschen Hochmut, keinenGrund für Überlegenheitsgefühle, die sich gerade in diesenTagen wieder in ihrer primitivsten Form zeigen: dem Frem-denhass. Markus Feldenkirchen

6 DER SPIEGEL 43 / 2015

Land der TrickserDer DFB-Skandal zeigt: Es gibt keinen Grund für deutschen Hochmut.

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Beckenbauer in Berlin 2006

Leitartikel

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Unterwegs und

doch zu Hause

WM-Macher Beckenbauer, Niersbach im Juli, Fußballfans während des deutschen Sommermärchens 2006: „Absolut reines Gewissen“

10 DER SPIEGEL 43 / 2015

Titel

Im Juni fand Wolfgang Niersbach, dasser lange genug den Mund gehalten hat-te. Die Zeit war reif für ein Wort an

die Nation. Ein Wort über das Gute unddas Böse im Fußball. Gerade hatte dasBöse, Fifa-Chef Sepp Blatter, seinen Ab-gang angekündigt. Der gute Herr Niers-bach, den es 2012 an die DFB-Spitze hoch-gewirbelt hatte, wie das manchmal so pas-siert mit einem Blatt im Wind, konnte sichnun gefahrlos vorwagen. Er schrieb einenoffenen Brief an die Fußballvereine imLand. Und Niersbach sagte, was Niersbachmeist sagt: das, was alle hören wollen.

Diese schlimmen Korruptionsvorwürfebei der Fifa. Das alles mache ihn einfach„fassungslos“. Aber wirklich traurig seiauch, wie jetzt wegen der „fehlenden Mo-ral einiger weniger“ alles unter General-verdacht falle, sogar „unser wunderbaresSommermärchen“, Deutschlands tolle WM2006, die Geburt einer Nation als friedlich-fröhliches Partyland. Aber „liebe Freundedes Fußballs“, keine Sorge: „Wir habenbei unserer Bewerbung nicht mit unlaute-ren Methoden agiert, vielmehr bekamDeutschland nach acht Jahren akribischerArbeit 2000 in einem sauberen Verfahrenden Zuschlag.“

Wer, wenn nicht er, wüsste das ganz ge-nau, hatte Niersbach vorher schon beteuert.Schließlich sei er vom „ersten Tag bis zurEntscheidung am 6. Juli 2000“ dabei gewe-sen, im Bewerbungskomitee. Keine Frage,er habe da ein „absolut reines Gewissen“.

Der Herr Niersbach.Dies ist die andere Geschichte des deut-

schen Sommermärchens, die dunkle Seite.Die helle, das ist jener Vier-Wochen-Rausch, mit dem sich 2006 das Bild vomhässlichen Deutschen auflöste in TausendeBilder begeisterter Menschen in Schwarz-Rot-Gold. Eine Nation, aber ohne Natio-nalismus, weltoffen, lebensfroh, so wie siesich seitdem gern sieht.

Die andere Geschichte ist eine Rufschä-digung. Sie beschädigt den Ruf einiger dergrößten Namen im deutschen Fußball. Be-ckenbauer, Netzer, Niersbach. Aber wiesich nun zeigt, haben sie selbst den Ruf

des deutschen Fußballs beschädigt. AmEnde dieser Geschichte könnte der Satzvom „absolut reinen Gewissen“ des Wolf-gang Niersbach in einer Reihe mit dem Lü-gen-Ehrenwort eines Uwe Barschel stehen.Niersbach wird dann kaum noch DFB-Prä-sident bleiben und erst recht nicht Uefa-Chef werden können, das ist das vermutlichnächste Karriereziel. Denn wer wüsste bes-ser als er, dass es in Wahrheit wohl dochganz anders gewesen ist. Dass das Som-mermärchen eine schwarze Kasse hatte.

Es gibt ein Geheimpapier vom 23. No-vember 2004. Es geht darin um eine ge-plante Geldüberweisung, und rechts amRand steht eine Notiz – in der HandschriftNiersbachs. Er liefert damit eine Begrün-dung, warum das deutsche WM-Organisa-tionskomitee (OK) Millionen zahlen soll.Dabei handele es sich, so Niersbach, um„das vereinbarte Honorar für RLD“.

RLD? Drei Buchstaben, die elektrisie-ren, drei Buchstaben, die für die Initialenvon Robert Louis-Dreyfus stehen. Im Jahr2000, als die WM vergeben wurde, war erder Vorstandschef von Adidas, Ausrüsterder Nationalelf. Ein Mann mit vielen Inte-ressen, geschäftlichen, privaten, aber vorallem: gut getarnten, wie sich kürzlich he-rausstellte. Obwohl er schon 2009 gestor-ben war, stieg er 2013 zum bekanntestenTurnschuhhändler der Republik auf, zumSchattenmann in einem der spektakulärs-ten Steuerskandale: Es war Louis-Dreyfus,der Bayern-Manager Uli Hoeneß im Jahr2000 heimlich 20 Millionen Mark zur Ver-fügung gestellt hatte, angeblich rein privat,angeblich zum Zocken an der Börse.

Und derselbe RLD lieh dem deutschenBewerbungskomitee vor der WM-Vergabe10,3 Millionen Schweizer Franken, damals13 Millionen Mark. Wieder als Privatmann.Im offiziellen 20-Millionen-Mark-Haushaltdes Komitees tauchte das Geld nicht auf,eine schwarze Kasse, die Spur des Geldesverlor sich. Als aber Louis-Dreyfus dieSumme Jahre später zurückwollte undNiersbach seine Notiz schrieb, waren diedeutschen WM-Macher in der Klemme.Woher das Geld nehmen, 6,7 Millionen

11DER SPIEGEL 43 / 2015

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Sommer, Sonne,SchwarzgeldWM 2006 Seit Jahren stehen die Deutschen im Verdacht, ihreFußball-WM gekauft zu haben. Nun kommt heraus: Derdamalige Adidas-Chef Robert Louis-Dreyfus füllte ihnen eineschwarze Kasse mit über zehn Millionen Schweizer Franken.

Team BeckenbauerDas Netzwerk des Fußball-Kaisers

Horst Dassler ( † 1987 )

Adidas-Chef,Gründer des Sportrechte-

vermarkters ISL

Leo Kirch ( †2011)

TV-Rechte-Inhaberfür die WM 2006

Günter NetzerInfront-Gesellschafter

ab 2002, WM-Botschafterim Bewerbungs-

komiteehalf dabei, die WM für

Deutschland zu sichern –forderte dafür 2009 Hilfe

bei der Bewerbung Katars für die WM 2022gemeinsame ISL-

Vergangenheit

Wolfgang NiersbachMedienchef des Bewerbungs-

komitees, heute DFB-Präsident und Fifa-

Exko-Mitglied

Franz BeckenbauerLeiter des Bewerbungskomitees,anschließend Präsident des WM-

Organisationskomitees (OK),Präsident des

FC Bayern Münchenvon 1994 bis 2009

gemeinsamesInteresse, die WMnach Deutschland

zu holen

vermutlich 2000: Louis-Dreyfus leiht dem WM-Bewerbungskomitee10,3 Mio. SchweizerFranken, Beckenbauersoll Schuldschein unter-schrieben haben

2002: Adidas steigtmit einem Anteil von10 Prozent beim FCBayern München ein

gemeinsamesInteresse, die WMnach Deutschland

zu holen

gemeinsam Weltmeister 1974,Netzer holte Becken-bauer 1980 zum HSV

Geschäfts-partner

Berater-vertrag

Berater-vertrag

Der SportrechtevermarkterInfront ging aus der

Kirch Sport AG hervor

1990 war Niersbach Presseschef des DFB,

Beckenbauer Teamchefder Nationalelf

Marketingfirma International Sport and Leisure (ISL): bis zum Konkurs

2001 Marketingpartner der Fifa und Schmiergeldschaltstelle

Robert Louis-Dreyfus ( †2009 )

Adidas-Chef bis 2001,Inhaber von Infront ab 2002

(ehem. Kirch Sport AG)

Mohamed Bin HammamMitglied des Fifa-

Exekutivkomitees (Exko) bis 2011

Fedor RadmannStrippenzieher der deutschen

WM-Bewerbung, späterBerater des OK

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Euro, und vor allem: mit welcher Legendezurückzahlen? „Honorar für RLD“ – selbstdiese Randnotiz von Niersbach war ganzoffensichtlich eine Tarnung.

Wofür hätte Louis-Dreyfus ein Honorarbekommen sollen? Was er hatte, war einSchuldschein für seinen Millionenkredit.Und darauf soll der bekannteste Name desdeutschen Fußballs gestanden haben: FranzBeckenbauer. Der Chef des Bewerbungs-komitees, der das Sommermärchen nachDeutschland holen sollte. Wofür aberbrauchte das Komitee so viel Geld, so kurz-fristig, so heimlich? Und welche Rolle spiel-te die Fifa, die anscheinend eingeweihtwar? Das Geld zahlte das deutsche Orga-nisationskomitee 2005 nämlich nicht etwadirekt an Louis-Dreyfus zurück. Es liefüber ein diskretes Fifa-Konto. So diskret,dass die Fifa-Macher es nicht bei ihrerHausbank eingerichtet hatten, sondern beieinem anderen Schweizer Geldhaus.

Seit 15 Jahren liegt diese Bombe imdeutschen Fußball, tief vergraben. Sie

stammt aus einer Zeit, als der Weltfußballjede Menge Bomben produzierte, sich alleFunktionäre aber sicher waren, dass keinedavon je hochgehen würde. Weil jeder genug über den anderen wusste und amEnde für jeden genug abfiel. Posten, Pres-tige, Schmiergelder, Ticketkontingente,Fernsehrechte. All die Macht und die Möglichkeiten, die ein Weltverband bereit-hielt, der sich Fifa nannte und als Mafiafunktionierte.

Diese Mafia kontrollierte das Spiel. Siedealte mit einem Stoff, aus dem die Träu-me von Milliarden Fans sind. Sie be-herrschte das Ziel aller Träume, die Welt-meisterschaft. Und sie herrschte damit: Esgab nur einen Weltverband, nur einenWeltpokal, wer hier nicht mitspielte, spiel-te gar nicht. Der Monopolist Fifa: unan-greifbar.

Jetzt aber explodiert das alles. US-Er-mittler und Schweizer Bundesanwälte su-chen nach Hochexplosivem, finden es, las-sen es platzen, ohne Rücksicht auf Namen.

Sie nehmen sich die dubiosen WM-Fern-sehverträge für Mittel- und Südamerika vor.Die anrüchigen Deals mit Eintrittskartenfür WM-Spiele. Die sehr wahrscheinlich ge-kauften WM-Entscheidungen für Russland2018 und Katar 2022. Sie wühlen sich durchden Schmutz aus Jahrzehnten, der sich sohoch türmt, dass die Amerikaner die Fifafür eine „Rico“ halten, eine „Racketeer In-fluenced and Corrupt Organization“ – eineMafia eben. Und bei jeder Bombe, die hoch-geht, spürt man die Erschütterung auch inDeutschland. Das Zittern wird stärker. 2006,die WM, war da etwas?

Juristisch gilt die Unschuldsvermutung,nach den Gesetzen der Logik fällt esschwer, etwas anderes als Schuld zu ver-muten. So verdorben ist die Fifa, dass dielogische Frage schon seit Längerem lautet:Warum sollte da nichts gewesen sein? Wa-rum sollten die Deutschen die einzigenKoi-Karpfen in diesem Dreckstümpel ge-wesen sein? Empfindlich, scheu, allergischgegen jede Eintrübung von Moral und Ge-

12 DER SPIEGEL 43 / 2015

Titel

wissen? Wären sie das tatsächlich gewesen,wie hätten sie überlebt? Und umgekehrt:Weil sie überlebt haben, erfolgreich waren,die WM nach Deutschland holten, könnensie selbst wohl kaum so sauber gewesensein, wie sie gern behaupten.

So weit die Logik. Mit Logik mussteman Fußballfunktionären bisher allerdingsnicht kommen, höchstens mit der Logikvon Geben und Nehmen. Jahrzehntelangließ die Fifa stoisch alle Vorwürfe abtrop-fen, gern mit aufreizend unglaubwürdigenBegründungen. Es galt der Dreisatz Ab-streiten, Ausweichen, Aussitzen. Auch derDeutsche Fußball-Bund (DFB) machte sichall die Jahre die Welt, wie sie Fifa-ChefBlatter gefällt. Bunt und schön, sportlichund fair, ein Sommermärchen eben.

Mit Logik kommt man solchen Märchennicht wirklich bei; Mythen sind zu stark,als dass man sie mit Wahrscheinlichkeitenentlarven könnte. Aber mit Tatsachen gehtdas. Jetzt, da die Tatsachen im Weltfußballendlich etwas zählen.

Flughafen Frankfurt am Main, Juli 2013,das Airport Conference Center: TheoZwanziger, der frühere DFB-Präsident,hat um ein Treffen gebeten, es wird einKrisentreffen. Franz Beckenbauer ist ge-kommen. Niersbach, der 2012 das Amtvon Zwanziger übernommen hat. DFB- Finanzchef Horst R. Schmidt. Und Becken-bauers bester Buddy, Fedor Radmann –ein Mann für Dinge, die ein Kaiser nichtselbst macht. Sie waren die Köpfe des Bewerbungskomitees für 2006, das „RatPack“, das im Jahr 2000 die WM nachDeutschland geholt hatte. Genau das istder Grund, warum sie jetzt hier sitzen.

Denn Zwanziger, der erst 2003 als DFB-Schatzmeister zum Organisationskomiteegestoßen war, drückt eine Altlast, die erordentlich entsorgen will. Eine Geschichte,die sie jetzt alle einholen könnte, aus denJahren 2000 und 2005. Die den deutschenFußball erschüttern würde wie keine an-dere seit dem Bundesliga-Bestechungs-skandal der Siebzigerjahre. Zwanziger sagtangeblich: „Klärt das, sonst sind wir dieGejagten.“

Zwanziger glaubt damals offenbar, dasssie nicht mehr viel Zeit hätten, denn kurzvorher hatte die Ethikkommission der Fifaeine Untersuchung beendet. Dabei war esum die krachende Pleite ihres langjährigenRechtevermarkters in der Schweiz gegan-gen. Mit dem Konkurs dieser ISL war ansLicht gekommen, dass die Firma sich nichtnur am eigenen Größenwahn verschluckthatte, mit immer neuen Verträgen in allenmöglichen Sportarten. Die ISL hatte auchextrem hohe Schmiergelder gezahlt. 142Millionen Schweizer Franken waren alleinvon 1989 bis 2001 bei Fußball- und Olympia -funktionären in aller Welt gelandet, damitdiese den ISL-Leuten günstig Marketing-rechte zuschusterten. Auch der langjährige

Fifa-Chef João Havelange, Blatters Vorgän -ger, hatte sich bestechen lassen.

Es war zwar nicht so, dass die Fifa-Ethik-kommission die Causa nun brutal aufge-klärt hätte. Dass sie mit allen Einzelheitenan die Öffentlichkeit gegangen wäre odersogar Blatter, der in Erklärungsnot geriet,an den Kragen. Aber Zwanziger fragtesich, wohin das noch führen würde. Auchzur deutschen WM 2006?

Zwanziger kommt im Airport Confe-rence Center mit der Idee, beim DFB eineKommission einzurichten, die alles auf-klärt, bevor andere das tun. Denn da gibtes ja die alte Geschichte, von der sie alleam Tisch wissen – Zwanziger spricht sieoffen an: diese Überweisung von 6,7 Mil-lionen Euro im Jahr 2005. Ob die etwasmit Stimmenkauf zu tun hatte?

Wie es heißt, hatte Zwanziger schon seitJahren ein schlechtes Gefühl damit. Vor einpaar Monaten war aus dem schlechten Gefühl aber beinahe Gewissheit geworden.Ein hoher DFB-Funktionär soll Günter Net-zer gefragt haben, was mit den 6,7 Millio-nen damals eigentlich passiert sei. Netzer,der als WM-Botschafter für das Bewer-bungskomitee gearbeitet hatte, antwortetean geblich verblüffend offen: „Damit habenwir die vier Asiaten bezahlt.“ Die vier Fifa-Funktionäre aus Asien, die für die WM in Deutschland gestimmt hatten. Net-zer bestreitet heute auf Anfrage vehement,jemals so etwas gesagt zu haben, selbst andeutungsweise.

Zwanzigers Runde im Airport Centerist jedenfalls nicht nach Reden zumute. Es

kommt nichts Konkretes, nichts Genaues,eigentlich: gar nichts. Zwanziger hakt nach,ob das nicht ein Thema für eine Aufklä-rungskommission beim DFB wäre. Aberdie Idee wird nie umgesetzt.

Es ist ein Treffen, das die fünf Männerauf eine Reise zwingt, zurück in die Ver-gangenheit: zuerst in das Jahr 2005, alsman sich kurz vor der WM auf keinen Falleinen Skandal leisten konnte; dann in dieZeit der WM-Entscheidung 2000, als es soaussah, als hätte Deutschland gegen Süd-afrika schlechte Chancen. Und in Wahrheitführt die Zeitreise für zwei der fünf Män-ner am Tisch noch viel weiter zurück: fürBeckenbauer und Radmann.

1964 begann die größte Karriere im deut-schen Fußball: vom Sohn eines Postober-sekretärs zum Kaiser. Franz Beckenbauerdebütierte mit 18 bei Bayern München, ererfand in den Jahren danach den Libero,der aus der Abwehr heraus das Spiel diri-gierte. Beckenbauer hatte den Blick fürden freien Raum, der Blick ging geradeaus,während der Ball unten am Fuß klebte,das sicherte ihm die Hoheit über das Spielund machte ihn zur Hoheit des Spiels. ZumKaiser Franz. Weltmeister 1974, Weltmeis-ter-Trainer 1990. Eine Legende.

Als einer der Ersten, schon in den Sech-zigern, gewann er aber auch die Hoheitüber das, was der Fußball damals nochkaum war: das Geschäft. Beckenbauerdachte früh ans Geld, sammelte die höchs-ten Werbeverträge ein. Einer der dickstenkam von Adidas und hält bis heute. He-rangeschafft wurden die Kunden von Ro-

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WM-Werber Beckenbauer, Schröder, Schiffer 2000: Was fehlte, war Schwarzgeld

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bert Schwan, einem ehemaligen Gemüse-händler, der wie der Kaiser auf dem Platzeine neue Rolle neben dem Platz erfand:den Sportmanager. Die Verträge ließenbeide über ihre Firma Rofa in der Schweizlaufen.

Rofa – den Namen sollte man sich mer-ken. Denn Jahre später wurde diese Rofazum Vehikel für einen anderen Pionier,der Sport für Millionen in Millionen fürsich verwandeln wollte: Horst Dassler vonAdidas. Vater Adolf hatte 1954 den deut-schen Weltmeistern sein neuestes Produkt,den Schraubstollen, in die Schuhe gedreht.Der Sohn drehte an größeren Dingen. Ausdem Elsass, wo Adidas seinen Frankreich-Sitz hatte, baute er eine Vermarktungsma-schine auf, wie sie die Sportwelt noch nichtgesehen hatte. Er schloss Ausrüstungsver-träge mit Stars, Vereinen, Verbänden, erkaufte das Spiel, um es zu verkaufen.

Dassler hatte eine Vision, Sport als BigBusiness, und es gab nichts, wovon er sichaufhalten ließ. Schon gar nicht Skrupel.Das half beim Schmieren. Legendär seineDatenbank mit Vorlieben und Abneigun-gen von Funktionären, die in den wichti-gen Gremien saßen. Und ebenso berühmt-berüchtigt das Talent, seine Vertrauten inSchlüsselpositionen zu hieven. 1975 quar-tierte er bei Adidas im Elsass einen jungenFifa-Direktor ein. Wie es heißt, ließ sichder Untermieter anfangs von Dassler be-zahlen, weil die Fifa kein Geld hatte. SeinName: Joseph „Sepp“ Blatter.

Dass Dassler 1982 eine Firma aufbaute,die sich im großen Stil um Marken-, späterum Fernsehrechte kümmerte, war nur lo-gisch. Sie ging – so hängt das alles zusam-men – aus jener Rofa von Beckenbauerund Schwan hervor. So entstand die Inter-national Sport and Leisure. Kurz ISL. Eben-jene Firma, die ab 2001 als größte Schmier-geldmaschine der Fifa auffliegen sollte.

Bei der ISL landete zeitweilig auch einJungmanager aus Berchtesgaden: FedorRadmann. Er wurde dort Deutschland-Chef. Zu seinen größten Talenten gehörtees, dass man von seiner Arbeit nicht vielmitbekam. Die Branche verpasste ihm denSpitznamen „Schiebor“. Radmann warProfi auf einem Feld, auf dem sich Freund-schaft und Geschäft verketten, verkletten.Man kennt sich, traut sich, nützt sich, mangibt und nimmt und schweigt. Und beson-ders eng verklettet war Radmann bald mitAdidas-Ikone Beckenbauer. Der Kaiserwar sein Trauzeuge, nannte Radmann ei-nen seiner drei engsten Berater. Wenn Be-ckenbauer redet, hat Radmann schon fürihn gedacht und gemacht.

1998 bekamen Beckenbauer und Rad-mann vom DFB den Auftrag, die WM-Be-werbung auf die Beine zu stellen. Die deut-schen Hoffnungen lagen damit in den Hän-den zweier Männer, die wussten, wie esim Weltfußball wirklich lief.

Beide kannten die Fifa, die Gier ihrerFunktionäre, sie wussten, wie man mit die-ser Gier Politik macht, die nötigen Mehr-heiten gewinnt.

Sie kannten die Interessen von Adidas,beide hatten einen Vertrag mit der Firma,Beckenbauer offiziell, Radmann heimlich.

Sie kannten die ISL, die 1996 den Zu-schlag bekam, die Fifa-Fernsehrechte fürdie Weltmeisterschaften 2002 und 2006 zuvermarkten. Auch dafür hatte die ISL vorihrer Pleite Schmiergeld gezahlt.

Und sie kannten den Münchner TV-Ty-coon Leo Kirch, der die Europa-Rechte fürbeide Turniere übernommen hatte. Be-ckenbauer kommentierte auf Kirchs Sen-dern Fußballspiele und kassierte dafür gut.Radmann wiederum hatte einen Berater-vertrag mit Kirch, nur dass davon nicht je-der wissen sollte. Kirchs Agenda war klar:Er wollte die WM 2006 unbedingt inDeutschland sehen – nach seinen Berech-nungen würde ihm das 250 MillionenSchweizer Franken mehr einbringen alseine WM in Afrika.

Beckenbauer wurde also 1998 Chef derBewerbungsmannschaft, Radmann seinerechte Hand. Hinzu kam DFB-PressechefNiersbach, um den sich die anderen aberkeine Sorgen machen mussten. Der Düs-seldorfer, der jahrelang für den Sport-In-formations-Dienst die Nationalelf begleitethatte, war selten durch Kritik und Courageaufgefallen. Eine wandelnde Wellness-Oase, wie geschaffen dafür, dass sich die

DFB-Mächtigen bei ihm wohlfühlten undFreund Niersbach schließlich einstellten.Und dann war da noch Horst R. Schmidt,Generalsekretär des Verbands. Ein wacke-rer DFB-Bürokrat, aber auch nicht geborenals Neinsager.

Beckenbauer und Radmann waren dieentscheidenden Männer. Sie waren Fleischvom Fleisch eines Systems, in dem sichSauberkeit nicht auszahlt und der Ehrlichedeshalb der Dumme ist. Dumm, gar naivwaren die beiden nicht. Mit das Erste, wasBeckenbauer als Bewerbungschef abräum-te, war die Hoffnung, man könnte die 24Herren im Fifa-Exekutivkomitee, auf diees ankam, mit Pathos beeindrucken. Derdamalige DFB-Chef Egidius Braun hattevorgeschlagen, mit der Strahlkraft derdeutschen Wiedervereinigung um ihreStimmen zu werben. „Interessiert keinenMenschen“, wusste Beckenbauer.

Stattdessen flog er mit Radmann zu je-dem Mitglied des Exekutivkomitees. In dieKaribik, in die Südsee, wo auch immer ereinen der 24 treffen konnte, um ihn zu um-garnen, zu umschmeicheln und sich not-falls als Zeichen gegenseitiger Hochschät-zung einen lebenden Hammel schenkenzu lassen. Beckenbauer, weltmännisch,nonchalant, das Beste, was Deutschlandan Menschenfänger zu bieten hatte, char-mierte und antichambrierte. Aber so wiees aussah, würde all das nicht ausreichen.

Von den 24 Stimmen hatte Deutschlandnur die der Europäer für die geheime Wahl

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WM-Organisatoren Schmidt, Radmann, Niersbach, Beckenbauer 2002: Der Ehrliche ist der Dumme

ziemlich sicher. Acht, vielleicht aber dochnur sieben. Joseph Mifsud, der Malteser,galt als Wackelkandidat.

Um zu gewinnen, brauchte Deutschland,so die Rechnung, 13 Stimmen. Denn beieinem Remis mit Südafrika im letztenWahlgang, 12:12, würde Fifa-Chef Blattermit seinem doppelten Stimmrecht vermut-lich für Südafrika entscheiden. So hatte eres versprochen. Geben und Nehmen: Blat-ter war den Afrikanern seit 1998 noch et-was schuldig, für ihre Unterstützung beiseiner Wahl zum Präsidenten gegen denEuropa-Verbandschef Lennart Johansson.

Sieben Europäer sicher. Um den Malte-ser müsste man sich kümmern. Dazu nocheine Stimme irgendwoher. Und dann dievier Stimmen aus Asien, das würde genü-gen. Aber wer sich mit den Gegebenheitenin der Fifa auskannte, mit der Mentalitätder Funktionäre, der musste wissen, dassCharme allein nicht genug war. Nicht mal,wenn man Bundeskanzler Gerhard Schrö-der und Topmodel Claudia Schiffer ein-spannte. Womit man weiterkommen konn-te, war Geld.

Da gab es zum Beispiel Jack Warner,Chef des Fußballverbandes Concacaf fürNordamerika, Zentralamerika und die Ka-ribik – heute lebenslang gesperrt, weil erangeblich noch im Schlaf die Hand auf-hielt. Oder Ricardo Teixeira, der es alsSchwiegersohn von Ex-Fifa-Präsident JoãoHavelange bis an die Spitze des brasiliani-schen Verbands gebracht hatte und der

sich, wie heute feststeht, von der ISLschmieren ließ. Oder Mohamed Bin Ham-mam, den Katarer. Auch er ist inzwischenlebenslang gesperrt, allerdings weil er of-fenbar selbst geschmiert hat – 2010 etwa,als die WM 2022 nach Katar ging. Abermöglicherweise hatte so einer dann auchVerständnis für das Bestochenwerden, reinhabituell, als Frage der Ehre, ob man ge-fragt wird oder nicht.

Eines allerdings fehlte den Deutschenoffenbar: Geld, genauer: Schwarzgeld.Denn aus dem offiziellen WM-Haushaltließ sich nichts abzweigen, ohne dass esNachfragen hätte geben können. Was tun?

So wie es aussieht, half schon mal Me-dienmogul Kirch aus. Dafür spricht einSchreiben, das noch vor dem Turnier ansLicht kam und die schöne heile Welt derdeutschen WM-Macher erstmals ankratzte.Am 6. Juni 2000, genau einen Monat vorder Entscheidung des Exekutivkomitees, be-richtete darin ein Kirch-Anwalt „persönlichvertraulich“ an Dieter Hahn, die Nummerzwei bei Kirch. Der Hausjurist fasste die Er-gebnisse eines Treffens zusammen, das erkurz vorher mit WM-Werber Radmann ge-habt hatte. In dem Papier listete er sechsVerträge und Vereinbarungen auf, die of-fenbar nur einem Ziel dienten: direkt oderauf Umwegen Stimm-Männer für die deut-sche Sache einzunehmen. Einzukaufen?

Der erste Deal: ein Beratervertrag derKirch-Gruppe mit Elias Zaccour, einem Libanesen, der seit Jahrzehnten in den

Dunst- und Gunstzonen der Fifa zu Hausewar. Nie ein Amt, aber immer da und bes-tens vernetzt, vor allem mit dem südame-rikanischen Kontinentalverband. Zaccourlebte in Rio und hatte sich schon früh alsBerater, Stimmenfänger, Kofferträger fürden Brasilianer Havelange unentbehrlichgemacht. Jetzt galt er als Vertrauter vonHavelange-Zögling Teixeira, der in Züricheinen Monat später mitentscheiden durfte.Und auch als engster Spezi des KatarersBin Hammam, des führenden Asiaten imExekutivkomitee.

Eine Million Dollar von Kirch sollte Zac-cour als Berater kassieren. Wie es im Briefdes Kirch-Anwalts hieß, sollte der Vertragnoch am 6. Juni unterschrieben werden.Dann könne Radmann das Papier Zaccourschon am nächsten Tag persönlich in Mün-chen in die Hand drücken. Auch die ersteRate, 250000 Dollar, solle „auf Bitte vonHerrn Radmann“ sofort auf ein Konto Zac-cours in Luxemburg gehen. Dafür werdeZaccour, so steht es im Vertrag, als Expertefür Filmverwertung und Filmlizenzen zurVerfügung stehen.

Das war natürlich Humbug. Wenn sichKirch mit einem gut auskannte, dann mitFilmrechten. Und wenn sich Zaccour mitetwas gut auskannte, dann mit Fußball undPferden. Dass Radmann, der WM-Werber,den Vertrag möglichst schnell unterschrie-ben sehen wollte, konnte deshalb nur mitZaccours Verbindungen im Fußball zu tunhaben. Sollte er mit dem Geld die Süd-amerikaner schmieren, die Südafrika un-terstützten? Sicher ist: Bis zur Kirch-Pleitefloss tatsächlich eine halbe Million Dollaran Zaccour, der Insolvenzverwalter fandnie heraus, wofür; an Zaccour war nichtheranzukommen.

Die anderen Deals, die der Kirch-An-walt in dem Papier nennt, waren auf denersten Blick genauso absurd – nicht aberauf den zweiten: dann nämlich, wenn siehelfen sollten, Stimmen für Deutschlandzu gewinnen. Es ging um Freundschafts-spiele von Bayern München auf Malta, inTunesien, in Thailand und in Trinidad oderCosta Rica. In Ländern also, in denen esfür eine Mannschaft wie die Bayern keineernsthaften Gegner gab. Allerdings hießder Präsident von Bayern München damalsFranz Beckenbauer. Und vier Stimmen imFifa-Exekutivkomitee kamen aus: Malta,Thailand, Tunesien und Trinidad.

Für jedes dieser Spiele sollte demnachGeld an die Gastgeber fließen; Geld fürFernsehrechte. Die Verhandlungspartneraufseiten der Gastgeber waren laut Papier:Joseph Mifsud, der Wackelkandidat ausMalta. Worawi Makudi, der Thailänder imKomitee, Jack Warner, der notorischeHandaufhalter aus Trinidad. Und ein „Mr.Chiboub“ aus Tunesien. Der entschiedzwar nicht über die WM, war aber derSchwiegersohn des Staatspräsidenten. Soll-

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Fifa-Chef Blatter am 6. Juli 2000 in Zürich: 12:11 für Deutschland

te Chiboub dafür sorgen, dass der tunesi-sche Wahlmann Slim Aloulou für Deutsch-land stimmte?

Blieb ein Problem: Wer zahlte Fernseh-gelder für Spiele gegen Gegner, die kaumeiner sehen wollte? Auch das wurde mitdem Protokoll des Treffens zwischen Rad-mann und dem Kirch-Anwalt aufgeklärt:die CWL, ein Sportrechtevermarkter, denKirch ein Jahr vorher gekauft hatte. Ge-führt wurde die CWL von einem anderendeutschen Fußball-Prominenten, GünterNetzer, praktischerweise WM-Botschafterdes Bewerbungskomitees.

Netzer müsse noch den Vertrag mit dem Tunesier Chiboub unterschreiben,hieß es im Gesprächsprotokoll; danach sei-en 300000 Dollar fällig. Die Verträge mitJack Warner seien schon unter Dach undFach. Das Geld müsse auf ein Treuhand-konto gehen, ebenso das für den MalteserMifsud, der auch schon unterschriebenhabe. Warum die CWL die Fernsehgelderauf Treuhandkonten schicken sollte, wurdenicht weiter erklärt, offenbar wussten alleBescheid. Noch merkwürdiger: Das vierteSpiel, in Thailand, hatte schon stattgefun-den. Trotzdem sollte Netzer jetzt einenVertrag unterzeichnen und „so schnell alsmöglich“ zahlen.

Tatsächlich floss Geld. Die Bayern spiel-ten auch nicht nur in Thailand, sondernnoch auf Malta und in Tunesien. Nur derTrip nach Trinidad blieb ihnen am Endeerspart; dafür zahlte also auch die CWLwohl nichts. Von den Partien bekam dieFernsehnation allerdings kaum etwas mit.Die Begegnung in Bangkok lief erst gar

nicht im TV; die beiden anderen Spielewurden in Kirchs Spartenkanal DSF vor kleinem Publikum versendet. Im Falldes Malta-Funktionärs Mifsud landeten250000 Dollar erst mit vier Monaten Ver-spätung bei seinem Verband. Wo das Geldvorher war, blieb unklar; die Frage beschäf-tigt bis heute Gerichte. Ebenso, ob das dieganze Summe war, die CWL zahlte, oderob nicht ein Teil bei Mifsud versickerte.

Die CWL behauptete damals, alle Gel-der seien an die Verbände gegangen, nichtan Privatpersonen. Auch Mifsud bestritt,persönlich von dem Geld profitiert zu ha-ben. Von Warner, Makudi und Chiboubwar weder damals noch heute eine Stel-lungnahme zu dem Vorgang zu erhalten.

Das alles roch immerhin nach einem ver-suchten Stimmenkauf kurz vor der WM-Entscheidung. Doch als das „manager ma-gazin“ das Papier 2003 bekannt machte,blaffte Beckenbauer in der „Bild am Sonn-tag“: „Wer meint, dass man mit Freund-schaftsspielen eine WM bekommt, hat kei-ne Ahnung.“ Und Radmann behauptete:„Wer mit dicken Kuverts herummarschiert,hat schon verloren.“ Freundschaftsspiele,um Entscheider „positiv zu stimmen“, sei-en allerdings „international üblich“.

Damals kamen Radmann und Becken-bauer damit durch. Aber nur, weil ihr größ-tes Geheimnis nicht aufflog. Weil nur einkleiner Kreis wusste, dass sich die deut-schen WM-Werber kurz vor der Entschei-dung einen riesigen Schwarzgeldschatz be-sorgt hatten. Die Millionen von RLD.

Wann genau Robert Louis-Dreyfus demdeutschen Bewerbungsteam 10,3 Millionen

Schweizer Franken lieh, ist nicht bekannt.Viel spricht für das Frühjahr 2000, als sichabzeichnete, dass Deutschland nicht aufdie nötigen Stimmen kommen würde.Aber dass Louis-Dreyfus der Mann für un-konventionelle, auch unerlaubte Wege war,wusste damals schon jeder, der seine Vitagelesen hatte. Er hatte das Geld, er liebteden Erfolg, er hielt sich nicht gern an Re-geln. Er war: der Chef von Adidas.

Louis-Dreyfus stammte aus einer alten,reichen Handelsfamilie, aber sein Harvard-Studium hatte er sich als Pokerspieler undmit dem Verkauf von Bibeln finanziert.Und als er in der Familienfirma nichtschnell genug Chef werden konnte, kaufteer sich lieber bei einem US-Unternehmenein. Beim Abschied von RLD war die Firma siebenmal mehr wert, doch vor seinem Ausstieg gab er noch Insider- Tipps weiter und kassierte deshalb eineGeldbuße. Nicht die letzte Verurteilung:Ende der Neunziger, als Eigner von Olym-pique Marseille, war er bei Spielertrans-fers in illegale Zahlungen verwickelt; da-für gab es sogar zehn Monate Gefängnisauf Bewährung.

1993 kaufte er 15 Prozent von Adidas,sein nächster Geniestreich als Unterneh-mer: Er holte den kriselnden Konzern ausden roten Zahlen, setzte auf Marketing,große Sportlernamen, große Vereine, gro-ße Verträge, er machte Adidas wieder zurIn-Marke, zum Liebling der Spieler, derRapper, der Börse. „Europa gehört uns.Hier sind wir. Überall“, mit diesen Wortensteckte er 1997 das Terrain gegen den US-Konkurrenten Nike ab. Ob er da die Fuß-

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Public Viewing auf der Fanmeile in Berlin 2006: Begeisterte Menschen in Schwarz-Rot-Gold

ball-WM nach Deutschland holen wollte?Na klar, was sonst?

Louis-Dreyfus war nicht nur der starkeMann bei Adidas. Er war wie Adidas – hattedieselbe DNA: Es gibt immer einen Wegzum Ziel, und dieser Weg geht über guteBeziehungen. Genauso wie bei seinem Vor-gänger Horst Dassler, der 1987 an Krebs ge-storben war. Was privat, was geschäftlichwar, ließ sich auch bei dem Franzosen nurschwer unterscheiden, es war ja auch keinWiderspruch: Im September 2000 lieh Louis-Dreyfus seinem Freund und Bayern-Mana-ger Uli Hoeneß heimlich 5 Millionen Markund stand für weitere 15 Millionen gerade.Angeblich, damit Hoeneß an der Börse seinGlück versuchen konnte.

Ein Jahr später schloss Bayern Münchenmit Adidas einen neuen Ausrüstervertragab, obwohl Nike mehr geboten hatte. Unddann kündigte Adidas auch noch an, mitzehn Prozent bei den Bayern einzusteigen.Was das alles mit dem Louis-Dreyfus-Kre-dit für Hoeneß zu tun hatte? Wenn manden Bayern glaubt, nicht das Geringste.

Aber man kannte sich, man half sich,nun also half RLD auch Bayern-PräsidentFranz Beckenbauer und seiner WM-Be-werbung, die zu scheitern schien. Unddann wundersamerweise doch nicht schei-terte.

Am 6. Juli 2000 in Zürich hatte Deutsch-land im zweiten Wahlgang elf Stimmenbekommen, genauso viele wie Südafrika.Zwei Stimmen waren an England gegan-gen, damit waren die Engländer wie vor-her die Marokkaner ausgeschieden. Jetztkam es darauf an, wohin diese beiden Stim-

men im letzten Durchgang wandern wür-den. Eine ging nach Deutschland, die vomSchotten David Will. 12:11. Was aber wür-de Charles Dempsey machen, der 79-jäh-rige Neuseeländer, dessen Verband ihn an-gewiesen hatte, für Südafrika zu stimmen?Den letzten Wahlgang schwänzte er undsetzte sich in einen Flieger nach Hause.12:11, Deutschland hatte gewonnen.

Was den greisen Dempsey trieb, ist seit-dem ein Rätsel geblieben – und Gegen-stand wilder Spekulationen. Bis zu seinemTod 2008 blieb er dabei, er habe sich durchTelefonterror von allen Seiten in der Nachtvor der Wahl so unter Druck gefühlt, dasser es nicht mehr ausgehalten habe. Einesgeriet in der ganzen Aufregung darüberaber bald aus dem Blick: der Block derAsiaten. Alle vier Stimmen aus Asien gin-gen an Deutschland. Ohne ihre Stimmenwäre Deutschland verloren gewesen.

„Die Asiaten hätten mehr als jeder an-dere verstehen müssen, was die WM fürAfrika bedeutet“, klagte gleich danach einverbitterter Raymond Hack, Generalsekre-tär des südafrikanischen Verbands. „Siehaben uns total betrogen.“ Weil Deutsch-land geschmiert hatte? Es gibt dafür bisherkeinen Beweis, Beckenbauer und Rad-mann haben so etwas stets zurückgewie-sen. Aber es gibt Verdachtsmomente dafür,dass die zehn Millionen Franken von RLD,die im Nichts verschwanden, in den richti-gen Taschen wieder aufgetaucht sind.

Denn da ist nicht nur der angebliche,von Günter Netzer bestrittene Satz im Ge-spräch mit einem DFB-Mann – „damit ha-ben wir die vier Asiaten bezahlt“. Neun

Jahre später schrieb der Katarer MohamedBin Hammam, einer der vier, eine Mail.Er bat Beckenbauer, inzwischen selbstExko-Mitglied, um Unterstützung für dieWM 2022 in Katar. Bei der Gelegenheit er-innerte Bin Hammam daran, dass er „ge-holfen habe, die asiatischen Stimmen fürDeutschland zu sichern“.

Und im Oktober 2009 flog Beckenbauermit Freund Radmann nach Doha. Dortempfing sie der Emir, um Beckenbauer aufKatar-Kurs zu bringen. Wie die „SundayTimes“-Autoren Heidi Blake und JonathanCalvert in ihrem Buch „The Ugly Game“über die mutmaßlich gekaufte Katar-WMschreiben, ließ der Emir die Deutschennicht aus der Pflicht: Katar habe Deutsch-land die Stimmen besorgt, nun müsseDeutschland Katar helfen.

Ob und wie viel Geld aus Deutschlandnach Asien ging – unklar. Zumindest BinHammam, der Südkoreaner Chung MongJoon aus der Autodynastie Hyundai undAbdullah al-Dabal aus der saudischen Kö-nigsfamilie waren so reich, dass Geld fürsie kein Motiv sein sollte; es sei denn, Geldwäre immer ein Motiv, und Korruption ge-hörte schlicht zum Geschäft. Außerdemkönnten andere Dinge sie überzeugt ha-ben: Kurz vor der Entscheidung fällte derBundessicherheitsrat den Beschluss, Sau-di-Arabien 1200 Panzerfäuste zu liefern.DaimlerChrysler, über die Marke Merce-des Hauptsponsor des DFB, stieg für 428Millionen Dollar bei Hyundai ein.

Der vierte Asiate, der Thailänder Ma-kudi, Spitzname „Mister 10 Prozent“, stehtdagegen schon seit Jahren ständig unter

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Jubelnde Nationalspieler nach dem Viertelfinalsieg gegen Argentinien in Berlin 2006: Nation ohne Nationalismus

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Korruptionsverdacht. Er soll sich an Gel-dern aus dem Fifa-Entwicklungshilfe-Pro-gramm Goal bereichert haben. Und er hatangeblich von einem Gasdeal der Katarerprofitiert, weil er für die WM 2022 in Katargestimmt hatte. In dieser Woche wurde ernun von der Fifa-Ethikkommission 90 Tagelang für alle Ämter gesperrt, kündigte aberEinspruch an und behauptete, er habe„nichts falsch gemacht. Was ich getan habe,war absolut legal“.

Makudi und der Katarer Bin Hammamließen Anfragen des SPIEGEL zu ihremStimmverhalten im Juli 2000 unbeantwor-tet; neben dem Neuseeländer Dempsey istauch der Saudi al-Dabal tot. Der Südko-reaner Chung wiederum meinte, die SPIE-GEL-Fragen seien es nicht wert, beantwor-tet zu werden.

Doch wo auch immer die Millionen vonLouis-Dreyfus geblieben waren, beim DFBtauchten sie 2004 wieder auf. Nicht mehrin Scheinen, sondern als Schreckgespenst.Denn womit offenbar keiner gerechnet hat-te: Louis-Dreyfus wollte sein Geld zurück.

Im Januar 2005 informierte der Vizeprä-sident des Organisationskomitees, HorstR. Schmidt, die DFB-Spitze höchst vertrau-lich über Altschulden, wie er das nannte.Es handle sich um einen Posten, der imZusammenhang mit der WM-Bewerbungentstanden sei.

Im Jahr vor der WM führten zwei Präsi-denten den Verband, Gerhard Mayer-Vor-felder und Theo Zwanziger. Schmidt beich-tete ihnen, dass sich das Bewerbungsko-

mitee vor der WM-Vergabe 10,3 MillionenSchweizer Franken geliehen habe, 6,7 Mil-lionen Euro. Jetzt müsse das Geld zurück;die Sache sei dringend. Zwanziger, auchVize im Organisationskomitee, müsse tun,was zu tun sei.

Mayer-Vorfelder und Zwanziger sollengeschockt, perplex, fassungslos gewesensein. Das Geld war nie im Haushalt desBewerbungskomitees aufgetaucht. Undnach dem Zuschlag für Deutschland auchnicht im Haushalt des Organisationskomi-tees. Wie sollte Geld aus einer schwarzenKasse, das es offiziell nie gegeben hatte,jetzt aus einem offiziellen Geldkreislaufzurückgezahlt werden?

In ihrer Not fuhren Zwanziger, Schmidtund auch Netzer, der Louis-Dreyfus gutkannte, zum Franzosen. Eine Betteltour;Louis-Dreyfus sollte auf die Rückzahlungverzichten. Aber der ließ sie ausgesuchthöflich abblitzen. Als Geschäftsmann habeer nun mal nichts zu verschenken, und dieDeutschen sollten sich freuen, dass es mitder WM geklappt habe. Da komme dochauch sicherlich einiges an Geld herein.

Ein Desaster. Was nun?Die Anleitung dafür findet sich in zwei

Papieren, die an einen offiziellen Beschlussdes deutschen Organisationskomitees ausdem April 2005 getackert sind. Der offi-zielle Beschluss besagte, dass die Deut-schen rund sieben Millionen Euro an dieFifa zahlen wollten; Begründung: „BeitragKultur-Programm Fifa“. Die Schmuddel-papiere im Anhang aber erzählen die Wahr-

heit, eine Regieanweisung, wie RLD auf die -sem Weg sein Geld zurückerhalten sollte.

Kultur-Programm der Fifa? Tatsächlichplante der Österreicher André Heller da-mals eine große Gala im Berliner Olym-piastadion. Einen Tag vor dem Eröffnungs-spiel in München sollten Popstars wie Pe-ter Gabriel und Brian Eno zusammen mitTausenden Statisten das Gastgeberland insbeste, bunteste Licht setzen. Bezahlenwollte das Spektakel die Fifa; die voraus-sichtlichen Kosten: 22 Millionen Euro.

Für das deutsche Organisationskomiteewar das offenbar der passende Deckman-tel, um die 6,7 Millionen Euro unauffälligan Louis-Dreyfus zurückzuschieben. Keineeinfache Operation, aber immerhin: einemögliche. Dabei konnte es sicherlich nichtschaden, dass im Komitee Fedor Radmannals Berater für die Kultur zuständig war.

Dass der Zuschuss der Deutschen fürdie Fifa-Gala eine Legende war, um Geldüber den Weltverband an Louis-Dreyfuszu schicken, zeigen die Anmerkungen aufden Schmuddelpapieren. Das erste ist einFax vom 23. November 2004 – das Schrei-ben mit der Niersbach-Notiz. Abgeschickthatte es laut Fax-Kennung die Fifa in Zü-rich. Allerdings trägt es den Briefkopf desdeutschen Organisationskomitees. Es han-delt sich offenbar um einen Vorschlag, wiedie Deutschen ein Schreiben an die Fifaaufsetzen sollten – ein Schreiben, mit demsich die Rückzahlung an Louis-Dreyfus le-gendieren ließ. Auf dem Papier ist dasWort „Kultur-Programm“ eingekreist. Von

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Wer ein Ehrenamt übernimmt, en -gagiert sich freiwillig und unent -

geltlich. In der Lokalpolitik, in Stiftun-gen, in der Sozialarbeit oder in Vereinen.

Im Fußball hat Altruismus indes eine ganz eigene Bedeutung – zumin-dest in den höchsten Gremien des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). DieFrage, wie selbstlos jemand sein sollte,wenn er den Posten des DFB-Präsiden-ten übernimmt, spielte bei der Wahlvon Wolfgang Niersbach eine wichtigeRolle.

Als Niersbach im März 2012 TheoZwanziger ablösen sollte, waren dieFunktionäre in Not. Niersbach hatte ei-nen Vertrag als DFB-Generalsekretär,der ihm rund 300000 Euro jährlich ein-brachte. Für sein Ehrenamt musste erdiesen Posten aufgeben.

Als Präsident sollte Niersbach wiesein Vorgänger Zwanziger eine Auf-wandsentschädigung in Höhe von rund70000 Euro im Jahr erhalten. Finanziellwäre der Aufstieg zum Anführer desgrößten Sportfachverbands der Welt für den früheren Journalisten also einVerlustgeschäft gewesen.

Deshalb gab es beim DFB Überlegun-gen, Niersbach den Übergang mit ei -ner Abfindungszahlung zu versüßen.Rechtlich wäre dies allerdings bedenk-lich gewesen, weil Niersbach freiwilligaus seinem Amt schied. Nach einigenGesprächen entschloss sich Niersbach, freiwillig auf eine Abfindung zu ver -zichten. Er bestand aber auf der sofor -tigen Zahlung seiner Altersversorgung.

Niersbach hatte 1993 eine Ergänzungseines Arbeitsvertrags mit dem DFB

Geld oder EhreFunktionäre Verträgt sich die DFB-Betriebsrente für Wolfgang Niersbach mit seinem Ehrenamt?

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DFB-Präsident Niersbach

„Völlig anderes Verständnis vom Ehrenamt“

dort führt eine Linie zu jener Notiz, die inNiersbachs Handschrift am Rand steht:„das vereinbarte Honorar für RLD“. Andieses Papier war dann noch ein zweitesgeklammert, bei dessen Lektüre jedemklar werden musste, dass es sich um dieGebrauchsanleitung für eine Geldwasch-maschine handelte. Auf Englisch hieß esdort, das Geld werde nur pro forma aufdas Fifa-Konto bei der BNP Paribas inGenf überwiesen, Kontonummer 8686-6.

Von dort solle die Summe gleich „zuguns-ten des Kontos 3136594 bei der Zürich- Filiale“ weitergeleitet werden. Wem diesesKonto gehört, steht in Versalien hinter derNummer: „RLD“. Robert Louis-Dreyfus.

Die Geldanweisung an das Fifa-Kontoin Genf trug die Signaturen von Zwanzigerund Schmidt. Irgendwer, das war allen Be-teiligten wohl klar, musste es ja tun, wenndie Deutschen nicht ein Jahr vor der WMeinen Riesenskandal riskieren wollten – ei-

nen Skandal mit der Lichtgestalt des deut-schen Fußballs im Zentrum. Gleich unterNiersbachs verräterischer Randnotiz hattenämlich auch OK-Vize Horst R. Schmidteine Anmerkung gemacht und mit seinerParaphe versehen. „Schuldschein zurück“.Es gab also eine schriftliche Schuldan -erkenntnis, die man sich sofort nach derÜberweisung an Louis-Dreyfus zurückho-len wollte. Und die Unterschrift unter demSchuldpapier soll die vom Chef der deut-

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unterzeichnet, die ihm ab dem 66. Le-bensjahr eine Betriebsrente von 42 Pro-zent seines Gehalts zusicherte. Mit je-dem weiteren Jahr, in dem er dem DFBdiente, sollte der Satz um einen Punktsteigen – bis auf maximal 65 Prozent.

Im Jahr 2012 hätten Niersbach dem-nach 61 Prozent seines Gehalts zugestan -den – rund 180000 Euro. Der desi gnier -te Präsident war damals 61 Jahre alt.Grundsätzlich konnte er seine Betriebs-rente auch vor seinem 66. Lebensjahrbekommen. Aber es gab diesen Punkt 4seines Vertrags zur Altersversorgung.Darin steht, dass er die vorzeitige Rentenur dann erhalten darf, wenn er „ausden Diensten des DFB“ ausscheidet.

Nur: Scheidet jemand wirklich ausden Diensten des Verbands aus, wenner dessen Präsident wird? VorgängerZwanziger, selbst Jurist, war sich indieser Frage sicher: Nein, Niersbachstehe dieses Geld nicht zu. Rechtlichnicht und ethisch erst recht nicht. Erhabe offenbar ein „völlig anderes Ver-ständnis vom Ehrenamt“ als Niersbach,sagte Zwanziger.

Trotz aller Bedenken bekam und be-kommt Niersbach sein Altersgeld. Alsseine Rentenforderung Schlagzeilenmachte, ließ der DFB mitteilen, der Ver-band habe die Altersversorgung „gutach-terlich geprüft“, sie sei mit der Gemein-nützigkeit vereinbar. Allerdings war dieExpertise intern sehr umstritten. DerName des Urhebers wurde DFB-Funktio-nären vorenthalten, offenbar war dasGutachten nicht von einem unabhängi-gen Sachverständigen verfasst worden.

Zudem fürchteten einige DFB-Her-ren den Zorn der Basis über die Ren-tengabe an den neuen Präsidenten. DerDFB-Bundestag sollte nicht darüberentscheiden. Die „Sport Bild“ titelte ineinem Bericht über den Neu-Präsiden-ten, dass „Niersbach auf viel Geld ver-zichtet“. Das ist falsch. Niersbach liegtmit der Aufwandsentschädigung undder Betriebsrente nur wenig unter sei-nem Gehalt als Generalsekretär.

Zudem sprudelten schon bald neueQuellen. Niersbach folgte seinem Vor-gänger als Mitglied der Exekutivkomi-tees von Uefa und Fifa. Die Fifa gibt

nicht preis, wie viel Honorar sie ihren25 Exekutivmitgliedern zahlt. Die briti-sche Zeitung „Sunday Times“ enthüll-te im vergangenen Jahr aufgrund inter-ner Papiere, dass die Funktionäre imSchnitt 200000 Dollar im Jahr bekom-men, dazu 700 Dollar Tagesspesen. AlsZwanziger die Ethikkommission derFifa bat, den Rentenfall Niersbach zuprüfen, fand sie nichts Anstößiges.

Auch die Uefa hält ihre Zahlungenan die 17 Exekutivmitglieder geheim.Sie dürften bei mindestens 50000 Euroim Jahr liegen. Zum Vergleich: Das In-ternationale Olympische Komitee ver-öffentlicht seine Zahlungen. Demnacherhält jedes Exekutivmitglied 7000 Dol-lar Aufwandsentschädigung pro Jahr,plus 900 Dollar Tagespauschale. Aufeine Anfrage äußerte sich Niersbachnicht zu seinen Einkünften.

Im Fußball sind Ehrenämter aufhöchster Ebene jedenfalls ein gutes Ge-schäft. Niersbach dürfte derzeit alsRentner mehr Geld auf sein Konto ge-spült bekommen, als er jemals als Fest-angestellter beim DFB erhielt.

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Unternehmer Louis-Dreyfus, Sportrechtehändler Netzer 2006: „Honorar für RLD“

schen Bewerbung höchstpersönlich gewe-sen sein, Franz Beckenbauer.

Offen bleibt, aus welchem Topf das WM-Organisationskomitee schließlich die 6,7Millionen für Louis-Dreyfus nahm. Feststeht dagegen, dass die Deutschen für denSchleichweg des Geldes zu Louis-Dreyfuseinen Verbündeten beim Weltverband hat-ten. Einen, der den Geldfluss über die Fifasicherstellte. Und der auch Bescheid wuss-te, als ein halbes Jahr vor der WM dasTarnschild der ganzen Operation wegflog,die Eröffnungsgala in Berlin. Der Weltver-band sagte sie im Januar 2006 ab – angeb-lich, um den Rasen im Olympiastadion zuschonen. Danach hätte es zwischen Fifaund Organisationskomitee ein ziemlichesHickhack wegen des deutschen Zuschussesgeben können – Fragen, die keiner brauch-te. Und offenbar keiner stellte.

Angeblich war der Mann für die Deut-schen bei der Fifa der damalige General-sekretär Urs Linsi. Er soll ihnen das Kontobei der BNP Paribas in Genf genannt ha-ben. Ein Fifa-Konto, das möglicherweiseextra für diskrete Geldflüsse aller Art ein-gerichtet worden war. Denn die Hausbankder Fifa ist die UBS. Wollte der Weltver-band mit dem Konto bei der BNP Paribasalso einen weiteren Sichtschutz einziehen?

Schwer vorstellbar allerdings, dass Linsiso etwas im Alleingang gewagt hätte. AuchBlatter hätte eigentlich davon wissen müs-sen. Steckte das dahinter, als Blatter imJuli 2012 die aufflammende Kritik derDeutschen an ihm mit nur einem Satz sogut wie erstickte? „Gekaufte WM ... Da

erinnere ich mich an die WM-Vergabe für2006, wo im letzten Moment jemand denRaum verließ.“ Danach war Ruhe im deut-schen Lager.

Das alles dürfte irgendwann auch nochmal die Schweizer Bundesanwälte und dieUS-Ermittler interessieren. Louis-Dreyfuskann zu alldem nichts mehr sagen, er starbmit 63 Jahren an Leukämie. Auch GerhardMayer-Vorfelder lebt nicht mehr. BeimDFB brach am Mittwochmittag Krisenstim-mung aus, nachdem der SPIEGEL seine Fra-gen an Wolfgang Niersbach geschickt hatte.Trotz der massiven Vorwürfe gegen denPräsidenten blieb der Verband schmallip-pig: Auf den umfangreichen Fragenkatalogkönne man „aus zeitlichen Gründen“ nichtrechtzeitig anworten, „zumal unsere DFB-Spitze heute den ganzen Tag in Sitzungender Uefa“ sei. Das war alles.

Beckenbauer, Radmann und Schmidtreagierten nicht auf eine Anfrage des SPIE-GEL. Netzer will von der Entstehung einesDarlehens von Louis-Dreyfus und einerRückzahlung nichts gewusst haben. Er be-streitet insbesondere, dass er den Franzo-sen persönlich gebeten habe, auf die Rück-zahlung zu verzichten. Ex-Fifa-GeneralUrs Linsi verwies auf seine Geheimhal-tungspflicht. Der suspendierte Fifa-ChefBlatter ließ wissen, ihm sei das Louis-Drey-fus-Darlehen nicht bekannt. Aus Fifa-Krei-sen hieß es allerdings, man kenne inzwi-schen das Konto bei der BNP Paribas inGenf. Es sei aus „vielerlei Gründen span-nend“, man wisse auch, dass Geld ausDeutschland über dieses Konto geflossen

sei. Womöglich habe sich Linsi von denDeutschen einspannen lassen.

Zwanziger sagt, er könne die Dinge„nur aus dem Gedächtnis zusammenfas-sen“, weil er nicht mehr an Akten von OKoder DFB herankomme. Über die geplanteEröffnungsgala sei aber lange mit der Fifageredet worden. Verhandlungen, die „imWesentlichen unser Beauftragter Radmannführte“, der sicher auch die Begründungfür eine Zahlungsvorlage geliefert habe.

Und er bestätigte das Treffen mit Be-ckenbauer, Niersbach, Radmann undSchmidt im Jahr 2013 im Frankfurter Air-port Conference Center. Grund dafür seien„insbesondere“ die Schmiergeldzahlungender Rechtefirma ISL gewesen. Insbesonde-re? Und was noch? Louis-Dreyfus? Daslässt Zwanziger auf ausdrückliche Fragendes SPIEGEL offen. Ein Dementi ist dasnicht. Er habe damals „eine Überprüfungangeregt, wobei die übrigen Teilnehmermir allerdings vermittelten, dass sie keineErkenntnisse hätten“.

15 Jahre hat es gedauert, bis die Logikund die Tatsachen nun offenbar zusam-mengefunden haben: Warum sollte diedeutsche WM die einzig saubere gewesensein? Sie war nicht sauber. Das verändertdie Bilder jenes Sommers: Die Magie warecht, die Magier aber, die das Sommermär-chen herbeigerufen haben, waren wohldoch nur Trickser. Und aus Tricksern wur-den Heuchler.

Am Abend ihres Triumphes am 6. Juli2000 trafen sich die deutschen WM-Werberin Küsnacht, im Seehotel Sonne, sie saßendraußen im Garten, ein kleiner Kreis, aberstatt Champagnerlaune war die Stimmungwie auf einer Beerdigung. Still, gespens-tisch. Schon um Mitternacht brachen sieauf. Als Niersbach zwei deutsche Journa-listen sah, fing er an zu schreien: „Ihr! Ihrnatürlich! Ihr wollt uns die WM kaputt ma-chen.“ Netzer musste ihn festhalten undihm sagen, er solle sich beruhigen.

Die Ruhe, das Schweigen, hielt danach15 Jahre lang. Damit ist es nun vorbei. Sowie mit den Illusionen. Im Weltfußball, wieihn die Fifa erschaffen hatte, war kein Platzfür Menschen mit „absolut reinem Gewis-sen“. Nur für Mitwisser, wie Niersbach. Esgab auch kein Reservat für deutsche Licht-gestalten; die Fifa machte jeden Helden fahlund grau, selbst Beckenbauer. Wie es heuteaussieht, wird die Fifa aber zusammenbre-chen oder sich radikal verändern müssen.Und auch der Deutsche Fußball-Bundbraucht nun mehr Licht. Mehr Gewissen.

Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, Udo Ludwig,

Jörg Schmitt, Jens Weinreich

20 DER SPIEGEL 43 / 2015

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Organisator Beckenbauer, Berater Radmann während der WM: Kein Reservat für Lichtgestalten

Video: Wie die WM 2006

wirklich nach Deutschland kam

spiegel.de/sp432015wm oder in der App DER SPIEGEL

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Titel

SPIEGEL: Herr Pieth, Herr Zwanziger, dieUS-Justiz betrachtet den Fußball-Weltver-band Fifa als von Gangstern dominiertekriminelle Vereinigung. Fast täglich gibtes neue Enthüllungen und Suspendierun-gen, die nächsten Verhaftungen sind ange-kündigt. Ist diese Fifa noch zu retten?Pieth: Die Fifa als Institution ist zu retten,sie macht bei der Organisation ihrer Wett-bewerbe eigentlich einen ganz guten Job.Aber sie braucht eine andere Führungs-spitze. Derzeit ist sie ein Patronage-Netz-werk mit Ämterschacherei, Stimmenkauf,Geld und anderen Gefälligkeiten. Es isteine Form von Machtpolitik, bei der esgröber zugeht als in der großen Politik.Wir können das bei Machiavelli nachlesen.Zwanziger: Natürlich muss die Fifa gerettetwerden. Sie hat jede Menge kompetenteund engagierte Mitarbeiter. Die Autoritätder Führungsriegen ist jedoch dermaßenangeschlagen, dass es keinen Mitspielermehr gibt, der in der Lage wäre, die an -stehenden strukturellen und personellen Zukunftsfragen zu lenken. Weil mir diese Zukunft aber am Herzen liegt, äußere ichmich nun auch – obwohl ich angekündigt

hatte, keine Interviews mehr zum ThemaFifa zu geben. Mein Befund lautet: Die Fifaist in der Hand der Staatsanwaltschaftenund in der Hand des FBI, und die Ergeb-nisse der eigenen Ethikkommission müsseninfrage gestellt werden. Hier ist also keineFührung mehr, sondern ein Vakuum. Da-raus ergeben sich Konsequenzen.SPIEGEL: Die wären?Zwanziger: Die verbliebenen, nicht suspen-dierten Mitglieder des Exekutivkomiteesmüssen geschlossen zurücktreten! Dannmüsste ein Übergangskomitee, in das unterUmständen auch Experten des SchweizerStaates eingebunden werden sollten, füreine Verfassung der Fifa sorgen – mit Ele-menten, die bisher vor allem an der Blo-ckade der Europäer gescheitert sind: Amts-zeitbegrenzungen, unabhängige Leumunds -prüfungen und vieles mehr. Erst wenn einsolches Compliance-Konstrukt vorliegt,können sich wieder alle für Ämter bewer-ben, die integer sind. Erst dann kann maneine neue Fifa-Führung wählen.Pieth: Das Problem der Fifa ist, dass siebeides ist: ein multinationales Unterneh-men und eine internationale Organisation

wie eine kleine Uno. Das gibt uns die Lö-sung vor: Für Unternehmen gibt es ganzklare Vorschriften, etwa zur Rechnungs -legung, Buchführung und Integritätsprü-fung. Dazu hat Domenico Scala als Chefder Compliance-Kommission der Fifa ge-rade einen sehr kühnen Vorschlag ge-macht, der aus der Welt der multinationa-len Unternehmen stammt. Er sagt: Teilenwir doch das Fifa-Exekutivkomitee in zweiFunk tionshälften, in eine Geschäftsleitungund einen Aufsichtsrat. Die einen führendas Unternehmen, die anderen sind fürdie Firmenpolitik zuständig.Zwanziger: Man braucht eine hauptamtlicheFührung und einen Aufsichtsrat mit kurzenAmtszeiten. Nur so kann man dieses Pat-tex-System aufbrechen, bei dem jedermöglichst lange auf seinen Privilegien ho-cken bleibt. Ob das Exekutivkomitee aberdie Kraft hat, sich selbst infrage zu stellen,muss ich leider bezweifeln. SPIEGEL: Für den 26. Februar ist ein Kongressmit der Neuwahl des Präsidenten angesetzt.Kann man sich diesen Termin sparen?Pieth: Jetzt auf Teufel komm raus jeman-den finden, um in ein paar Wochen fest-

22 DER SPIEGEL 43 / 2015

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Fifa-Präsident Blatter bei seiner Wiederwahl im Mai: „Es geht gröber zu als in der großen Politik“

„Geschlossen zurücktreten!“Fifa Die kaltgestellten Reformer Theo Zwanziger undMark Pieth plädieren für eine neue Struktur im Weltverband –und für die Selbstauflösung seines Exekutivkomitees.

zustellen, dass der auch Leichen im Kellerhat, ist der falsche Ansatz. Die Namen, dieich gelesen habe, überzeugen mich nicht –weil ich mir nicht sicher bin, dass sie nichtauch irgendwo involviert waren. Für eineBeruhigungsphase von zwei bis vier Jah-ren braucht die Fifa eine unbelastete Per-son mit Rückgrat, die sich nichts vorma-chen lässt. In der Politik nennt man dasCare taker Government, Bangladesch hatteso etwas. Ich weiß, wie schwer es ist, diegeeigneten Leute dafür zu finden. Ich habeja kürzlich Herrn Zwanziger dafür vorge-schlagen. Ich habe den Eindruck, Sie wür-den nicht in diesen Sog geraten.Zwanziger: Professor Pieth, lassen wir dasmal. Richtig ist aber, dass die Fifa nurdurch eine unbelastete Person zur Ruhekommen kann, die den Job für eine kurzeZeit völlig unabhängig macht und dieStrukturreformen durchsetzt. Das abergeht nicht ohne National- und Kontinen-talverbände, denn Einsicht muss ja von unten kommen. Aber diese Einsicht ist be-sonders in Europa nicht gegeben, die Uefahat ja nicht mal eine Ethikkommission.Pieth: Ich denke, dass die Kandidatur vonMichel Platini in Europa noch sehr vielblockiert. Dabei kann es sein, dass er nachseiner Suspendierung bald ganz ausschei-det. Dann würden sehr viele Kräfte frei.Dann würden sich die großen Fußballna-tionen im Norden wohl endlich überlegen,ob sie Verantwortung übernehmen, Eng-land, Deutschland und die Skandinavier.SPIEGEL: Die Einsichtsfähigkeit ist dochnicht einmal in Deutschland gegeben. DFB-Präsident Wolfgang Niersbach fiel vor allem durch seine Nibelungentreue zu Pla-tini auf – und dadurch, dass er im Ehren-amt eine sehr hohe DFB-Rente erhält.Zwanziger: Ich hatte eine große Auseinan-dersetzung mit Niersbach dazu. In der Sat-zung des DFB steht – anders als bei Uefaund Fifa –, dass der Präsident ehrenamtlichtätig ist. Das könnte man auch anders machen. Ich sehe das Ehrenamt als einenwichtigen Baustein unserer Gesellschaft.Wenn ich sehe, was Millionen Menschenehrenamtlich und wirklich unentgeltlichleisten, dann berührt es mich schon, wennandere einen ehrenamtlichen Status haben,aber in der Realität doch ganz gut kassie-ren. Glaubwürdig ist das nicht.SPIEGEL: Wie soll es also weitergehen?Zwanziger: Momentan ist das Chaos in dasFührungsorgan der Fifa implementiert. Da

gibt es nur drei Optionen. Erstens: immertiefer fallen, bis man aufschlägt. Zweitens:eine Übergangslösung schaffen, an der allemitwirken müssen. Oder eben drittens: Au-gen zu und durch, einen neuen Präsiden-ten wählen. Die dritte Option könnte viel-leicht gelingen, dann hätte man aber inkurzer Zeit denselben Zustand wie heute. Pieth: Ich bin nicht sonderlich daran inte-ressiert, dass Köpfe rollen. Aber es mussnun mal gründlich aufgeräumt werden, da-mit neue Leute kommen können. Sogarin der Reformkommission sitzen Leute, dieReformen verhindert haben und, erlaubenSie mir diese Anmerkung, mich bislang alsTrottel bezeichnet haben. Doch die verlie-ren akut an Boden, einige fliegen selbstnoch raus, möchte ich prognostizieren. SPIEGEL: Damit sind wir wieder bei der Jus-tiz, der treibenden Kraft seit jenem histo-rischen 27. Mai, als in Zürich sieben Funk-tionäre und Manager verhaftet wurden.Die werden nach ihrer Auslieferung an dieUSA mit der Staatsanwaltschaft kooperie-ren müssen, um nicht Jahre ins Gefängniszu gehen. Wirkt nur dieser Druck?Pieth: Wir wollten ein Umdenken im Kopf.Das erreichen die amerikanische und dieschweizerische Justiz für uns; jetzt wirdeffektiv der Status quo erschüttert, sodasssich von innen etwas ändert. Ich glaubedennoch nicht, dass die Amerikaner dasganz große Reinemachen im Sinn haben.Das ist viel zu aufwendig. Sie beschränkensich auf die Konföderationen in Nord- undSüdamerika und Hunderte Millionen Dol-lar, die dort abgezweigt wurden. Das nen-nen sie „going for the low-hanging fruit“,das sind die Früchte, die ihnen in denMund fallen. Das Großreinemachenscheint eher Interesse der Schweizer Justizzu sein, die seit November 2014 ermittelt,seit die Fifa auf Anraten des StrafrechtlersHans-Joachim Eckert, Vorsitzender derrechtsprechenden Kammer der Ethikkom-mission, eine Anzeige eingereicht hat, we-gen der Vorgänge bei den Vergaben derWeltmeisterschaften 2018 und 2022 anRussland und Katar.Zwanziger: Der Druck der Justiz scheintsehr geholfen zu haben, wenn man sichdie letzten Entscheidungen der Ethikkom-mission anschaut, die Suspendierungenvon Blatter und Platini.Pieth: Plötzlich merkt man, dass die garnicht so lendenlahm sind. Klar ist die Ethik-kommission keine Polizei und kann keine

Zwangsmaßnahmen im Sinne des Strafpro-zessrechts einleiten. Aber immerhin habensie mehr als 30 Leute gesperrt und nun so-gar den Präsidenten und Vizepräsidenten. SPIEGEL: Was ist in den Schweizer Bundes-anwalt Michael Lauber gefahren, dass erseinen Job macht, wo seine Vorgänger dieAugen zugedrückt haben?Pieth: Er geriert sich ein bisschen wie einAmerikaner und geht mit JustizministerinLoretta Lynch auf die Bühne. Die Bundes-anwaltschaft hat bei der Fifa große Daten-mengen sichergestellt, und da stecken jetztDinge drin wie Blatters Millionen-Über-weisung an Platini. Es wird noch mehr zumVorschein kommen. Wobei man vorsichtigsein sollte, denn es kann ja durchaus sein,dass die Leute freigesprochen werden.Zwanziger: Ein Sportverband kann nichtaußerhalb der Rechtsordnung stehen.Wenn in der Fifa und anderen Organisa-tionen Verdacht auf strafbare Handlungenbesteht, dann muss ermittelt werden. Jah-relang hat man sich nicht gründlich genugdamit befasst. Darüber hinaus muss dieFifa-Ethikkommission klarmachen, dassauch Verhalten, das möglicherweise nichtstrafrechtlich zu würdigen ist, ein unethi-sches Verhalten darstellt. Wenn ich die Ver-pflichtungen des Ethikreglements nicht er-fülle, dann muss ich damit rechnen, dassich entfernt werde – auch wenn ich keinenBetrug, keine Untreue begangen habe. SPIEGEL: Herr Pieth, Herr Zwanziger, wer-fen Sie doch mal einen Blick in die Kris-tallkugel. Wo steht die Fifa in einem hal-ben Jahr, wenn sie dann noch existiert?Pieth: Könnte sich die Stimme der Vernunftdurchsetzen, würde es eine Übergangsfüh-rung geben. Niemand sollte allerdings da-rauf setzen, dass die Staatsanwälte dieserWelt das alleine drehen.Zwanziger: Ich hoffe auf eine Bewegungvon Nord nach Süd. Ich setze vor allemauf die Skandinavier. Die Fehler, die ge-macht worden sind, passierten doch aufder Grundlage eines Exekutivkomitees,das fremdbestimmt ist durch die Konföde-rationen. Das ist ein erheblicher demokra-tischer Mangel. SPIEGEL: Inwiefern?Zwanziger: Die Konföderationen der Fifabestimmen bisher die Führungsorgane. MitAusnahme des Präsidenten und einesweiblichen Mitglieds werden alle anderenMitglieder fremdernannt. Wenn ich mirvorstelle, dass das Kabinett von Frau Mer-kel so zusammengesetzt würde, dass sienach ihrer Wahl warten müsste, bis die Ministerpräsidenten der Länder ihr jeweilseine Frau oder einen Mann schicken, diedann anschließend ihr Kabinett bilden,dann kann sich jeder vorstellen, was dasfür eine demokratische Grundlage hätte.Das muss sich ändern, dann kann die Fifaauch eine Zukunft haben.

Interview: Jens Weinreich, Alfred Weinzierl

23DER SPIEGEL 43 / 2015

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Pieth, 62, Antikorruptionsexperte

und Strafrechtsprofessor an der

Uni Basel, führte von 2011 bis 2013

das Independent Governance

Committee der Fifa. Zwanziger, 70,

Jurist und Ex-DFB-Präsident, erar -

beitete als Mitglied des Exekutiv -

komitees (bis Mai 2015) zahlreiche

Statutenänderungen. Doch nur

ein Teil der Vorschläge von Pieth und

Zwanziger wurde umgesetzt.

Afghanistan

Rüge für europäische

Polizeimission

Die afghanische Polizei istauf absehbare Zeit nicht inder Lage, für Sicherheit indem zentralasiatischen Landzu sorgen. Zu diesem Ergeb-nis kommt der EuropäischeRechnungshof in seinem Bericht über die Polizeiaus -bildungsmission der Europä -ischen Union EUPOL in Afghanistan. „Die Vorausset-zungen für eine zukunftsfähi-ge Polizeitruppe sind nochnicht gegeben. Die langfris -tige Nachhaltigkeit der Aus-bildungs- und Anleitungs -ergebnisse von EUPOL ist da-her gefährdet“, heißt es da rin.Insbesondere moniert derRechnungshof, dass nahezuein Drittel der etwa 400 Mil-lionen Euro, die der EUPOL-Einsatz von 2007 bis Ende2014 kostete, für die Sicher-heit des eigenen Personals

ausgegeben wurde. Zudemsei die erforderliche Einsatz-stärke „erst mit großer Ver -zögerung erreicht“ worden.„In den meisten Provinzenkonnte EUPOL nicht genü-gend Mitarbeiter einsetzen,um ihren Auftrag angemes-sen erfüllen zu können.“ DieVorsitzende des Haushalts-kontrollausschusses im Euro-päischen Parlament, IngeborgGräßle (CDU), fordert dahereine grundsätzliche Überprü-fung derartiger Missionen.„Ein Drittel der Kosten fürdie Sicherheit und der Restfür die Leute der EU – solcheMissionen gehören dichtge-macht.“ mp

Vertriebenenstiftung

Warten auf Halder

Die Bemühungen der Kultur-staatsministerin im Kanzler-amt, Monika Grütters (CDU),um einen neuen Direktor fürdie „Stiftung Flucht, Vertrei-bung, Versöhnung“ geratenzur Posse. Im Juni hatte derStiftungsrat (Grütters, Bun-destagsabgeordnete, Vertre-ter von Bundesregierung, desVertriebenenverbands, derKirchen, des Zentralrats derJuden, zweier großer Mu-seen) den Düsseldorfer Histo-riker Winfrid Halder in einer

Kampfabstimmung zum neu-en Direktor gewählt. Grütterszählte zu den FürsprechernHalders. Doch bis heute kannsie sich mit ihm nicht überdie Bedingungen der Bestel-lung einigen. Einer der Streit-punkte: Der Vertrag ist lautAusschreibung zunächst auffünf Jahre begrenzt, Haldermöchte hingegen eine unbe-fristete Laufzeit. „Das hätteer sich vorher überlegen sol-len“, kritisiert die SPD-Bun-destagsabgeordnete HiltrudLotze den zögernden Direk-tor in spe. Halder will die lau-fenden Verhandlungen nicht

kommentieren. Grütters lässtausrichten, Halder könnesein Amt „voraussichtlichzum 1. Dezember“ antreten.Die Wahl Halders hatte sei-nerzeit für einen Eklat ge-sorgt. Renommierte Histori-ker waren aus dem Wissen-schaftlichen Beraterkreis derStiftung zurückgetreten, weilsie Halder die Befähigung ab-sprachen. Die sich im Aufbaubefindende Stiftung ist nunseit knapp zehn Monatenohne Führung. Der letzte Di-rektor, Manfred Kittel, hatteim Dezember nach Querelenzurücktreten müssen. klw

24 DER SPIEGEL 43 / 2015 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel

Immigration

Irgendwann, eines TagesDie CDU will derzeit nun doch kein Einwanderungsgesetz.

Die CDU-Spitze wird auf ihrem Parteitagim Dezember keinen konkreten Vorschlagfür ein Einwanderungsgesetz vorlegen. DasThema sei derzeit nicht vordringlich, heißtes im Umfeld von Bundeskanzlerin AngelaMerkel. Ursprünglich sollten CDU-General-sekretär Peter Tauber und InnenministerThomas de Maizière ein gemeinsames Papier mit Ideen für ein solches Gesetz präsentieren. Jetzt soll in einem Antrag desBundesvorstands lediglich das generelleZiel festgeschrieben werden, eines Tageszu einem Einwanderungsgesetz zu kom-men. Die Frage, ob ein Gesetz sinnvoll sei,ist in der Union heftig umstritten. Führen-

de CDU-Politiker wie de Maizière und Unions-Fraktionschef Volker Kauder hatten sich öffentlich und intern dagegenausgesprochen. Merkel indes war auf diePosition Taubers eingeschwenkt, der fürein Gesetz plädiert. Jetzt macht die Partei-spitze wegen der Flüchtlingskrise einenRückzieher. Statt konkreter Vorschläge sollnur noch ein Antrag verabschiedet werden,in dem sich die CDU für ein Gesetz aus-spricht, das die bestehenden Regelungenzur Einwanderung „widerspruchsfrei undbesser miteinander verknüpft“. Selbst diese allgemeine Festlegung ist in der Par-tei noch umstritten. ran

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Energie

Ins Leere gedreht

Erstmals konnte am 6. Okto-ber auf dem Meer erzeugterWindstrom nicht in das Netzeingespeist werden, weil eskeinen Platz mehr im Höchst-spannungsnetz gab. Die Ro -toren der Windfarmen Meer-wind, Nordsee Ost und DanTysk drehten darum an diesem Morgen zwischen 7.17 Uhr und 9.33 Uhr mit ei-ner elektrischen Leistung vonbis zu 182 Megawatt ins Leere.Zu dem Engpass habe vor allem eine hohe Einspeisungvon landseitig installiertenWindmühlen in dieser Zeitbeigetragen, erklärt Netz -betreiber Tennet, der für denStromtransport von der Nord-see und die Weiterleitung zu-ständig ist. Der Vorfall bele-ge, „wie wichtig der Netzaus-bau an Land für eine sichereVersorgung“ sei. Die sichereVersorgung wird aber auchdurch hohe Schwankungender eingespeisten Offshore-Leistung beeinflusst. red

25DER SPIEGEL 43 / 2015

Deutschland investigativ

Kittihawk

Hochschulen

Eigener Nachwuchs

Bei der Berufung von Junior-professoren gibt es an dendeutschen Universitäten gro-ße Unterschiede. Das belegteine bislang unveröffentlichteStudie der Jungen Akademie,einer Forschungsplattform für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Während in Göt-tingen, Bonn oder Essen zwischen 2005 und 2013 fastausschließlich externe Kandi-daten zum Zuge kamen, re-krutierte die Universität Ros-tock in mehr als der Hälfteder Fälle eigene ehemaligeDoktoranden. Die Juniorpro-fessur war 2002 eingeführtworden, um die Karrierechan-cen für den wissenschaftli-chen Nachwuchs zu verbes-sern. Juniorprofessoren kön-nen nach ihrer Promotionselbstständig forschen undlehren und müssen nicht, wiesonst bei einer Professur üb-lich, erst noch eine Habilita -tionsschrift verfassen. Die Be-rufung ist befristet. olb

Atomkraft

Schön gerechnet?Das von der Bundesregierungin Auftrag gegebene Gutach-ten über die Rückstellungender Atomkonzerne verschlei-ert nach Ansicht der Grünendie wahren Risiken für denSteuerzahler. „Die Wirt-schaftsprüfer haben positiveGrundannahmen für die Kon-zerne unterstellt, und oben-drein interpretiert sich dieBundesregierung auch nochdie Zahlen schön“, sagt derschleswig-holsteinische Um-weltminister Robert Habeck(Grüne). So unterstelle das Pa-pier, dass Stromkonzerne wieRWE und E.on noch über das

Rechtsextremismus

Nazi-Bücher bei

Amazon

Der Onlineversender Ama-zon bietet erneut illegal Pro-dukte für Kunden in Deutsch-land an. Bislang handelte essich um Angebote von Händ-lern, die Amazon als Platt-form nutzten (SPIEGEL11/2012), oder zumindest umProdukte Dritter. Nun aberversendet der Konzern ein2006 indiziertes rechtsextre-mes Buch, und zwar selbstgedruckt von Amazon Distri-bution in Leipzig. Das ist lautBundesprüfstelle für jugend-gefährdende Medien doppeltrechtswidrig, denn sowohlder Versand als auch die Her-stellung zu diesem Zweck seien verboten. Ein Amazon-Sprecher kündigte an, derKonzern nehme „diesen spe-ziellen Fall zum Anlass, umnochmals den entsprechen-den Prozess zu überprüfen“.Die deutsche Übersetzungdes Buches wurde auf einerDVD beim rechtsterroristi-schen NSU und auf Rechnernmehrerer Angeklagter desMünchner NSU-Prozesses gefunden. Das Werk gilt alsHand lungsanweisung zumMas senmord für rassistische Terroristen. bhu

Jahr 2060 hinaus Gewinneaus ihren Kohlekraftwerkenziehen könnten. Dabei planedie Bundesregierung zum Erreichen ihrer Klimaziele einen weitgehenden Ausstiegaus der Kohleverbrennung biszum Jahr 2050. Außerdemgehe das Gutachten davonaus, dass die Energiekonzernekünftig jedes Jahr ein Prozentmehr Umsatz aus dem Strom-verkauf generierten. Es seivöllig unklar, worauf sich die-se Prognose stütze, kritisiertHabeck und fügt hinzu: „Esgilt weiterhin zu verhindern,dass der Steuerzahler für die Lasten des Atomzeitaltersaufkommen muss.“ gt

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Zeitgeschichte

Genscher-Werbung

Seit 1990 konkurrieren Kanz-ler Helmut Kohl (CDU) undAußenminister Hans-DietrichGenscher (FDP) um einenPlatz in den Geschichtsbü-chern, wenn es um die deut-sche Einheit geht. Nun hat dieRivalität das renommierteMünchner Institut für Zeitge-schichte (IfZ) erreicht. DerMainzer Historiker AndreasRödder, Bestsellerautor undMitglied im Wissenschaftli-chen Beirat des IfZ, wirft demInstitut indirekt Geschichtsklit-terung zugunsten Genschersvor. Laut Rödder erweckenjüngste Veröffentlichungen desIfZ den Eindruck, das Institutstehe „der Außenpolitik Gen-schers und des AuswärtigenAmtes allzu normativ-affirma-tiv gegenüber“. Rödder störtsich besonders an einer Edi -tion von Akten des Auswärti-gen Amts (AA) der Jahre1989/90, die das IfZ kürzlichveröffentlichte. In der Einlei-tung wird zustimmend Gen-schers damaliger Staatssekre-tär Jürgen Sudhoff zitiert, derdie Aushandlung der Einheitals „Glanzleistungen“ der Mi-nisterialbürokratie bezeichnethatte. Angesichts solcher Aus-sagen stellt sich laut Rödderdie Frage, ob das Buch nicht„Tendenzen einer Werbeschrift

des Auswärtigen Amtes“ auf-weise. Rödders Kritik findetsich in einem Schreiben an sei-nen Bonner Kollegen JoachimScholtyseck, den Vorsitzendendes Wissenschaftlichen Beiratsdes IfZ. Rödder bezweifelt sogar die Aussage des IfZ, derzufolge die Initiative für dieAktenedition vom Institut aus-ging – und nicht vom AA. DasIfZ weist diese Unterstellungwie auch die Kritik zurück:Man sei „der Freiheit der Wis-senschaft verpflichtet“ und orientiere sich „nicht an par-teipolitischen Konjunkturen“.Rödder ist CDU-Mann, Vor-standsmitglied der Konrad-Adenauer-Stiftung und zählte2011 zum Schattenkabinett Ju-lia Klöckners (CDU) bei denLandtagswahlen in Rheinland-Pfalz. Vor einigen Jahren hater selbst ein Buch über die Einheit geschrieben. Kohl kamdarin gut weg. klw

26 DER SPIEGEL 43 / 2015

Deutschland investigativ

Ich habe mich gefragt, warum so vieleMenschen ihr Leben nach Büchernausrichten, die nicht mehr in die Zeitpassen. Der Koran zum Beispiel ist1400 Jahre alt. Vieles, was dort steht,war damals hochaktuell. Wer keinen

Kühlschrank kennt, sollte vom Ge-nuss von Schweinefleisch absehen, das

leuchtet ein. Wahrscheinlich ist es auchsinnvoll, Wegelagerer in die Verbannung zu schicken,wenn man über keine funktionierende Polizei verfügt.Aber es gibt viele Dinge, auf die Mohammed keine Ant-wort hatte, weil nicht einmal Gott sie vorhersehen konnte, angefangen bei der Gleichberechtigung oder derGendersprache.

Was den Koran betrifft, kann man in Deutschlandziemlich schnell Einigkeit darüber erzielen, dass es kei-nen Sinn macht, heute noch jeden Satz wörtlich zu neh-men. Komischerweise fällt es uns schwer, die gleicheSchlussfolgerung zu ziehen, wenn es um das Grundgesetzgeht. Das Grundgesetz ist nicht so alt wie der Koran, aberauch die Verfassungsväter lebten in einer Welt, die mitder unseren nicht mehr viel gemein hat. Als sie dasGrundgesetz entwarfen, hatte niemand Google Mapsoder Facebook. Es gab noch nicht einmal ein Handy fürjeden. Trotzdem wird der Text so behandelt, als wäre erfür die Ewigkeit geschrieben. Das Schlimmste, was manin Deutschland über einen Politiker sagen kann, ist, er seiein Verfassungsfeind. Verfassungsfeind ist so etwas wiedie deutsche Antwort auf die Fatwa.

Es muss nur einer das Grundrecht auf Asyl antasten,und schon sind alle hinter ihm her. Dabei gäbe es guteGründe, über eine Änderung nachzudenken. Als die Au-toren des Grundgesetzes das Asylrecht verankerten, dach-ten sie an die 500000 deutschen Juden, von denen nurwenige in der Welt Aufnahme gefunden hatten. Niemandkonnte sich 1949 vorstellen, dass sich einmal Millionenauf den Weg begeben würden, um ausgerechnet inDeutschland ihr Glück zu suchen.

Ich finde, es lohnt, sich anzusehen, wie sich andere ineiner vergleichbaren Situation verhalten. In den USA, dieals Einwanderungsland bis heute in hohem Ansehen stehen, muss jeder Asylbewerber selber sehen, wie er zu-rechtkommt. Dafür darf er, kaum ist er im Land, zügigeine Arbeit aufnehmen. Bei uns läuft es andersherum: Be-vor einer die Genehmigung erhält, sich nützlich zu ma-chen, vergehen Monate. Dafür zahlen die Sozialbehördenschon nach Kurzem für Wohnung und Unterhalt fast soviel wie bei einem Hartz-IV-Empfänger.

Bis vor drei Jahren haben Asylbewerber lange nur einbesseres Taschengeld bekommen, weil man fand, dass eseinen Unterschied machen sollte, ob jemand Deutscher istoder nicht. Dann hat das Bundesverfassungsgericht ent-schieden, dass dies verfassungswidrig sei, weil im Grund -gesetz nicht nur steht, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, sondern auch, dass es sich bei der Bundes-republik um einen sozialen Staat handelt. Die kniffligeFrage ist jetzt, wie lange das noch gilt, wenn Hunderttau-sende im Monat über die Grenzen kommen. Manchmal erzwingt die Wirklichkeit ihre eigenen Gesetze.

An dieser Stelle schreiben Jan Fleischhauer und Jakob Augstein im Wechsel.

Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal

Unser Koran

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Genscher, Kohl 1989

Außenpolitik

Hilfe gescheitert

Die Überstellung eines wei -teren Guantanamo-Häftlingsnach Deutschland ist nachAngaben der Bundesregie-rung an den USA gescheitert.Stattdessen lieferten die Amerikaner den MarokkanerYounous Chekkouri MitteSeptember in sein Heimat-land aus. Dort wurde er di-rekt nach der Ankunft wegenTerrorverdachts inhaftiert.Die Bundesregierung hattesich im April 2014 bereit erklärt, eine Aufnahme zuprüfen, um den USA bei derSchließung des umstrittenenAntiterrorgefängnisses aufKuba zu helfen. Chekkouriwar im Januar 2002 von der

pakistanischen Armee an dieAmerikaner übergeben wor-den. Angeblich soll er an denKämpfen um das Qaida-Ver-steck Tora Bora in Afgha - nistan teilgenommen habenund wurde im Mai 2002 nachGuantanamo Bay gebracht.Für eine Aufnahme in Baden-Württemberg, dort leben Verwandte des Marokkaners,hatte das Innenministeriumeinen Fragenkatalog nachWashington geschickt. Ge-prüft werden sollte, ob vondem Häftling noch eine Gefahr ausgehe. Die USA ließen die Fragen unbeant-wortet. Deutschland hat be-reits drei ehemalige Guanta-namo-Häftlinge aufgenom-men, darunter Murat Kurnazaus Bremen. csc, mgb

Flüchtlinge

„Spendenkuchen

wird nicht größer“

Peter Wagener,

58, Leiter der

Bereiche Ehren-

amt und Fund -

raising im Ca -

ritasverband für

das Erzbistum

Berlin, über ausgebrannte

Flüchtlingshelfer und die Sorge

um das Spendenaufkommen

SPIEGEL: Wie lange könnenSie mit Freiwilligen IhreHilfsstrukturen für Flüchtlin-ge noch aufrechterhalten?Wagener: Wir erleben beides:ungebrochene Hilfsbereit-schaft, aber auch die Gren-zen der Belastbarkeit, geradebei den Freiwilligen, die mit extremen physischen undpsychischen Belastungenkämpfen.SPIEGEL: Was passiert mit dennun aufgebauten Strukturender Erstversorgung vonFlüchtlingen, wenn all dieFreiwilligen sagen, wir kön-nen nicht mehr?Wagener: Dann bricht das zu-sammen. Ganz klar. DasFlüchtlingsthema wirkt zwar

wie ein Katalysator, es rücktdas Ehrenamt wieder ins Bewusstsein der Menschen.Wir erreichen ganz neueSchichten, vor allem jungeMenschen. Aber auch dieHelfer brauchen mehr Hilfe,um das zu bewältigen, wassie erleben. Ehrenamt kanndas staatliche Handeln nichtersetzen.SPIEGEL: Hat das Engagementfür Flüchtlinge Auswirkun-gen auf die Arbeit in anderenBereichen, zum Beispiel inder Obdachlosenhilfe?Wagener: In der Arbeit vonFreiwilligen noch nicht, weiles so viele sind. Aber bei derFinanzierung könnte es sichbemerkbar machen. UnsereObdachlosenhilfe basiertebenfalls fast vollständig aufSpenden.SPIEGEL: Befürchten Sie eineUmverteilung?Wagener: Wir wissen aus jah-relanger Erfahrung, dass dasSpendenaufkommen geradeauch in der Weihnachtszeitimmer ungefähr gleich ist.Der Spendenkuchen wird inder Regel nicht größer, nurumverteilt. Da könnte es zuVerdrängungseffekten kom-men. deg

Justiz

Schneller handeln

Der Deutsche Richterbundmahnt bei Bundesjustizminis-ter Heiko Maas an, Vorschlä-ge zur Straffung und Be-schleunigung von Strafverfah-ren zügig umzusetzen. Dienun von einer Expertenkom-mission vorgelegten zahlrei-chen Empfehlungen zu einergrundlegenden Reform desStrafprozessrechts seien indieser Legislaturperiode nichtmehr zu realisieren, so Chris-toph Frank, Vorsitzender desRichterbunds. Deshalb müss-

ten nun „sehr schnell die Vor-schläge vorgezogen“ werden,die den Strafprozess „effi-zienter und schlanker ma-chen, ohne dass er an rechts-staatlicher Qualität einbüßt“.Dazu gehöre etwa, Befangen-heitsanträge einfacher be -handeln und Nebenkläger inInteressengruppen bündelnzu können sowie auf denRichtervorbehalt bei Blutent-nahmen bei Straßenverkehrs-delikten zu verzichten. Auchsollten mehr Strafverfahrenohne Gerichtsverhandlungper Strafbefehl beendet wer-den können. hip

27DER SPIEGEL 43 / 2015

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Obdachlose in Berlin

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Die Augenzeugin

„Urwaldartig ausgebreitet“Hermine Hecker, 80, ist Rentnerin und Landesvorsitzende

der Senioren-Union in Hamburg. Sie kämpft in ihrem

Be zirk seit vielen Jahren gegen die Ausbreitung des giftigen

Riesenbärenklaus, auch als Herkulesstaude bekannt.

„Riesenbärenklau ist eine Plage. Die Stauden werdenbis zu fünf Meter hoch. Tut man nichts dagegen, breitensie sich urwaldartig aus. So wie hier am PoppenbüttelerMüllberg – und natürlich auch anderswo. Riesenbären-klau ist ein Problem, das weite Teile Europas betrifft. Er ist sehr dominant: Wo er wächst, gedeiht fast nichtsanderes mehr. Und er ist gefährlich. Kommt man beiSonnenlicht mit Blättern oder Stängeln in Berührung,bilden sich Blasen auf der Haut, wie Verbrennungen.

Ich kämpfe schon seit 1997 dagegen. Damals hattenKinder beim Spielen auf der Wiese Pusterohre aus denStängeln gebastelt und sich schlimm verbrannt. Dieganzen Lippen voller Blasen, sehr schmerzhaft.

Wir haben versucht, die Pflanzen auszugraben, eigenhändig, mit dem Spaten. Auch die Stadt hat vielgetan, das muss ich schon sagen. In den Wohngebietenwar das auch erfolgreich. Dann allerdings ging das Geld aus. Seit ein paar Jahren wuchert das giftige Zeugauf dem Müllberg wieder unkontrolliert.

Ich habe mich mehrmals an die Behörden gewandt.Es wurde auch tatsächlich zweimal gemäht. Aber dashat nichts gebracht, weil die Gärtner die Blüten undStängel einfach liegen ließen. Dann verteilen sich dieSamen natürlich weiter. Eine einzige Pflanze kann20000 Samen bilden. Klar, dass es so nicht funktioniert.Kürzlich hat die Verwaltung sogar einmal Herbizidesprühen lassen – nur leider viel zu spät, was das Be-zirksamt bestreitet. Ich finde, das hätte man schon imFrühjahr tun müssen. Mich ärgert das gewaltig, weilhier Steuergelder verschwendet werden.

Dabei ist das gar nicht so kompliziert, die Pflanzeauszurotten. Man muss es nur richtig angehen. MeinMann und ich hatten vor Jahren eine Bachpatenschaftfür die Osterbek, die hier im Bezirk fließt. Zusammenhaben wir es geschafft, den Riesenbärenklau an denUfern zu besiegen. Immer wieder haben wir die Pflan-zen ausgegraben und entfernt. Drei Jahre dauerte es –dann wuchsen endlich keine neuen mehr. Verätzt ha-ben wir uns dabei zum Glück nie. Aber wir wussten jaauch, wie man sich schützt: Handschuhe an, ein Ober-teil mit langen Ärmeln tragen und, ganz wichtig, nichtbei Sonnenlicht arbeiten.“ Aufgezeichnet von Miriam Olbrisch

28 DER SPIEGEL 43 / 2015

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Neuankömmlinge in Bayern, Politiker Maas, Merkel, Altmaier: „Die Hilfsbereitschaft ist groß, aber die Zahl der Flüchtlinge ist größer“

Jan. Febr. März April Mai Juni Juli Aug. Sept.

Flüchtlinge in DeutschlandRegistrierte Flüchtlinge seit Jahresbeginn,hinzu kommt eine vermutlichsechsstellige Zahl von Personen,die bei der Einreise nichterfasst wurden

RegistrierteFlüchtlinge

im Easy-System

bis September:

577307

AsylanträgeErst- und

Folgeanträge

303443

Asylentscheidungenteils von bereits länger

zurückliegenden Anträgen

174545

0

Quelle: BMI /BAMF2015

ZUM VERGLEICH

Deutschland

Die Straße vom Bahnhof zum Auf-nahmelager in Hesepe ist so etwaswie der Boulevard der Flüchtlinge.

In kleinen Gruppen schlendern junge Män-ner den Bürgersteig entlang. Eine Familieaus Syrien schleppt Einkaufstüten in Rich-tung Pforte. Ein Sudanese kurvt mit demFahrrad in Schlangenlinien. Die meistensprechen kein Wort Deutsch, sondern nurein paar Brocken Englisch. Dafür winkensie freundlich, wenn sie Einheimische se-hen, und rufen „Hallo“.

Auf der Hauptstraße herrsche „Rummelwie in einer Fußgängerzone“, sagt ein An-wohner, „nur dass die Läden fehlen“. Aufbeiden Seiten des Fahrwegs reihen sich rotgeklinkerte Einfamilienhäuser mit hüb-schen Vorgärten aneinander. Kathrin undRalf Meyer stehen vor ihrem Haus. „Unsist das alles zu viel geworden“, sagt die 31-jährige Mutter von drei Kindern: „zu vielLärm, zu viele Flüchtlinge, zu viel Müll.“

Darum haben die Meyers ihr Haus zumNovember gekündigt. Sie wollen nicht mehr,dass die Asylsuchenden draußen auf derMauer sitzen oder in der Mülltonne nachBrauchbarem suchen. Dabei könnten einem„die Leute schon leidtun“, sagt ihr Mann.Er habe Kleider, die seinen Kindern zu kleinseien, den Flüchtlingen gegeben. „Aber“,sagt er, „es sind einfach zu viele hier.“

In Hesepe kommen inzwischen etwa4000 Asylbewerber auf 2500 Einwohner,und so ist der Ortsteil des niedersächsi-schen Städtchens Bramsche zu einem Sym-bol für die Flüchtlingskrise in Deutschlandgeworden. Die Hilfsbereitschaft der Bürgerist noch immer groß, nur leider ist die Zahlder Flüchtlinge noch größer. Vom 5. Sep-tember bis 15. Oktober meldeten die Län-der 409000 Neuankömmlinge ans Bundes-innenministerium, mehr als jemals zuvorin einem vergleichbaren Zeitraum. Wieviele Doppelmeldungen sich darunter be-finden, ist nicht bekannt.

Sechs Wochen nach dem historischenSignal zur Grenzöffnung mangelt es im rei-chen Deutschland vielerorts am Nötigsten.Feldbetten, Wohncontainer und Chemie-klos sind weitgehend ausverkauft, es fehlenDeutschlehrer, Sozialarbeiter und Verwal-tungsrichter. In vielen Städten fürchten sichdie Verantwortlichen vor dem nahendenWinter, weil Tausende Asylbewerber nochimmer in Zelten campieren.

Vor allem aber fehlt ein Konzept, wieMerkels „Wir schaffen das“ mit ihrem „Wir

können die Grenzen nicht schließen“ inÜbereinstimmung gebracht werden kann.Denn das ist inzwischen vielen klar, imzweiten Monat der neuen Willkommens-kultur: Die Republik schafft es nur, wenndie Zahl der Zuwanderer rasch kleinerwird.

Nur, damit ist vorerst nicht zu rechnen.Auf der sogenannten Balkanroute sindnoch immer Zehntausende in RichtungDeutschland unterwegs; zugleich bleibtMerkels Versuch, mithilfe von Diplomatieund schärferem Durchgreifen für Entlas-tung zu sorgen, ein Versuch. Die EU willzwar ihre Außengrenzen besser sichern,so hat sie auf ihrem Gipfel beschlossen.Doch die Nachbarstaaten denken gar nichtdaran, den Deutschen in nennenswerterZahl Flüchtlinge abzunehmen. Und Mer-kels forsche Ansage, Asylbewerber ausdem Kosovo oder Albanien schneller nachHause zu schicken, stößt sich an einerAsylpraxis, in der sich die Betroffenendem behördlichen Zugriff schon durch dieVorlage eines ärztlichen Attestes entzie-hen können.

Merkels letzte Hoffnung heißt nun Re-cep Tayyip Erdoğan. An diesem Wochen-ende bricht die Kanzlerin zum Bittgangnach Ankara auf, jede Menge Geschenkeim Gepäck, die Europas Staats- und Re-gierungschefs besprochen haben. So sollder türkische Präsident dazu gebracht wer-den, in der Ägäis für jene Grenzsicherungzu sorgen, zu der sich „das starke LandDeutschland“ (Merkel) nicht in der Lagesieht (siehe Seite 93).

Das Murren über die Politik der CDU-Chefin wird lauter. Die Fraktionssitzungender Union, die viele Jahre lang die ge-pflegte Langeweile eines englischen Alt-herrenklubs verströmten, ähneln inzwi-schen Tribunalen gegen die Kanzlerin.

Und Finanzminister Wolfgang Schäuble,der starke Mann im Kabinett, zeigt seineUnzufriedenheit, indem er im fernen Peruüber die Grenzsicherung der früherenDDR witzelt.

Es wird einsam um die Kanzlerin. Mer-kel hat die Flüchtlingspolitik zu ihrem per-sönlichen Anliegen gemacht, heißt es inder Regierung, nun muss sie auch alleindamit fertig werden. Vergangene Wochevertraute Innenminister Thomas de Mai-zière europäischen Amtskollegen in Lu-xemburg an: Merkel habe keinen Plan, son-dern „kalte Füße“.

Ralph Tiesler hat sich in seiner Beamten-karriere schon mit allerlei Krisenszenarienbeschäftigt. Im Herbst sollteseine Behörde die Auswirkun-gen einer großen Sturmflut ander Nordsee simulieren. DieLükex-Krisen-Übung wurdeabgesagt. Stattdessen musssich der Vizechef des Bun -desamts für Bevölkerungs-schutz und Katastrophenhilfemit einer anderen Notlage be-schäftigen. Tiesler ist derMann, der die Flüchtlingeüber Deutschland verteilt. Erist der Herr der Busse undZüge.

Im Lagezentrum auf einem Bundeswehrge-lände am MünchnerOlympiastadion se-hen er und seine 30 Mitarbeiter auf

29DER SPIEGEL 43 / 2015

Kalte FüßeMigration Der ungebrochene Zustrom der Flüchtlinge verunsichert die Republik. VieleKommunen funken SOS, die Regierung ist ratlos. Es wird einsam um die Kanzlerin.

Deutschland

einem großen Monitor, in welchen Notun-terkünften aktuell Plätze frei sind. Grünheißt: noch Kapazitäten. Rot: alles voll.

In dieser Woche musste das Team Son-derschichten schieben. In der Nacht aufDienstag nahm die Zahl der ankommen-den Flüchtlinge wieder zu. 8000 bis 10000Asylsuchende kamen zuletzt – pro Tag.

Tieslers Aufgabe ist es, den Flüchtlingenfür die erste Nacht ein Dach überm Kopfzu organisieren – und sie dann so schnellwie möglich in Sonderzügen und Fernbus-sen weiterzuverteilen. Über fünf großeRouten landen die Asylbewerber in denLändern. Die „West“-Route führt sie nachNordrhein-Westfalen, die „Süd-West“-Route nach Baden-Württemberg und in dieNachbar-Bundesländer.

Die Verteillisten – intern „Deutschland-ausgleich“ genannt – sind ein Politikum.Penibel achten die Länder darauf, nichtmehr Flüchtlinge zugewiesen zu bekom-men, als sie nach dem „KönigsteinerSchlüssel“ müssten: 15,3 Prozent Bayern,2,5 Hamburg, 7,3 Hessen. Im Moment ge-lingt das nur annähernd. Nach der aktuel-len Aufstellung hat Hamburg gut 4500 Be-werber zu viel aufgenommen, die ostdeut-schen Bundesländer Sachsen, Branden-burg, Thüringen und Sachsen-Anhalt zu-sammen fast 10000 zu wenig. Auch Ba-den-Württemberg liegt mit 7800 im Minus,Bayern dagegen mit mehr als 16000 imPlus. „Eine hundertprozentig gerechteUmverteilung ist im Moment nicht mög-lich“, sagt Tiesler.

Der Streit verschärft sich, weil Zehntau-sende Asylbewerber noch nicht registriertwurden, die genaue Zahl der Flüchtlingeim Land keiner kennt. Dazu kommt: VieleFlüchtlinge wollen nicht verteilt werden –sie wollen sich selbst verteilen. Sie wollendorthin, wo schon Verwandte oder Freun-de wohnen, in Städte, über die sie aufFace book gelesen haben, oder weiter nach

Skandinavien. Im niedersächsischen Uel-zen kam vorige Woche ein Zug mit 450Flüchtlingen aus Bayern an. Mitarbeiterdes Roten Kreuzes empfingen sie mit Teeund warmen Decken. Dann sollten sie inBusse nach Fallingbostel oder Wittmundsteigen. Doch gut 300 Flüchtlinge weiger-ten sich, sie wollten auf eigene Faust wei-terreisen, mit dem Zug, dem Taxi, zu Fuß,egal. Seit wenigen Tagen stehen in Uelzennun Bundeswehrsoldaten, die die Flücht-linge zu den Bussen bringen, mit sanftemDruck. Zwingen kann sie niemand.

Große Sorgen macht KrisenexperteTiesler derzeit das Wetter. Die Tempera-turen sind gefallen, es gab den ersten Frost,mancherorts fiel schon Schnee. Flüchtlin-ge, die im Freien schlafen, in Nässe undKälte: Das dürfe es auf keinen Fall geben.„Wir müssen alles daransetzen, Obdach-losigkeit zu verhindern, und die Verteilungentsprechend organisieren.“

Es war eine dieser Anweisungen, vor de-nen Landräten und Bürgermeistern derzeitgraut: Bis zu 1000 Flüchtlinge müsse seinLandkreis in wenigen Tagen unterbringenkönnen, erfuhr Michael Cyriax (CDU) amFreitag vergangener Woche. Im „Einsatz-befehl“ des hessischen Innenministeriumshieß es, er müsse drei Hallen im Main-Tau-nus-Kreis bei Frankfurt zu Notunterkünf-ten umbauen. Er habe 77 Stunden Zeit.

Landrat Cyriax berief die Katastrophen-schützer des Kreises ein. Die To-do-Listewar lang: Hallen sperren, Veranstaltungenabsagen, Schutzböden auslegen, Feldbet-ten aufstellen, Essensausgabe organisierenund ärztliche Versorgung. Alles übers Wo-chenende. Nach der Sitzung rief Cyriaxoffiziell den „Katastrophenfall“ aus – denersten im Main-Taunus-Kreis seit 1945.

Die Ankunft so vieler Flüchtlinge sei na-türlich keine „Katastrophe im landläufigenSinn“, schob Cyriax hinterher. Aber so

könne er Städten und Gemeinden schnelleAnweisungen erteilen und sogar hinderli-che Baurechtsbestimmungen zum Brand-schutz zeitweise außer Kraft setzen.

Die Stimmung in den Landkreisen istangespannt, es kommen immer neue Zügemit Flüchtlingen aus den süddeutschenGrenzregionen. In manchen Bundeslän-dern sind kurz vor Beginn der kalten Jah-reszeit bis zu einem Drittel der Flüchtlingein Zelten untergebracht.

Einige Bürgermeister, im badischenEschbach oder im nordrhein-westfälischenNieheim, haben Mietern gemeindeeigenerWohnungen wegen Eigenbedarfs gekün-digt, um dort Flüchtlinge unterzubringen.Sie argumentieren, dass Wohnungen fürFlüchtlinge auf dem freien Markt nur zuhohen Preisen zu bekommen seien. Ver-mieter nutzten die aktuelle Situation aus,um Aufschläge durchzudrücken, sagt Bür-germeister Rainer Vidal aus Nieheim.

Im ganzen Land fällt es Kommunalpoli-tikern schwer, Unterkünfte zu finden. In-zwischen würden „auch schon schimmeli-ge Wohnungen angeboten“, sagt der Bau-dezernent im Kreis Darmstadt-Dieburg, erheißt Christel Fleischmann, „oder nur miteiner Leiter zugängliche Spitzböden.“

Montagmorgen am Cottbusser Verwal-tungsgericht. Im Erdgeschoss eilen Flücht-linge zur Antragsstelle, ein kleiner Raumam Ende des Flurs. Dort liegen Vordruckebereit: Klage gegen die BundesrepublikDeutschland „wegen Asylgewährung“.

Zwei Stockwerke höher, in Zimmer 320,hat Gregor Nocon einen Stapel Akten aufseinem Schreibtisch liegen. Ganz oben, zwi-schen roten Deckeln, liegen die Eilanträge.

Der Vorsitzende Richter vergleicht seineSituation mit der eines Notarztes. „Wennich zur Arbeit komme, muss ich schauen:Was muss sofort gemacht werden, und waskann noch warten“, sagt Nocon. Fast aus-

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Anwohner Kathrin und Ralf Meyer in Hesepe: „Uns ist das alles zu viel geworden“ Flüchtlinge in Mannheim: Verteilung über fünf große

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schließlich müsse er sich derzeit um Asyl-fälle kümmern. Neulich verhandelte ernach langer Zeit mal wieder über ein mög-licherweise illegal erbautes Wochenend-häuschen, „das war fast wie Urlaub“.

Richter Nocon zieht eine Tabelle aus demDrucker. Im September 2013 verzeichnetedas kleine Gericht in Cottbus 18 Asylver-fahren – in diesem September waren es 138.„Der Berg wächst und wächst“, sagt Nocon.

So wie in Cottbus geht es an fast allenGerichten zu: Die Zahl der Asylverfahrenbringt die etwa 1800 Verwaltungsrichter inDeutschland an die Grenzen ihrer Belast-barkeit. Rund 40 Prozent der Asylbewer-ber klagten vergangenes Jahr gegen ihrenBescheid. Die Gerichte müssen jeden Fallprüfen.

Viele Bundesländer haben beschlossen,neue Verwaltungsrichter einzustellen.Doch aus deren Reihen heißt es: Das wirdnicht reichen. „Wir brauchten deutschland-weit rund 600 zusätzliche Richter, um dievielen Asylverfahren bewältigen zu kön-nen“, schätzt der Vorsitzende des Verwal-tungsrichterbunds, Robert Seegmüller.

Dabei ist die Welle der Verfahren beiden Gerichten noch gar nicht mit vollerWucht angekommen. Über 300000 Asyl-anträge hat das zuständige Bundesamt fürMigration und Flüchtlinge noch nicht ent-schieden. Experten schätzen, dass sich die-ser Stapel bis zum Jahresende um eine hal-be Million weiterer Akten erhöhen könnte.

Frank-Jürgen Weise, Chef der Bundes-agentur für Arbeit, soll das Flüchtlingsamteffizienter machen, um den Antragsstaubewältigen zu können. Doch neue Mitar-beiter müssen angelernt werden, bei denam dringendsten benötigten Asylentschei-dern dauert das Monate. In einer aktuellenExpertise schreibt ein Fachmann des Ratsfür Migration: „Trotz wiederholter Ankün-digungen ist nicht abzusehen, wann dasBamf fähig sein wird, den Stau nicht weiter

31DER SPIEGEL 43 / 2015

anschwellen zu lassen, geschweige dennihn abzuarbeiten.“

Am Mittwochmorgen um 11 Uhr sind alleKlassenzimmer der Johanna-Wittum-Schu-le belegt. Nur der Kunstraum im Keller istnoch frei. 15 Schülerinnen und Schüler sit-zen an hohen Tischen, die zum Zeichnengedacht sind. Dadurch wirken die Teen-ager kindlicher, als sie eigentlich sind.Schutzbedürftig, trotz der verwegenen Fri-suren nach Fußballervorbild, die einigeJungs tragen. An der Wand hängt ein Sinn-spruch des französischen Dichters Antoinede Saint-Exupéry. „Wie wenig Lärm ma-chen die wirklichen Wunder.“

Ob im Kunstraum der Pforzheimer Be-rufsfachschule tatsächlich ein Wunder ge-lingt, wird sich erst in Jahren zeigen: Dann,wenn die jungen Flüchtlinge, heute zwi-schen 14 und 20 Jahre alt, die deutsche Spra-che gelernt, eine Stelle gefunden, sich imGastland integriert haben. Oder eben nicht.

Im Moment stehen die vier Mädchenund elf Jungen noch ganz am Anfang: Siebesuchen eine sogenannte VABO-Klasse.Das Kürzel steht für „Vorqualifizierungs-jahr Arbeit und Beruf ohne Deutschkennt-nisse“. Jeden Tag sollen sie mehrere Stun-den Deutsch lernen, um anschließend ei-nen regulären Schulabschluss oder eineAusbildung zu machen.

Zwei solcher Klassen gibt es an der Jo-hanna-Wittum-Schule, 20 im Landkreisvon Pforzheim, rund 300 in Baden-Würt-temberg, bundesweit dürften es mehrereTausend sein.

Die Kinder kommen meist an die Schu-len, nachdem sie die Erstaufnahmeeinrich-tungen verlassen haben. Zentrale Stellen,die die Schüler registrieren und verteilen,gibt es bislang nicht. Die jungen Migrantenstehen irgendwann vor dem Schultor, an-gemeldet von einem Sozialarbeiter odereiner freiwilligen Helferin.

Ihre Vorkenntnisse sind höchst unter-schiedlich. Manche haben eine weiterfüh-rende Schule besucht, andere eine Ausbil-dung gemacht. Wieder andere könnenkaum lesen und schreiben. Dem Ideal dessyrischen Akademikerkindes mit Englisch-kenntnissen entsprechen nur wenige.

Referendarin Ouvilia al Kuti fängt beinull an. Die angehende Lehrerin befestigtSchilder an der Tafel: „Meine Name ist alKuti.“ „Ich komme aus Deutschland.“ „Ichspreche deutsch.“ Nacheinander treten dieSchülerinnen und Schüler an die Tafel undsprechen die Sätze nach: „Mein Name istElizabeta. Ich komme aus Albanien. Ichspreche albanisch.“

So geht es weiter, mit Eva und Andreaaus Albanien, Lona und Sonia aus Afgha-nistan, Mohamed aus Syrien, Burhan ausMazedonien, Salim, Dyar, Mahmood,Anas und Havel aus dem Irak. Bei Anasfeixen die Jungs und rufen „Ananas“.Dann ist die Doppelstunde vorüber.

In ein paar Jahren sollen Lona und Bur-han selbst für ihren Lebensunterhalt sor-gen können und als Fachkräfte die deut-sche Wirtschaft stärken. Doch der Wegvom Flüchtling zum Facharbeiter ist weit,wie eine IAB-Studie zeigt. Im Jahr der An-kunft schafften im Schnitt nur 8 Prozentder befragten Flüchtlinge zwischen 15 und64 Jahren den direkten Schritt in einenJob, nach 5 Jahren waren es 50 Prozent.Nach 15 Jahren stieg der Anteil auf 70 Pro-zent – fast auf die Höhe der durchschnitt-lichen Erwerbsquote.

Dass Integration eine Generationenauf-gabe ist, weiß auch Margarete Schaefer,die Direktorin der Johanna-Wittum-Schulein Pforzheim. „Ich kann junge Flüchtlingenicht nach ein, zwei Jahren zum Jobcenterschicken“, sagt sie. „Die gehen dort unter.“

Schaefer sagt, ihre Schule sei inzwischenmassiv überbelegt, wie viele berufliche Schu-len bundesweit. Dabei müssen ausgerechnet

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Helfer vor Halle im Main-Taunus-Kreis: In 77 Stunden Platz für 1000 Flüchtlinge

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jene Lehranstalten viele Flüchtlingskinderaufnehmen, die auch sonst keine einfacheKlientel zu versorgen haben. Die Gymnasiendagegen sind weitgehend außen vor.

Die Kultusministerkonferenz rechnetmit 325000 zusätzlichen Schülern bundes-weit allein durch den aktuellen Zuzug,mindestens 20000 zusätzliche Lehrer wür-den benötigt.

Mohammed, 16 Jahre und neun Monate alt,erreicht Nürnberg am 17. September mitdem Zug aus Wien. Allein. Seine Familiehatte ihn von Damaskus aus auf den Weggeschickt. Mohammed spricht Arabisch,Englisch und zwei weitere Sprachen, er warMitglied eines Leistungskaders im Junioren-Karate. In Nürnberg geht er zur Polizei undfüllt einen Zettel aus. Weil er sagt, dass er16 sei, rufen die Beamten das Jugendamt.

Was in diesem Moment für den Teen-ager Mohammed beginnen sollte, ist dievolle Unterstützung des deutschen Jugend-hilfesystems. Seit Anfang 2014 gelten auchin Bayern für sogenannte unbegleitete min-derjährige Flüchtlinge (UMF) die Stan-dards der Jugendhilfe.

Konkret bedeutet das: ein zwölf Wo-chen langes Clearing, in dem der Betreu-

ungsbedarf ermittelt wird, ein Gesundheits -check, eine Klärung seiner Herkunft, eineÜberprüfung des Bildungsstandes. Zudemein Ein- oder Zweibettzimmer in einemsozial- oder heilpädagogischen Heim oderin einer Wohngruppe. Einen Vormund imJugendamt, mit dem er einmal im Monatein ausführliches Gespräch führen kann.Deutschkurse und Schulunterricht. Ein Hil-feplan, der dazu beitragen soll, dass einJugendlicher bis zur Volljährigkeit auf ei-genen Füßen steht. Bezahlt wird das Ge-samtpaket durch eine Kopfpauschale anden Träger der Betreuungseinrichtung.

Aber jetzt sind alle Plätze belegt, dieVorgaben bleiben für Mohammed blankeTheorie. Er hat eine Matratze in einer Not-unterkunft. Bis jetzt keinen Vormund,Deutschstunde nur mit Ehrenamtlichen amSonntag. Keine Schule, weil es keinenPlatz gibt. Kein Clearing, sondern einenPlatz auf der Warteliste. Vielleicht einKurz-Clearing in einigen Wochen oder Mo-naten. Keinen Hilfeplan, nur den Versucheines Betreuers, ihn an die Karatemann-schaft eines Sportvereins zu vermitteln.

Auch wenn die Bundeskanzlerin bei ih-rer Überzeugung bleibt, das Land könnedie Flüchtlingskrise schaffen: beim Thema

UMF kapituliert Deutschland vielerorts.Die hehren Ziele scheitern nicht mal amGeld. Es gibt keine Gebäude, die den Kri-terien der Jugendhilfe entsprechen. KeinPersonal mit pädagogischem Abschluss,weil zu wenige entsprechende Studiengän-ge belegen.

Mohammed schläft auf einer Matratzein der Aula eines Kinder- und Jugendheimsnahe der Nürnberger Innenstadt. Betrie-ben wird die Einrichtung von der Rum-melsberger Diakonie. Werner Pfingstgraef,der dort für die Arbeit mit UMF zuständigist, sagt: „Wenn ich das mal mit Hochwas-ser vergleiche, muss man sagen: Jetzt ha-ben wir ,Land unter‘.“ Jeder seiner Mitar-beiter renne „wie im Hamsterrad“.

Vergangenes Jahr habe das bayerischeSozialministerium 500 bis 600 UMF pro -gnostiziert. „3400 kamen“. Momentan hiel-ten sich rund 14000 unbegleitete minder-jährige Flüchtlinge in Bayern auf, schätztPfingstgraef. Er warnt trotz der dramati-schen Lage vor einem Absenken der Stan-dards. „Wenn wir es nicht schaffen, dassdiese jungen Leute einen Schulabschlussbekommen und stabil werden, dann wer-den wir das einmal bitter bezahlen.“

Es gibt ihn überall, den Aufruhr gegen Mer-kel. Mittwochabend in der KongresshalleSchkeuditz zum Beispiel. Es ist eine Re-gionalkonferenz, wie Merkel sie gern ab-hält, um die grummelnde Partei zu besänf-tigen. Aber diesmal ist es kein Grummeln,es ist offener Widerstand.

Es sind nicht nur einfache Parteimitglie-der, die sich zu Wort melden, sondern auchLandräte, Bürgermeister, ehemalige Land-tagsabgeordnete. Sie sagen, dass Merkeldie Schleusen für die Flüchtlinge geöffnethabe, sie sagen, dass Merkel den Zustromendlich begrenzen müsse, einer sagt: „Ichbin der Meinung, Sie haben versagt.“

Die Halle in Schkeuditz ist an diesemAbend gespalten wie die ganze Union. DieRedner, die ganz offen Stimmung ma-chen –, aber auch Merkel wird beklatscht,als sie um ihren Kurs wirbt. „Mein Dienstan Deutschland ist, dass ich versuche, ehr-liche Antworten zu geben“, sagt sie. Undzur Ehrlichkeit gehöre, dass es keineschnellen Antworten gebe. Genau das aberist ihr Problem. Die Zeit arbeitet gegen sie.

In der Bundestagsfraktion schlagen sichimmer mehr Politiker auf die Seite vonMerkels Widersacher, weil die Zahl derFlüchtlinge wächst. „Es sind mittlerweiledeutlich mehr als die Hälfte der Abgeord-neten, die sich eine andere Politikwünscht“, sagt ein Parlamentarier, derMerkels Linie stützt.

Die Kritiker Merkels wissen auch, dasses keine einfache Lösung gibt. Darum gehtes ihnen auch nicht. Sie wollen eine „Äu-ßerung für die Weltöffentlichkeit“, dassauch ein reiches Land wie Deutschland

34 DER SPIEGEL 43 / 2015

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Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Nürnberg: „Jetzt haben wir ,Land unter‘“

nicht unbegrenzt Menschen aufnehmenkönne, wie CSU-Chef Seehofer sagt.

Es soll auch ein Signal nach innen sein.Viele Unionsabgeordnete wollen eineRückkehr zu Grenzkontrollen, sie wollen,dass Menschen, die keine Chance auf Asylhaben, an der Grenze abgewiesen werden.So soll den Bürgern gezeigt werden, dassder Staat die Kontrolle darüber, wer insLand kommt, nicht völlig verloren hat.

Merkel hält das für falsch. In der Frak-tionssitzung wiederholte sie ihre Überzeu-gung, dass eine Grenzsicherung nationalnicht funktioniere. Sie gehe nur europä-isch. Der Innenpolitiker Armin Schusterwidersprach: „Ich bin Bundespolizist“, be-gann er seinen Auftritt in der Fraktion.„Frau Bundeskanzlerin, haben Sie Ver-trauen, die Bundespolizei kann das.“

Nach Schuster meldeten sich andere mitder gleichen Botschaft. Der baden-würt-tembergische Abgeordnete Clemens Bin-ninger sagte: „Wenn Sie der Meinung sind,man kann nicht kontrollieren und zurück-weisen, dann bin ich anderer Meinung.“Und der CSU-Abgeordnete Hans-PeterUhl prophezeite Merkel das politische Aus,falls sie ihre Haltung nicht ändere: „Wenndas Volk feststellt, dass die Regierung esnicht schützen will oder kann, dann wähltsich das Volk eine andere Regierung.“

Dabei dachten Merkels Vertraute imKanzleramt, man habe den Konflikt zu-mindest vorübergehend unter Kontrolle.Am Montagmorgen hatte Merkel mit CSU-Chef Horst Seehofer telefoniert und ihmmitgeteilt, dass sie sich nun auch öffentlichfür die Einrichtung sogenannter Transit-zonen aussprechen werde. Dort sollenFlüchtlinge, die voraussichtlich kein Blei-berecht bekommen, sofort zurückgeschicktwerden. Die CSU-Landesgruppe hattedies, unterstützt von BundesinnenministerThomas de Maizière, schon vor zwei Wo-chen gefordert.

Fraktionschef Volker Kauder und Mer-kel hatten das abgelehnt, weil sie diese Zo-

nen für nicht praktikabel hielten. Daranhat sich nichts geändert, aber Merkel woll-te dem allgemeinen Unmut über ihre Po-litik ein Ventil bieten. Allerdings musstesie rasch feststellen, dass die SPD nichtmitspielen wird.

Am Mittwoch nach der Kabinettssitzungim Bundeskanzleramt trafen sich Merkel,Kanzleramtschef Peter Altmaier und deMaizière mit ihren SPD-Kabinettskollegen,Vizekanzler Sigmar Gabriel, Außenminis-ter Frank-Walter Steinmeier und Justizmi-nister Heiko Maas. Gabriel stellte nocheinmal klar: „Das geht nicht mit der SPD.“Maas sagte, „Haftanstalten an der Grenze“seien nicht akzeptabel. Damit war klar,dass Merkels Befriedungsversuch in Rich-tung CSU scheitern würde.

Wie es weitergehen soll, weiß in derUnionsführung nun niemand. Das vorherr-schende Gefühl ist komplette Ratlosigkeit.Nach außen steht die CDU-Spitze ge-schlossen hinter der Kanzlerin. Tatsächlichwächst die Kritik, sie wird nur subtil ver-steckt. Der hessische MinisterpräsidentVolker Bouffier lobt Bundespräsident Joa-chim Gauck, der gesagt hatte: „Unser Herzist weit. Aber unsere Möglichkeiten sindendlich.“ Innenminister Thomas de Mai-zière sagte bei einem Treffen mit Innen-politikern der Fraktion am Mittwoch-abend, er werde prüfen, ob die Zurück-weisung von Flüchtlingen an der Grenzerechtlich möglich sei. Fraktionschef Kau-der würde sich nicht sperren, wenn de Mai-zière sich klar für solche Grenzkontrollenaussprechen würde.

Selbst Finanzminister Wolfgang Schäub-le, der Merkels Kurs vor Kurzem noch öf-fentlich unterstützt hatte, schlug in dieserWoche eine Kürzung der Hartz-IV-Leis-tungen für anerkannte Asylbewerber vor.Es ist genau die Art von unabgestimmtenVorschlägen, die das Kanzleramt nichtschätzt, die aber der Führung signalisieren:Es muss etwas geschehen.

Schäuble hat ein eigenes Interesse da-ran, dass die Zahl der Asylbewerber sinkt.Schon nächstes Jahr wird er wieder neueSchulden aufnehmen müssen. Die Zeitender schwarzen Null, also eines Haushaltsohne Neuverschuldung, scheinen nach2014 und 2015 vorbei. Der Puffer vonknapp neun Milliarden Euro, den Schäubleim Jahr 2016 hat, wird schon nach jetzigemStand nicht ausreichen; denn die Fachleuteim Finanzministerium rechnen mit Flücht-lingskosten von deutlich über zehn Mil -liarden Euro, nur für den Bund.

Sie halten zudem ein Wohnungsbaupro-gramm in Milliardenhöhe für unausweich-lich, um den Zuwanderern ein Dach überdem Kopf zu verschaffen. Auch die Länderbrauchen viel mehr als die ihnen zugesag-ten drei Milliarden Euro an Bundeshilfen.Gelingt es tatsächlich, die Asylverfahrenzu beschleunigen, wird die Zahl der aner-

35DER SPIEGEL 43 / 2015

13Eritrea

15Pakistan

13Afghanistan

12Somalia

10Nigeria

7Irak

5Mazedonien

4Syrien

4Serbien

Albanien 3 Quelle: Bamf; Stand: 30. September

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kannten Flüchtlinge von derzeit knapp10000 monatlich bis auf das Sechsfachesteigen, so regierungsinterne Schätzungen.Die Folge: Viele dieser Zuzügler beziehenkünftig Arbeitslosengeld, für das der Bundaufkommen muss. Darüber hinaus wirddie Bundesregierung der Türkei voraus-sichtlich Hilfen in Höhe von bis zu einigenhundert Millionen Euro gewähren, um dieFlüchtlinge vor Ort zu versorgen.

Merkel weiß, dass der Druck weiter stei-gen wird. Denn auch die SPD-Spitze spürt,dass eine zu große Nähe zu Merkels Kursfür sie fatale Folgen haben könnte. Dassder Magdeburger Oberbürgermeister LutzTrümper diese Woche aus der SPD ausge-treten ist, war ein erster Hinweis, dass esauch unter den Genossen gefährlich gärt.Von „Panik“, die es zu vermeiden gelte,ist in der SPD-Spitze die Rede. „Die Zah-len müssen sinken“, sagt einer von ihnen.

Eine Grenzschließung verlangt derzeitnoch niemand. Aber die Sorgen wachsenauch bei den Sozialdemokraten. „Wir hal-ten das keine vier Wochen mehr durch“,sagt Fraktionsvize Axel Schäfer. „Wir müs-sen als Staat handlungsfähig bleiben.“

Der niedersächsische Innenminister Bo-ris Pistorius hat einen neuen Plan. Erschlägt vor, sämtliche Flüchtlinge, Asylbe-werber oder Arbeitsmigranten, die nachDeutschland streben, durch zehn bis zwölfspezielle Einreisezentren zu schleusen.Auch Asylanträge wären nur noch dort zustellen. Wer sich daran vorbeizumogelnversucht, wäre illegal im Land.

In diesen Einreisezentren, so Pistorius,müsste innerhalb weniger Tage unterschie-den werden zwischen solchen, die eineChance auf Asyl oder Flüchtlingsschutzhaben, aus einem sicheren Herkunftslandkommen oder einen Arbeitsplatz suchen.

Der Hamburger Bürgermeister OlafScholz und Justizminister Heiko Maas sol-len für die SPD weitere Vorschläge entwi-ckeln. Noch ist nichts niedergeschrieben,aber zum Katalog dürfte etwa gehören,dass Straftäter schneller ausgewiesen wer-den und Ausländer, die angeblich ihre Päs-se verloren haben, trotzdem abgeschobenwerden können.

Vor allem werden die Genossen in dennächsten Wochen darauf achten, ob undwie schnell Angela Merkel ihre Positionverändert. Dass sie das tun wird, haltenviele Unionsabgeordnete für ausgemacht.„In drei Wochen ist wieder Fraktionssit-zung“, sagt CSU-Innenexperte Uhl. „Wennbis dahin bei der Regierung nichts passiert,dann passiert etwas in der Fraktion.“

Matthias Bartsch, Jan Friedmann, Hubert Gude,Horand Knaup, Ralf Neukirch, Conny Neumann,

René Pfister, Christian Reiermann, Michael Sauga,Christoph Schult, Wolf Wiedmann-Schmidt

36 DER SPIEGEL 43 / 2015

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Lesen Sie auch auf Seite 58:

Wie Flüchtlinge Deutschland erleben

37DER SPIEGEL 43 / 2015

SPIEGEL: Frau Göring-Eckardt, Sie sind indieser Woche als Fraktionsvorsitzende derGrünen im Bundestag wiedergewählt wor-den. Beginnt nun der Bundestagswahl-kampf 2017?Göring-Eckardt: Jetzt beginnt die zweite Halb-zeit. Klar wird es jetzt ernster.SPIEGEL: Die Grünen wollen in einer Urwahlüber die Spitzenkandidaten entscheiden,die die Partei in die Bundestagswahl füh-ren werden. Der schleswig-holsteinischeUmweltminister Robert Habeck hat schonerklärt, dass er sich bewerben will. HabenSie sich schon entschieden?Göring-Eckardt: Ja, wenn es so weit ist, willich gern kandidieren.

SPIEGEL: Warum?Göring-Eckardt: Die Integration von Flücht-lingen ist die größte Herausforderung seitder friedlichen Revolution. Ich habe selbsterlebt, was es bedeutet, sich in Freiheitganz neu zurechtfinden zu müssen, als dieDDR plötzlich nicht mehr existierte. Daswar eine Kraftanstrengung für alle. Jetztwird sich unsere Gesellschaft wiederenorm verändern. Ich will einen Weg fin-den, bei dem alle profitieren, die Flücht-linge und auch die Menschen, die jetztschon in Deutschland leben. Als Christinweiß ich, wie wichtig der gesellschaftlicheZusammenhalt ist und dass es dazu Hal-tung und Standhaftigkeit braucht.

SPIEGEL: Sie haben bei der Bundestagswahl2013 die Grünen in eine Wahlniederlagegeführt. Ist es nicht vermessen, noch ein-mal antreten zu wollen?Göring-Eckardt: Ich schaue nach vorn. Undwenn es möglich ist, wollen wir im Bund2017 Verantwortung übernehmen. Es wirdlogischerweise ein ganz anderer Wahl-kampf werden als 2013. Ja, damals habeauch ich Fehler gemacht. Ich habe aus denFehlern gelernt. SPIEGEL: Man könnte auch sagen: Im Ge-gensatz zu Jürgen Trittin können Sie nocheinmal antreten, weil man bei Ihnen nichtgenau weiß, wofür sie stehen. Sie habenunter Rot-Grün die Agenda 2010 beschlos-sen, dann den Linksschwenk der Grünenunter Trittin mitgemacht. Jetzt führen Siedie Partei wieder in die Mitte.Göring-Eckardt: Ich bin sicher keine Ideologin.Und ich werde nicht um Entschuldigungbitten für das soziale Programm, das wirvertreten haben. Für mich ist das Engage-ment für andere, die Nächstenliebe, wennSie es so nennen wollen, ein zentraler An-trieb. Und das bleibt es.SPIEGEL: Die Nächstenliebe haben 2013 vieleWähler als Anschlag auf ihr Portemonnaieaufgefasst. War die Forderung nach Steuer -erhöhungen ein Fehler?Göring-Eckardt: Der größte Fehler war, dassdie Leute das Gefühl hatten, wir wolltenihnen vorschreiben, wie sie zu leben ha-ben.SPIEGEL: Sie meinen den Veggie-Day, dendie Grünen in ihrem Bundestagswahlpro-gramm hatten?Göring-Eckardt: Ich meine, dass wir damalsden Eindruck erweckt haben, wir wüsstenin verschiedener Hinsicht, was für die Men-schen am besten ist. SPIEGEL: Die Grünen wollen doch die Weltbesser machen. Dazu gehören Verbote.Was ist schlimm daran?Göring-Eckardt: Es ist Aufgabe der Politik,gerade der grünen, die Fleischproduktionso zu organisieren, dass sie ohne Anti -biotika und Tierquälerei funktioniert, ohneGifteinsatz und Verdrängung von Klein-bauern im Ausland. Davon profitieren diesozial Schwachen in den armen Ländern,davon profitieren die kleinen Bauern welt-weit. Und davon profitiert jeder Einzelnevon uns – durch gutes Essen. Ja, das wirdden Preis des Fleisches verteuern. So ehr-lich müssen wir schon sein. SPIEGEL: Wenn Sie keine Vorschriften ma-chen wollen, warum treten Sie dann ent-schieden für die Frauenquote ein? Siekönnten doch sagen: Wenn wir alle Kraftin die Qualifikation der Frauen stecken,dann werden die ihren Weg schon machen.Göring-Eckardt: Genau das haben wir ver-sucht. Aber irgendwann ist Schluss. BeimThema Gleichberechtigung von Frauen hatmich der Glaube an freiwillige Lösungenverlassen. Schon als wir 1998 die Koali -

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„Ich kandidiere“Opposition Die Grüne Katrin Göring-Eckardt, 49, über ihre Bewerbung für die Bundestags-Spitzenkandidatur und die Chancen für ein schwarz-grünes Bündnis nach 2017

Deutschland

tionsverhandlungen mit Gerhard Schröderführten, hat der gesagt: Wir brauchen dochkeine Quote, die Frauen werden sich auchso durchsetzen. Passiert ist aber: nichts.Deshalb werde ich weiter für die Quotekämpfen.SPIEGEL: Dann müssten Sie aber konsequen-terweise sagen: Wenn die Deutschen nichtzur Vernunft kommen und weniger Fleischessen, dann kommt der Veggie-Day.Göring-Eckardt: Nein. Dann gehen wir an diegroßen Strukturen – an die Macht derFleischkonzerne und die Lobby der Le-bensmittelindustrie. SPIEGEL: 2013 haben die Grünen die Ab-schaffung des Ehegattensplittings gefordert.Soll es dabei bleiben? Göring-Eckardt: Viele Menschen haben sichbei ihrer Lebensplanung darauf eingestellt,dass sie mit dem Ehegattensplitting rech-nen können. Das können wir nicht von ei-nem Tag auf den anderen ändern. Anderer -seits sehen wir natürlich, dass das Ehe -gattensplitting einen falschen Anreiz gera-de für Frauen setzt, auf Berufstätigkeit zuverzichten. Wir entwickeln nun ein neuesKonzept.SPIEGEL: Sie werden also keine weiterenSteuererhöhungen fordern? Göring-Eckardt: Wir entscheiden nächstesJahr über unser Steuerkonzept. Unabhän-gig davon halte ich eine Millionärsteuerfür richtig. Die richtig Reichen im Landsollen etwas beitragen für den gesellschaft-lichen Zusammenhalt – da geht es um Ge-rechtigkeit.SPIEGEL: Sie haben die Verschärfungen desAsylrechts, die die Bundesregierung vorgeschlagen hat, heftig kritisiert. Amvergangenen Donnerstag haben sich die Grünen im Bundestag aber mit großerMehrheit enthalten und nicht mit Nein gestimmt. Warum? Göring-Eckardt: In dem Paket ist Positivesund Negatives drin. Und genau so habenwir abgestimmt. SPIEGEL: Das ist doch die halbe Wahrheit.Denn Winfried Kretschmann, der grüneMinisterpräsident aus Baden-Württemberg,hat angekündigt, dass er die Verschärfun-gen im Bundesrat mittragen wird. WolltenSie nicht eher verbergen, wie machtlos dieGrünen im Bund sind?Göring-Eckardt: Natürlich ist die Landtags-wahl im kommenden Jahr in Baden-Würt-temberg sehr wichtig für uns alle. Aber so,wie Sie denken, funktioniert das nicht,schon gar nicht bei uns Grünen. Wir stimmen so ab, wie wir es für richtig halten.Viele von unseren Leuten sind aktiv inden Kommunen. Sie leisten vor Ort Un-glaubliches, sie sitzen in den Parlamenten,sie wissen, was in den nächsten Jahren voruns liegt. Zentral ist, dass die Kommunenendlich das nötige Geld erhalten, das siezur Bewältigung der Herausforderungenbrauchen, und es nicht von den Kinder-

gärten und der Infrastruktur abziehen müssen. Es ist doch absurd, Flüchtlingesechs Monate in Großunterkünften fest -zuhalten und eine Gutscheinbürokratieaufzubauen.SPIEGEL: Sie könnten als Opposition mitNein stimmen, um ein Zeichen zu setzen.Göring-Eckardt: Ich kann doch nicht die gan-ze Zeit mehr Unterstützung für die Kom-munen und die Ehrenamtlichen vor Ortfordern, und wenn der Bund endlich bereitist, finanziell zu helfen, das dann ablehnen.Das wäre eine Fundamentalopposition,das passt nicht zu uns.SPIEGEL: Ist die konstruktive Oppositionschon die Vorbereitung auf ein schwarz-grünes Bündnis nach der Wahl 2017?Göring-Eckardt: Nein.SPIEGEL: Warum so zögerlich? 69 Prozentder Grünen-Anhänger sind mit der ArbeitMerkels in der Flüchtlingskrise zufrieden.Damit hat sich doch die Frage nach demnächsten möglichen Koalitionspartnerschon beantwortet.Göring-Eckardt: Bekanntlich besteht die Unionnicht nur aus Frau Merkel. Und Frau Mer-kel ist nicht nur die Flüchtlingskanzlerin.Da sind zwei Parteien, und mindestenseine macht gerade eine Politik, die wirganz und gar nicht mittragen können.Wenn Horst Seehofer sagt, er wolle dieGrenzen dichtmachen, und Viktor Orbánhofiert, dann ist das für uns inakzeptabel.SPIEGEL: Die aktuellen Umfragen sagen,dass Rot-Rot-Grün keine Mehrheit habe.Göring-Eckardt: Es bringt nichts, heute da -rüber zu spekulieren, was in zwei Jahrensein wird. Vielleicht will ja Sahra Wagen-knecht heimlich nichts anderes als eine Regierungsfähigkeit der Linken? Vielleichtwird Merkel, deren Haltung in der Flücht-lingskrise ich sehr begrüße, von den Rechten in ihrer Partei weggeputscht. Für die Grünen kann das doch nur bedeuten:Wir werden unsere Politik vertreten undnach der Wahl entscheiden, mit wem wirkoalieren.SPIEGEL: Eine linkere CDU werden sie aberniemals mehr bekommen. Neulich sagteErika Steinbach, die man als Rechtsaußender CDU bezeichnen könnte, die Grünenhätten sich zum Positiven gewandelt …Göring-Eckardt: … da kriege ich ja glatt Angst,wenn Erika Steinbach das sagt.SPIEGEL: Aber gibt sie nicht etwas Wahreswieder, nämlich dass die Grünen inhaltlichan die CDU herangerückt sind?Göring-Eckardt: Höchstens umgekehrt. Aberwer weiß schon, wofür die Union derzeitsteht. Sie scheint in einer schweren Identi-tätskrise zu stecken. Die SPD übrigensauch.SPIEGEL: Sie sind sehr engagiert in der Kir-che. Darf man für einen Wahlsieg beten?Göring-Eckardt: Also ich bete ja viel und gern.Aber für einen Wahlsieg habe ich noch niegebetet. Interview: René Pfister, Britta Stuff

38 DER SPIEGEL 43 / 2015

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Im Juni 2015 verrät BND-Präsident Ger-hard Schindler nonchalant ein Geheim-nis. Sein Geheimdienst, sagt er offen

im NSA-Untersuchungsausschuss, habe„natürlich“ nicht den Auftrag, den Élysée-Palast auszuspionieren. Aber selbst wenner es täte, wäre dies „kein Gesetzesver-stoß“, so Schindler. Ausländer im Auslanddürfe der Bundesnachrichtendienst nunmal unter die Lupe nehmen. Und damitwirklich jeder die Botschaft versteht, wie-derholt er es Wort für Wort: „Es ist keinGesetzesverstoß.“

Das Beispiel Élysée-Palast ist zu diesemZeitpunkt aus der Luft gegriffen. Ein deut-scher Geheimdienst, der den französischenPräsidenten überwacht? Undenkbar. Oder?

Seit Mittwoch dieser Woche ist das Un-wahrscheinliche ein Stückchen wahrschein-licher geworden. Da erfuhren die Mitglie-der des Parlamentarischen Kontrollgre -miums vom Kanzleramt, dass der BNDüber viele Jahre hinweg Institutionen et -licher europäischer Länder und andererPartner belauscht hat. Und das in diesemFall nicht im Auftrag des US-Geheimdiens-tes NSA, der den gutgläubigen Deutschenzahllose Suchbegriffe, sogenannte Selek-toren, untergejubelt hatte. Sondern vor-

sätzlich und eigenständig mit mehrerenTausend eigenen fragwürdigen Selektoren.

Betroffen von der umfassenden stra -tegischen Aufklärung der Deutschen sind offenbar französische und andere EU- Botschaften, Behörden, vermutlich auch Unternehmen. Und – nach zwei JahrenNSA-Skandal besonders delikat – US-ame-rikanische Institutionen.

Die Erzählung von der nimmersattenNSA und ihren naiven deutschen Gehilfennimmt damit eine neue Wendung. Was inBerlin lange schon geraunt wurde, ist nunbewiesen: dass auch der brave BND nachseinen eigenen Regeln spielt und im Zwei-fel der Mozart-Doktrin folgt: Così fan tut-te – so machen es alle. Und dass die Regie-rung, die seit mindestens zwei Jahren Be-scheid wusste, gegenüber dem Bundestagein selektives Verhältnis zur Wahrheitpflegt. Ihrer Pflicht zur umfassenden In-formation kommt sie dann nach, wenn esihr passt. Selbst Abgeordnete der Koalitionfühlen sich dadurch hinters Licht geführt.

Dabei sind wichtige Fragen noch offen.Wen und was genau hörte der BND eigent-lich ab? War wirklich alles rechts- und auf-tragskonform, wie die Verantwortlichenversichern? Wieso behielten alle Beteilig-

ten ihr Wissen so lange für sich? Und waskann man der Bundesregierung und ihrenDiensten überhaupt noch glauben?

Die Sache müsse Konsequenzen haben,heißt es im Bundestag. Der Grünen-Ob-mann im NSA-Ausschuss, Konstantin vonNotz, sagt: „Wenn der BND mit Wissendes Kanzleramts Partner und Freunde aus-spioniert hat und uns das Ganze zwei Jah-re lang verschwiegen wurde, wird es fürviele Verantwortliche ganz eng.“

Tatsächlich hätte es in den vergangenenMonaten genug Gelegenheiten gegeben,reinen Tisch zu machen. Als im Frühjahrbekannt wurde, dass der BND in seinerAbhörstation im bayerischen Bad Aiblingspätestens ab 2005 mit NSA-Selektoren ge-arbeitet hatte, die sich gegen deutsche undeuropäische Behörden und Firmen richten,war die Aufregung groß. Der NSA-Aus-schuss befasste sich über Monate hinwegintensiv mit dem Thema, die Regierungsetzte einen Sonderermittler ein. Das Wal-ten des eigenen Geheimdienstes aber be-hielt sie für sich. Dabei könnte das einemehr mit dem anderen zu tun haben, alsdie Regierenden bereit sind zuzugeben.

Ein Schlüsselmoment der Selektoren -affäre ist der 28. Oktober 2013. Im Rahmen

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Geht dochGeheimdienste Ausspähen unter Freunden geht gar nicht? Beim Verwirrspiel um die Abhörpraxisvon NSA und BND verheddert sich die Regierung zusehends in ihren eigenen Erzählsträngen.

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BND-Chef Schindler in der Abhörstation Bad Aibling

Deutschland

der NSA-Affäre enthüllte der SPIEGEL(44/2013), dass ein Handy von KanzlerinMerkel bereits seit elf Jahren Spionagezieldes US-Geheimdienstes sei. Die Bundes-regierung reagierte ungewohnt scharf, derÖffentlichkeit wurde ein No-Spy-Abkom-men versprochen, Merkel prägte ihr mitt-lerweile geflügeltes Wort: „Ausspähen un-ter Freunden, das geht gar nicht.“ Wie mannicht erst jetzt weiß – ein Witz.

Beim BND in Pullach löst Merkels Dik-tum Unbehagen aus. War es doch in denAußenstellen Bad Aibling, Gablingen,Rheinhausen und Schöningen geübte Pra-xis, mithilfe eigener Selektoren auch dieKommunikation von EU- und US-Bürgernabzufangen. Vor allem dann, wenn es einenBezug zu den Krisengebieten in Nah- undMittelost gab. Aber eben nicht nur.

Wenn es in den belauschten Gesprächenbeispielsweise um Terrorismus oder Waf-fenschmuggel geht, will der BND das wis-sen. Er wähnte sich dabei im Einklang mitdem Auftragsprofil, das ihm die Bundes-regierung alle vier Jahre übermittelt; recht-lich sei nichts zu beanstanden. Politischkönnte es jedoch als „Ausspähen unterFreunden“ verstanden werden.

Im Oktober 2013 unterrichtete Schindlersicherheitshalber das Kanzleramt über diePraxis. Dort reagierte man entsetzt. Offen-bar wies Kanzleramtschef Ronald Pofalla(CDU) Schindler umgehend an, diese Formdes Lauschangriffs einzustellen. Kurz da-rauf gerieten die Verhandlungen mit Wa-shington über ein No-Spy-Abkommen insStocken. Zufall?

Fast zeitgleich – so die offizielle Ver -sion – machte ein BND-Mitarbeiter in BadAibling eine beunruhigende Entdeckung.In der Abhöranlage existierte ein vomHauptüberwachungssystem des BND un-abhängiger Spionagekanal. In dieses Ne-bensystem speiste die NSA regelmäßigSuchbegriffe ein, nach denen die BND-Rechner weltweit forschten. Im Sommer2013 – die Aufregung um die Enthüllungen

des Whistleblowers Edward Snowden warerst wenige Wochen alt – beschloss derBND-Mann eigenmächtig, sich die Selek-torenliste der NSA genauer anzusehen. ImHerbst hatte er ein Ergebnis: Tausende derSuchbegriffe richteten sich gegen deutscheund europäische Behörden und Firmen.Eine Ungeheuerlichkeit.

Seine Entdeckung behielt der BND-Mann angeblich für sich. Lediglich die US-Freunde will er gebeten haben, den Unfugzu beenden. Auf die Idee, seine Vorgesetz-ten zu unterrichten, soll er nicht gekom-men sein. So blieb dieser Selektorenskan-dal bis Frühjahr 2015 unter der Decke. Erstdann will BND-Chef Schindler vom Foul-spiel der NSA erfahren und umgehend dasKanzleramt unterrichtet haben. Erst damitging die Aufklärungskaskade los.

Die Verantwortlichen in der Bundes -regierung und beim BND brachte das ineine missliche Lage. Der Reihe nach wurden sie in Berlin vom NSA-Ausschussangehört. Dort sagten sie nun mehr oder weniger rechtschaffen über die NSA-Selektoren aus, über die sie angeblichnichts gewusst hatten. Verschwiegen abergleichzeitig ihr umfangreiches Wissen überdie problematische Selektorenpraxis deseigenen Geheimdienstes. Das formal richtige Argument der Zeugen: Untersu-chungsgegenstand des Ausschusses sei nurdie Zusammenarbeit des BND mit aus -ländischen Diensten – und eben nicht dessen Überwachungspraxis mit eigenenSelektoren.

In den Befragungen erwies sich der Aus-schuss jedoch als unangenehm hartnäckig.So wollte die Linken-Obfrau Martina Ren-ner von BND-Vize Guido Müller wissen,ob „bei eigenen Operationen europäischeInteressen nicht so beachtet wurden“. Mül-lers Antwort: „Das kann ich Ihnen nichtsagen. Das weiß ich nicht.“ Ein andermalwurde Klaus-Dieter Fritsche, der Geheim-dienstkoordinator des Kanzleramts, ge-fragt, ob der Schutz europäischer Interes-

sen im Herbst 2013 ein Thema war. DazuFritsche: „Jedenfalls bei mir nicht.“

Es war dünnes Eis, auf dem sich Regie-rende und Geheimdienstler in diesen Mo-menten bewegten. Aber sie hielten ihre Li-nie – bis zum Mittwoch dieser Woche, alssie selbst die jahrelange BND-Lauschpraxisbekannt gaben. Angeblich soll erst kurzzuvor ein Bericht über die BND-Selektorenfertig geworden sein. Tatsächlich aber re-cherchierten Journalisten hartnäckig zudem Thema. Zudem hatten Linke und Grüne im NSA-Ausschuss erst vor wenigenTagen beantragt, die BND-eigenen Selek-toren einzusehen. Nun plötzlich wählte dieRegierung die Vorwärtsverteidigung.

Ob sie damit durchkommt? Die mit derGeheimdienstkontrolle befassten Abgeord-neten des Bundestags wollen die Sachenicht auf sich beruhen lassen: Eine Task-force des Parlamentarischen Kontrollgre-miums soll bereits kommende Woche inder BND-Zentrale in Pullach die Frage klä-ren, wer wann was von welchen Selekto-ren wusste, auf wessen Geheiß und mitwelchen gesetzlichen Befugnissen sie ein-gespeist wurden. „Es ist offenkundig, dassdie strategische Fernmeldeaufklärung desBND eine eigene Rechtsgrundlage brauchtund dass diese auch wirksam kontrolliertwerden muss“, sagt der CDU-Innenpoliti-ker Clemens Binninger.

Die Geheimdienste hätten ihre Aktivi-täten in den vergangenen 15 Jahren„enorm verändert“, ohne dass die gesetz-lichen Befugnisse entsprechend angepasstworden seien, sagt Thorsten Wetzling, Ge-heimdienstexperte der Stiftung Neue Ver-antwortung. Es sei höchste Zeit, das nach-zuholen, „sonst werden wir auch in Zu-kunft erleben, was gerade passiert: allepaar Wochen ein neuer Skandal“.

Im NSA-Ausschuss herrschen derweilZweifel an den Zeugenaussagen der ver-gangenen Monate. Die Obfrau der Linken,Renner, hält es für „kaum vorstellbar“, dassdie fragwürdige BND-Selektorenpraxisschon im Herbst 2013 die Dienstspitze unddas Kanzleramt erreicht habe – die NSA-Praxis aber erst eineinhalb Jahre später.Sogar Abgeordnete der Regierungskoali -tion sind entsetzt über die jüngsten Ent-wicklungen: „Wir sprechen beim BNDnicht mehr von Organisationsmängeln, son-dern von einem breiten Organisationsver-sagen“, sagt SPD-Obmann Christian Flisek.

Der BND will sich offiziell nicht zumSachverhalt äußern. Über den grundsätz-lichen Umgang mit Missständen jedochhatte sich Schindler bereits im Juni als Aus-schusszeuge eingelassen: „Eine Erfahrunghabe ich in meinem langen dienstlichenLeben gemacht: Es kommt alles raus. Unddeshalb ist das Vertuschen von Fehlern völlig sinnlos.“

Maik Baumgärtner, Martin Knobbe, Jörg Schindler,Fidelius Schmid

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Kanzleramtschef Pofalla 2013: Lauschangriff einstellen

Deutschland

42 DER SPIEGEL 43 / 2015

Wenn am Montag eine GruppeBundestagsmitarbeiter zur drei-tägigen „Südexkursion“ auf-

bricht, wartet ein spannendes Programmauf sie. Die Assistenten der Politiker kön-nen hautnah Waffensysteme „made in Ger-many“ besichtigen, zuerst beim Panzer -bauer Kraus-Maffei Wegmann in München.Viereinhalb Stunden dauert der Ortsterminbeim Hersteller des „Leopard“-Panzers, in-klusive eines gemeinsamen Mittagessens.

Ihre erste Nacht verbringtdie Gruppe im Viersterne -hotel Schloss Leitheim, ei-nem „Kleinod des schwä-bisch-bayerischen Rokokos“.Dann geht es zu Airbus Helicopters und dem Lenk-waffenproduzenten MBDA.Fünf Tage später startet dieSchwestertournee „Nord -exkursion“. Dabei werdenUnternehmen und For-schungsinstitute in Hamburgangesteuert.

Veranstaltet werden dieReisen nicht von den Rüs-tungsunternehmen, sondernvon der Deutschen Gesell-schaft für Auswärtige Politik(DGAP), einer renommier-ten Denkfabrik mit Haupt-sitz in Berlin. „Wir bieten Ihnen die ex-klusive Gelegenheit, mit verschiedenenAkteuren der Verteidigungs- und Luft-fahrtbranche“ zu diskutieren, heißt es inder „persönlichen Einladung“ der DGAPzum Südevent.

Die gesponserten Rüstungstouren zei-gen, wie sehr Abgeordnetenmitarbeiterzum begehrten Zielobjekt der BerlinerLobbyistenszene geworden sind. Sie habenZugang zu wichtigen Akten, genießen dasVertrauen ihrer Chefs – und sind schlechtbezahlt. „Die Profis unter den Lobbyistenwählen immer den Weg über die Referen-ten und Mitarbeiter“, sagt Heiko Langneraus dem Büro der Linken-AbgeordnetenKatrin Kunert. Parlamentarier dürfen lautGesetz nur unter bestimmten Bedingun-gen Reisen annehmen. Für ihre Mitarbeitergibt es keine klaren Verhaltensregeln.

Regelmäßig veranstalten Interessenver-treter daher „Shows“, „Lounges“ und„Partys“, die speziell für Mitarbeiter undReferenten konzipiert werden. Bei Frei-bier und gutem Essen plaudert man überdas politische Tagesgeschäft und tauschtzum Abschied Visitenkarten aus. So weitist das üblich im Berliner Parlaments -betrieb.

Eher ungewöhnlich sind dagegen mehr-tägige bezahlte Reisen. Zudem stellt sichdie Frage, warum die Exkursionen überdie DGAP organisiert werden – und nichtvon den Rüstungsfirmen selbst. Eine ge-meinsame Recherche von SPIEGEL und„Manager Magazin“ beleuchtet die Hin-tergründe der Exkursionen.

Die DGAP bezeichnet sich als „unab-hängig“ und „überparteilich“. Sie veran-staltet Konferenzen mit Staatsgästen undgibt eine Zeitschrift zu außenpolitischenThemen heraus. Zu den Ehrenmitgliedernder 60 Jahre alten Institution gehören Alt-kanzler Helmut Schmidt und der ehema-lige Außenminister Hans-Dietrich Gen-scher. Das Auswärtige Amt fördert die Ge-

sellschaft, 2015 mit mehr als 850000 Euro.„Die DGAP sieht nach außen seriös aus“,sagt ein Abgeordnetenmitarbeiter, geradedeswegen liefere sie für die Exkursionenein „sehr gutes Bild“.

Allerdings ist die DGAP von Spendenabhängig, wie aus internen Protokollenhervorgeht. In den vergangenen Jahrenwar das Geld knapp. Seine zahlreichenProjekte, die dem Verein in Berlin vielAufmerksamkeit garantieren, wären ohneGroßspenden undenkbar.

Auch die Exkursionen zu den Rüstungs-unternehmen werden aus Zuwendungenvon Firmen finanziert, wie der Verein aufAnfrage einräumt. Das DGAP-eigene„Berliner Forum Zukunft“, das die Reisenorganisiert, wird laut DGAP von Airbusund dem Turbinenhersteller Eurojet Turbogefördert. Allerdings bestreitet Vereins-

vorstand Eberhard Sandschneider, dasssich Firmen in die Exkursionen einkaufenkönnen: „Wir legen das Programm selberfest.“ Doch ein Geschmäckle bleibt.

Dank der Industrie kann die DGAP ei-nen opulenten Rahmen anbieten. Die Mit-arbeiter müssen nur 75 Euro beisteuern.Das deckt nicht mal die Kosten für einennormalen Linienflug von Berlin nachMünchen. Dazu kommen Transfers, Mahl-zeiten – und Extras wie die „exklusiveElbe- und Hafenrundfahrt“ mit demHochzeitsschiff „Hertha Abicht“ währendder Nordexkursion. Alles in allem fallenpro Teilnehmer nach DGAP-Angaben 600 Euro an. Beamte würden bei solchenReisen ein Ermittlungsverfahren wegenVorteilsannahme riskieren, Abgeordnetemüssten die Teilnahme an einer solchenVeranstaltung als geldwerte Zuwendunganzeigen. Für Referenten gilt das allesnicht.

Thomas Gambke, der für die Grünenim Finanzausschuss sitzt, kritisiert, dass„Rüstungsunternehmen unter dem Deck-mantel einer Bildungsreise versuchen,

Einfluss auf die Politik zunehmen“. Das sei „wedertransparent noch unabhän-gig“.

Frühere Teilnehmer gera-ten ins Schwärmen, wennsie von DGAP-Exkursionenberichten. Vor einigen Jah-ren besuchten sie einen Fliegerhorst in Süddeutsch-land – und waren dabei, alseine Alarmrotte der Luft-waffe losdonnerte. „Wie diePiloten da übers Feld ge-rannt sind und dann der Eu-rofighter in steilem Winkelnach oben gestiegen ist –das war wahnsinnig span-nend“, sagt ein Teilnehmer.Die Triebwerke des Euro-fighters stammen von einem

DGAP-Förderer, dem Konsortium EurojetTurbo GmbH.

Ein anderer Assistent, der bei einerNordexkursion mitfuhr, hat die Fahrt alsPR-Veranstaltung für Airbus in Erinne-rung. Die Reisegruppe sah sich die Flug-zeugproduktion in Hamburg-Finken -werder an und speiste mit den Gastgebernin der Kantine. „Es war klar, wer eigent-lich dahintersteckte“, sagt der Assistent –Airbus.

Über 350 Mitarbeiter aus dem Bundes-tag seien schon mitgereist, teilt die DGAPstolz mit. Ihre Teilnahme offenzulegenfällt den Assistenten und ihren Chefs je-doch schwer. Auf Nachfrage bei den Ab-geordneten wollte sich niemand zu aktu-ellen Reiseplänen bekennen.

Philipp Alvares de Souza Soares, Sven Becker, Marlene Göring

„Exklusive Gelegenheit“Lobbyismus Rüstungsfirmen fördern fragwürdige Reisen für Mitarbeiter von Abgeordne-ten. Für die Einladung sorgt eine honorige Denkfabrik.

Ausflugsziel Fliegerhorst in Bayern: „Einfluss auf die Politik nehmen“

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An den Reifen des Traktoranhängerswächst Löwenzahn empor. Die ka-putte Uhr auf der Ladefläche rostet

vor sich hin, und der Slogan auf dem Pla-kat darunter verblasst in der Sonne.

Er lautet: „5 vor Frack“.Jochen Kaliner läuft mit gleichgültiger

Miene an dem Gefährt und seiner krypti-schen Botschaft vorbei. Schließlich stehtder Werksleiter von ExxonMobil vor einerasphaltierten Fläche, so groß wie ein Fuß-ballfeld.

In der Mitte ragt ein baumdickes Rohraus dem Boden. „Hier soll schon seit Jah-ren Gas gefördert werden“, sagt der kräf-tige Mann, der jetzt genervt durch seinerandlose Brille schaut. Mit einem Seufzerfügt er hinzu: „eigentlich“.

Kaliner, 58, Ingenieur, hat einen Helmaufgesetzt. So ist es Vorschrift, wenn maneine Erdgasförderanlage betreten will,auch, wenn der Hahn abgedreht ist. Kali-

ner führt gern Besuchergruppen an die För-derstätte Z11 in Bötersen, unweit der nie-dersächsischen Stadt Rotenburg. Er willihnen zeigen, was sich für ein Irrsinn zwi-schen Bundesstraße und Maisfeld abspielt.

So sieht er das jedenfalls. Im Jahre 2011hat er an dieser Stelle bohren lassen, 4800Meter tief. „Eine technische Meisterleis-tung, perfekt ausgeführt“, sagt Kaliner.Kosten: 20 Millionen Euro. In der Tiefeknickt der Bohrstrang ab und verläuft meh-rere Kilometer in der Waagerechten.„Doch wir dürfen nicht ans Gas ran“,stöhnt er.

Dafür müsste er eine Flüssigkeit mit ho-hem Druck in das Bohrloch pressen, dieden Sandstein aufbricht. „So lange, bis dasGas durch die Risse ins Bohrloch strömtund von dort bis hier nach oben“, sagt erund klopft gegen das schwarz angepinsel-ten Rohr. Doch die Zeiger der Druckmes-ser bleiben beharrlich auf null. „Wegen

der seit Jahren andauernden Debatte be-kommen wir dafür keine Genehmigung.“

Denn die Technik trägt einen Namen,der in Deutschland keinen guten Klanghat: Fracking.

Wie viele andere großtechnische Vorha-ben ruft es bei den Deutschen Widerständehervor, auch wenn Experten schätzen, dassDeutschland mehr als zehn Jahre lang sei-nen Erdgasbedarf mit Fracking deckenkönnte. In den USA hat das Verfahren dieÖl- und Gasförderung revolutioniert unddie Energiepreise auf Talfahrt geschickt.

In Deutschland dagegen hat die GroßeKoalition ein Gesetz auf den Weg gebracht,mit dem das Fracking weitgehend verbo-ten werden soll. Denn das Thema treibtdie Menschen zu Tausenden auf die Straße.Die Aktivisten halten Transparente in dieLuft, auf denen Wasserhähne gemalt sind,die Feuer spucken. Sie tragen gelbe Sprit-zen aus Pappmaschee vor sich her. Ande-

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Das Risiko-ParadoxUmwelt Die Gasförderung per Fracking treibt Tausende Bürger auf die Straßen. Der Streit in einemniedersächsischen Dorf zeigt, warum sich diese Technik wohl nicht durchsetzen wird.

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ExxonMobil-Werksleiter Kaliner: „Wir bekommen dafür keine Genehmigung“

ren dient eine Uhr zum Protest, die auffünf vor zwölf steht, so wie in Bötersen.

Und weil das so ist, haben die Behördenbis auf Weiteres ein Moratorium verhängt,gültig in ganz Deutschland. Kaliner ver-steht die Welt nicht mehr. Viele MillionenKubikmeter Gas könnten aus seinem Bohr-loch strömen und helfen, den Rückgangder deutschen Erdgasförderung zu stoppen.„Erdgas aus Rotenburg“, so lautet ein Pla-kat, das er an der Förderanlage hat errich-ten lassen – als wäre die regionale Produk-tion ein Argument für Erdgas wie für dieErdbeeren vom Bauern nebenan.

Aber es zieht nicht. Stattdessen ist dieBohrstelle Z11 so etwas wie ein Stilllebender deutschen Protestkultur geworden. EinOrt, an dem sich nicht nur verstehen lässt,wie sich die Debatte um eine Technologiefestfahren konnte, von der sich die eineneine helle Zukunft versprechen und dieanderen Verderben wittern.

Bötersen, das steht auch für die Frage,wie weit die Deutschen überhaupt nochbereit sind, neue Technologien zu unter-stützen, die Nutzen bringen, aber auch Ri-siken bergen.

Deshalb interessiert sich mittlerweileauch die Wissenschaft für Fracking als so-zialpsychologische Fallstudie. Ungeachtetder Argumente für oder gegen die Förder-methode, lässt sich an der Auseinanderset-zung Grundsätzliches lernen, findet derSozialpsychologe Ortwin Renn.

Er versucht zu ergründen, woher dieScheu der Deutschen vor neuen Techno-logien kommt, aber auch, warum es man-chen gelingt, akzeptiert zu werden. DieAngst vor dem Elektrosmog der Handys

ist weitgehend verflogen. Gentechnischveränderte Lebensmittel dagegen seien„hierzulande praktisch unverkäuflich“,sagt Renn. Die Windkraft liegt irgendwodazwischen, unter Naturschützern alsLärmquelle und Vogelschredder verrufen,bei einer Mehrheit der Bundesbürger alsSymbol einer nachhaltigen Energiewirt-schaft beliebt.

Fracking dagegen gilt vielen als Teufels-zeug, zum Beispiel Hartmut Horn, der denWiderstand in der niedersächsischen Pro-vinz anführt. Das Herz des Protestes istein kleines einstöckiges Haus, nicht weitentfernt von der Förderstelle Z11. HoheBäume stehen schützend darum, gelegent-lich fährt ein Traktor vorbei.

„Das ist doch eine Naturidylle“, sagtHorn, 76, ein Mann mit wallendem Haar,zauseligem Bart und einer Brille, die ihmständig auf die Nase rutscht. Vor 13 Jahrenwar er aus der Großstadt in das kleineDorf gezogen, um seinen Hobbys nachge-hen zu können. Der pensionierte Lehrerschreibt Gedichte und malt. Er beschreibtsich selbst als sachlichen, ruhigen Men-schen.

Vier Jahre ist es her, dass aus dem Kunst-liebhaber ein Rebell wurde. Einer, derSchilder für Demos malt, der sich für Pro-testaktionen auch festketten würde undsagt: „Die verarschen uns in einem durch.Und wir haben das lange nicht gemerkt.“

Horn war auf dem Weg ins Nachbardorf,nach Waffensen, da entdeckte er einSchild. Darauf informierte der Energiekon-zern ExxonMobil darüber, dass er an die-sem Ort, der Förderstelle Z11, bohren undmit Frackingtechnologie Erdgas fördernwolle. Damals wusste Horn nicht, was Fra-cking ist. Zwar wird in Niedersachsen seitüber 50 Jahren gefrackt, aber auf die soge-nannte konventionelle Weise, in Sandstein-schichten. In den USA geschieht das neu-erdings auch im dichten Schiefergestein.

Er gab das Wort in eine Suchmaschineein und stieß auf Texte aus den USA. Dortwurde Wasser verschmutzt, hieß es, dieMenschen in Frackinggegenden wurdenkrank, und Gas trat unkontrolliert aus demBoden aus. Horn fand das Bild eines bren-nenden Wasserhahns. Es tauchte im Film„Gasland“ auf, einer Dokumentation übermögliche Gefahren der Technologie.

Daraufhin organisierte Horn eine Vorfüh -rung des Films in seinem Ort. DutzendeNachbarn kamen, und fast alle, egal ob Bau-ern, Zugezogene, Handwerker oder Rent-ner, waren genauso entsetzt wie er. Hun-derte meldeten sich für seine Bürgerinitia-tive, „Frack-loses Gasbohren im LandkreisRotenburg“, auch wenn sich mittlerweileherausgestellt hat, dass der brennende Was-serhahn eine natürliche Ursache hatte.

Auf der Motorhaube seines Autos hatHorn eine große Karte befestigt. An vielenOrten sind Vierecke eingezeichnet, dort

45DER SPIEGEL 43 / 2015

Quellen:LBEG et al.

BötersenHamburg

Bremen

Hannover

Berlin

Köln

Leipzig

Frankfurtam Main

Stuttgart

München

mögliche Schiefergasvorkommen

bereits vergebene Lizenzgebiete zurExploration von Öl- und Gaslagerstätten

IN ITALIEN.

ITALIENISCHE

MEISTERSTUCK

Deutschland

ist schon mal nach Gas gebohrt worden.Horn fährt mit dem Finger in der Mitteentlang. Ein riesiges blaues Feld, lang ge-zogen wie ein Fluss. Die Rotenburger Rin-ne führt eines der größten Grundwasser-vorkommen Norddeutschlands mit sich.„Genau hier kommen die auf den bescheu-erten Gedanken, die Rotenburger Rinnezu durchstoßen“, sagt Horn. Er ist über-zeugt, dass auch im Wasserschutzgebietgebohrt wurde.

Dabei ist Exxon in der Region fest ver-wurzelt. Seit Jahrzehnten hat der Kon -zern die Trikots der Fußballteams bezahlt,Bürgermeister ehrten Konzernvertretermit Innovationspreisen, und die Gemein-den waren dankbar für das hohe Steuer-aufkommen. Weil das Geld stimmte, stör-te sich keiner daran, dass aus Rohren überschüssiges Gas austrat und abgefa-ckelt wurde. Bilder, die man sonst ausRussland oder Iran kennt, waren in Ro-tenburg normal.

Für Horn ist der Kampf gegen Frackingzum Lebensinhalt geworden. Am Freitag,erzählt er, kommt n-tv, um einen Berichtzu drehen. Am Wochenende fährt er nachBielefeld, zur Tagung der Antifracking -initiativen und hält einen Vortrag. Vor einpaar Wochen war die „Washington Post“in Bötersen und bei Bohrstelle Z11, davor3sat, das ZDF, ein amerikanisches Film-team. Sie alle rufen bei Horn an, er istzum Gesicht des Protests geworden.

Zugleich ist er ein Zeuge für das soge-nannte Risiko-Paradox. Darunter verstehtSozialpsychologe Renn eine Art Wahrneh-mungsverschiebung, die sich immer dannvollzieht, wenn ein klassisches Risiko ab-nimmt, zum Beispiel die Gefahr, am Ar-beitsplatz krank zu werden oder im Stra-ßenverkehr zu sterben. „Dann treten demMenschen die restlichen Risiken umso grö-ßer in Erscheinung“, sagt Renn.

Was dieses Gefühl verhindern könnte,wäre eine Einsicht in die Notwendigkeitdes Fracking, eine „positive Nutzen-Risi-ko-Bilanz“, wie es Renn nennt. Doch diewerde von der Öffentlichkeit nicht aufge-macht, weil Deutschland im Kern eine sa-turierte Mittelstandsgesellschaft sei, diekeine neuen Techniken will. „Fracking istgewissermaßen das Negativbeispiel, derÖkosupermarkt das positive“, sagt Renn.In den USA etwa sei das Armutsrisiko grö-ßer, weswegen die Menschen dort viel stär-ker an das Wohlstandsversprechen vonFracking glauben.

Der Wissenschaftler wird Nachfolger desehemaligen Umweltministers Klaus Töpferam Institute for Advanced SustainabilityStudies in Potsdam und kennt sich mit Fracking aus: Er war einer der Gutachterfür eine Studie der Deutschen Akademieder Technikwissenschaften. Darin kom-men die Experten zu dem Ergebnis, dassdie Risiken so beherrschbar erscheinen,

dass Fracking zumindest erforscht werdensollte.

Den Fachstimmen zum Trotz befindetsich Fracking derzeit aber in einer argu-mentativen Sackgasse. Jedes Argument,das die Befürworter zu widerlegen versu-chen, wird durch ein neues der Gegner er-setzt. Werksleiter Kaliner hat damit seineeigenen Erfahrungen gemacht. Er versuchtes immer wieder mit Fakten, auf Diskus -sionsveranstaltungen im örtlichen Vereins-

heim, in Interviews mit der Lokalzeitung,mit Besuchergruppen, die er über dasWerksgelände führt.

Am Anfang waren es die großen Men-gen chemischer Zusätze in der Fracking-flüssigkeit. Die seien giftig und eine Gefahrfür das Trinkwasser. Mittlerweile habenChemiker die bedenklichen Inhaltsstoffereduziert. Daraufhin rückte die natürlicheFlüssigkeit ins Visier der Kritiker, die beimBohren aus der Tiefe nach oben kommt.Das Lagerstättenwasser enthält Gifte, wes-wegen Kaliner es nun auf dem Werkshofso weit reinigen will, dass auch davon kei-ne Gefahr mehr ausgeht.

Jetzt aber ist der diskursive GAU einge-treten: Krebs. 2015 wurden die neu anKrebs Erkrankten gezählt. In der Gemein-de Bothel, in der Nähe Rotenburgs, wiesdie Statistik bei Männern einen deutlicherhöhten Wert auf. Die Zahl der Leukämie-und Lymphomfälle ist in dieser Gruppefast doppelt so hoch wie der statistischeDurchschnitt. Schuld ist die Gasförderung,meinen die Frackinggegner. Schwermetalleoder Benzole sollen die Männer krank ge-macht haben.

Fachleute halten es zwar für wenig plau-sibel, dass die Krebsfälle etwas mit der um-strittenen Technologie zu tun haben. AuchFrackinggegner Horn kann sich andere Ur-sachen vorstellen. Die Diskussion ums Fra-cking ist seitdem aber eine andere. „DerKrebs hat vieles verändert“, sagt Horn.Vorher hatten einige noch Zweifel, wiestrikt man gegen das Gasfördern sein sollte,jetzt sind die Reihen geschlossen.

Ein diffuser Krebsverdacht aber lässtsich kaum aus der Welt schaffen. Kalinererinnert sich noch gut an den Moment, alsauf einer Veranstaltung eine Frau aufstandund sagte: „Mein Mann hat Krebs.“ Da sei

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Risse im Gestein

Konventionelle Erdgasvorkommen,z. B. im Sandstein

Bohrturm

500 m

1000 m

Gashaltiges dichtes Gestein,z. B. Schiefer

2

Undurchlässige Gesteinsschicht

Grundwasserspiegel

Hierfür werden von einer Bohr-stelle in der Tiefe die Bohrungen in mehrere Richtungen horizontal abgelenkt.

Gasvorkommen in sehr dichten Gesteinsschichten, z. B. Schiefer, können mithilfe von Fracking erschlossen werden.

Risse

Bohrloch

1

Zunächst werden Wasser, Sandund Chemikalien in das Bohrloch gepresst. Der hohe Druck öffnet Risse und Klüfte im Gestein (1), die durch den Sand offen gehalten werden. Der Großteil des Wassergemischs strömt nach Druckentlastung zurück an die Oberfläche, und das Gas kann gefördert werden (2).

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Frackinggegner Horn

„Die verarschen uns in einem durch“

man praktisch ohnmächtig. Der Frau dar-legen, warum es da höchstwahrscheinlichkeinen Zusammenhang gebe – zwecklos.Auch Sozialpsychologe Renn kennt dieseSituation, und er fürchtet, dass die Fra-ckingtechnik in Deutschland kaum mehreine Chance hat, wenn sie auch noch unterangeblichem Krebsverdacht stehe.

Das Verhalten der Politiker scheint ihmin dieser Einschätzung recht zu geben. InBerlin scheuen sie sich mittlerweile, dasThema ernsthaft anzugehen. Über vieleMonate verhandelte die Große Koalitionein Gesetzespaket, das die Erforschung derTechnik regeln soll, gegen den Widerstandvon Parlamentariern in allen drei Parteien,die ein Verbot gefordert hatten – selbst beiden Christdemokraten.

Auch das ist ein neues Phänomen, sagtRenn: konservative Wählerschichten hei-ßen nicht mehr alles gut, was der Wirt-schaft helfe. „Dieser politische Glaubens-satz funktioniert beim Fracking nicht mehr,genauso wenig wie bei der Gentechnik.“

Schon seit Wochen können sich die Frak-tionschefs in Berlin nicht auf einen Vor-schlag für ein Gesetz einigen. Ein Teil wür-de Fracking am liebsten verbieten. Die Be-fürworter sind frustriert. „Damit gewinnstdu keinen Blumentopf“, sagt ein hochran-

giger Wirtschaftspolitiker der CDU, dersich selbst als Frackingfreund versteht.

Wenn die Technik überhaupt noch eineChance in Deutschland haben soll, er-forscht zu werden, dann brauche sie einpositives Narrativ. Eine Erfolgsgeschichte,die sich um die Technologie erzählen lässt,sagt Sozialpsychologe Renn. Beim Frackingginge sie wie folgt: Für die Energiewendebraucht der Staat einen fossilen Brennstoff,mit dem er die Zeiten ausgleichen kann,in denen kein Wind weht und die Sonnenicht scheint. Erdgas, darauf können sichsogar Ökoaktivisten einigen, ist der idealeEnergieträger für konventionelle Kraftwer-ke, weil er weniger Treibhausgase undSchadstoffe produziert als Kohle.

Doch Renn befürchtet, dass auch dieseStory nicht verfangen wird. Nicht, weil sienicht stimmt, sondern weil man sie Kalinerund seinem Konzern nicht abnimmt. „DieLeute glauben einfach nicht, dass ein Erd-ölmulti plötzlich der größte Förderer vonÖkoenergie sein soll“, sagt Renn. Wenn dasNarrativ eine Chance gehabt hätte, dannnur, wenn Exxon dieses Argument gleichzu Beginn der Debatte mit einer Umwelt-organisation zusammen propagiert hätte.

Kaliner hat noch nicht aufgegeben. Ergeht aus seinem Büro hinüber in den Kon-

ferenzraum im ersten Stock. Eine Besu-chergruppe von Frackinggegnern hat sichangesagt. Auf dem großen Tisch baut Ka-liner sein Instrumentarium auf, mit demer den Leuten die Angst nehmen will vormFracken.

Drei runde Gesteinsproben aus der Tiefegehören dazu, ein Reagenzglas mit einemsandartigen Puder. Das ist Bestandteil inder Frackflüssigkeit, es soll die Poren auf-halten. Und dann hat er noch ein kleinesLaborfläschchen mit einer durchsichtigenFlüssigkeit dabei. „Das ist das Zeug, waswir unten reinpumpen“, sagt er.

Dass der Chemikalienmix ungefährlichist, habe er auch schon mal einem Mil -lionenpublikum vorführen wollen. Für ein Politmagazin des NDR schluckte Kali-ner vor laufender Kamera eine schnaps-glasgroße Menge. Mehr an politischerSymbolik geht eigentlich nicht, das ist wie der Sprung von Umweltminister Töp-fer in den Achtzigerjahren in den trübenRhein.

Kaliners Magen hat der Schluck nichtgeschadet, geholfen hat er in der öffent -lichen Debatte aber auch nicht. Kalinerstellt das Fläschchen beiseite. „Heute wer-de ich nicht daraus trinken.“

Timo Steppat, Gerald Traufetter

Deutschland

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Es ist ein sanfter Sturz. Adolf HitlersRegime ist untergegangen, doch seinBildhauer fällt weich. Arno Breker

bewohnt nach dem Krieg eine riesige roteBacksteinvilla in der Düsseldorfer Nieder-rheinstraße. Atelier, 12000-Quadratmeter-Park, Bronzeskulpturen auf bemoosten So-ckeln, erlesene Teppiche und Antiquitäten.

Und doch jammert der Träger des Gol-denen Parteiabzeichens der NSDAP, istverbittert, larmoyant und voller Hass. Ei-nen „graueren, trivialeren und dabei ent-rüsteteren Menschen vermochte man sichnicht vorzustellen“, schreibt der Kunsthis-toriker Werner Spies nach einem Treffenmit Breker.

Im Januar 1989 klingelt es bei dem altenMann. Vor Brekers Tür steht ein guter Be-kannter, der Aachener OldtimerhändlerHelmut Schumacher. Er hat einen Artikelaus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“mitgebracht, in dem die junge BerlinerKunsthistorikerin Magdalena Bushart schil-dert, wie sie im Frühjahr 1988 im DDR-Provinzstädtchen Eberswalde eine unge-wöhnliche Entdeckung machte.

Auf dem Sportplatz einer sowjetischenKaserne fand sie sechs Bronzestatuen derNazis. Zwei überlebensgroße Muskelmän-ner von Arno Breker, „Der Künder“ und„Berufung“, zwei weibliche Bronzeakte vonFritz Klimsch und am Rande der Aschen-bahn die beiden monumentalen Rösser desNazi-Bildhauers Josef Thorak, die Hitlereinst vor seinem Arbeitszimmer in der Neu-en Reichskanzlei hatte aufstellen lassen.

Breker reagiert auf den Artikel anders,als Schumacher erwartet hat. Der alteMann ist nicht überrascht. Er wisse schonseit 25 Jahren, dass seine Skulpturen beiden Sowjets stünden, sagt er. Für ihn istes eine schreckliche Vorstellung: „seineKinder“ bei den Russen. Er fände es schön,wenn sie endlich heim in den Westen kä-men. Genau das will Schu macher hören.

Mit dem Besuch des Oldtimerhändlersbei Breker beginnt ein Ost-West-Krimi, indem reiche Hitlerverehrer, gerissene Kunst-schieber und ein korrupter General dieHauptrolle spielen. Und der im Mai zu ei-ner bundesweiten Razzia des Berliner Lan-deskriminalamts (SPIEGEL 22/2015) führt.

In Bad Dürkheim landen die Fahndereinen Volltreffer. In einer Lagerhalle undauf dem Nachbargrundstück des Unterneh-mers Rainer Wolf beschlagnahmen sie allesechs Bronzen aus Eberswalde.

Der Fund in Süddeutschland macht welt-weit Schlagzeilen. Er löst eine Debatte ausüber den Umgang mit dem künstlerischenErbe des „Dritten Reichs“. Schließlich ha-ben nur wenige moderne Diktaturen Kunstoder das, was sie dafür hielten, so ernstgenommen wie die Nazis unter dem ge-scheiterten Kunstmaler Adolf Hitler.

Was also tun mit den umstrittenen Wer-ken? Einlagern oder ausstellen? „Lasst unsendlich die Kunst des Dritten Reichs se-hen – in all ihren Farben“, fordert die„New York Times“ nach der Razzia.

Bei der Durchsuchung in Bad Dürkheimbeschlagnahmen die Beamten auch eineStahlkiste voller Fotos, Briefe, Rechnungenund Lieferbescheinigungen. Mit deren Hil-fe gelingt es René Allonge, dem Chefkunst-fahnder des Berliner Landeskriminalamts,den abenteuerlichen Weg der Skulpturenzu rekonstruieren. Am Ende ist er sich si-

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Köpfe im KofferraumNS-Kunst Wie zwei Oldtimerhändler kurz vor dem Mauerfall in der DDR sechs Nazibronzen auseiner sowjetischen Kaserne in den Westen schmuggelten. Von Konstantin von Hammerstein

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Teile von Pferdeskulptur in einem Versteck bei Oranienburg 1989: Mit der Elektrosäge zerlegt

cher, dass Wolf den Nazipomp illegal be-schafft hat. Dieser Nachweis ist entschei-dend, denn nur dann kann der Staat An-spruch auf die Bronzen erheben.

Der SPIEGEL hat in den vergangenenMonaten die drei Protagonisten dieses Ost-West-Schmuggels getroffen. Zunächst woll-te keiner von ihnen reden, dann aber er-zählten sie doch.

Alles beginnt, so berichten sie, am 14. Ja -nuar 1989 mit dem Artikel in der „Frank-furter Allgemeinen“. Im tiefsten WestenDeutschlands wird er von einem Mann ge-lesen, der sich seit Jahrzehnten schon zuHitlers Bronze- und Marmorfantasien hin-gezogen fühlt: Rainer Wolf aus Bad Dürk-heim. In der kleinen Stadt am Rande desPfälzerwaldes sammelt der Unternehmerim großen Stil Oldtimer, Militaria und NS-Skulpturen.

Bei der Durchsuchung im Mai findendie Berliner Fahnder bei ihm mehrere Hit-lerbüsten. Einer seiner Anwälte ist Thorvon Waldstein, der 1984 für die NPD beider Europawahl kandidierte und später im-mer wieder Rechtsextremisten wie denamerikanischen Holocaust-Leugner FredLeuchter verteidigte.

Als Wolf im Januar 1989 von den sechsNazistatuen erfährt, ruft er Helmut Schu-macher an. Der Oldtimerhändler aus Aachen verfügt über exzellente Geschäfts-verbindungen in den Ostblock, wo er fürSammler Oldtimer und alte Militärfahrzeu-ge beschafft. Wolf ist sein Großkunde, undjetzt will er die Statuen aus Eberswaldehaben.

Der Unternehmer habe ihm einen Pa-cken Bares in die Hand gedrückt, sagtSchumacher, „Risikogeld“, und beiden seiklar gewesen, dass damit der Weg derSkulpturen in den Westen geschmiert wer-den sollte. An die genaue Summe könneer sich nicht mehr erinnern, aber Wolfhabe ihm immer wieder mal größere Be-träge zukommen lassen. Meist in wattier-ten Umschlägen, die Wolfs Fahrer vorbei-gebracht habe.

Schumacher braucht Hilfe. Er wendetsich an einen Mann, von dem er weiß, dasser bessere Kontakte in die DDR hat als erselbst. Peter Schmitz, der damals in derNähe von Geilenkirchen lebt, dominiertdas Geschäft mit Oldtimern aus der DDR,die Topware geht an ihn.

Schmitz verspricht zu helfen. Er wittertein gutes Geschäft, denn Schumacher hatihm erzählt, dass Wolf jedes Mittel rechtsei, um an die begehrten Skulpturen zukommen. Da er den Unternehmer bislangnicht kennt, laufen der Kontakt nach BadDürkheim und alle Zahlungen ausschließ-lich über Schumacher.

Der macht sich nun selbst auf den Wegnach Ostberlin. Die Sache eilt. Wer weiß,ob der Zeitungsartikel nicht noch andere

auf die Spur gesetzt hat. Schumacher steigtim Grand Hotel in der Friedrichstraße ab. Dort ist er Stammgast, und er kenntdie Verkäuferinnen in dem hoteleigenenAntiquitätenladen, der von einer Tochter-firma aus dem Imperium des DDR-Devi-senbeschaffers Alexander Schalck-Golod-kowski betrieben wird.

Eine der Frauen, die gelegentlich in demGeschäft arbeiten, ist die Übersetzerin Maria Deim, eine gebürtige Russin, die mit einem Generalmajor der NationalenVolksarmee verheiratet ist. Hans-WernerDeim hat seine Generalstabsausbildung an der Moskauer Militärakademie K.J. Wo-roschilow absolviert, spricht fließend Rus-sisch und unterhält beste Beziehungen zu den sowjetischen Streitkräften in derDDR.

Die Deims können nicht mehr befragtwerden, sie sind Anfang des Jahres gestor-ben, und andere Zeugen gibt es für diesenVorgang nicht.

Glaubt man Schumacher, hat sich dieGeschichte so abgespielt: Bei seinem Be-such in Ostberlin im Januar 1989 spricht erMaria Deim auf die Skulpturen in Ebers-walde an und fragt, ob sie ihm bei der Be-schaffung helfen könne. Als er geht, schiebter ihr einen Umschlag mit 10000 D-Markzu, Schmiergeld von Wolf.

Deim, so erzählt es Schumacher, habedann Kontakt zu den sowjetischen Streit-kräften aufgenommen. Natürlich an Schalck-Golodkowskis Devisenfirmen vorbei. Die

erste Rückmeldung ist negativ. Die Russenwollen nicht mitspielen. Sie haben Sorge,dass die faschistische Kunst in ihrer Kasernegegen sie verwendet werden könnte.

Doch wenige Tage später hat Deim guteNachrichten. Der Deal könne nun dochstattfinden, allerdings gegen eine Spendefür die Opfer des Erdbebens, das den Norden der Sowjetrepublik Armenien Anfang Dezember 1988 verwüstet hat.Schumacher sagt, er habe nun einen zweiten Umschlag rübergeschoben, diesesMal mit einer hohen fünfstelligen Summe.Keine Sekunde lang habe er geglaubt, dassirgendein armenisches Erdbebenopferauch nur einen Pfennig davon gesehenhabe.

Plötzlich meldet sich Schmitz bei Schu-macher – mit einer Sensation. Er habe dieStatuen schon, sagt er, und er braucheGeld.

Damit wird die Geschichte ein wenigunübersichtlich, denn beide Oldtimerhänd-ler reklamieren den Erfolg für sich, aberwer von ihnen hat recht? Es ist eine Frage,die sich mehr als ein Vierteljahrhundertspäter nicht mehr beantworten lässt.

Folgt man Schmitz, waren es nicht dieDeims, sondern der Betreiber eines priva-ten Schrottplatzes in Oranienburg, der denDeal mit den Russen möglich gemacht hat:Horst Stragies, der im Alltag mit SchmitzOldtimer aus der DDR in den Westen ex-portiert. Stragies fährt demnach zur Ka-serne in Eberswalde und verlangt, mit dem

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Beschlagnahmte Skulpturen im Mai in Bad Dürkheim: Was tun mit dem Nazipomp?

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General zu sprechen. Nach mehre-ren vergeblichen Anläufen wird erirgendwann vorgelassen. Aber dieRussen zieren sich.

Schmitz sagt, er sei es gewesen,der die Idee gehabt habe, dasSchmiergeld als Spende für die Erd-bebenopfer in Armenien zu tarnen.Stragies, sagt Schmitz, wird wiederin die Kaserne geschickt, verhan-delt noch einmal, und schließlichschlagen die Sowjets ein. Sie kas-sieren eine angebliche Spende von20000 D-Mark, und es wird ein Ter-min festgesetzt, an dem Stragiesdie Statuen abholen soll.

Stragies wiederum, vom SPIEGELbefragt, kann sich nicht daran er-innern, mit den Russen verhandeltoder ihnen Geld übergeben zu ha-ben. Sicher ist er sich nur, dass erdie sechs Statuen zusammen mitseinem Bruder in Eberswalde ab-geholt hat, wahrscheinlich Ende Januar 1989.

Die Russen warten schon mit ei-nem Kran auf sie, und unter tat-kräftiger Hilfe Dutzender sowjeti-scher Soldaten werden die tonnen-schweren Bronzen auf die zweiLkw der Stragies-Brüder gehievt.Die beiden fahren sie zu einerScheune in der Nähe von Oranien-burg, die Horst Stragies vor einigerZeit angemietet hat. Dort stoßen die Brü-der die Figuren von der Ladefläche insStroh.

Nun beginnt die schwierigste Aufgabe.Die Skulpturen müssen unauffällig in denWesten geschmuggelt werden. Doch dafürsind sie zu groß, und so beschließt Schmitz,nach Absprache mit Schumacher, die Fi-guren zu zersägen.

Bei seinem nächsten Besuch bringt erStragies eine Makita-Elektrosäge mit, unddie Brüder machen sich an die Arbeit. Mo-natelang stehen sie abends in ihrer Scheu-ne und zerlegen die Bronzen in kleine Tei-le, nur die Köpfe, Hufe, Hände und Füßebleiben intakt. „Ich habe mir fast eine Seh-nenscheidenentzündung geholt“, erinnertsich Stragies.

Die kleingesägten Bronzebleche lassensich am einfachsten schmuggeln. Schmitztarnt sie als Beiladung für seine Oldtimer-transporte und schafft sie nach und nachin den Westen. Fragen die Grenzer nach,heißt es, aus den Blechen würden Ersatz-teile für alte Autos gegossen. Die auffälli-gen Köpfe und andere Extremitäten lässtSchumacher zu einer Freundin in eine Ostberliner Plattenbauwohnung schaffen.Dort werden sie, in graue Decken gehüllt,im Schlafzimmer gelagert.

Wenn Schumacher nach Ostberlinkommt, lässt er sich von dem Limousi -nenservice der großen Devisenhotels am

Westberliner Flughafen Tegel abholen. Erweiß, dass die Fahrer bei ihren Trips be-gehrte Westware zurück in die DDRschmuggeln. Einige von ihnen hat er überdie Jahre so gut kennengelernt, dass er siefragen kann, ob sie auch in die umgekehrteRichtung schmuggeln würden. Ja, kein Problem.

In den kommenden Wochen werden dieKöpfe, Hände, Beine und Hufe einzeln imKofferraum großer schwarzer DDR-Volvosin den Westteil der Stadt gebracht und beieinem Wohnwagenhändler in Wilmersdorfuntergestellt. Für jede Fuhre zahlt Schu-macher 1000 D-Mark Schmiergeld.

Schumacher bittet einen alten Schul-freund, der in Westberlin lebt, die zersäg-ten Einzelstücke mit seinem Wohnmobilüber die Transitstrecke nach Aachen zubringen. Auch Schmitz hat seinen Teil derBleche hierherfahren lassen. Im Herbst1989, ein Dreivierteljahr nachdem Stragiesdie Figuren bei den Russen abgeholt hat,sind die Naziwerke im Westen. Zersägt,aber so gut wie vollständig.

Bevor die Einzelteile zu Wolf nach BadDürkheim gebracht werden, wickelt Schu-macher die Köpfe der beiden Muskelmän-ner vorsichtig in Decken, packt sie in denKofferraum seines Autos und fährt nachDüsseldorf. Einmal noch will er dem grei-sen Breker „seine Kinder“ zeigen. Der istgerührt.

Wolf lässt die sechs Figuren inden kommenden Jahren auf -wendig restaurieren. Schumacherschätzt, dass sein Auftraggeber al-lein für Kauf, Transport undSchmiergel der zwischen 500 000und 750000 D-Mark bezahlt hat.

Die Aussagen von Schumacher,Schmitz und Stragies sind nicht im-mer deckungsgleich, aber in einemPunkt stimmen sie überein. Alledrei Männer versichern, dass ihneneines immer klar gewesen sei: DerDeal war illegal, und es flossSchmiergeld. Daran haben sie auchgegenüber der Polizei keinen Zwei-fel gelassen.

Auf Grundlage der Ermittlungendes Berliner LKA hat das Bundes-amt für offene Vermögensfragendie Statuen inzwischen der Bun-desrepublik Deutschland zugespro-chen. Wolf klagt dagegen vor demBerliner Verwaltungsgericht. Ge-genüber dem SPIEGEL erklärt seinAnwalt, Wolf habe die Bronzen„aus der Garnison Eberswalde 1988auf Grundlage einer Verwertungs-bestätigung des russischen Stand-ortkommandeurs in zerlegtem Zu-stand als Buntmetallschrott legalerworben“.

Die Beschaffung in der DDR sei„durch den zur Verwertung der

Kunstwerke angehaltenen Kommandantenund einen Schrottverwerter auf Betreibenund mit Einverständnis der DDR-Kontroll-organe gegen eine Spende für die Opferdes damaligen Erdbebens in Armenien“erfolgt.

Der Fall liegt nun bei der Berliner Staats-anwaltschaft. Nach Einschätzung der Be-hörden sind alle Vorwürfe gegen Wolfstrafrechtlich verjährt. Der lässt seinen An-walt erklären, die ihm „im Zusammenhangmit der ,Pferde-Affäre‘ unterstellten, an-geblichen Straftaten ,Hehlerei/Betrug‘“ sei-en ihm nicht bekannt und zudem unzu-treffend.

Sobald die Staatsanwälte das Ermitt-lungsverfahren einstellen und die Statuenfreigeben, liegt der Ball bei Monika Grüt-ters, der Staatsministerin für Kultur. Unddie hat sich entschieden. Möglichst schonim nächsten Jahr sollen die Stiftung Topo-graphie des Terrors und das Deutsche His-torische Museum in Berlin zumindest ei-nige der Skulpturen in einer Sonderaus-stellung zeigen.

„Für die Aufarbeitung der NS-Diktaturhalte ich es für unerlässlich, auch dieseKunstwerke zu präsentieren“, sagt dieCDU-Politikerin, „um eine kritische Aus-einandersetzung mit der NS-Staatskunst,deren Entstehung und Instrumentalisie-rung innerhalb des NS-Systems und derNS-Ideologie zu ermöglichen.“

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Schrotthändler Stragies, Schmuggler Schumacher (r.) 2002

Größere Beträge in wattierten Umschlägen

Gelegentlich brennt auch bei WolfSteffek etwas an. Einmal vergaß erwährend eines Telefonats, dass er

Reis auf dem Herd hatte: Das Wasser ver-kochte, die Beilage verkohlte. Weil so einMalheur in einen Küchenbrand mündenkann, tat der 61-Jährige etwas Vernünftigesund kaufte zwei Rauchwarnmelder für ins-gesamt rund 60 Euro. „Also keine billigenDinger, sondern den Ferrari unter den Signalgebern“, sagt der Hobbykoch ausRavensburg.

Im März 2014 erhielt Steffek Post vonseinem Vermieter, der Wohnungsgesell-schaft Südewo: Es gebe nun auch in Ba-den-Württemberg eine Rauchwarnmelder-pflicht, ab 1. Januar 2015 müssten alle Woh-nungen im Ländle ausgerüstet sein, des-wegen werde ihn ein Monteur besuchen.Steffek antwortete, das sei nicht nötig.Doch die Südewo beharrte auf dem Wech-sel: „Wir können auf von Ihnen privat in-stallierte Rauchwarnmelder keine Rück-sicht nehmen, da diese uns nicht von derVerpflichtung, Ihre Wohnung mit Rauch-warnmeldern auszustatten, entbindet.“

Der Satz klingt kafkaesk und brachteSteffek in Rage, sodass er es auf einen Ge-richtsprozess ankommen ließ. Er war nichtder Einzige, Rechtsstreitigkeiten um diebierdeckelgroßen Büchsen wurden in denvergangenen Monaten in etlichen deut-schen Städten ausgefochten. Mal ging esum Kontrollpflichten oder Kostenüber -nahmen, mal um angeblich notwendigeGerätewechsel und auch um die typischdeutsche Frage, wie viel Eigenverantwor-tung man dem Bürger zutrauen kann.

In Steffeks Fall entschied das Amtsge-richt Ravensburg im September im Sinneder Südewo. Ein Monteur entfernte dieAltgeräte aus der 51-Quadratmeter-Woh-nung und brachte zwei neue an – genaudort, wo auch die anderen Melder schonbefestigt waren, und genau dasselbe Mo-dell, für das sich Steffek entschieden hatte.So gesehen war nach dem Besuch des Mon-teurs alles wie vorher. Nur dass die Ein-bauarbeit nun von einer autorisierten Fach-kraft nach DIN EN 14604 vorgenommenworden war – und Steffek seither für Mieteund Wartung der Geräte bezahlen muss.

Ein finanzieller und ökologischer Unsinn,könnte man meinen. Allerdings einer, derso oder so ähnlich schon in vielen deutschenStädten praktiziert wurde. Tatsächlich erhieltder Zwang zum Gerätewechsel mittlerweilehöchstrichterliche Weihen. Mitte Juni be-stätigte der Bundesgerichtshof zwei Urteileaus Halle und verdonnerte Bürger aus Sach-sen-Anhalt dazu, bereits installierte Geräteaustauschen zu lassen. Dadurch, dass Ein-bau und auch die Wartung „in einer Hand“seien, werde ein „hohes Maß an Sicherheit“gewährleistet, schrieben die Richter.

In den 13 Bundesländern, in denen eseine Rauchwarnmelderpflicht gibt, siehtdie von Firmen organisierte Kontrollemeist folgendermaßen aus: Nach vorheri-ger Anmeldung kommen zwei Männer –lästigerweise oft zu Zeiten, in denen Mieter bei der Arbeit sein müssten. Einerder Männer trägt einen Besenstiel, der andere ein Klemmbrett. Der mit dem Stieldrückt einmal von unten auf die Warn -melder, der mit dem Klemmbrett notiert,ob dadurch der erwünschte Alarmton aus-gelöst wird.

Für die Kontrollfirmen und Herstellerist das alles höchst lukrativ, auch weil sichGeld am Training der Prüfer verdienenlässt. Wer sich in einem Tageskurs in derMontage und dem Dienst mit Besenstielund Klemmbrett ausbilden lassen will,muss bis zu 500 Euro zahlen – und denKursus alle fünf Jahre wiederholen.

Die Rauchwarnmelderlobby empfiehltnicht nur den Einsatz entsprechend ge-schulter Kontrolleure, sondern eine weite-re Aufrüstung der eigenen vier Wände,zum Beispiel den Einbau von Signalgebernmit zusätzlichen Lichtzeichen für dieschwerhörige Oma. Oder den Wechsel aufHightechgeräte, die bei Rauchentwicklungim Einfamilienhaus gleichzeitig alle Mel-der im Haus aktivieren – falls mal einerder Bewohner unten im Wohnzimmer solaut Heavy Metal hört, dass er das mehrals presslufthammerlaute Piepen aus demersten Stock nicht mitbekommt.

Ob ein Einbau- und Kontrollzwang dieerhofften Wirkungen entfaltet, ist schwernachzuweisen. Zwar besteht kein Zweifeldaran, dass ein Warnmelder helfen kann,Leben zu retten. Allerdings entwickeltensich die Zahlen der Opfer von Hausbrän-den in Berlin, Brandenburg und Sachsen,wo es noch keine Einbaupflicht gibt, ähn-lich wie in den Bundesländern mit ent-sprechenden Vorschriften: stagnierendoder leicht abwärts. Warum das so ist, hatmehrere Gründe. Einer könnte sein, dassviele Menschen wie Mieter Steffek von allein auf die Idee kamen, einen Warn-melder einzubauen – und sogar dazu inder Lage waren, eine fachgerechte Kon-trolle nebst regelmäßigem Batteriewechseldurchzuführen. Guido Kleinhubbert

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Fachkraft mitBesenstielSicherheit Viele Bundesländerschreiben Rauchwarnmelder in Wohnungen vor. Aber wehedem, der sie selbst anbringen und überprüfen will.

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Schleswig-Holstein

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Nordrhein-Westfalen

Saarland

Baden-Württemberg

Bayern

Thüringen

Sachsen

Brandenburg

Berlin

Mecklenburg-Vorpommern

BremenHamburg

Niedersachsen

Hessen

Rheinland-Pfalz

Einbau von Rauchmeldern

Pflicht für alle Bauten

Pflicht für Neu- und Umbauten

Übergangsfrist für Bestandsbauten bis ...

noch keine gesetzliche Pflicht

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Mieter Steffek, Feuerwehrleute bei Hausbrand in Weitersburg: „Der Ferrari unter den Signalgebern“

Petra Gutmann hat am Esstisch ihrerWohnung im Frankfurter UniviertelPlatz genommen, neben der Küchen-

theke, auf der die Kaffeemaschine und Fotorahmen stehen. Auf einem der Bilderist sie im Klinikbett zu sehen. Petra Gut-mann wirkt sehr erschöpft. Wenige Stun-den zuvor war ihr Sohn Emil auf die Weltgekommen. Der Säugling sieht friedlichaus, zufrieden.

In Wirklichkeit war Emil zu diesem Zeit-punkt schon tot.

„Der Schmerz ist immer noch da, erwird immer bleiben“, sagt Petra Gutmann.Manchmal reicht ein Satz, um den Schmerzauszulösen. „Ihr Kind ist tot, obwohl nichtsfalsch gelaufen ist.“ Das waren die Worteeines Kinderarztes im Krankenhaus weni-ge Tage nach Emils Tod, so erinnert sichPetra Gutmann.

Oft muss sie ihren Mann Thomas, 44, bitten, die Post zu öffnen. In den Briefen von Rechtsanwälten und Sach -ver stän digen stehen gedrechselte For -mulie rungen, die sie nicht erträgt. Inzwi-schen zweifelt die Doktorin der Rechts -wissenschaft, woran sie jahrzehntelang

ge glaubt hat – an eine wahrheitssuchendeJus tiz.

Petra Gutmann, 49, ist Richterin am Arbeitsgericht in Frankfurt am Main. Derwichtigste Prozess, den sie je geführt hat,ist ihr eigener: Sie hat das Universitäts -klinikum Frankfurt verklagt, sie wirft denÄrzten Behandlungsfehler vor, die zuEmils Tod geführt hätten.

Die blonde Frau mit der Goldkette, ander ein kleines E hängt, redet ruhig undkonzentriert, wenn sie die Details diesesProzesses beschreibt. Sie gibt sich Mühe,alles sachlich und verständlich zu erklären.Aber es gelingt ihr nicht immer, die Fas-sung zu behalten – wenn sie etwa erklärt,wie ihr Baby im Mutterleib gekämpft hat,aber einfach nicht zur Welt kam. Dannlaufen ihr auch heute noch, fast acht Jahrenach dem Drama im Kreißsaal, die Tränenübers Gesicht.

Das Ehepaar Gutmann macht mehrereÄrzte und zwei Hebammen für Emils Todverantwortlich. Besonders richtet sich dieKlage der beiden gegen den Leiter der Geburtshilfe im Uniklinikum, Frank Lou-wen. Die Gutmanns werfen ihm vor, dass

er in seinem Bereich ein Klima gegen Kai-serschnitte geschaffen habe – und die Ärztedeshalb in dieser Nacht zu lange mit demEingriff gewartet hätten, bis Emil keineChance mehr gehabt hätte zu überleben.

Der Prozess, den sie angestrengt hätten,ziele nicht auf Schmerzensgeld, sagen Pe-tra und Thomas Gutmann. Sie erwartenAufklärung durch die Justiz, warum ihrBaby sterben musste. Seit fast sieben Jah-ren kämpfen die Gutmanns nun darum –und sie haben diese Klarheit bis heutenicht vollständig bekommen.

So ist ihr Verfahren zu einem Beispiel-fall geworden. Er zeigt, wie schwer es fürPatienten ist, bei mutmaßlichen Behand-lungsfehlern zu ihrem Recht zu gelangen –selbst für eine erfahrene Juristin wie PetraGutmann.

Rund 70000 Euro hat das Verfahren dieGutmanns bisher gekostet, zudem einigeHundert Stunden, um den Fall medizinischund juristisch aufzuarbeiten. „Wer ist dazuschon in der Lage?“, fragt Petra Gutmann.„Eigentlich muss man jedem Betroffenendringend abraten, sich auf so einen Prozesseinzulassen.“

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Ehepaar Gutmann in Emils Kinderzimmer: „Der Schmerz ist immer noch da, er wird immer bleiben“

Für EmilRecht Eine Richterin führt seit fast sieben Jahren Prozesse, um den Tod ihres Sohnesim Kreißsaal aufzuklären – bis heute vergebens.

Deutschland

Ihre Tragödie beginnt 2007, dem Jahr,das eigentlich ihr Glück bringen soll. Petraund Thomas Gutmann haben sich vieleJahre lang nach einem Kind gesehnt.Schließlich versuchen sie es mit künstlicherBefruchtung, nach mehreren Versuchenmit Erfolg, Petra Gutmann ist schwanger.

Ihr Kind soll im Frankfurter Univer -sitätsklinikum zur Welt kommen. Sie kennen dort einen Arzt von ihrer Kinder-wunschbehandlung. Auch Chefarzt Lou-wen macht auf sie einen angenehmen Ein-druck, er trägt seine Hemden mit offenemKragen. „Ein Kumpeltyp“, sagt Petra Gut-mann, „ein Menschengewinnler.“ Errech-neter Entbindungstag ist der 30. Oktober.

Die Schwangerschaft verläuft ohneKomplikationen. Als aber am 3. Novembernoch immer keine Wehen da sind, be-kommt Petra Gutmann ein Gel verabreicht,es soll die Wehen auslösen. Sie wird überdie möglichen Wirkungen des Präparatsnicht richtig aufgeklärt.

Sie wird nach Hause geschickt, ohne er-fahren zu haben, dass die Geburt nun baldbeginnen könnte. Dort angekommen, tre-ten tatsächlich heftige Wehen ein. Die wer-dende Mutter krümmt sich vor Schmerzen.Ihr Mann fährt sie in die Klinik,dort stellen die Ärzte fest, dassder Muttermund geöffnet ist, aberEmils Kopf dreht sich nicht in denGeburtskanal. Dieser Zustandhält über sechs Stunden lang an.

Als Emil zehn Minuten nachMitternacht per Kaiserschnitt aufdie Welt kommt, ist er blass undreglos. Er schreit nicht, er stöhntnur einmal kurz auf.

Das Baby hat Kindspech – Me-konium – ausgeschieden, dennoch im Mutterleib gebildetenDarminhalt, vermutlich durchden vorgeburtlichen Stress. Es istmit dem Fruchtwasser in EmilsLungen gedrungen und hat seineAtmung beeinträchtigt. Direkt nach derGeburt versäumt es der Kinderarzt offen-bar, das Kindspech ausreichend abzusau-gen. Emil bekommt nicht mehr genug Sau-erstoff. 65 Minuten nach der Geburt stirbter. Als er Petra Gutmann in den Arm ge-legt wird, ist er bereits tot.

„Unser Traum, eine Familie zu sein, warzerstört“, sagt Petra Gutmann, „wir habenunsere gesamte Kraft gebraucht, über-haupt wieder auf die Beine zu kommen.“

Sie machen einen Termin mit der Kli-nikleitung, bitten um Aufklärung. Die Ärz-te bedauern das Schicksal. Es fällt der Satz,dass in dieser Nacht nichts falsch gelaufensei. Womöglich werde man niemals wissen,weshalb Emil gestorben sei. So erinnernsich die Gutmanns. Die Klinik will sich zueinzelnen Aussagen nicht äußern.

Trägt wirklich niemand Schuld? Der da-malige Direktor der Klinik für Gynäkolo-

gleich zu einer natürlichen Geburt kommees viel häufiger zu starken Blutungen,Lungen embolien, Thrombosen und sogarSchlaganfällen.

Haben die Ärzte im Kreißsaal zu langegewartet, weil sie wussten, wie ihr Vor -gesetzter über Kaiserschnitte denkt? In vielen deutschen Unikliniken ist derChefarzt noch immer eine Art Allein -herrscher – was er vorgibt, ist häufig festin den Köpfen der Mitarbeiter verankert.

Im April 2009 reichen die Gutmannsihre Zivilklage gegen Louwen und die Kli-nik beim Landgericht Frankfurt am Mainein. Petra Gutmann hat 149 Seiten ge-schrieben. Die Richterin hat den Schrift-satz bewusst allein verfasst, ohne, wiesonst üblich, Medizinrechtler und Privat-gutachter hinzuzuziehen. Die Klage solllesbar sein; sie will, dass sich ihre Richter-kollegen inhaltlich mit dem Fall befassen,ohne sich rein von ärztlichen Einschätzun-gen leiten zu lassen.

Tatsächlich verlassen sich viele Richterauf Sachverständige. Als die Bundesregie-rung vor drei Jahren ein neues Patienten-rechtegesetz auf den Weg brachte, forder-ten viele Experten vergebens, die Rolle

der Gutachter bei Ärztepfuschneu zu regeln. Gerichte würdenden Sachverständigen „oftmalsblind“ folgen, schrieb die AOK ineiner Stellungnahme.

Im Gutmann-Prozess streitetdie Klinik mit dürren Worten ab,Fehler begangen zu haben. Emilsei „an den Komplikationen dernicht vorhersehbaren und damitauch schicksalhaften Mekonium-Aspiration“ verstorben.

Das Gericht will ein Gutachtenüber die Todesursache in Auftraggeben. Das Ehepaar will weiter-hin verhindern, dass die gesamteBeurteilung des Falls Medizinernüberlassen wird. Sie fürchten das

Krähenprinzip – dass kein Mediziner einem anderen die Schuld geben will. Siesperren sich deshalb dagegen, den Vor-schuss für den Sachverständigen zu bezah-len. Das Gericht sieht darin eine „grobeNachlässigkeit“. Ohne Gutachten könnendie Gutmanns nicht die erforderlichen Be-weise beibringen. Die erste Instanz gehtdamit für sie verloren, ihre Forderungenwerden abgewiesen.

Frankfurt-Bockenheim, Thomas Gut-mann öffnet die Wohnungstür. Ein kleinerJunge stürmt herein. Es ist Oskar, 3, deraus dem Kindergarten kommt und erst maleinen Wasserball durch die Wohnungschießt. Nach Emils Tod hat das Ehepaarüber ein halbes Dutzend weiterer Ver su -che mit künstlicher Befruchtung unter-nommen, um sich den Kinderwunsch doch noch zu erfüllen. Dann endlich kamOskar, die Geburt verlief ohne Kompli -

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gie und Geburtshilfe, Professor ManfredKaufmann, weist die Verantwortung fürdie Geburt von sich. Louwen betont, ersei in dieser Nacht gar nicht in der Klinikgewesen. Haben die anwesenden ÄrzteFehler gemacht? Waren sie überfordert?

Bei einer Nachuntersuchung rutscht einem niedergelassenen Arzt die Bemer-kung heraus, Emil sei wohl das Opfer der„Kaiserschnittvermeidungsideologie“ vonLouwen geworden. Die Gutmanns bekom-men nun Zweifel, ob Emils Tod wirklichschicksalhaft war. Sie studieren die medi-zinische Literatur, lesen Standardwerke derGeburtshilfe. Am Ende sind sie sich sicher,dass menschliches Versagen Emils Tod verursacht hat: Die Ärzte hätten zu langemit dem Kaiserschnitt gewartet. Als Emilschließlich auf die Welt geholt wurde, hattedas Fruchtwasser durch das Mekonium be-reits eine Konsistenz wie Erbsenbrei.

Das Ehepaar verlangt erneut Aufklä-rung von der Klinik. Die Krankenhaus -leitung schlägt vor, die Landesärztekam-mer einzuschalten. Die Gutmanns lehnenab, als sie erfahren, dass Louwen dort Prü-fer im Fach Geburtshilfe ist. Sie erstellenstattdessen einen Katalog mit 28 Fragen,

den die Klinik ausfüllen soll. Nur einige davon werden beantwortet, der Kontaktbricht ab.

Die Eheleute sehen nur noch einen Weg:Sie beschließen, das Universitätsklinikumund Louwen auf Schmerzensgeld undSchadensersatz zu verklagen. Außerdemdie Oberärztin, die das Wehen-Gel verab-reicht hat. Sie und zwei weitere an der Ge-burt beteiligte Ärzte haben die Klinik mitt-lerweile verlassen. Gegen sie strengen dieGutmanns Klagen in Düsseldorf undTraunstein an.

Sie finden Hinweise, dass Louwen Kai-serschnitte tatsächlich kritisch sieht. Er hältVorträge über die Vorteile der natürlichenGeburt. Er rühmt sich, die Quote der Kai-serschnitte in seiner Klinik gesenkt zu haben. Ein Kaiserschnitt berge „erheblicheRisiken für die Mutter“, erklärt Louwendem Onlinedienst Kinderstube.de: Im Ver-

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Universitätsklinikum Frankfurt am Main: „Ein tragischer Tod“

kationen. „Wenn Oskar nicht wäre“, sagt Petra Gutmann, „hätte die Trauer um Emilunser Leben zerstört.“

Im Sommer 2010 legt das Ehepaar Gut-mann Rechtsmittel gegen das Urteil desLandgerichts ein, der Fall kommt vor dasOberlandesgericht Frankfurt. Dort gibt es2011 eine Wende: Der Senat schlägt einenVergleich vor. Das Ehepaar soll 60000 EuroSchadensersatz und Schmerzensgeld erhal-ten. Der Anwalt der Gegenseite verlangt,dass damit auch die anderen Prozesse er-ledigt sein müssen. Die Gutmanns wün-schen sich, dass der Streit enden möge.Aber sie wollen sich den Schmerz nichtabkaufen lassen. Ohne Aufklärung, warumEmil sterben musste. Ohne ein Wort derEntschuldigung. Sie lehnen den Deal ab.

Inzwischen haben sie mit vier weiterenEhepaaren Kontakt, deren Kinder eben-falls in der Uniklinik tot oder schwer -behindert zur Welt gekommen sind. EineFamilie hat die Klinik verklagt – ihr Sohnwar acht Monate nach der Geburt in einemHospiz gestorben.

Im Fall Gutmann hebt das OLG im Au-gust 2011 das Urteil der ersten Instanz inweiten Teilen auf, es habe einen „wesent-lichen Mangel“. Das Verfahren wird andas Landgericht zurückverwiesen.

Die Gutmanns haben keine monetärenInteressen, die Klinik und die Ärzte fürch-ten um ihren Ruf – gibt es wirklich keinenWeg mehr, sich auszusprechen?

Die Eheleute sehen sich in ihrer Skepsisgegen die Gutachter bald bestätigt. Lou-wen ist ein umtriebiger Mediziner, er sitztin mehreren medizinischen Fachgesell-schaften. Sie recherchieren im Internet, zuwelchen Medizinern er Kontakt hat. Rundein Dutzend Ärzte lehnen sie deshalb alsGutachter ab. Darunter ist ein Mediziner,der wie Louwen das Programm „Baby -care“ unterstützt. Ausgerechnet den wähltder Richter für ihren Fall aus. Ein andererGutachter ist mit Louwen befreundet. Im-merhin gibt er dies an und empfiehlt einenKollegen, der den Auftrag erhält.

Das Ehepaar sieht Louwen im Fern -sehen. In der Sendung erzählt er von ei-nem Trauerraum, den er in seiner Klinikhabe einrichten lassen – für Eltern, die ihrKind verloren haben. In der „FrankfurterAllgemeinen“ finden sie den Bericht über einen Infoabend, den Louwen in der Klinikfür werdende Eltern abhält. „Jeder kannGeburt“, versprach er danach den Zuhö-rern der Werbeveranstaltung. Das machteihre Wut noch größer.

Louwen kann sich öffentlich nicht äu-ßern, er verweist auf seinen Arbeitgeber.Auch die Uniklinik will wegen des laufen-den Verfahrens nicht Stellung beziehen.Auf Anfrage schreibt sie nur: „Der tragi-sche und sehr bedauerliche Tod des Neu-geborenen Emil Gutmann ist ein aus me-dizinischer Sicht hochkomplexer Fall miteiner Kette zahlreicher Einflussfaktoren,den zunächst neutrale medizinische Gut-achter bewerten müssen.“ Man bitte umVerständnis, dass sich das Klinikum mit einer Stellungnahme zurückhalte: „DieseTatsache ist weder Desinteresse noch derVersuch der Verschleierung … Im vor -liegenden Fall beeinflussen Aussagen, dieunsere Ärzte betreffen, sehr stark und negativ deren persönlichen und fachlichenRuf. Dies kann ihre Berufsausübung aufsSchwerste beeinträchtigen.“

In diesem Frühjahr stellt die FrankfurterStaatsanwaltschaft ein Verfahren gegenden damaligen Klinikdirektor ManfredKaufmann, gegen Louwen, zwei weitereÄrzte und den Kinderarzt wegen des Ver-dachts der fahrlässigen Tötung ein: Es gebekeinen hinreichenden Tatverdacht. Das Er-mittlungsverfahren war vor sechs Jahrenaufgrund eines Zeitungsberichts eingeleitetworden. Nur das Strafverfahren gegen einen Arzt läuft noch.

Auch wenn strafrechtlich die Unschuldder anderen Beteiligten feststeht: Ein Gut-achter hat eindeutig „ärztliche Fehler“ fest-gestellt. Und auch in den Zivilverfahrenan zwei Landgerichten kommen zwei Sach-verständige zu dem Ergebnis, dass der Kai-

serschnitt in dieser Nacht tatsächlich zuspät erfolgt sei. Die Geburtsbeendigung sei„unverständlich und behandlungsfehlerhafthinausgezögert“ worden, heißt es in einemGutachten. Ein Sachverständiger, der darinBehandlungsfehler attestiert hatte, lehntees ab, für die Staatsanwaltschaft zu arbei-ten. Begründung: Er sei mit Louwen wäh-rend eines Kongresses ins Gespräch gekom-men und habe sich mit ihm angefreundet.Im Sommer verwirft der Generalstaatsan-walt Beschwerden der Gutmanns gegen dieEinstellung des Verfahrens.

Die Frankfurter Richter, die vor mehrals fünf Jahren das erste Urteil zum Nach-teil der Familie Gutmann gefällt hatten,wollen nun wohl über die Höhe desSchmerzensgeldes entscheiden. Dafür sollein Gutachter die psychischen Belastungendes Ehepaars bewerten. Ausgewählt wirdeine Mitarbeiterin der Forensischen Psy-chiatrie der Uniklinik Würzburg, wo sonstpsychisch kranke Straftäter begutachtetwerden. Die Sachverständige teilt dies demGericht auch mit. Der Richter hält an demAuftrag fest. Das Ehepaar soll für jeweilsdrei Untersuchungstage 11000 Euro Vor-schuss leisten. Normalerweise kosten me-dizinische Gerichtsgutachten 2500 bis maximal 5000 Euro.

Thomas Gutmann erzählt von seinemTermin in der Psychiatrie, dort seien dieZimmertüren hinter ihm verschlossen wor-den. Es sei „demütigend“ gewesen, sagter, er habe sich wie ein Verbrecher gefühlt.

Seine Frau ließ dem Gericht mitteilen,wie lange sie nach Emils Tod in psycholo -gischer Behandlung war, wie sie bei der Be-erdigung zusammenbrach. Das Jugendamthabe es abgelehnt, ihnen ein Adoptivkindzu vermitteln, weil sie nach dem Ereignis„hoch traumatisiert“ sein müssten. Sie ver-steht nicht, warum man ihr nicht glaubt –sie, die Richterin, die nun Betroffene ist.

„Warum muss ein Psychiater uns meh-rere Tage befragen, um mehr als siebenJahre nach Emils Tod herauszufinden, wiesehr wir gelitten haben?“

Die Bilanz der Eltern nach all den Jah-ren vor Zivilgerichten ist dürftig: Eine Ärz-tin wurde in erster Instanz verurteilt, einSchmerzensgeld in Höhe von 500 Euro zuzahlen – wegen der fehlerhaften Aufklä-rung über das Wehen-Gel. Aber die Ver-fahren in Frankfurt, Düsseldorf und Traun-stein dauern weiter an. Petra und ThomasGutmann wissen, dass sie noch einen langen Weg vor sich haben.

„Für das Gericht sind wir doch nur nochNervensägen“, sagt Petra Gutmann. Siekennt das Problem, ihr Arbeitgeber bietetKurse für Richter an, wie sie mit Queru-lanten umgehen sollen. Nun ist sie selbstin der Rolle der Klägerin und sagt: Sie ver-stehe die Menschen, „die dem Rechtsstaatnicht mehr vertrauen und sich mit ihremLeid alleingelassen sehen“. Udo Ludwig

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Fotos der Eltern mit Emil in der Klinik: Er stöhnt nur einmal kurz auf und stirbt

Singularis porcus

Sind Wildschweine

gewöhnlich,

Herr Fuchs?Karl-Josef Fuchs, 55, ist Jäger

und Koch. Seine Familie

serviert in ihrem Restaurant im

Schwarzwald seit fünf Genera-

tionen Wildschweingerichte.

SPIEGEL: Herr Fuchs, nächsteWoche erscheint der neue Asterix-Comic „Der Papyrusdes Cäsar“. Bei der Gelegen-heit wollten wir fragen, wieman Wildschweine fängt.Fuchs: Ich erlege sie mit 8-mm-Geschossen aus meinerJagdbüchse. Falls Sie Interes-se haben: Gerade ist einegute Zeit zur Wildschwein-jagd, bevor die Bachen imNovember rauschig werden. SPIEGEL: Rauschig?

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Sechserpack Der US-„Playboy“ druckt keine Nacktbilder mehr. Klingt, als würde der „Kicker“ ab jetzt keine Männer in kurzen Hosen mehr zeigen. Hier ein Test: Diese Frauen waren alle nackt im „Playboy“, aber nur eines der Fotos war im Heft.Welches wohl? Kate Moss (1), Simone Thomalla (2), Cindy Crawford (3), Katarina Witt (4), Laura Kaiser (5) und die Monroe (6).

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nicht filigran. Deshalb findensie in der Sterneküche ganzselten Wildschwein. SPIEGEL: Was halten Sie vongekochtem Wildschwein inPfefferminzsoße?Fuchs: Pfefferminzsoße? Daspasst besser zur gebratenenLammkeule. Wildschwein

sollte man nicht totwürzen.Probieren Sie lieber mal ein„Wiener Schnitzel“ vomWildschweinrücken, kross pa-niert. Wunderbar. Ich macheIhnen ein Eisbein vom Wild-schwein, ich mache IhnenSülze oder ein köstliches Rillettes. Sauerbraten mitRotwein ist eigentlich dasBeste. Oder über dem offe-nen Feuer am Spieß. Aber dabrauchen Sie für eine großeSau 50 Leute. SPIEGEL: Obelix schafft das locker allein. Fuchs: Ja, Obelix. Der kanndas. Der isst auch gebratenesKamel.SPIEGEL: Und die Römer gefüll-ten Giraffenhals, Schweins-kaldaunen, mit Honig.Fuchs: Sicher schwer auszu-beinen. Aber die Honigglasur

ist eine gute Idee. jst

Fuchs: Paarungswillig. VierMonate später kommen diegestreiften Frischlinge zurWelt. Aber die esse ich nicht,da ist mir zu wenig dran. SPIEGEL: Wie schmeckt Wild-schwein?Fuchs: Wildschwein hat Cha-rakter. Die schmecken nachder Region, aus der sie kom-men. War es in der Rheinebe-ne, hat es sich mit Mais vollge-fressen? Oder ist es ein feinesSchwarzwälder Höhenschwein,das athletisch daherkommt?Hat es Eicheln ge nascht, Lö-wenzahn, Kirschen, Gras? Dasmacht einen Unterschied.SPIEGEL: Michel Bras, derfranzösische Dreisternekoch,findet Wildschwein ein biss-chen gewöhnlich.Fuchs: Ja, Bras ist ein großerKoch, aber für den ist dasnichts. Wildschweine sind

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Wenn Dan Doyle von der Antarktis spricht, dann er-wähnt er nur beiläufig den Mann im Aluminiumsargoder das Hochzeitsversprechen am geografischen Süd-

pol oder die Taufvorbereitungen in der Chapel of the Snows.Es sind andere Erinnerungen, Gedanken an große Wunder, dieihn beschäftigen. Am Telefon erzählt er davon lange und gern,mit heiserer Stimme, vom Singen des Eises und von großen,schweren Stürmen, von den Silhouetten der Berge und den vie-len Schattierungen der FarbeWeiß. „Wenn du in einer Glet-scherhöhle stehst und das Lichtsich über dir bricht“, sagt er,„dann verstehst du, dass Weißnicht eine Farbe ist, sondern tau-send Farben. Kannst du dir dasvorstellen?“ Man kann es sichtatsächlich vorstellen, wenn manDoyle eine Weile zuhört, und be-kommt dann irgendwann das Ge-fühl, dass er die Menschen in derAntarktis mehr als Ablenkungvon seiner eigentlichen Bestim-mung sah: Gottes Schöpfung zubestaunen, als einziger Priestereines Kontinents.

Dan Doyle arbeitet eigentlichim Bistum Christchurch, Neusee-land, er ist ein 57-jähriger Mannmit weißem Haarkranz und rundem Gesicht. In seinem di-cken Polarmantel würde er ei-nen sehr guten Sonderbotschaf-ter für Kaiserpinguine abgeben.Seit 31 Jahren hat Doyle stets imOktober seine wärmsten Sachengepackt und ist 4000 Kilometerin die Antarktis zur US-ame -rikanischen ForschungsstationMcMurdo geflogen. Die Natio-nal Science Foundation, die die Forschungsstation finanziert,entschied sich für einen neuseeländischen Priester, weil Christ-church der nächstgelegene Flughafen ist und dort die schwerenTransportmaschinen der Amerikaner mit ihren vier Triebwerkenstarten können. Doyle entschied sich für die Antarktis, weil erfand, dass auch Polarforscher zu Weihnachten die Mitternachts-messe anständig begehen sollten, auch wenn dabei die Sonnenicht untergeht.

Als das Flugzeug das erste Mal mit seinen Kufen die Lande-bahn aus Meereis berührte und Doyle geblendet von der Hellig-keit des Schnees aus dem Fenster starrte, dankte er Gott. Erfühlte sich angekommen. Man kann sich die Polarstation McMur-do als Dorf im Eis vorstellen mit bis zu 1200 Menschen, Forschern,Soldaten, Logistikern. Die Arbeitsschicht dauert 12 Stunden,und wer schlafen will, muss seine Fenster verdunkeln. Auf Bildernhat das Ganze den Charme einer moldauischen Jugendherberge,die in einem Gefrierschrank steht. Aber es gibt immerhin eine

Bar, einen Geldautomaten, eine eigene Zeitung, einen Fernseh-sender, ein Treibhaus für Frischgemüse – und eine kleine, schöneKapelle, die so auch in den Alpen stehen könnte, nur mit demUnterschied, dass sie wirklich gut gegen Kälte isoliert ist.

Dort arbeitete Doyle, und er sagt, die Sünde habe er mitseiner Reise nicht hinter sich gelassen. Auch in der Antarktisgebe es eine Menge Leute mit schlechtem Gewissen. In den ers-ten Jahren hatte er viel zu tun. Viele in seiner Gemeinde fühltensich einsam, was daran lag, dass die einzige Kommunikationnach Hause nur über Funk möglich war, einmal im Monat, fürzwei Minuten. Die Forscher hatten viel Zeit, und sie redetengern mit dem Priester aus Neuseeland, einige hatten währendihrer Einsamkeit spirituelle Erfahrungen, und mancher fand da-bei zu seinem Glauben. Das freute Doyle.

Doch etwas habe sich geändert in den vergangenen Jahren,sagt er, langsam, er habe das gespürt. Nach und nach mussteniemand mehr auf sein Funkgespräch nach Hause warten, esgab Internet mit immer schnellerer Verbindung und bald Skype

und überall Telefone, auf denendie Forscher jederzeit angerufenwerden konnten. Auch Beerdi-gungen oder Hochzeiten gab eskeine, denn diese sind nach gel-tendem Recht verboten, weil dasLand niemandem gehört. DieLeichen werden in einem Alu-miniumsarg nach Hause ver-schifft, und nur wenige findendie Idee romantisch, am Südpolsymbolisch ihr Hochzeitsverspre-chen zu erneuern. Schwangerefliegen rechtzeitig nach Christ-church, Taufen fallen also auchaus. Doyle gibt ehrlich zu, dasser nicht viel zu tun hatte, aberer machte das Beste daraus. Erklopfte tagsüber an Bürotürenund fragte, wie es den Leuten sogehe. Er half den Tauchern, dievor der Station Messungen vor-nahmen, und hielt das Seil. Erzählte Pinguine. Wenn Doyle da-von erzählt, klingt es ein biss-chen wie ein wunderbares Eras-mus-Jahr für angehende Rentner.

Irgendwann war das Abenteu-er vorbei. Für diesen Herbst ver-kündete die National ScienceFoundation, dass der Priester ein

geschätztes Mitglied der Gemeinschaft sei, man sich den Trans-port und die Verpflegung aber nicht mehr leisten könne, dafürsei die Nachfrage leider zu gering. Doyle sagt, er verstehe dasnatürlich, und er sei immer dankbar für die vielen Einladungengewesen. Aber am Ende der Welt nicht mehr gebraucht zu wer-den, das mache ihn trotzdem sehr, sehr traurig. Und er wider-spricht sehr energisch, wenn man ihn zuletzt fragt, ob die Ant-arktis nicht ein gottloser, geschichtsloser Ort sei, wo Menschennie hingehörten, sondern immer nur Gast sein könnten. Nein,sagt er, im Gegenteil. Erst in der Antarktis habe er wirklichverstanden, dass es Dinge gibt, so wundervoll und nutzlos, dasssie nur ein Gott erschaffen haben könne. Riesige Eisberge undleise knisternder Schnee gehörten dazu, leuchtende Höhlen,die kaum einer sehe, tausendfaches Weiß, gleitende Skulpturenauf dem Meer, die schönsten der Welt, schwere, heulende Stür-me. Er sei Zeuge all dessen geworden, sagt Doyle. Und es seiein Geschenk gewesen. Jonathan Stock

57DER SPIEGEL 43 / 2015

Gesellschaft

Einsam im EisEine Meldung und ihre Geschichte Der letzte katholische Priester verlässt die Antarktis.

Seelsorger Doyle

Aus der „Süddeutschen Zeitung“

BB

C

Gesellschaft

Nada (M.)

Valentino Miran

Omara

Mustafa

Hamid

Mohammed

Naman Jehanzaib

Raman Saad

Ahmed

58 DER SPIEGEL 43 / 2015

Selfies, Schnappschüsse – die

Fotos auf diesen und den folgen-

den Seiten wurden von Flüchtlin-

gen mit ihren Handys gemacht.

Sie zeigen, was die Ankömmlin-

ge für typisch deutsch halten.

Manche von ihnen wollten aus

Angst um sich und ihre Familie

anonym bleiben, andere nicht.

Wir bedanken uns bei allen.

Von Mülltonnen,Arschlöchern („Dankeschön“)

und Mädchen,die in Unterwäsche

auf die Straße gehen

Heimat Wie fühlt sich Deutschland an? Wie sieht es aus, wie redet es, wie riecht es?

Erste Eindrücke von Menschen, die es wissen müssen: Flüchtlinge.

Dani

Houssam Baraa

Fadi

Sayid (2. v. r.)

Bablu

Mariam

Mohamed

Ranem

Dino Barjas

59DER SPIEGEL 43 / 2015

Gesellschaft

60 DER SPIEGEL 43 / 2015

Nada, 31, war Lehrerin in Syrien und lebt

seit einem Monat in der Erstaufnahmeeinrich-

tung im fränkischen Hardheim.

„Deutschland ist eine Mogelpackung. InSyrien hatte ich ein Haus, hier habe ichnichts. Ich dachte, sie geben einem hierGeld, eine Wohnung und Bildung. Ichhabe mit anderen gesprochen, die schonin Deutschland waren, und die haben mirgesagt, dass es in Deutschland sehr gutist. Und jetzt sind wir hier und haben keingutes Leben. Wir essen nur und schlafen. Dafür sind wir nicht hergekommen. Es tutmir leid, dies sagen zu müssen, aber es istwie bei Tieren. Merkel hat gesagt: Kommther, wir haben eine Unterkunft, Geld undSchulen für euch und eure Kinder. Jetzt,wo wir hier sind, merken wir, dass andereLeute Merkel nicht mögen und etwas anderes sagen. Wir wollen uns vergnügenund etwas unternehmen und nicht nurrumsitzen. Ich habe auf der Straße, nichtbei jemandem im Garten, einen Apfelvom Baum gepflückt, und dann kam diePolizei und hat mich verwarnt. Ich mussteeine hohe Geldstrafe bezahlen, für einen Apfel. Gebt mir eine Wohnung und Geld,und ich werde von niemandem etwas nehmen.“

Raman, 17, Kurde aus Hasaka in Syrien,

lebt seit elf Monaten in Deutschland.

SPIEGEL: Was wussten Sie von Deutschland,bevor Sie herkamen?Raman: Ich dachte, hier ist jeden Tag Disco.Ich dachte, die Leute sind immer betrun-ken. Aber als ich dann hier war, habe ichschnell festgestellt: Wir sind gar nicht sounterschiedlich. Ich habe bereits die Spra-che gelernt und Freunde gefunden. Diedeutsche Kultur ist eigentlich wie die kur-dische, finde ich. Frauen können arbeiten,Frauen können Auto fahren. Trotzdemgibt es viele Menschen in Passau, die unsnicht mögen. SPIEGEL: Woran merken Sie das?Raman: Als ich mal mit einem Freund beiMcDonald’s war, haben uns Jugendlichebeschimpft: „Geh weg, blöder Ausländer.“Ich glaube, sie waren betrunken, manchehaben auch einfach Angst. Aber sonst gehtes mir hier gut. Seit drei Wochen darf ichaufs Gymnasium, in die zehnte Klasse. Ichspiele Fußball bei Eintracht Passau. Ichwar sogar in München und habe mir dasBayern-Stadion angesehen. SPIEGEL: Was tut Deutschland für Sie?Raman: Ich habe Glück. Weil ich unter 18bin, hat mir das Jugendamt ein WG-Zim-mer besorgt, und es bezahlt meine Schul-bücher. Andere Flüchtlinge, die älter sind,müssen lange in Lagern sitzen. Die Deut-schen sollten ihnen Asyl geben, finde ich.SPIEGEL: Warum?Raman: Weil das gut ist für ihr Land. Hiergibt es zu wenige Menschen. Und wennich hier später als Arzt arbeite, bekomme

nicht nur ich etwas, sondern auch Deutsch-land. Ich zahle dann ja Steuern.

Ranem, 19, ist Syrerin, seit zwei Jahren

in Deutschland und inzwischen als Flüchtling

anerkannt.

In einem Café, im neunten Stock einesPassauer Hochhauses, sitzt in RöhrenjeansRanem Bwedani und bestellt in fast ak-zentfreiem Deutsch einen Latte macchiato.„Für mich ist es ein Akt der Menschlich-keit, dass wir Asyl bekommen“, sagt sie.Kann es auch eine Chance sein fürDeutschland, dass so viele Flüchtlingekommen? „Um ehrlich zu sein, ich glaubenicht. Es sind einfach viel zu viele.“Ranem kommt öfter in dieses Café, siemacht jetzt – bis sie studieren kann –, wasman als normales Mädchen in ihrem Alterso macht: mit Freundinnen durch die Stadtbummeln, Käsekuchen essen, und „baldmöchte ich mal campen gehen“. Nur, dassviele sie nicht als normal ansehen, Ranemfühlt sich falsch eingeschätzt von denDeutschen. „Wir hatten ein gutes Leben,wir hatten Geld, wir sind gebildete Leute“,sagt sie, „aber viele sehen uns hier als un-modern oder unterentwickelt an.“ Die Leute fragen sie, ob Frauen in ihremLand tatsächlich Auto fahren dürften oderwarum sie auch Englisch und Französischspreche. Sie fragen, ob ihr Kopftuch nichtein Zeichen der Unterdrückung sei. „Dassind echt komische Fragen für mich“, sagtRanem. Mit ihrer Mutter lacht sie darüber,dass es blaue Mülltonnen gibt, nur für Pa-pier. Oder darüber, dass die Menschenmehr als hundert Euro für Grabschmuckausgeben, obwohl die Toten ihn nicht se-hen können. Sie macht Fotos von diesenDingen, dann werden sie weniger fremd.

Omara, 21, Jurastudent aus Aleppo, lebt

seit dreieinhalb Monaten in einem Heim in

Kellberg, nahe Passau.

„Am Anfang, als Deutschland noch beson-ders hart für mich war, habe ich eine Spin-ne in meinem Zimmer großgezogen. Ichhabe einen Zettel an die Wand gehängt,auf dem stand: Wer diese Spinne tötet, istin diesem Raum nicht willkommen. Dasklingt irre, aber jeder braucht jemanden,und ich kannte niemanden hier. Eines derersten Wörter, die ich von einem Deut-schen gehört habe, war: ‚Arschloch‘. Ich liefdurch Kellberg, da fuhr ein Typ in seinemAuto an mir vorbei und zeigte mir den Fin-ger. Ich antwortete ihm: ‚Bitte‘. Das Worthatte ich auf YouTube gelernt. Ich dachte,alle Deutschen seien so, aber als ich nachein paar Wochen zum Passauer Bahnhoffuhr, um zu sehen, wie es den Flüchtlingengeht, die gerade erst ankommen, lernte ich,dass es auch gute Menschen gibt. Sonjazum Beispiel, eine der Ehrenamtlichen.Wir sind Freunde, sie hilft mir viel. Undich stehe jetzt jeden Tag als Übersetzer mit

am Bahnhof. Seitdem lerne ich auch mehrüber die Menschen. Zum Beispiel, dass siesich auf der Straße küssen, einfach so, dasses Mädchen gibt, die in Unterwäsche raus-gehen, dass die Leute draußen Bier trinken.Freiheit ist ja gut, aber wo ist die Grenze,der Respekt vor anderen Menschen?“

Dino, 27, Rom aus Mazedonien, lebt seit

einigen Monaten mit seiner Frau und seinen

Kindern in Lambsheim in Rheinland-Pfalz. Er

gibt als Beruf Maler, Bauarbeiter, Flaschen-

sammler, Autowäscher und Wahrsager an.

SPIEGEL: Wonach schmeckt Deutschland?Dino: Nach Kinder-Milch-Schnitte. SPIEGEL: Wie riecht Deutschland?Dino: Nach nassem Rasen.SPIEGEL: Was ist die erste deutsche Regel,die Sie gelernt haben?Dino: Wenn Frau Lisa mit der goldenenGlocke klingelt und „Essen“ schreit, danngibt es Essen im Lager.SPIEGEL: Was ist das erste deutsche Wort,das Sie gelernt haben?Dino: Essen. Hände waschen.SPIEGEL: Warum soll Deutschland IhnenAsyl geben?Dino: Weil ich fünf Kinder habe, weil ichselbst erst 27 bin und Deutschland unsbraucht. Weil in Deutschland mehr Men-schen sterben, als geboren werden.SPIEGEL: Sie kommen aus Mazedonien, dasist doch ein sicherer Herkunftsstaat.Dino: Wer hat eigentlich bestimmt, dassBomben gefährlicher sind als Hunger? Ichmöchte auch endlich acht Euro die Stundeverdienen und nicht acht Euro am Tag.Gott hat uns Roma kein Land gegeben, wa-rum? Damit wir überallhin können auf die-ser Welt. Das war sein Plan, die Menschenmachen ihn kaputt. SPIEGEL: Was waren schlimme Momente,seit Sie in Deutschland sind?Dino: Als meine Kinder Angst vor demWasser im Schwimmbad hatten, weil sienoch nie in einem Schwimmbad waren.Als der Heimleiter mir eines Tages sagte:„Du weißt schon, dass 99,9 Prozent voneuch Roma wieder nach Hause auf denBalkan geschickt werden, oder?“SPIEGEL: Und schöne Momente? Dino: Als wir im Supermarkt waren undmeine Familie alles in den Einkaufswagenwarf, was sie haben wollte, und ich ihnendas erste Mal in meinem Leben nicht dieSachen wieder aus der Hand nehmen undsie zurücklegen musste in die Regale. Alsmein kleiner Sohn freiwillig ins Bad ging,weil hier warmes Wasser aus der Leitungkommt. Als ich auf dem Sperrmüll ein Ehe-bett fand, es ist das erste gemeinsame Bettunserer Ehe. Als ich meiner Frau das ersteMal in zehn Jahren Ehe etwas schenkenkonnte. Dass wir drei Zimmer haben undTüren, die sie trennen, statt neun Quadrat-meter in Mazedonien. Ich weiß nicht, ichkönnte stundenlang aufzählen.

61DER SPIEGEL 43 / 2015

Mohamed, 22, Jurastudent aus Da-

maskus, lebt seit einem Monat in der Landes-

erstaufnahmeeinrichtung (LEA) in Wertheim.

„Wenn ich einen Soldaten in Damaskusgesehen habe, bin ich schnell losgerannt.Du weißt einfach nicht, wann einer vonihnen auf dich schießt. Hier in Deutschlandsehe ich Soldaten, die mit Kindern spielen.Es ist ein unbeschreibliches Gefühl zu wis-sen, dass du jetzt in Sicherheit bist.“

Fadi, 23, aus Damaskus, lebt seit ein paar

Wochen im Zeltlager in Hamburg-Ohlstedt.

Das Kostbarste, das Fadi besitzt, ist einSchreibheft, DIN-A4 liniert, zwei Spaltenauf jeder Seite. Mit Bleistift hat er wichtigedeutsche Wörter hineingeschrieben, linksin lateinischen Buchstaben, rechts auf Ara-bisch. Die Deutschen, denen er das Heftzeigt, bewundern die Schönheit der ara-bischen Schrift, die Syrer bestaunen dieSchmucklosigkeit des Deutschen: Wasser.Hunger. Durst. Das erste deutsche Wort,das Fadi notiert hat: Esel. Mit drei anderen Jungs in seinem Alterteilt er sich Zelt 36. Syrien, das ist für ihndas Geräusch anfliegender Flugzeuge, de-tonierender Bomben, das Rattattatt vonMaschinengewehren. Wie Deutschlandklingt? Gar nicht, sagt er. „Nach Stille.“Das Erste, was er hier lernte: wie wichtigPünktlichkeit ist. Bisher, sagt er grinsend,habe er „nach der arabischen Uhrzeit“ ge-

Mohammed, 25, Schiffsoffizier aus

Latakia, Syrien, lebt seit einem Jahr in einer

Flüchtlingsunterkunft in Bremen.

„Meine Flucht hat 22 000 Euro gekostet,deshalb musste ich meine Eltern zurück-lassen in Syrien. Wir hatten nicht genugGeld für uns alle. Meine Aufgabe ist esnun, sie möglichst schnell hierherzuholen,raus aus Syrien, weg vom IS. Jeder Tag daunten kann ihr letzter sein, dieser Gedan-ke macht mich echt verrückt. Deshalb störtmich an Deutschland vor allem eine Sache:Es gibt nicht genug Integrationskurse, allesdauert viel zu lange. Ich muss eure Sprachelernen, und zwar schnell. Ich muss Geldverdienen. Ich darf nicht noch mehr Zeitverlieren.“

lebt. Jetzt gilt: Wenn er sich für 14 Uhrverabredet, soll er am besten um fünf vorzwei da sein. Jeden Freitag geht er zum Fußball. Duwo08, der Ohlstedter Sportverein, hat Flücht-linge eingeladen, gemeinsam machen sieDehnübungen, Gymnastik, Abklatschen.Einmal hat der Trainer sie mitgenommenin die Innenstadt, Hauptbahnhof, Hafen-rundfahrt, sie sollten ein Gefühl kriegenfür die Stadt. Was ihn am meisten erstaunthat? Die Häuser in Hamburg sind zwarkleiner als in Damaskus, sagt Fadi, aberaufwendiger verziert. Und, sehr seltsam:In Restaurants darf nicht geraucht werden.

Bablu, 20, kommt aus Indien, lebt in Bad

Vilbel in Hessen, macht derzeit Abitur und

wartet darauf, ein anerkannter Flüchtling zu

werden – und Polizist.

„Ich war 16 Jahre alt, als ich in Deutsch-land ankam. Ich wusste gar nicht, wo ichbin. Meine Eltern hatten die Schlepper be-zahlt, damit sie mich in eine ,bessere Zu-kunft‘ transportieren, so hieß es immer aufder Reise. Ich hatte noch nie von diesemLand gehört, ich wusste nicht einmal, dassDeutschland Deutschland heißt und wel-che Sprache hier gesprochen wird. Ich warallein und vermisste oft meine Eltern. Amersten Tag in Deutschland wurde mir er-klärt, dass es dreimal am Tag im Lager Essengibt, um 7 Uhr, um 12.30 Uhr und 18.30 Uhr.Wenn ich die Zeiten verpasse, dann müsseich halt hungern, sagte die Heimleitung. Ichverstand und aß oft, ohne Hunger zu haben.Wenn ich die Erstaufnahme verlassen woll-te, musste ich mich immer an- und abmel-den. Ich tat es, aber verstand diese deutscheRegel nie, ich hatte nichts verbro chen, ichwollte doch nicht weg aus Deutschland. Wo-vor hatten sie nur Angst? Ich fühlte michoft wie im Knast. Ich habe in Deutschlandgelernt, was Schnee ist. Ich war 17 Jahre altund lebte im Lager, und auf einmal wurdealles weiß vor meinem Fenster. Dieses Bildvergesse ich nie, es machte mich so glück-lich, es war so weit, so frei plötz lich. Ich binder Erste in meiner Großfami lie, der weiß,wie Schnee sich anfühlt, ich bin stolz drauf.Ich mache Abitur, weil ich Polizist werdenwill, ein richtiger Beamter.“

Sayid, 26, Importhändler aus Latakia, Sy-

rien, lebt seit zwei Monaten in einem Flücht-

lingsheim im Süden Hamburgs.

SPIEGEL: Sie waren in eine Massenschlägereiin Ihrem Lager verwickelt. Was war los?Sayid: Da sind mitten in der Nacht Afgha-nen und welche von uns, also Syrer, auf-einander losgegangen. Ich habe das Ge-schrei gehört und bin aus dem Zelt ge-rannt. Alle sind rausgegangen, das Zeltwar leer, und das haben Diebe ausgenutzt.Mir wurden 500 Euro gestohlen, meineganzen restlichen Ersparnisse nach derFlucht. Wahrscheinlich wars ein Afghane.

Gesellschaft

SPIEGEL: Haben Sie sich auch geprügelt?Sayid: Nein, nur zugeschaut. Freunde vonmir haben allerdings mitgemacht und aucheinige Schrammen davongetragen.SPIEGEL: Wie kam es zum Streit?Sayid: Wegen der Steckdosen. Es gibt nur15 Steckdosen in der Halle, ich habe siegezählt, und es leben etwa 700 Leute da,die meisten haben Mobiltelefone, die mandauernd neu aufladen muss. SPIEGEL: Auf Ihrem Handy sind viele Bilder.Sie fotografieren Brücken?Sayid: Ja. Ich mag deutsche Brücken. Siesehen aus, als würden sie ewig halten.

Hamid, 32, Journalist aus Herat, Afgha-

nistan, seit Dezember 2014 in Deutschland,

lebt in Schacht-Audorf bei Rendsburg.

„Ich habe meine Heimat verlassen, weilmich die Taliban bedroht haben. Einmalhaben sie die Scheiben meines Autos zer-trümmert, ein andermal haben sie michzusammengeschlagen. Ich habe das bei derErstaufnahme erzählt. Der Mann dort hat-te aber nur zwei Fragen: warum ich nichtin eine andere Stadt gezogen sei? Und wermir geraten habe, meine Dokumente inKlarsichthüllen aufzubewahren? Jetzt lebe ich in Schacht-Audorf, einemkleinen Ort bei Rendsburg, am Nord-Ost-see-Kanal. An meinem ersten Tag nahmmich eine Frau beiseite und erklärte mir,dass es in Deutschland Ampeln gebe. Dassman bei Rot stehen bleiben müsse. Deutschland ist trotzdem mein Wunschland,Deutschland hat uns Afghanen sehr gehol-fen. Ich kenne Bayern München, Dortmund,die Nationalmannschaft. Deutschland istFreiheit für mich. Was mich allerdings wun-dert: Man hört zwar Kirchenglocken, aberkeinen Muezzin, obwohl es in Rendsburgeine Moschee gibt. Das ist nicht Freiheit.Das Großartige an Deutschland: Gerade fürjunge Menschen ist alles möglich. Wer lernenwill, hat unbegrenzte Möglichkeiten. Mir ge-fällt, dass alle immer ‚bitte‘ und ‚bitte schön‘sagen; dass alle die gleichen Rechte haben,Alte und Junge, Chefs und Untergebene.Was mir nicht gefällt: dass viele Leute flüs-tern, wenn ich in eine Kneipe komme oderzum Friseur: Terrorist. Achtung, Taliban.“

Mariam, 23, Studentin der Pharmazie,

aus Damaskus, kam vor eineinhalb Jahren in

Hamburg an.

Mariam sitzt unter ein paar HundertFlüchtlingen in einem Hörsaal an der Uni-versität Hamburg, wo ihnen an diesemNachmittag erklärt wird, wie und was siein Deutschland studieren können. Es sinddie Migranten, auf die die Wirtschaft hofft:jung und mit guter Grundausbildung, diekünftigen „Fachkräfte“. Es gibt nur wenigeFrauen unter ihnen. Mariam hat in Damaskus ein paar SemesterPharmazie studiert, damit möchte sie nunin Deutschland weitermachen oder mit Me-

62 DER SPIEGEL 43 / 2015

dizin beginnen, sie weiß es noch nicht. Sieträgt enge Jeans, schicke Stiefel mit Ab-sätzen und ein T-Shirt, auf dem „You aremy star“ steht, während ein weißer Hid-schab ihr offenes Gesicht umrahmt. Seitein paar Monaten lernt sie Deutsch an derVolkshochschule. „Ich mag das deutscheWort ,Dankeschön‘“, sagt sie auf Englisch,„ich mag die Idee, dass man ,Danke‘ und,schön‘ in einem Wort gleichzeitig sagt.“ Sie zeigt Fotos in ihrer Facebook-Chronik,eines zeigt sie bei einer Pferdekoppel imFreilichtmuseum am Kiekeberg bei Ham-burg. „Pferde liebe ich sehr. In Syrien, be-vor der Krieg kam, war ich manchmal rei-ten. Irgendwann möchte ich das auch inDeutschland tun.“ Sie hat viel über deut-sche Frauen nachgedacht, seit sie hier ist.„Sie sind sehr frei in ihrem Denken undVerhalten, es gibt keine Grenzen für sie.“Sie bewundert das und wundert sich gleich-zeitig darüber. „Ich mag es, wenn ich weiß,wo meine Grenzen sind als Frau.“ Sieglaubt nicht, dass sie den Hidschab je ab-legen wird, weil sie möchte, dass jeder sofort erkennt, dass sie Mus limin ist. ZumHeiraten, später, kommt für sie nur einmuslimischer Mann in frage.

Naman, 36, IT-Spezialist aus dem Nor-

den Syriens, Kurde, lebt seit Juli 2014 in ei-

nem Flüchtlingsheim in Bremen.

„Deutschland scheint mir ein freundlichesLand zu sein, irritierend ist aber, dass die

Deutschen dauernd Kalorien zählen. Inden Supermärkten sehe ich ständig Men-schen, die auf Lebensmittelverpackungenstarren, um herauszufinden, wie viel Fettin den Sachen steckt. Das ist bei uns an-ders. Wir essen einfach, was uns schmeckt.Ich glaube, das ist auch besser so, essensollte Spaß machen. Wenn ich irgendwannmal Arbeit habe, werde ich mir einenComputer kaufen. Und eine Playstation.“

Barjas, 37, Fotograf aus Idlib, Syrien, lebt

seit zwei Monaten in Freital, Sachsen.

„Das erste deutsche Wort, das ich gelernthabe, war ,Pegida‘. Es stand überall amBahnhof, als ich in Dresden aus dem Zugstieg. Am Anfang dachte ich, es stehe für,Willkommen‘. Heute weiß ich, es bedeu-tet das Gegenteil. Hass gegen Fremde gibtes auch in Syrien. Ich verstehe, dass dieDeutschen Angst haben, ihre Arbeit zuverlieren. Aber was würden sie selbst tun,wenn Bomben auf ihre Heimat fielen? Ichkann nicht glauben, dass der Krieg auchmal in Deutschland war. Alles hier wirktso sauber und geordnet. Man sieht dieDeutschen nie streiten, und nur wenigetragen Waffen. Wenn Deutschland ein Ge-räusch macht, dann klingt es nicht nachExplosionen, sondern wie das Raschelnvon Papier. Ohne Anträge und Unter-schriften geht nichts voran, aber wer sichden ganzen Tag damit beschäftigt, demfehlt abends die Energie, Bomben zu bau-

viele andere Flüchtlinge, die schon früherda waren, auf ihren Facebook-Seitenschrieben, dass man hier rasch einen Jobkriegen kann und dass das Wetter gut ist.Ganz so einfach ist es nicht. Ich dachte, eswürde schneller gehen, bis man einen Aus-weis und eine Arbeitsbewilligung erhält.Ich dachte auch nicht, dass wir in Zeltenschlafen würden. Es gab Leute, die mir ge-raten haben, nach Schweden oder Norwe-gen zu gehen, weil der Staat dort denFlüchtlingen mehr Geld gibt als Deutsch-land. Aber ich will kein Geld vom Staat,ich will arbeiten. Ich bin Architekt. Irgend-wann werde ich Häuser für deutsche Fa-milien bauen.“

Ahmed, 30, Apotheker, Syrien, lebt seit

September 2014 in einem Flüchtlingsheim in

Bremen.

„Ich hatte viel Schlechtes gehört über dasBundesamt für Migration und Flüchtlingehier in Deutschland. Dass die Sachbear-beiter dort ungeduldig sind, unhöflich,dass viele Anträge abgelehnt werden. Des-halb war ich schon sehr nervös, als ich mei-nen Termin hatte. Aber mein Sachbearbei-ter war ganz anders. Freundlich und nett.Ich hätte mir gar keine Sorgen machenmüssen.“

Jehanzaib, 19, Businessstudent aus

der Kaschmir-Region in Pakistan, lebt seit ei-

nem Monat in der LEA in Wertheim.

„Wir haben so eine Frucht an einem Baumgesehen und sie gepflückt. Sie hatte Sta-cheln, aber man konnte die Schale aufma-chen und die braune Frucht darin heraus-holen. Dann haben wir versucht, sie zu essen, aber sie war sehr hart, und mankonnte sie nicht kauen. Heute weiß ich,dass diese Früchte Kastanien heißen. Im Heim müssen wir immer eine Essens-schlange bilden, und alle stellen sich an.In Pakistan laufen die Leute einfach kreuzund quer drauflos. Scheint eine deutscheRegel zu sein mit dem Anstellen. Man siehtdas auch an den Ampeln, die hier überallstehen. Wenn die Ampeln rot sind, wartenalle, bis sie grün wird, auch wenn gar keinAuto auf der Straße fährt.“

Mustafa, 31, irakischer Elektroinstalla -

teur, geflohen aus Rakka, Syrien, lebt seit zwei

Monaten in Heidenau, Sachsen.

SPIEGEL: Warum soll Deutsch land IhnenAsyl gewähren? Mustafa: Weil mir der IS sonst den Kopfabschneidet.SPIEGEL: Wie geht es Ihnen hier?Mustafa: In meiner Heimat hieß es,Deutschland sei ein strenges Land mit vie-len Regeln. Man sagte, es gebe mehr Ver-kehrsschilder als Menschen, und die Leuteführten Hunde wie Gefangene an Ketten.Jetzt, wo ich hier bin, finde ich die meistenDeutschen gar nicht so streng, aber sie

63DER SPIEGEL 43 / 2015

en und andere zu töten. Vielleicht geht esDeutschland deshalb so gut.“

Valentino, 13, Schüler aus Lezha, Al-

banien, lebt mit seiner Familie seit zwei Mo-

naten im Zeltlager in Hamburg-Ohlstedt.

„Ich habe in der Nähe des Lagers frei lau-fende Kaninchen gesehen, hier, mitten inder Stadt! Sie hoppelten einfach herumund verschwanden wieder. In Albanienhätte sie längst jemand abgeschossen undgegessen. Es gefällt mir, dass die Deut-schen gut zu Tieren sind. Ich möchte fürimmer hier bleiben und Ingenieur werden.Ich bin sehr gut in Mathe, in Albanien warich der Beste meiner Klasse. Im Lager istes für uns Albaner nicht so einfach. ImDeutschkurs darf ich nie etwas sagen, ob-wohl ich immer den Finger hochstrecke.Einmal sagte jemand zu mir, ich brauchtenicht Deutsch zu lernen, ich dürfe als Al-baner ja sowieso nicht bleiben.“

Baraa, 25, Musiker und Grafikdesigner

aus Damaskus, lebt seit einem Monat in der

Erstaufnahmeeinrichtung in Hardheim.

SPIEGEL: Warum sollte Deutschland IhnenAsyl geben? Baraa: Ich habe nie nach Syrien gehört. Ichwar dort auch vor dem Krieg unglücklich.Mein Archäologiestudium wollte ich niemachen, man hat mich dazu gezwungen.Ich bin ein Musiker, der Elektrogitarre ineiner Rockband spielt, so jemand wird we-der von der Gemeinde noch von der Re-gierung akzeptiert, weil er anders ist. In Deutschland kann ich alles werden undmachen. Ich bin jetzt 25, ich hätte von An-fang an hier in Deutschland sein sollen.Ich passe viel besser nach Deutschland alsnach Syrien, ich bin ein Mensch, der dieGesetze immer befolgt, aus diesem Grundschäme ich mich auch sehr, dass ich illegalnach Deutschland gekommen bin. Es gababer keine andere Möglichkeit, ich kannnur sagen: Entschuldigung. SPIEGEL: Was ist das erste deutsche Wort,das Sie gelernt haben? Baraa: Entschuldigung. Man braucht es im-mer, um nach dem Weg zu fragen oder um

etwas von den Leuten in Erfahrung zubringen. Die Menschen hier sind sehr kul-tiviert. Etikette wird großgeschrieben. SPIEGEL: Was ist die erste deutsche Regel,die Sie gelernt haben? Baraa: Dass man zuerst seinen Nachnamenund dann seinen Vornamen nennt. Manhat mir gesagt, es sei unhöflich, nur seinenVornamen zu nennen, so wie es bei uns inSyrien üblich ist.

Saad, 27, Medizinstudent aus Aleppo,

lebt seit drei Monaten in einem Heim in

Freital, Sachsen.

„In Syrien heißt es, Deutschland sei dasLand der Menschlichkeit. Aber hier, imOsten, benehmen sich die Deutschen nichtwie Menschen. Sie spucken einen an undsagen, wir sollen abhauen oder unserHeim wird brennen. Wir Flüchtlinge ge-hen hier nur gemeinsam auf die Straße,weil wir sonst verprügelt werden. Vor einpaar Tagen wollte ich einkaufen, da habenmich drei Männer aufgehalten und mirmit einer Bierflasche auf den Kopf ge-schlagen. Ich kann den Hass der Leutenicht verstehen. Was haben wir ihnen ge-tan? Wenn ich freundlich nach dem Wegfrage, gehen sie weiter, als hätte ich eineKrankheit. Ich weiß, ich bin nur ein Gasthier. Aber so behandelt man keine Gäste.Früher habe ich immer von Deutschlandgeträumt. Ich dachte, es ist das beste Landder Welt. Ich habe in Syrien acht Jahrelang die Sprache gelernt, am Goethe-In-stitut. Aber jetzt, wo ich in Deutschlandbin, verlerne ich alles, weil kein Deutschermit mir spricht. Um allein zu üben, schaueich viel Fernsehen, jeden Tag sieben Stun-den, vor allem MDR und ZDF. MeineLieblingsserie handelt von einem Arzt,der in den Bergen arbeitet. Die Welt dortist freundlich und grün. Die Männer sindwarmherzig und die Frauen schön. Ichglaube, diese Serie spielt auch in Deutsch-land. Aber das ist ein anderes Deutschlandals hier.“

Miran, 25, Architekt aus Damaskus, lebt

seit sechs Wochen in einem Flüchtlingslager

im Osten Hamburgs.

„Diese Zeichnung hängt auf einer Toilettebeim Flüchtlingslager. Ich nehme an, dassmanche Leute das Toilettenpapier auf denBoden warfen, weil sie es von zu Hausegewohnt sind, dass man Papier nicht insKlo schmeißen darf, weil es die Abflüsseverstopft. Bevor ich Syrien verließ, wusste ich vonDeutschland nicht mehr als ein paar Stich-wörter – Mercedes, BMW, Bayern Mün-chen. Und natürlich die Sache mit den Nazis. Jetzt ist Deutschland für mich vorallem grün. Grüne Wiesen und Bäume wa-ren das Erste, was ich hier sah, und selbsthier in der Stadt stehen überall Bäume.Ich bin in dieses Land gekommen, weil

Gesellschaft

lächeln fast nie, obwohl sie ja gute Autosund große Häuser haben.SPIEGEL: Sie vermissen die Freude?Mustafa: Viele Deutsche freuen sich nurdann, wenn man „Biergarten“ sagt. Dasist ein Ort, wo die Menschen lachen undsich verkleiden dürfen, wie bei einem Festfür Kinder. Als Flüchtlinge bekommen wirdort keinen Zutritt, weil wir kein Geld ha-ben und keine deutschen Lieder kennen.SPIEGEL: Haben Sie Angst vor Fremden-feindlichkeit? Fremdenhass?Mustafa: Gegen die Mörder im Irak ist Pe-gida nur ein Witz, etwas für Mädchen. Ichwürde gern wissen: Haben diese Deut-schen im Osten auch so eine große Klappe,wenn ein Schwert an ihrem Hals liegt? IhreDummheit macht mich wütend, aber nichtalle Deutschen sind so.“

Houssam, 32, Grafikdesigner aus

Aleppo, wurde in Büren, Nordrhein-Westfalen,

geboren, ging als Sechsjähriger mit den Eltern

nach Syrien zurück und lebt seit Kurzem in

der Erstaufnahmeeinrichtung in Hardheim.

„Viele meiner Landsleute beschweren sichheute über alles hier: das Essen, die Un-terkunft, aber die sehen nicht, was für einDruck auf Deutschland lastet. Für einCamp ist es sehr gut hier. Wir Syrer sindlaut und schreien uns immer nur an, inDeutschland ist es viel ruhiger und harmo-nischer. Ich bin zu Beginn versehentlichin Berlin gelandet. Ich habe versucht, michnicht wie ein Fremder und Unwissenderzu verhalten, aber auf dem Weg zum Bahn-hof wollte ich mir beim Busfahrer ein Ti-cket ziehen. Ich habe mein ganzes Klein-geld in die dafür vorgesehenen Einwürfebeim Fahrer geworfen. Plötzlich hat ermich angebrüllt. Er hat mir das Geld wie-der zurückgegeben und mir gesagt, ich sol-

le es auf den kleinen Tisch vor ihm legen,und er würde alles einsortieren. Das ge-schieht manchmal, wenn man bloß nichtauffallen möchte.“

Dani, 19, Student aus Damaskus, kam

vor drei Monaten gemeinsam mit seiner Mut-

ter in Hamburg an.

Der Junge hat, was man Aura nennt, diesesseltsame innere Licht. Beim Treffen in einem Café fragt eine Kellnerin heimlich,wer denn dieser junge Mann noch mal sei,der an unserem Tisch sitzt, sie kenne ihnvom Fernsehen, irgendein Promi, nichtwahr? Ist er aber nicht, der wirkt nur so.Kein Mensch kennt ihn. Noch nicht, mussman sagen, denn Dani, wie er sich nennt,noch keine 20 Jahre alt, will gern berühmtwerden, als Model vielleicht oder sonst ir-gendwie, ein Star jedenfalls, und manzweifelt keine Sekunde daran, dass er esschaffen wird. „Zuerst will ich alles ver-gessen, was war, und bei null beginnen“,sagt er. „Und dann will ich, dass irgend-wann jeder weiß, dass ich ein schwuler Syrer bin.“ Da, wo Dani herkommt, ist offen gelebtesSchwulsein lebensgefährlich. Man kanndafür im Gefängnis landen. Oder von Fa-natikern ermordet werden. Beiläufig er-zählt Dani, er habe mehrfach Drohungenerhalten von Leuten, die sagten: Wir wer-den dich töten. Bis zu seiner Flucht hat erseine Wohnung in Damaskus kaum nochverlassen. Es war dieser Krieg, ein Krieggegen ihn als Person, der ihn in die Fluchttrieb, nicht so sehr jener des Regimes ge-gen seine Bürger. Vor vier Monaten machte er sich gemein-sam mit der Mutter, deren einziges Kinder ist, auf den Weg nach Europa: Libanon,Türkei, übers Meer nach Griechenland. In

Ungarn, als die Polizei die beiden an derGrenze ergriff, fragten ihn die grölendenBeamten: Bist du ein Junge oder ein Mäd-chen? Er antwortete: „Ich bin eine wun-derschöne Göttin und habe kein Ge-schlecht.“ Auch im Flüchtlingsheim inDeutschland merkt er, wie die anderenüber ihn tuscheln, wie sie ihm aus demWeg gehen. Solange sie ihn nicht anspu-cken, ist es ihm egal. Mit seinen tiefschwarz geschminkten Brau-en und dem perfekt getrimmten Bart er-innert er an die österreichische DragqueenConchita Wurst, von der er noch nie ge-hört hat. Die Tragik seines bisherigen Le-bens, immer von der Vernichtung bedrohtzu sein, tarnt er mit lustigen Sätzen: „InSyrien wäre ich demnächst zum Militär-dienst eingezogen worden, aber ich wolltenicht zur Armee. Ich will doch keine süßenJungs erschießen!“ Sein Facebook- und sein Instagram-Ac-count sind voll mit Selfies, Bildern seinesneuen, seines befreiten Ich. Dani am son-nigen Elbstrand, Dani mit neuen Boy-friends, Dani beim Shoppen, immer mitangedeutetem Kussmund, radikal eitel, be-reit, das ganze Land zu umarmen. Wasihm an Deutschland am besten gefällt?„Dass alle Leute Hunde haben. Ich willauch einen. Einen Chihuahua!“ Und na-türlich, als ob’s nicht längst klar wäre: dieFreiheit. Die vor allem anderen. „Die Frei-heit zu leben und zu lieben, wie ich will.“

Uwe Buse, Özlem Gezer, Hauke Goos, Guido Mingels, Dialika Neufeld, Claas Relotius,

Alexander Szanto

64 DER SPIEGEL 43 / 2015

Videoreportage: Warum Dani

aus Syrien flüchten musste

spiegel.de/sp432015dani oder in der App DER SPIEGEL

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Die Amerikaner sind bekanntermaßen besessen von ihrereigenen Sicherheit, aber sie sind doch auch sehr liberaleLeute geblieben. Es gibt in den USA bis heute keinen

Personalausweis, und wer sich ausweisen muss, der macht dasmit dem Führerschein. Er reicht als amtliches Dokument völligaus, selbst an Flughäfen und Sicherheitsschleusen. Das heißt:wenn mit dem Führerschein alles in Ordnung ist.

Als ich meinen vor zwei Jahren beantragte, musste ich einenFragetest absolvieren, anschließend prüfte eine Dame in derFührerscheinstelle meinen Reisepass und mein Visum. Fröhlichlächelnd stellte sie schließlich dasDokument aus. Es war ein brand-neuer, schicker US-Führerschein,nur war der fröhlichen Dame einkleiner Fehler unterlaufen, der michseither verfolgt: An der Stelle, wodas Geschlecht steht, tippte sie nicht„M“ für „Male“ ein, sondern „F“für „Female“. Ausweismäßig bin ichfür das System seither also eineFrau.

Ich sehe das im Prinzip locker. Inden USA ist die Gender-Debatteder europäischen ja weit voraus, dieKonzepte von weiblich und männ-lich sind ins Fließen geraten, nichterst, seit aus Bruce neulich CaitlynJenner wurde.

Ich durfte kürzlich jedoch lernen,dass die gesellschaftliche Lockerheitin den Staatsbetrieb und seine Apparate noch nicht so richtigeingesickert ist. An einem strahlend sonnigen Septembertagbin ich mit dem System kollidiert. Ich stand an einem Ein-gangstor in Anacostia, einem armen Stadtteil Washingtons, indem sich, in einen Hang hineingehauen, ein moderner Büro-komplex erhebt, der das Herzstück der inneren SicherheitAmerikas werden soll. Schwarze, spitze Zäune schützen dasGelände, Kameras filmen, hinter Tor 6 wartet eine Sicherheits-schleuse. Ich war zum Interview mit einem der Chefs der US-Küstenwache verabredet, er wollte sich eine ganze Stunde langZeit nehmen, es sollte um die Zukunft der Arktis gehen.

Den Komplex gibt es erst seit gut einem Jahr, er passt nichtrecht zu den Bruchbuden in der Umgebung. Mehrere TausendRegierungsangestellte werden hier bald arbeiten, zuerst ist die Küstenwache eingezogen, demnächst soll das Hauptquar -tier des Heimatschutzministeriums folgen. Bauten wie der inAnacostia sind die Kathedralen der Überwachung in den USA,eine Welt, in der man niemandem ein X für ein U oder ein Ffür ein M vormachen kann. Mein Interview sollte um zehnUhr morgens stattfinden.

Um 9.40 Uhr empfing mich eine Mitarbeiterin an der Pforte,die mit Metalldetektoren wie am Flughafen ausgestattet ist,das ist in US-Behörden so üblich. Ein Mann in Kampfstiefeln

und schwarzer Uniform fragte mich nach meinem Reisepass,legte ihn auf einen Dokumentenscanner und wartete auf Frei-gabe. Aber nichts passierte.

Der Sicherheitsmann legte also meinen Führerschein aufden Dokumentenscanner. Wieder passierte nichts. Der Mannguckte ein wenig besorgt und bat mich, auf einer Bank Platzzu nehmen. Misstrauen hing in der Luft, die leise Alarmstim-mung, wenn noch nichts ist, aber gleich etwas sein könnte.Auch die Mitarbeiterin, die mich zu ihrem Chef bringen sollte,guckte besorgt. Es war jetzt schon kurz nach zehn Uhr.

Nach weiteren 15 Minuten klingelte am Empfang in Ana -costia das Telefon. Eine Frau am anderen Ende der Leitungteilte mit, ich sei zwar im System der Küstenwache für unbe-denklich erklärt worden, aber nicht im größeren, zweiten Sys-tem des Heimatschutzministeriums. Die Überprüfung laufe, eskönne dauern. Jetzt guckte auch ich besorgt.

In meinen Gedanken rauschten die Fragen vorbei wie dieAutos auf dem Interstate 295, den man durch die Glasscheibenhier sehen kann. Rufen die jetzt bei der NSA an und bitten umdie Suchbegriffe, die ich bei Google eingegeben habe? Könntedie Kombination der Stichwörter Iran und Mossad ein Problemsein, die ich neulich auch mal abgefragt habe? Oder ging einMitarbeiter des Heimatschutzes gerade meine Reisebewegun-

gen der vergangenen zehn Jahredurch?

Auf der Wartebank von Anacostiawünschte ich mir in diesen Augen-blicken, es würde beim Heimat-schutz einen Geistesverwandtenvon Edward Snowden geben, einenWhistleblower, der die Allmacht desSystems durchbricht und mir verrät,was die Computer über mich geradealles ausspucken. Trotz dieser Fan-tasien fragte ich aber nur, betont ge-lassen: „Alles okay?“ Der Unifor-mierte an der Pforte antwortetesachlich: Ich müsse mich gedulden,das System müsse jetzt erst mal ar-beiten.

Ein paar Minuten später klingeltedas Telefon erneut, die Frau von derKüstenwache nahm ab, ihre Miene

verhieß nichts Gutes. Mit einem Gesichtsausdruck, als hättesie auf eine Knoblauchzehe gebissen, sagte sie: „Das Systemist abgestürzt.“ Ich war unentschlossen, ob ich mich darüberfreuen oder meinem Interviewtermin hinterhertrauern sollte.

Mir ist es schon einmal so gegangen, im vergangenen Jahr.Ich hatte einen Termin im Hauptquartier des FBI an der Pennsylvania Avenue in Washington, wir wollten über die Piraten in Somalia reden. Drei FBI-Agenten empfingen michwie vereinbart an der Pforte, ich gab erst meinen Reisepass abund danach meinen Führerschein. Die Agenten guckten auchdamals besorgt. Und auch damals sagte ein Sicherheitsmann,ich sei zwar im System des FBI als unbedenklich geführt, aberes gebe ein zweites System, das die Freigabe erst noch prüfe.Das könne dauern. Wir standen eine Weile herum, aber dasSystem gab mich nicht frei. Ist es das F? Das entscheidendeSandkorn im Getriebe? Ein Vertipper, der ein ganzes Systemlahmlegt?

In Anacostia klingelte nach gut einer Stunde Wartezeit einletztes Mal das Telefon. Ich sei jetzt doch für unbedenklich be-funden worden, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung.Ich war schon ein wenig erleichtert. Und mein Gesprächspart-ner, einer der Chefs der US-Küstenwache, sicher auch. Aberer hatte jetzt nur noch 20 Minuten Zeit für mich. Holger Stark

66 DER SPIEGEL 43 / 2015

Gesellschaft

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SystemfrageHomestory Ein falscher Buchstabe in meinem

Führerschein lässt mich aussehen wie ein Risiko.

Abgasskandal II

„Zu lange

weggeschaut“

Als Konsequenz aus den Manipulationen bei VW willdas EU-Parlament eine euro-päische Genehmigungsbehör-de für Kraftfahrzeugtypenfordern. „Nationale Zulas-

sungsstellen wie das Kraft-fahrt-Bundesamt sind zu industrienah und haben zulange weggeschaut“, sagtMatthias Groote, der umwelt-politische Sprecher der sozial-demokratischen Fraktion.Die Luftverschmutzung seifür 400000 Tote im Jahr verantwortlich. Deshalb

meint Groote, dass die Zu -lassung der Kraftfahrzeugezum Schutz der Verbraucherähnlich wie jetzt schon beiLebensmitteln und Medika-menten durch eine unab -hängige europäische Behördeüberwacht werden müsse.Die EU-Kommission verfügemit dem Institut für Umwelt

und Nachhaltigkeit im ober italienischen Ispra sogarbereits über eine Einrichtung,die Autos testen könne. Zurzeit schreibt der Umwelt -ausschuss des EU-Parlamentsan einer entsprechenden Resolution, die Ende Oktober verabschiedet wer-den soll. pau

68 DER SPIEGEL 43 / 2015

Im Abgasskandal gerät der VW-Konzern an mehreren Fron-ten unter Druck. In den USA könnten schon in Kürze hoheKosten für die Entschädigung von Kunden anfallen. Die US-Kanzleien Quinn Emanuel und Hagens Berman haben vor ei-nem kalifornischen Gericht eine einstweilige Verfügung bean-tragt, wonach VW den rund 70000 betroffenen Kunden in die-sem Bundesstaat das Auto auf Wunsch ersetzen oder zu demMarktpreis abkaufen muss, der vor Bekanntwerden der Mani-pulation galt. Es sei inakzeptabel, dass VW frühestens 2016eine Umrüstung in Aussicht stelle. Machen alle betroffenenKalifornier von ihrem Rückgaberecht Gebrauch, könnten sichdie Kosten für VW auf gut eine Milliarde Dollar summieren.

In Wolfsburg wird unterdessen spekuliert, wer als Nächstesbeurlaubt wird. VW dementierte an diesem Mittwoch eine Mel-dung des SPIEGEL, nach der mindestens 30 Mitarbeiter an demBetrug beteiligt gewesen sein sollen. Mit der Aufklärung Betrau-

te erläutern: Es gehe nicht nur um jene Manager, die den Ein-bau der Software veranlasst hätten, sondern auch um Mitarbei-ter, die im Laufe der Jahre von dem Betrug erfahren und ihnnicht beendet hätten. Dazu zählen unter anderem ein Werkslei-ter, Verantwortliche für Qualitätssicherung und für die Revisionsowie mehrere Entwickler, die für Dieselmotoren und Antriebs-elektronik zuständig waren. Es sei aber schwer, jeden zu beur-lauben. Arbeitsrechtlich genüge das bislang gesichtete Materialoft nicht. Und manche Mitarbeiter seien bereits in Pension.

Das Landeskriminalamt Niedersachsen hat inzwischen eineSonderkommission „Soko VW“ mit 20 Beamten eingerichtet.Klaus Ziehe, Sprecher der Staatsanwaltschaft Braunschweig,sagt: „Wir wollen die ursprünglich Anweisenden für die Mani-pulation ermitteln, die Verantwortlichen für den Einbau derSoftware und die Mitwisser, die über Jahre hinweg hätten ein-schreiten können.“ gud, mhs, haw

Produktion im Volkswagenwerk Zwickau

IMA

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Abgasskandal I

„Soko VW“Eine Ermittlungstruppe mit 20 Beamten soll den Betrug aufklären.

Karrieren

Wechsel zur KfW

Jörg Asmussen, Staatssekre-tär im Bundesarbeitsministe-rium, soll zur staatlichen Förderbank KfW wechseln.Darauf haben sich Wirt-schaftsminister Sigmar Ga-briel (SPD) und Finanzminis-ter Wolfgang Schäuble (CDU)verständigt. Grund für diePersonalie sind anhaltendeUnstimmigkeiten Asmussensmit seiner Ressortchefin, Ar-beitsministerin Andrea Nah-les (SPD). Trotz vorherigerTätigkeiten im Direktoriumder Europäischen Zentral-bank (EZB) und im Bundes -finanzministerium fehlt As-mussen die Geschäftsführer-

erlaubnis für Kreditinstitute,der sogenannte Banken -führerschein. Deshalb wirdder Sozialdemokrat zunächstzwei Jahre lang als General-bevollmächtigter arbeiten, bevor er in den Vorstand derKfW aufrückt. Dort könnteer die Nachfolge von NorbertKloppenburg antreten, derfür internationale Finanzie-rungen verantwortlich ist.Das Jahressalär des bisheri-gen Spitzenbeamten soll einehalbe Million Euro betragen,dreimal so viel wie bislang.Asmussen wird in Frankfurtarbeiten. Für seinen vor zei -tigen Abgang aus der EZB-Zentrale am Main hatte er vor zwei Jahren familiäreGründe angeführt. rei

Lufthansa

Drohen neue

Streiks?

Bei der Lufthansa spitzt sichder seit fast zwei Jahrenschwelende Konflikt um Ge-hälter, Jobgarantien und dieAlters- und Übergangversor-gung für das Bordpersonal zu.Die Gewerkschaft UFO hattebereits im Sommer mit einemAusstand gedroht, diesenaber abgesagt, nachdem derKonzern sein Angebot ver-bessert hatte. Nun sind dieGespräche trotz des Einsatzesexterner Moderatoren erneutfestgefahren. Die UFO-Funk-tionäre haben der Lufthansa-Führung deshalb einen Kom-promissvorschlag unterbrei-tet, der auch die Interessender Gegenseite berücksich-tigt. Das sickerte aus Ver-handlungskreisen durch. Kon-zernchef Carsten Spohr undseine Kollegen sollen dem-

nach bis Montag um 18 Uhrerklären, ob sie einer von derUFO verfassten Vereinbarungzustimmen, in der die bishe -rigen Verhandlungsergebnisseund mögliche Lösungswegezusammengefasst sind. DasPapier sieht unter anderemvor, dass alte und neu ein -gestellte Kabinenbeschäftigtedurch eine Reform der Ge-haltsstrukturen und die gene-relle Umstellung der Alters-und Übergangsver sorgung einen Sparbeitrag in dreistel-liger Millionenhöhe leisten.Im Gegenzug soll die Füh-rung garantieren, dass dieLufthansa auch im Stamm -geschäft weiter wächst undkeine Stellen wegfallen. Zu-dem soll sie sich verpflichten,mit der UFO Mindeststan-dards für die Arbeitsbedin-gungen bei Billigablegern wieder neuen Tochter Eurowingszu vereinbaren. Spohr lehntdas bislang kategorisch ab. did

69DER SPIEGEL 43 / 2015

Wirtschaft investigativ

Kommentar

Ende der BescheidenheitZurückhaltende Arbeitsbienen schaffen selten den Aufstieg.

Die Schauspielerin Jennifer Lawrence hat einen Oscar gewon-nen. Als mutige Katniss in „Die Tribute von Panem“ ist siezum internationalen Star geworden. Umso mehr mag auf denersten Blick das Bekenntnis verwundern, mit dem sich die 25-Jährige nun zu Wort gemeldet hat: Die ProduktionsfirmaSony habe ihr für eine Rolle ohne erkennbaren Grund deut-lich weniger gezahlt als ihren männlichen Kodarstellern. Davon erfahren hat sie erst durch den Hackerangriff auf Sony.Überraschend ist Lawrence’ Erklärung für den Unterschied:Sie selbst habe befürchtet, nicht gemocht zu werden, alsschwierig und verwöhnt zu gelten – und deshalb nicht ummehr Geld gekämpft. „Werden Frauen zu diesem Verhalten erzogen?“, fragt Lawrence. Leider, und das ist nicht als Recht-fertigung für Sony misszuverstehen, muss man die Frage wohl bejahen. Harmoniebedürftigkeit, Strebsamkeit, Pflicht-

bewusstsein – das alles sind Eigenschaften, die Schülerinnen,Studentinnen, Mitarbeiterinnen viel häufiger auszeichnen alsihre männlichen Gegenparts. Frauen, so viel ist klar, werdennicht so geboren. Es ist das Ergebnis ihrer sozialen Prägung.Dass es wichtig ist, hübsch und artig zu sein, lernen Mädchenschon als Kleinkinder. Im Teenageralter merken sie, dass Fleißzu guten Noten führt und Anschmiegsamkeit besser ankommtals Widerworte. Doch spätestens im Berufsleben erweisen sich diese erlernten Muster als Nachteil, nicht nur in Gehalts -verhandlungen. Schließlich schaffen zurückhaltende Arbeits-bienen nur selten den Sprung ins Chefzimmer. Viele, geradejunge Frauen trauen sich im Job zu wenig, aus Angst, nicht gemocht zu werden. Das ist ein Problem. Ändern können esEltern und Lehrer – indem sie Mädchen beibringen, dass Bescheidenheit nicht immer eine Tugend ist. Ann-Kathrin Nezik

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70 DER SPIEGEL 43 / 2015

Die Löwen-NummerProzesse Mithilfe gewagter Finanztricks wollte die kleine Firma Porsche den großenVolkswagen-Konzern schlucken. Das ging schief. Nun stehen die verantwortlichenVorstände Wendelin Wiedeking und Holger Härter vor Gericht. Eine Rekonstruktion.

Porsche-Manager Wiedeking, Härter, Aufsichtsrat Porsche

auf der Hauptversammlung am 30. Januar 2009

Wirtschaft

Es beginnt damit, dass Porsche gleich-zeitig zu viel und zu wenig Geld hat.Drei Milliarden Euro liegen Anfang

2005 auf den Konten, und Firmenchef Wen-delin Wiedeking will sie ungern an die Ak-tionäre ausschütten. Warum soll er die Fa-milien Porsche und Piëch noch reicher ma-chen? Andererseits sind drei Milliarden zuwenig, um auf Dauer die Investitionen fürneue Modelle und Motoren finanzieren zukönnen. Wiedeking will beide Probleme

mit einem Schlag lösen, und dann hat ereine Idee.

Wegen dieser Idee steht Wiedeking, 63,von der kommenden Woche an vor Gericht,gemeinsam mit dem damaligen Finanzvor-stand von Porsche, Holger Härter, heute59. Es geht darum, ob sie wichtige Infor-mationen zurückgehalten haben, zum Scha-den von Anlegern. Es geht auch um einenbizarren Wirtschaftskrimi, um den Versuchder kleinen Firma Porsche, die gigantischeFirma Volkswagen zu schlucken. Das wardie Idee, die Wiedeking hatte: PorschesGeld in Aktien von VW zu investieren unddann die Kapazitäten von VW zu nutzen,um Porsche wettbewerbsfähig zu halten.

Porsche, 12000 Mitarbeiter und gut 6 Mil -liarden Euro Umsatz, sollte die Kontrolleüber den Volkswagen-Konzern, 345000Mitarbeiter, 95 Milliarden Umsatz, über-nehmen. „Es ist die Löwen-Nummer“, sag-te Wiedeking. Es war David gegen Goliath,es war Größenwahn, es wurde ein Desaster.Die Idee scheiterte. Am Ende übernahmVolkswagen den Angreifer Porsche. Danngriffen Staatsanwälte ein. Nun entscheidenRichter.

Zum Personal dieses Krimis gehören ne-ben Wiedeking und Härter zwei alte Be-kannte, die immer dann auftauchen, wennes turbulent wird bei Volkswagen: Das sindFerdinand Piëch und Wolfgang Porsche,die Anführer der beiden Familienzweige,die bei Volkswagen und Porsche mitmi-schen, oft im Streit miteinander. Bei diesemStück werden sie am Ende die Sieger sein.

Sie alle, Wiedeking, Härter, Piëch undPorsche, sind Hans Richter gut bekannt.Der ist Oberstaatsanwalt und hat den Pro-zess, der nun beginnt, in Gang gebracht,indem er sich über Jahre in die Akten zurversuchten Übernahme vertiefte. Ihm ginges um die Gleichheit vor dem Gesetz.Auch die Mächtigen, die Herren über Un-ternehmen, über Tausende Arbeitskräfte,über pralle Konten, sollen spüren, dass dieGesetze für alle da sind.

Anfang 2005 lädt Wiedeking einekleine Mannschaft Vertrauter in dieVilla Hammerschmiede. Das Fünf-

sternehotel in der badischen GemeindePfinztal liegt inmitten von Streuobst -wiesen und Weinbergen. Härter ist dabei,Strategiechef Michael Harmening sowiedrei weitere Mitarbeiter von Porsche. Sietreffen auf Anwälte der Kanzlei FreshfieldsBruckhaus Deringer und auf Experten derInvestmentbank Merrill Lynch. Sie nennensich die „Pfinztal-Runde“, und sie bereitenetwas vor, von dem Harmening in einemVermerk an Wiedeking schreibt: „Da mitdem Projekt sicher das größte Rad in derFirmengeschichte gedreht wird und sicherauch ein bedeutendes in der deutschenWirtschaftsgeschichte, darf uns hier nichtsschiefgehen.“

Bislang ist Wiedeking alles gelungen.Als er 1992, mit 40 Jahren, Chef von Por-sche wurde, kämpfte das Unternehmenums Überleben. Falsche Modellpolitik,hohe Kosten und die Abhängigkeit vomUS-Markt trieben es in die roten Zahlen.Wiedeking strich Arbeitsplätze, drücktedie Kosten, steigerte die Qualität.

Dann brachte er den Geländewagen Porsche Cayenne auf den Markt, ein Wag-nis für eine Sportwagenfirma. Aber derCayenne wurde ein Erfolg. Die Bilanzzah-len färben sich zuerst schwarz und danngolden.

Wiedekings Nadelstreifen werden brei-ter, die Zigarren dicker, natürlich Cohibas.Dazu Bordeaux, beste Lagen. Er sprichtlaut, er lacht laut, und die Menschen, diesich um ihn herumdrängeln, lachen mit,auch wenn sie den Witz schon kennen. Ermuss überall zeigen, dass er der Boss ist,auch abends, wenn sich die Pfinztal-Rundean der Bar trifft. Will einer der Mitstreiternach Mitternacht auf sein Zimmer, dannhöhnt Wiedeking: „Nix da, hiergeblieben,du wirst doch wohl nicht schwächeln.“

Wiedeking und seine Pfinztal-Rundemüssen zuerst die Eigentümer überzeugen,die Familien Porsche und Piëch. Ihr Ver-mögen besteht im Kern aus der Sportwa-genfirma in Zuffenhausen und der Salz-burger Porsche Holding, die als General-importeur VW-Marken in Österreich undvielen Ländern Osteuropas verkauft. DasWohl beider Unternehmen hängt an derZusammenarbeit mit Volkswagen.

Für die Familie geht es um ein histori-sches Erbe. Ferdinand Porsche entwickelteim Auftrag Hitlers den KdF-Wagen, derspäter als Käfer weltweit Karriere machte.Ferdinands Sohn Ferry Porsche konstru-ierte den Porsche 356, aus dem der 911 her-vorging. Beide Unternehmen arbeitetenzusammen, und wenn sie zu einem Auto-konzern Porsche-Volkswagen vereint wür-den, dann käme aus Ferdinand Piëchs Per-spektive zusammen, was zusammengehört.

Am 23. Juni 2005 stellen Wiedeking undHärter der Familie ihr „Projekt Deutsch-land“ vor. Alle sind fasziniert. Am 15. Julitrifft sich die Runde erneut. Die Invest-mentbanker von Merrill Lynch tragen vor.

Sie verwenden Pseudonyme für die Be-teiligten. Paris steht für Porsche, Venedigfür VW und Norwegen für Niedersachsen.

Es geht darum, dass Volkswagen so wer-den soll wie Porsche: schlank, effizient undhoch profitabel. Dafür benötigt Paris, alsoPorsche, die „uneingeschränkte strategi-

71DER SPIEGEL 43 / 2015

Sie verwenden Pseudonymefür die Beteiligten, Paris steht für Porsche und Venedig für Volkswagen.

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10. März 2008

Porsche dementiert,seinen Anteil an VW-Aktien auf 75 % erhöhen zu wollen.

3. März 2008

Der Porsche-Aufsichtsrat billigteine weitere Aufstockung derVW-Beteiligung auf über 50%;mit 75 % der Stammaktienkönnte Porsche die Führungdes VW-Konzerns erzwingen.

6. Mai 2009

Porsche – mittlerweile inFinanznot geraten – gibtden Übernahmeplan auf.

23. Juli 2009

Porsche-Chef WendelinWiedeking und Finanzvor-stand Holger Härter müssendas Unternehmen verlassen.

13. August 2009

Der Porsche-Aufsichtsratstimmt der Eingliederungdes Unternehmens ineinen von VW geführtenAutomobilkonzern zu.

26. Oktober 2008

Porsche erklärt entgegen dem früheren Dementi,seinen VW-Anteil auf 75% aufstocken zu wollen.Man habe bereits Zugriff auf 74% der Aktien.Der Kurs der Stammaktie schnellt in die Höhe; am28. Oktober kostet das Papier über tausend Euro.

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23. Oktober 2007

Der Europäische Gerichts-hof erklärt die im VW-Gesetz verankerte Sperr-minorität von 20% für rechtswidrig.

März 2007

Porsche erhöht seine VW-Beteiligung auf mehr als 30%.

23. Juli 2008

Der Porsche-Aufsichtsrat ermächtigtden Vorstand, die VW-Beteiligungauf 75% zu erhöhen.Kurs der VW-Stammaktie in Euro

Vergaloppiert Porsches Griff nach Volkswagen

Wirtschaft

sche und unternehmerische Führung desneuen Verbundes“, heißt es in der Vorlageder Investmentbanker. Wiedeking undHärter sollen „Handlungsfreiheit zur Neu-ausrichtung des Angebotsspektrums imMarkenverbund“ haben. Zu Deutsch: Siesollen entscheiden, welche Modelle Audi,Škoda, Seat, Volkswagen und Bentley ent-wickeln. VW soll weniger Teile selbst her-stellen und die Produktivität in den Fabri-ken erhöhen. „Alle Venedig-Standorte“,also alle VW-Fabriken in Niedersachsen,sollen auf Vordermann gebracht werden.Einzelnen Werken droht die Schließung.Merrill Lynch nennt das „Standortkonso-lidierung“.

Die Berater schlagen vor, dass Porscheso viele Anteile an Volkswagen kaufen soll,bis die Firma zusammen mit Niedersach-sen mehr als 80 Prozent hält. Das Ganzewollen sie durch einen Beherrschungs- undGewinnabführungsvertrag absichern. Da-mit könnte Porsche dem Management inWolfsburg Anweisungen geben und hätteZugriff auf die Finanzen des Konzerns.Volkswagen verfügt zu dieser Zeit übermehr als zehn Milliarden Euro Barreser-ven. Porsche könnte sich einen großen Teilder Kosten für die Übernahme aus der Kas-se von Volkswagen zurückholen.

Es ist eine Methode, die Hedgefonds an-wenden. Über sie hat Porsche-Chef Wie-deking kurz zuvor noch gelästert: „Das isteine Perversion des Kapitalismus. Dasmuss man sich mal vorstellen: Die kaufeneine Firma und holen sich die Kohle dannaus deren Kasse.“ Eine solche Perversionwill er nun selbst anwenden.

Wolfgang und Oliver Porsche sowie Fer-dinand und Hans Michel Piëch sind an -getan. Doch die Zeit drängt. Auch Daim -ler und Volkswagen bereiten eine Verbin-dung vor.

Am 19. September 2005 stimmt PorschesAufsichtsrat dem Kauf von Aktien zu. Am25. September gibt die Firma bekannt: Siewill sich mit rund 20 Prozent an VW be-teiligen.

Daimler und Volkswagen wollten ihreVerbindung am 1. Oktober öffentlich machen. Der VW-Konzern hatte schon 4,8 Prozent der Stammaktien von Daimler -Chrysler gekauft. Mit dem Einstieg vonPorsche in Wolfsburg ist dieses Projekt ge-storben. VW wird seine Aktien wieder verkaufen.

Der Anruf Wiedekings beim nieder-sächsischen MinisterpräsidentenChristian Wulff ist kurz: „Ich muss

mit Ihnen reden“, sagt der Porsche-Chef,„kann ich morgen vorbeikommen?“ EinenTag später, am 22. September, trifft erWulff in der Staatskanzlei in Hannover.

Wulff vertritt im Aufsichtsrat von VWjene gut 20 Prozent der Stimmrechte, diedas Land hält. Niedersachsen und die Ar-beitnehmervertreter sind eine Macht imKonzern, aufgrund des VW-Gesetzes.Für wichtige Entscheidungen sind 80 Prozent der Stimmen auf derHauptversammlung notwendig: Ge-gen Niedersachsens 20 Prozent gehtnichts. Und für den Bau neuer Werkebedarf es im Aufsichtsrat einer Zwei-drittelmehrheit: Hier müssen dieArbeit nehmervertreter im Kontroll-gremium zustimmen. Wiedeking sagtWulff: „Das Gesetz muss weg.“ Es istsein erster Fehler in der Übernahme-schlacht.

Der zweite Fehler: Er denkt, er kön-ne den Weltkonzern Volkswagen soführen wie den Mittelständler Por-sche, schnoddrig und straff. Über denPhaeton, den Stolz der Marke Volks-

wagen, sagt er, der sei „so überflüssig wieein Loch im Kopf“.

Im Management von VW und Audiwächst der Widerstand. „Von dem Herrnaus Zuffenhausen müssen wir uns nicht sagen lassen, wie wir unser Geschäft be-treiben“, sagt ein VW-Vorstand, der seinenNamen nicht genannt wissen will. Offenzeigt keiner seine Ablehnung. Wiedekingund Härter können Einfluss auf Karrierennehmen. Die Manager beginnen deshalbeinen Guerillakrieg.

Am 20. Dezember 2005 treffen sich dieFinanzchefs von Porsche, Holger Härter,und Audi, Rupert Stadler, in einem Bespre-chungsraum im Frankfurt Airport Center.Es geht um ein Geschäft, das für Porschevon existenzieller Bedeutung ist.

Porsche benötigt für seine künftigen Mo-delle eine neue Elektronikplattform. DieEntwicklung kostet mehrere Hundert Mil-lionen Euro. Für Porsche würde sich dasnicht rechnen. Deshalb will Härter diePlattform von Audi übernehmen.

Stadler sagt, natürlich könne Porschedie Audi-Plattform nutzen. Härter müsselediglich einen angemessenen Preis zahlen.Die Wirtschaftsprüfer von KPMG hätteneine Summe von 250 Millionen Euro er-rechnet. Kommt nicht infrage, sagt Härter.Vor einem Monat habe man sich auf ganzandere Konditionen geeinigt. Die Herrenverlassen den Besprechungsraum, ohnesich nähergekommen zu sein.

Am 25. Januar 2006 setzen sich die Vor-stände von Porsche und Audi in Ingolstadtzusammen. Von acht bis elf Uhr vormittagsdiskutieren sie. Anschließend verhalten siesich wie die Vertreter verfeindeter Super-mächte bei Abrüstungsverhandlungen: Siestreiten darüber, was verabredet worden ist.

Härter beschwert sich am 7. Februar perFax („persönlich/vertraulich“) bei Stadler.

72 DER SPIEGEL 43 / 2015

20. August 2009

Porsche gerät ins Visier derStaatsanwaltschaft. Am Stamm-sitz werden Unterlagen beschlag-nahmt. Bereits Anfang Augusthatte die Bankenaufsicht BaFinAnzeige wegen Marktmani-pulation erstattet.

6. März 2012

Nach fast dreijährigen Ermitt-lungen erhebt die Staatsan-waltschaft Anklage gegenHärter und zwei weitereehemalige Porsche-Managerwegen Kreditbetrugs.

4. Juni 2013

Härter wird wegen Kreditbetrugs zu einer Geldstrafe verurteilt.

17. Dezember 2012

Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklagegegen Wiedeking und Härter wegenMarktmanipulation.

22. Oktober 2015

Der mehrfach verschobene Prozessgegen Wiedeking und Härter sollnun aufgenommen werden.

20152010 2011 2012 2013 2014

Der zugeschickte Protokollentwurf gebedie Sitzung falsch wieder. Vieles sei „sonicht besprochen“ worden. „Diese Formvon einseitiger Interpretation dessen, wasin der Sitzung besprochen wurde, ist nichtzielführend und wird von uns nicht ak -zeptiert.“

Stadler lässt sich zwei Tage Zeit, ehe erseinem Kontrahenten, ebenfalls per Fax,mitteilt, er könne dessen Vorwurf „nichtakzeptieren“. Der Protokollentwurf „spie-gelt unser Verständnis vom Gesprächs -verlauf wider“. Für die Elektronikplatt-form müsse „eine angemessene Vergütung vereinbart werden; dies sind sicher nicht2 Mio €“.

Am 11. März 2006 werden die Verhand-lungen eingestellt. Der Panamera muss mitder alten Elektronikplattform von Porscheausgerüstet werden. Audi hat dem Ein-dringling eine Niederlage verpasst.

Auch die Arbeitnehmer steigen in denKampf ein. Porsche bezieht die Karosse -rien für den Cayenne aus dem VW-Werk

in Bratislava. Sie werden dort zusammen-geschweißt und lackiert. Das Porsche-WerkLeipzig erledigt die Endmontage. VW-Ar-beiter sagen den Porsche-Kollegen: „Wennihr so weitermacht, kriegt ihr nur noch Karosserien, bei denen die Türen nicht passen.“

Genährt wird der Widerstand vor allemdurch Wiedeking selbst. Er behandelt Ma-nager des VW-Konzerns wie seine Unter-gebenen und den Vorstandsvorsitzendenvon VW, Bernd Pischetsrieder, wie seinenAssistenten.

Am 10. Oktober 2006 schickt Wiedekingper Telefax Fragen an Pischetsrieder. „Wiesollen die Werke ausgelastet werden? Wur-den Vereinbarungen über den Abbau vonverbleibenden Überkapazitäten getroffen?Wurden weitere Zugeständnisse gegen-über IG Metall bzw. Betriebsrat gemacht?Wie verändern sich die durchschnittlichenArbeitskosten pro Mitarbeiter an den ein-zelnen Standorten in den kommenden dreiJahren? Vielen Dank für Ihre Unterstüt-

zung. Mit freundlichen Grüßen, Dr. Wen-delin Wiedeking.“

Es ist nur eines von drei Faxen mit de-mütigenden Fragen, die Wiedeking an die-sem Tag an den VW-Vorstandsvorsitzen-den schickt.

Dann bringt Wiedeking auch die Arbeit-nehmervertreter bei VW gegen sich auf.Das ist der dritte Fehler.

Es beginnt, wie so oft bei Wiedeking,mit einem Statement: „Es darf in Wolfs-burg keine heiligen Kühe geben.“ Vergli-chen mit Porsche, wo alles auf Effizienzgetrimmt ist, kommt ihm vieles bei VWvor wie aus einer anderen Welt: Die Löhnesind vergleichsweise hoch, die Pausenzei-ten lang, und Volkswagen beschäftigt nachseiner Ansicht zu viele Mitarbeiter. EinHaustarifvertrag sichert viele Privilegienab. Heilige Kühe eben.

Bernd Osterloh, der Betriebsratschef desVW-Konzerns, und Wulff (CDU) bildennun eine Koalition. Sie werben in Berlin,wo SPD und CDU/CSU regieren, für den

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Porsche-Verladung auf dem Flughafen Leipzig/Halle: Der Eindringling muss eine Niederlage einstecken

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Erhalt des VW-Gesetzes. Jeder bearbeitetseine Parteifreunde.

Am 15. April 2008 treffen sich Wulff undMerkel abends im Sale e Pepe, einem Ita-liener in Charlottenburg. Wulff will dieKanzlerin überzeugen, dass in einem neu-en VW-Gesetz die Sperrminorität für Ak-tionäre mit mindestens 20 Prozent derStimmrechte – und damit NiedersachsensMachtposition – erhalten bleibt. Die Kanz-lerin signalisiert Wulff, dass sie Einflussauf den Präsidenten der EU-Kommission,José Manuel Barroso, nehmen wolle, derdas VW-Gesetz für einen Verstoß gegenden freien Wettbewerb hält. Als Wulff andiesem Abend das Lokal verlässt, schickter einem Vertrauten eine SMS: „Sie steht.“

Am Freitag, dem 12. September 2008,wird klar, dass Wiedeking und Härter ei-nen weiteren Gegner haben: FerdinandPiëch. Er ist überzeugt, dass WiedekingsDreistigkeit zu einer Gefahr für das Pro-jekt geworden ist. Er hat schon sondiert,wer Wiedeking ersetzen könnte.

An diesem Freitag trifft sich der Auf-sichtsrat in Wolfsburg. Morgens sind VW-Mitarbeiter mit Trommeln vor dem Ritz-Carlton aufmarschiert, in dem Wiedekingübernachtet. „Die haben mich um sechsUhr geweckt“, sagt Wiedeking. Später pro-testieren mehr als 30000 Mitarbeiter desKonzerns vor dem VW-Hochhaus: Offiziellgegen die drohende Abschaffung des VW-Gesetzes, tatsächlich ist es eine Kampf -ansage an Porsche.

Wiedeking sitzt mit den übrigen Auf-sichtsräten im dritten Stock der VW-Zen-trale. Wolfgang Porsche fragt, warum VW-Chef Martin Winterkorn die Demonstra -tion nicht verhindert habe. Wulff sagt:„Nun lassen Sie mal, Herr Porsche, wennHerr Winterkorn versucht hätte, dies zuverhindern, wären nicht 30000 gekommen,sondern 70000.“

Die Arbeitnehmervertreter tragen vor,dass sie einen Ausschuss gründen wollen,der alle Gemeinschaftsprojekte von Por-sche mit Audi oder Volkswagen genehmi-gen muss. Damit wollen sie verhindern,dass solche Geschäfte nur zum Vorteil vonPorsche geschlossen werden.

Wiedeking ist sich sicher, dass die Por-sche-Vertreter im VW-Aufsichtsrat denVorstoß der Betriebsräte abwehren. DieArbeitnehmervertreter haben zehn Stim-men, die Kapitalvertreter ebenfalls. DerAufsichtsratsvorsitzende Piëch hat bei ei-nem Patt doppeltes Stimmrecht. DochPiëch ist nicht erschienen. Er hat sichkrankgemeldet und dem IG-Metaller Jür-gen Peters eine Vollmacht mitgegeben. Beider Abstimmung enthält sich Piëch derStimme. Sie endet mit 10:9 für die Arbeit-nehmer. Ihr Antrag kommt durch.

Damit ist die Übernahme des VW-Kon-zerns eigentlich schon gescheitert. Wiede-king hat alle maßgeblichen Kräfte gegen

sich aufgebracht, das Land Niedersachsen,das Volkswagen-Management, die Be-triebsräte und Ferdinand Piëch. DieSchlussfolgerung, die Wiedeking und Här-ter daraus ziehen, lautet nicht: Wir müssenanders mit den VW-Kollegen umgehen.Sondern: Wie können wir den Widerstandbrechen? Die Sprache wird kriegerisch.Wiedeking sagt: „Ich gehe mit einemSprenggürtel in die Sitzungen.“

Er lässt weiter VW-Aktien kaufen, umseinen Einfluss auf diesem Weg geltend zumachen. Am 3. März 2008 beschließt derPorsche-Vorstand, die Beteiligung an VWauf mehr als 50 Prozent zu erhöhen. Am23. Juli ermächtigt der Aufsichtsrat das Ma-nagement, die Beteiligung auf 75 Prozentzu erhöhen. Härter sagt den Mitgliedernder Familien Porsche und Piëch, die Finan-zierung sei kein Problem. Ein Irrtum.

Anfang September 2008 beginnt Holger Härter mit der Suche nach18 Milliarden Euro. 10 Milliarden,

um einen Kredit zu erneuern, der im kom-menden Jahr ausläuft, und 8 Milliarden,um die Anteile am VW-Konzern zu erhö-hen. Vor zwei Jahren, als er einen 30-Mil-liarden-Euro-Kredit auftreiben musste,drängelten sich die Banken.

Doch jetzt ist die Welt eine andere. Am15. September meldet die US-Investment-bank Lehman Brothers Insolvenz an, dieFinanzkrise eskaliert.

Härter erscheint in Zuffenhausen wei-terhin mit einem Fünftagebart und einemschmalen Lächeln, von dem Kollegen nichtwissen, wodurch es motiviert ist. Der Fi-nanzvorstand ist vielen Porsche-Managernein wenig unheimlich. Er ist oft der Letzte,der die Bar verlässt, wenn Porsche-ChefWiedeking und andere dort zusammen -stehen. Er ist Volkswirt, interessiert sichaber auch für Musiker und Schriftsteller.Er mag Beethoven, Mozart und Kafka.

Meist spricht er wenig und eher leise, unddann über Dinge, die in der Sportwagen-firma kaum jemand versteht.

So ist das auch bei der Übernahme vonVolkswagen. Im Prinzip ist sie eine Wettezwischen Porsche und den Banken auf dieEntwicklung des Aktienkurses von VW.Porsche kauft bei den Banken sogenanntecash-gesettelte Call-Optionen. Dabei istein fester Basispreis für die VW-Aktie ver-einbart. Härter kann genau kalkulieren,wie viel ein weiterer Kauf von VW-Aktienkostet, nämlich den Basispreis. Steigt dieAktie über diesen Preis, müssen die Ban-ken Porsche die Differenz auszahlen. Por-sche ist damit gegen steigende VW-Kurseabgesichert, die eine Übernahme des Kon-zerns erschwert hätten. Die Bank wieder-um kauft selbst VW-Aktien und profitiertdamit vom steigenden Kurs.

Gleichzeitig verkauft Porsche cash-ge-settelte Put-Optionen an die Banken. Auchbei ihnen gibt es einen Basispreis für dieVW-Aktie. Wird dieser Preis unterschrit-ten, muss Porsche den Banken die Diffe-renz bezahlen. Die Banken sichern sich sogegen fallende VW-Kurse ab. Doch warumsollte der VW-Kurs fallen? Wenn Porscheseinen Anteil am Wolfsburger Konzern er-höht, muss die VW-Aktie der Logik derBörse zufolge steigen.

Diese Optionsstruktur ist ein perfektesFinanzinstrument, um sich die Mehrheitan einem Konzern zu überschaubaren Kos-ten zu sichern. Ein nahezu perfektes. Da-mit es funktioniert, müssen zwei Bedin-gungen erfüllt sein: Erstens muss Porschevon den Banken weitere Kredite zum Kaufder Aktien bekommen, und zweitens darfder Kurs der VW-Aktien nicht stark fallen,denn dann muss Porsche Ausgleichszah-lungen an die Banken leisten.

Genau das passiert. Nach der Lehmann-Pleite brechen weltweit die Kurse ein. Vom17. bis 24. Oktober rauscht die VW-Aktievon mehr als 400 auf 211 Euro herunter.

Die Maple Bank in Frankfurt, mit derPorsche seine Optionsgeschäfte abwickelt,fordert zusätzliche Sicherheiten. In der Fi-nanzabteilung von Porsche gehen E-Mailsein, die niemand gern von seiner Bank er-halten würde, teilweise im Stundentakt.Am 21. Oktober, um 12.02 Uhr, schreibt einManager der Maple Bank, aufgrund desgefallenen VW-Kurses bestünden „zusätz-liche Nachschusspflichten“ in Höhe von630 Millionen Euro. „Ich bitte Sie daherum einen entsprechenden Kontoausgleich.“

Zwei Stunden später, um 14.10 Uhr, emp-fangen Härters Mitarbeiter die nächste E-Mail der Maple Bank, eine „aktualisierteLiquiditätsberechnung“. Der Kurs ist umweitere zehn Euro gefallen. Die Nach-schusspflicht erhöhe sich damit auf 803Millionen. Porsche überweist das Geld.

Der Kurs fällt weiter. Am 24. Oktoberum 10.07 Uhr bittet die Maple Bank „auf-

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Ministerpräsident Wulff, VW-Chef Winterkorn 2009

Der Widerstand wächst

grund weiterer Kursverluste“ um eineÜberweisung in Höhe von 532 MillionenEuro. 13 Minuten später folgt die nächsteE-Mail. Das erwartete Minus ist auf gut611 Millionen Euro geklettert. Um 12.07Uhr sind es 798 Millionen Euro.

Doch je mehr Geld Porsche in das Lochstopft, umso größer wird es. Um 15.40 Uhrschicken die Maple-Banker ein „updatedes soeben geschickten updates mit grö-ßerem negativem Saldo“. Es fehlen weitere116 Millionen Euro.

Die Forderungen bringen Porsche ineine gefährliche Lage. Die Liquidität ent-weicht wie die Luft aus einem aufgeschlitz-ten Reifen. Am 13. Oktober hat die Firmanoch rund 4,2 Milliarden Euro verfügbareMittel. Am 23. Oktober ist es knapp eineMilliarde, und am 26. Oktober sind es nurnoch 326 Millionen Euro.

Härter muss eingreifen. Aber wie? Aufdie Finanzkrise hat er keinen Einfluss.Wohl aber auf den Aktienkurs von VW.

Am Samstag, dem 25. Oktober, telefo-niert Härter mit Vertrauten. Er bittet meh-rere Porsche-Manager, am Sonntag insBüro zu kommen. Einer sagt später alsZeuge aus, Härter habe ihm erklärt, manmüsse etwas wegen der Entwicklung derVW-Aktie unternehmen.

Wiedeking hält sich in seinem Ferien-haus in Österreich auf. Am Sonntag, dem26. Oktober, ist er telefonisch zugeschaltet,als Härter und andere in Stuttgart eine Er-klärung vorbereiten, die alle bisherigenÄußerungen zur VW-Beteiligung korri-giert. Bislang hat Porsche stets dementiert,seinen VW-Anteil auf 75 Prozent erhöhenzu wollen. Am Nachmittag gibt Porschebekannt: „Zielsetzung ist es, sofern diewirtschaftlichen Rahmenbedingungen stim-men, im Jahr 2009 auf 75 Prozent aufzu-stocken.“ 42,6 Prozent der Stammaktienseien bereits im Besitz des Unternehmens.Weitere 31,5 Prozent habe man sich überOptionen gesichert. Das ergibt zusammenrund 74 Prozent.

Für viele Anleger ist das ein Schock. Siewussten nicht, wie groß der von Porschekontrollierte Anteil an Volkswagen bereitsist. Der Kurs der VW-Aktie schien ihnenüberhöht. Sie haben auf fallende Kurse gesetzt und sich verpflichtet, zu einem be-stimmten Zeitpunkt VW-Aktien zu einemfestgelegten Preis zu liefern. Kurz zuvorwollten sie die Aktien billig erwerben undso einen Gewinn realisieren.

Durch die Erklärung von Porsche wirdklar, dass auf dem freien Markt so gut wie

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Für Porsche ist es ein Be frei -ungsschlag, für andere ein Drama. Ein Unternehmernimmt sich das Leben.

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Autostadt, VW-Werk in Wolfsburg: „Es darf keine heiligen Kühe geben“

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DIE NAVITIMER 46 mm

Wirtschaft

keine VW-Aktien mehr verfügbar sind.Rund 74 Prozent hat sich Porsche gesichert,Niedersachsen hält 20 Prozent. Auf denRest setzt ein Run ein. Anleger, die auffallende Kurse gewettet haben, müssensich eindecken, um ihren Lieferverpflich-tungen nachzukommen. 

An den folgenden Tagen schießt derKurs in die Höhe, von 200 Euro auf mehrals 1000 Euro. Für Porsche ist es ein Be-freiungsschlag. Es sind keine Zahlungenan die Maple Bank mehr nötig. Für andereist es ein Drama, vor allem für AdolfMerckle, den Unternehmer, der an Ratio-pharm und Kässbohrer beteiligt ist.

Der Mann, der als einer der Vorzeige-unternehmer des Landes gilt, hat ebenfallsauf fallende VW-Kurse gesetzt und verliertmehr als 200 Millionen Euro. Am 5. Januar2009 nimmt er sich das Leben.

Härter ist weiter auf der Suche nach fri-schem Geld für die Übernahme. Er trifftsich mit Vertretern von Merrill Lynch, derRoyal Bank of Scotland  und Barclays. DieBanken haben aber genug damit zu tun,

die Finanzkrise zu meistern. Einer schreibtper E-Mail: Die Refinanzierung des bereitsvon Porsche in Anspruch genommenenZehn-Milliarden-Euro-Kredits, der EndeMärz 2009 ausläuft, sollte „top Priorität“haben. Härter sollte seine Pläne anpassenund auf ein beherrschbares Niveau herun-terfahren.

Das ist nicht so leicht. Härter hat eineOptionsstruktur aufgebaut, mit der Por-sche Zugriff auf weitere 31,5 Prozent derVW-Aktien hat. Die Banken haben sichdurch den Kauf von VW-Aktien abgesi-chert. Wenn Härter die Optionen auflöst,würden die Banken ihre Aktien verkaufen.Der Kurs würde abstürzen. Porsche müsstedie bereits gehaltenen Aktien (46,2 Pro-zent) abwerten. Das würde Milliardenlö-cher in die Bilanz reißen. Porsche mussalso weiter Aktien kaufen, immer weiter. 

Wiedeking ist seit dem 26. Oktober miss-trauisch. Es gibt jetzt oft Streit mit Härter.Er glaubt nicht mehr, dass es keinerlei Ri-siken für Porsche gibt, wie Härter immergesagt hat. Als zwei Banken im Januar2009 fünf Prozent VW-Aktien verkaufenwollen, will Härter die Papiere erwerben.Wiedeking ist in der Vorstandssitzung te-lefonisch zugeschaltet. Seine erste Frage:„Warum müssen wir das machen?“

Porsche muss kaufen. Härter ist Gefan-gener seines eigenen Plans. Das Options-modell hat das Kommando über seinenSchöpfer übernommen.

Am 19. März, einem Donnerstag,schickt Härter eine E-Mail an diefranzösische Bank BNP Paribas,

die für ihn persönlich noch schwerwiegen-de Folgen haben wird. Die BNP Paribassoll zum neuen Kredit 500 Millionen Eurobeisteuern. Bis zum 24. März muss Porschezehn Milliarden Euro zurückzahlen. DerKredit mehrerer Banken läuft aus. Härterhat das Geld nicht und muss Banken finden,die einen neuen Kredit gewähren, um denalten abzulösen. Sonst droht die Insolvenz.

Die Pariser Bank lässt sich von Porschemehrere Informationen zum Stand derÜbernahme bestätigen. Härter verschweigtin der E-Mail, dass Porsche 45 MillionenVerkaufsoptionen besitzt, die nicht durcheine Gegenposition gedeckt sind und einpotenzielles Risiko darstellen.

Die BNP Paribas will den Kredit gewäh-ren. Doch bis zur notwendigen Summevon zehn Milliarden Euro fehlt noch viel.Am Samstag, dem 21. März 2009, infor-miert Härter seinen Chef Wiedeking, dasses Probleme gebe, den Zehn-Milliarden-Euro-Kredit zu beschaffen.

Wiedeking ist fassungslos. Es gab Warn-zeichen. Der Vorstandsvorsitzende derBayerischen Hypothekenbank hatte ihmversprochen, sein Institut könnte mit einerMilliarde Euro dabei sein, doch eine Wo-che später einen Rückzieher gemacht. VonHärter aber kamen bis zu diesem Tag dieSignale, Porsche werde die Kredite zusam-menbekommen.

Sonntag, 22. März 2009. Um 17.00 Uhrbeginnt in Hannover in der Staatskanzleieine Krisensitzung. Wulff, VW-Chef Win-terkorn, Wolfgang Porsche und FerdinandPiëch sind da. Wiedeking und Härter kom-men als Bittsteller. Die Banken zögern,den bis 24. März laufenden Zehn-Milliar-den-Euro-Kredit zu verlängern. Es gibteine Lücke von sieben bis acht Milliarden.Die beiden Porsche-Manager sprechen dasWort „Insolvenz“ nicht aus. Beteiligte desTreffens verstehen die Botschaft aber so,dass Porsche der Konkurs drohe, wennnicht neue Kredite aufgetrieben werden.

Es ist der Offenbarungseid. Porschemuss den Volkswagen-Konzern, den manübernehmen wollte, um Hilfe bitten. Wolf-gang Porsche verfolgt die Diskussion langeZeit sprachlos. Dann sagt er: „Man hat mirvor einer Woche noch gesagt, zehn Mil -liarden seien kein Problem.“ Er fühlt sichhintergangen.

In der Staatskanzlei werden verschiede-ne Modelle zur Rettung von Porsche dis-kutiert. VW ist bereit, einen 700-Millio-nen-Euro-Kredit zu gewähren. Wulff in for -miert Kanzlerin Angela Merkel. Beide wol-len ihre Kontakte zu Banken nutzen, umPorsche bei der Geldsuche zu unterstützen.Um 22 Uhr geht die Runde auseinander.

In Stuttgart trainiert Uwe Hück gerade.Der Betriebsratsboss von Porsche war zwei-

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frontal21Investigativer Journalismus mit Ilka Brecht dienstags | 21:00 Uhr

Sie fördert vieles zu Tage.

Härter ist ein Gefangener.Das Optionsmodell hat das Kommando über seinenSchöpfer übernommen.

mal Europameister im Thaiboxen und hältsich weiter fit. Er sitzt zu Hause im Spagat,als das Telefon klingelt. VW-Kollege Oster-loh ruft an und sagt: „Wir werden euch700 Millionen leihen, damit ihr eure Löhnenoch zahlen könnt.“

Hück wusste, dass es Probleme mit demKredit gibt, aber nicht, dass es so düsteraussieht. Er ruft Wiedeking an, ruft Här -ter an. Er fragt: „Was habt ihr da ge-macht?“

Montag, 23. März: Wiedeking und Här-ter sind an diesem Tag in einem weißenPorsche Panamera in Frankfurt unterwegs,von Bank zu Bank. Sie wollen Geldmana-ger im persönlichen Gespräch davon über-zeugen, Porsche doch noch Kredite zu ge-währen. Zwischendurch ruft VW-Finanz-vorstand Hans Dieter Pötsch an und willwissen, wie es aussieht.

Pötsch sitzt mit VW-Chef Winterkornund Mitgliedern des VW-Aufsichtsrats inder Staatskanzlei in Hannover zusammen.Ferdinand Piëch sagt: „An einer Insolvenzvon Porsche kann keiner der Beteiligtenein Interesse haben.“ Dies gilt auch fürden VW-Konzern. Porsche hält 50,8 Pro-zent der VW-Stammaktien. Diese Anteilewürden im Konkursfall an den Meistbie-tenden verkauft, vielleicht an einen chine-sischen Autokonzern, vielleicht an einenFinanzinvestor. Die VW-Führung, die Ar-beitnehmervertreter und das Land Nieder-sachsen wollen dies verhindern.

Die Grundzüge einer Rettung zeichnensich ab: Die Familien Porsche und Piëchverkaufen die Sportwagenfirma und dieAutohandelsgesellschaft in Salzburg anden VW-Konzern. Mit den erwarteten Ein-

nahmen können sie dann die Kredite derPorsche Automobil Holding tilgen. DieseDachgesellschaft wäre damit gesund. Siehält die jüngst erworbenen Anteile amVW-Konzern. Dadurch wären die Familiendort weiter größter Aktionär.

Osterloh und Wulff machen aber klar:Eine solche Hilfe von VW kann es nur ge-ben, wenn Porsche im Gegenzug daraufverzichtet, VW zu führen. Wenn es dieSonderrechte, die das VW-Gesetz demLand Niedersachsen und den Arbeitneh-mervertretern gewährt, nicht mehr be-kämpft, sondern anerkennt.

Dienstag, 24.März 2009: Heute läuft derZehn-Milliarden-Euro-Kredit aus. Bis da-hin braucht Porsche frisches Geld.

Wieder tagt der Aufsichtsrat, diesmal inPorsches Entwicklungszentrum Weissach.Die Stimmung ist angespannt. Bis um 24Uhr muss ein Vertrag unterzeichnet sein.

Wiedeking vertritt den Vorstand. Härterverhandelt in Frankfurt mit Vertretern meh-rerer Banken, unter anderem von Barclays,der Deutschen Bank und der Commerz-bank. Sie sitzen in einem Besprechungs-raum im Hotel Frankfurter Hof zusammen.Zwischendurch ruft Härter seinen Chef anund gibt ihm den Zwischenstand durch.

Um 12.15 Uhr lautet die Botschaft: Eswird eng. Um 14.45 Uhr: Wir kriegen die

Kredite. Um 15 Uhr kündigt eine Bank an,keinen neuen Kredit gewähren zu wollen.

In Weissach werden die Fragen an Wie-deking drängender. Die Kontrolleure wol-len Details zu den Optionsgeschäften wis-sen. Irgendwann sagt er: „Ich kann dasauch nicht erklären, ich bin kein Kauf-mann, ich bin bloß ein blöder Ingenieur.“

„Das war sein Todesurteil“, sagt ein Auf-sichtsrat.

Gegen 19 Uhr meldet Härter: Es siehtgut aus. Die Commerzbank erhöht ihrenKredit von 365 Millionen auf eine MilliardeEuro, die BayernLB von 325 auf 500 Mil-lionen. Ein Telefonat von Merkel mit Deut-sche-Bank-Chef Josef Ackermann zeigtWirkung. Der Ärger in der Bank über Wie-deking, der oft über „Zockerbanken“ und„Kasinokapitalisten“ gelästert hat, ist zwargroß. Aber nun steuert die Bank 500 Mil-lionen zur Rettung bei. Der Pressechef derDeutschen Bank, Stefan Baron, ruft seinenKollegen Anton Hunger bei Porsche an:„Jetzt hört die Lästerei deines Chefs überdie Banken aber auf.“

Noch fehlt die entscheidende Zusage.Die Landesbank Baden-Württemberg sollein Darlehen von zwei Milliarden Euro ge-währen. Es ist nach 22 Uhr, als WiedekingBank-Chef Siegfried Jaschinski zu Hauseanruft. Er bietet an, mit seinem Privatver-mögen zu haften. Er schickt ihm ein ent-sprechendes Fax. Jaschinski ist überrascht.So etwas hat ihm noch kein angestellterManager versprochen. Aber er lehnt ab.

Mit Wiedekings Privatvermögen ist dasProblem nicht zu lösen. Die LBBW mussdie Obergrenze für Kredite an Großunter-nehmen einhalten. Sie kann Porsche denneuen Zwei-Milliarden-Euro-Kredit nur be-willigen, wenn sie zugleich eine andereKreditlinie für die Sportwagenfirma kürzt.Jaschinski fällt eine Lösung ein: Die LBBWstreicht den sogenannten Betriebsmittel-kredit über 1,75 Milliarden Euro, auf denPorsche jederzeit zugreifen kann, um daslaufende Geschäft zu finanzieren. Der Ban-ker verspricht, er werde einen Prokuristenin die Bank schicken, der den Kreditvertragunterzeichnen und per Fax an Porsche schi-cken soll. Doch die Zeit wird knapp. Maneinigt sich darauf, die Uhren anzuhalten.

Dieses Verfahren ist bei Kreditverhand-lungen möglich. Wenn beide Parteien sicheinig sind, es aber noch technische Verzö-gerungen gibt, können sie für ein paarStunden so tun, als bliebe die Zeit stehen.Irgendwann in der Nacht zum 25. Märzgeht das Fax der LBBW bei Porsche ein.Als Datum steht auf dem Kreditvertragder 24. März 2009.

Die Rettung mit angehaltener Uhr ver-schafft Porsche etwas Luft. Mehr nicht. Por-sche braucht weitere Kredite. Wiedekingsagt: Die „kritische Situation“ halte an.Gelöst wird sie erst mit einem großen Deal,dessen Grundzüge in Hannover skizziert

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Manager Porsche, Piëch 2009: „An einer Insolvenz kann keiner Interesse haben“

Bis 24 Uhr müssen die Kreditzusagen vorliegen, dieZeit wird knapp, man einigtsich, die Uhren anzuhalten.

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Wirtschaft

worden waren: Der VW-Konzern kauft dieSportwagenfirma Porsche und das Han-delshaus in Salzburg. In Wolfsburg wirddies gefeiert, weil VW nun Porsche über-nimmt. Das ist die eine Wahrheit.

Die andere: Die Familien Porsche undPiëch können mit den zwölf Milliarden,die sie für ihre Firmen erhalten, die Dach-gesellschaft, die Porsche Automobil Hol-ding, mit frischem Kapital versorgen. Die-se ist nun gesund. Und die Familien besit-zen über sie mehr als 50 Prozent an VW.Sie haben ihr Ziel erreicht. Sie haben denWeltkonzern übernommen.

Die Familien sind sich einig, dass Wie-deking und Härter gehen müssen. Am 22. Juli beginnt in Weissach eine Aufsichts-ratssitzung der Porsche Automobil Hol-ding, deren Tagesordnung unter Punktsechs vorsieht: „Personelle Angelegenhei-ten des Vorstands“.

Vor Beginn der Sitzung legt der Vorsit-zende des Aufsichtsrats, Wolfgang Porsche,Wiedeking ein Abfindungsangebot vor. Ersoll 140 Millionen bekommen, wenn derAufsichtsrat später zustimmt. Doch IG-Me-tall-Chef Berthold Huber, Sprecher der Ar-beitnehmervertreter, sagt: „Gar nichts gibtes.“ Wolfgang Porsche überbringt Wiede-king diese Botschaft. Der sagt: „Damithabe ich kein Problem. Ich will ja auch garnicht gehen.“

Nun diskutieren die Aufsichtsräte, obman Wiedeking und Härter aus wichtigemGrund ohne Abfindung entlassen kann.Die Sitzung wird mehrfach unterbrochen.Gegen fünf Uhr morgens ist man sich einig.

Wiedeking erhält 50 Millionen, von denener die Hälfte in eine Stiftung einbringt,Härter 12,5 Millionen.

Nach ein paar Stunden Schlaf stehenWiedeking, Härter, Wolfgang Porsche undBetriebsrat Hück mittags auf einer Bühnevor mehreren Tausend Porsche-Mitarbei-tern. Hück sagt: „Wir sind dankbar, dassihr unsere Chefs wart.“ Als Wiedeking dasMikrofon nimmt, klatschen die Mitarbeiter,

klatschen und klatschen. Er ist ihr Held,noch immer. Er hat Porsche vor der Pleitegerettet. „Ihr macht es mir verdammtschwer“, sagt Wiedeking. Er kämpft gegenTränen an. „Es tut mir in der Seele weh.“

Am nächsten Tag treffen sich WolfgangPorsche und Wiedeking. Porsche sagt: „Du,ich geh am nächsten Wochenende nachUngarn zur Jagd, gehst du mit?“

Wiedeking: „Sag mal, hast du sie nochalle? Erst schmeißt ihr mich raus, und jetztsoll ich mit zur Jagd.“

Porsche: „Ich dachte, wir bleiben Freun-de.“

Das Büro von Hans Richter ist voll-gestellt mit Regalen, Schränkenund einem Schreibtisch, der mehr-

fach durch Anbauten verlängert wordenist. Auf ihm stapeln sich Papiere, Mappen,Bücher. Am 3. August 2009 geht hier dieStrafanzeige der Bundesanstalt für Finanz-dienstleistungsaufsicht (BaFin) gegen Här-ter und Wiedeking ein.

Richter ist zu dieser Zeit 62 Jahre alt.Der Sohn eines Arbeiters hat sich hochge-arbeitet, über den zweiten Bildungswegbis zum Oberstaatsanwalt. Er sagt: „Ichwar ein 68er und bin es bis heute.“ DieRolle des Underdogs pflegt er mit Hingabe.In der Behörde läuft Richter oft in karierterHose herum, der Zipfel eines Taschentuchshängt heraus. 

Vier Tage nach Eingang der Anzeige er-öffnet Richter ein Ermittlungsverfahren(Aktenzeichen AZ 159 JS 69207/09) gegendie beiden Manager. Er lässt durchsuchen,bei Porsche und in den Privathäusern vonWiedeking und Härter. Für Richter ist esein Kampf um eines der höchsten Güter:die Gleichheit vor dem Gesetz.

Am 6. März 2012 erhebt Richter Ankla-ge gegen Härter und zwei weitere Porsche-Manager wegen Kreditbetrugs. In den vie-len Tausend Seiten beschlagnahmter Un-terlagen war ihm die E-Mail an die BNPParibas aufgefallen, in der der Finanzvor-stand ein potenzielles Risiko verschwieg:45 Millionen Verkaufsoptionen.

Am 5. September 2012 trägt Richter vordem Landgericht Stuttgart die Anklage vor.Es hängt kein Taschentuch aus der Hose.Seine Argumentation ist schlüssig. Härterhabe der BNP Paribas gegenüber die Op-tionen verschwiegen, weil Porsche unbe-dingt den Kredit benötigte. „Es geht hierum das Vertrauen im Kreditgeschäft undum die Frage, ob wir zulassen, dass manhier schriftlich lügen darf.“ Am 4. Juni2013 wird Holger Härter wegen Kreditbe-trugs zu einer Geldstrafe von 630000 Euroverurteilt.

In der Hauptsache kommt Richter langenicht voran. Eigentlich müsste er mit 65Jahren in Pension gehen. Mit einer Son-dergenehmigung kann der Staatsanwaltnoch zwei Jahre länger arbeiten. Und dannhat er endlich den einen Punkt gefunden,an dem Wiedeking und Härter seiner Über-zeugung nach gegen ein Gesetz verstoßenhaben.

Schon Anfang 2008, schreibt die Staats-anwaltschaft in der Anklage, hätten diebeiden Porsche-Manager geplant, 75 Pro-zent der VW-Stammaktien zu überneh-men, dies aber bis zum 26. Oktober 2008in mehreren Erklärungen abgestritten.Dies erfülle den Tatbestand der informa -tionsgestützten Marktmanipulation. ZuDeutsch: Porsche habe mit falschen Infor-mationen Kapitalanleger getäuscht.

Beide sagen, dies treffe nicht zu. AuchPorsche streitet den Vorwurf ab. Strafrecht-lich ist er ohnehin nicht spektakulär. Imschlimmsten Fall drohen Wiedeking undHärter hohe Bußgelder. Aber es geht ummehr: Sollte das Gericht die beiden verur-teilen, wäre das möglicherweise der Durch-bruch für die Schadensersatzklagen vielerAnleger. Sie fordern über fünf MilliardenEuro von Porsche.

Wenn der Prozess am 22. Oktober be-ginnt, geht Richter wenige Tage später inPension. Er sagt: „So ist das Schicksal.“

Härter und Wiedeking sind mehr oderweniger schon im Ruhestand. Beide habenkeine großen Jobs mehr bekommen. Beideleben im schwäbischen Bietigheim, Wie-deking hat sein Geld unter anderem in ei-ner Schuhfabrik und einer Restaurantketteangelegt, Härter in einem Seniorenheimund Wäldern in Kanada. Beide gehen aufdie Jagd.

Härter sagt: „Es stinkt mir gewaltig,überall als Spekulant beschimpft zu wer-den, der das Unternehmen aufs Spiel ge-setzt hat.“

Wiedeking macht die Affäre auch ge-sundheitlich zu schaffen. Er hatte einen Tin -nitus und muss jetzt ein Hörgerät tragen.Ihn wurmt, dass die Ermittlungen gegenPorsche und Piëch eingestellt wurden, ob-wohl er alles mit ihnen abgestimmt habe.

Mit Härter hat er sich versöhnt. Manch-mal gehen sie zusammen bowlen.

Frank Dohmen, Dietmar Hawranek

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Oberstaatsanwalt Richter im September

„Ich war ein 68er und bin es bis heute“

„Es geht um das Vertrauenim Kreditgeschäft undum die Frage, ob man hierschriftlich lügen darf.“

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Klaus Müller ist wahrscheinlich keinName, der Facebook-Chef MarkZuckerberg bisher geläufig war. Zu

normal, zu unauffällig – und sehr deutsch. Das aber dürfte sich bald ändern, denn

ebenjener Klaus Müller hat dafür gesorgt,dass Zuckerberg und seine Kollegen dem-nächst Post bekommen.

Müller ist Chef des VerbraucherzentraleBundesverbandes (VZBV), und der hat An-fang August beim Berliner LandgerichtKlage gegen das soziale Netzwerk einge-reicht. Denn Facebook verstößt nach Mei-nung des VZBV unter anderem mit seinenVoreinstellungen und Werbeversprechengegen deutsche und europäische Daten-schutz- und Verbraucherschutzgesetze.

Konkret geht es den Verbraucherschüt-zern um drei Punkte: So hält der VZBVdie Eigenwerbung von Facebook, derDienst sei kostenlos, für irreführend. DasNetzwerk verdiene Geld, indem es sämt -liche Daten der Nutzer auswerte und inForm von personalisierten Werbeplätzenan Unternehmen verkaufe. Den Wert ihrerDaten müsse man den Nutzern deutlichmachen.

Tatsächlich steigerte Facebook seineWerbeumsätze von 2010 bis 2014 von 1,9Milliarden auf über 11 Milliarden Dollar.„Daten sind ein Rohstoff, mit dem Unter-nehmen wie Facebook Milliarden verdie-nen“, sagt Müller. „Es fließen zwar nichtunmittelbar Euro oder Dollar – Daten sinddie neue Währung.“

Dass das Netzwerk überhaupt so einfachin großem Umfang auf die Daten zugreifenkann, liegt an den Voreinstellungen, diedem Nutzer vorgegeben werden. Diese sei-en, gerade was Privatsphäre, Markierun-gen und Werbeanzeigen angehe, nicht da-tenschutzfreundlich, kritisieren die Ver-braucherschützer. So ist das Auffindendurch externe Suchmaschinen voreinge-stellt, genauso wie die Zustimmung, dassetwa das „Liken“ in Verbindung mit demNamen des Verbrauchers für Werbung ge-nutzt werden darf. Wer das nicht möchte,muss die Voreinstellungen deaktivieren.

„Der Klick, um Nutzungsbedingungenzu akzeptieren, ist schnell gemacht. Diemeisten Verbraucher achten gar nicht da-rauf, was sie alles erlauben“, sagt Müller.

Um die Nutzungsbedingungen im wei-teren Sinne dreht sich auch der dritte Kri-tikpunkt: Facebook hatte zum 30. Januarseine Datenrichtlinie und die Nutzungs -bedingungen geändert. Nach Ansicht desVZBV sind 19 Klauseln rechtswidrig – dieKlarnamenpflicht oder die Klausel zur Da-tenweitergabe in die USA. „Bei Facebookmüssen sogar Nichtnutzer damit rechnen,dass ihre Daten beim Besuch der Face-book-Seite gespeichert und in die USAweitergegeben werden“, kritisiert Müller.

Die deutschen Verbraucherschützer hat-ten Facebook bereits im Februar, unmit-telbar nach der Änderung der Datenricht-linie, abgemahnt und mit Klage gedroht.Die Reaktion von Facebook, so heißt esin Berlin, sei allerdings bestenfalls mit„freundlicher Ignoranz“ zu umschreiben.Man sei überrascht, dass sich der VZBVauf bestehende Richtlinien und Funktio-nen fokussiere, die seit zehn Jahren vonFacebook und anderen Onlinediensten ver-wendet würden, erklärte Facebook damals.An dieser Einschätzung habe sich nichtsgeändert, sagt Sprecherin Tina Kulow.

Es ist nicht das erste Mal, dass der VZBVsich mit dem Internetkonzern anlegt. Be-reits 2014 bestätigte das KammergerichtBerlin, dass sich Facebook an deutsche Da-tenschutzgesetze halten muss. Damals ginges um den sogenannten Freundefinder und

den Import von Adressdaten. Und 2013klagten die Verbraucherschützer gegen dieWeitergabe der Nutzerdaten an andereApp-Anbieter. Gegen beide Urteile hat Facebook Revision beziehungsweise Beru-fung eingelegt.

Dieses Mal allerdings kommt die Klagezu einem denkbar schlechten Zeitpunkt.Erst Anfang Oktober kippte der Europäi-sche Gerichtshof das sogenannte Safe-Har-bor-Abkommen, das es amerikanischenKonzernen bislang erlaubt hat, die Dateneuropäischer Nutzer in die USA zu über-mitteln (SPIEGEL 42/2015). Geklagt hatteder Österreicher Max Schrems, der es nichthinnehmen wollte, dass Facebook seinepersönlichen Daten auf Servern in denUSA lagert, weil sie dort nur ungenügendvor dem Zugriff amerikanischer Geheim-dienste geschützt seien.

Beim VZBV sieht man sich durch diesesUrteil bestätigt. Auch US-amerikanischeGroßkonzerne dürften Gesetze zum Da-ten- und Verbraucherschutz in Deutsch-land und Europa nicht einfach ignorieren.„Wenn Gesetze zum Schutz persönlicherDaten existieren, aber von den Internet -giganten ständig missachtet werden, sindsie wirkungslos“, sagt VerbraucherschützerMüller. „Mit unserer Klage gegen Face -book wollen wir bestehende Rechte vonVerbrauchern durchsetzen.“

Allerdings ist es mühsam, sich mit in-ternational agierenden Konzernen anzu-legen, das zeigt die Klage der Verbrau-cherschützer auch. Denn die zuständigeEuropazentrale des Unternehmens sitzt inDublin. Also muss die Klage erst mal über-setzt und in Irland zugestellt werden. Be-schleunigen wird dies das Verfahren mitdem Aktenzeichen 16 O 431/15 wohl kaum.

Im Sinne der Nutzer ist es trotzdem.Denn laut einer aktuellen Emnid-Umfrageist denen die Problematik durchaus be-wusst. Auf die Frage, wo zu viele Datenüber Verbraucher gesammelt würden, ant-worteten 84 Prozent der Befragten eindeu-tig: „Bei sozialen Netzwerken und Kom-munikationsdiensten im Internet wie Face -book, WhatsApp usw.“ Susanne Amann

FreundlicheIgnoranzDatenschutz Die Verbraucher-zentrale hat Klage gegen Facebook eingereicht: Das soziale Netzwerk will zuviel über seine Nutzer wissen.

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Wirtschaft

82 DER SPIEGEL 43 / 2015

Kritikos, 50, ist Forschungs-

direktor am Deutschen

Institut für Wirtschafts -

forschung in Berlin. Sein

Vater ist Grieche, seine

Mutter Deutsche.

SPIEGEL: Herr Kritikos, Sie beraten die grie-chische Regierung in der Forschungspolitik;was können Sie als Ökonom hierzu bei -tragen?Kritikos: Griechenland ist gesegnet mit über-durchschnittlich gut ausgebildeten Men-schen, etwa in der Informationstechnolo-gie. Doch weil sie ihr Wissen nicht in dergriechischen Wirtschaft aktiv umsetzenkönnen, verlassen die guten Leute dasLand. 85 Prozent der Topwissenschaftlersind schon weg; viele sitzen auf gepacktenKoffern. Diesen Menschen muss ein An-reiz zum Bleiben gegeben werden, dennmit Handel, Tourismus und der Produktionvon Feta und Olivenöl wird sich Griechen-land wirtschaftlich nicht entwickeln.SPIEGEL: Macht die griechische Regierungunter Ministerpräsident Alexis Tsipras da-bei Fortschritte?Kritikos: Leider nein. Ein Beispiel: Anwen-dungsorientierte Forschung gilt in der grie-chischen Politik als Tabu. Wissenschaftler

und Wirtschaft sollen weiterhin möglichstwenig miteinander zu tun haben. Es gibtso gut wie keine Spin-off-Unternehmen anden Universitäten. Und wenn ein grie-chischer Wissenschaftler ein Patent anmel-den will, dann weiß er nicht, wem er inGriechenland trauen kann. Er tut es dannim Ausland.SPIEGEL: Tsipras hatte versprochen, Unter-nehmensgründungen zu erleichtern. Wasist daraus geworden?Kritikos: Es ist dank der Regierung seinesVorgängers inzwischen etwas leichter, einUnternehmen zu gründen – aber nicht, eszu betreiben. Die Bürokratievorschriftensind fast schon ein Folterinstrument. Ichhabe eine Jungunternehmerin bei ihrenBehördengängen begleitet. Allein die Er-öffnung eines Bankkontos war ungeheuerzeitraubend, weil sie dazu mehrere mit -einander verknüpfte staatliche Zertifikatevorweisen musste. Sie rannte tagelang vonPontius zu Pilatus. Für jeden unternehme-rischen Akt sind zehn Vorschriften zu be-achten, darunter fünf widersprüchliche. SPIEGEL: Warum tut der Staat das seinenBürgern an?Kritikos: Die jetzige Regierung steht der pri-vaten Wirtschaft skeptisch gegenüber. IhrUnternehmerbild ist sehr negativ; es ist ge-

prägt von den alten Oligarchen, die mitdem alten politischen System verknüpftwaren. Dass es auch eine junge, exportori-entierte Start-up-Szene gibt, hat diese Re-gierung noch nicht richtig wahrgenommen.Stattdessen träumen Teile der Regierungs-partei Syriza lieber von Verstaatlichungund Planwirtschaft. In der Verwaltung sit-zen außerdem viele überflüssige Mitarbei-ter, die irgendetwas tun müssen, um sichzu legitimieren. Und es gibt korrupte Be-amte, die eine Zahlung erwarten, damitsie die sich widersprechenden Verwaltungs-vorschriften sozusagen übersehen. SPIEGEL: Der Ausweg aus der griechischenMisere wäre Bürokratieabbau?Kritikos: Ja. Es geht nicht um einen neo -liberalen Abbau aller Vorschriften, sondernum eine massive Reduzierung und Kodifi-zierung sich widersprechender Vorschrif-ten und um mehr Rechtssicherheit. Aufdiese Weise würde die Willkürmacht deseinzelnen Beamten gebrochen. SPIEGEL: Griechenland gibt weniger als einProzent seines Bruttoinlandsprodukts fürForschung aus. Die EU-Kommission hielteeher drei Prozent für angemessen. Aberwie soll das gehen, wenn Griechenlandgleichzeitig seine Sparauflagen erfüllensoll?Kritikos: Kurzfristig kann Griechenland da-für vor allem EU-Strukturfondsmittel inMilliardenhöhe nutzen; es muss sie nur effizienter einsetzen als in der Vergangen-heit. Die Forschungspolitik in Griechen-land scheitert, aber nicht nur an einemMangel an Geld, sondern auch an fehlen-dem Willen. Es gibt seit langer Zeit denVorschlag, neue Forschungseinrichtungenaufzubauen, etwa ein Fraunhofer-Institut.Hier könnten Wissenschaftler und Wirt-schaftsvertreter gemeinsam an kommer-zialisierbaren Ideen arbeiten. Griechen-land würde für seine Diaspora wieder at-traktiv werden. Die Europäische Unionhält für solche Zwecke üppige Fördermittelbereit; andere Länder, etwa Polen, nutzendiese Mittel in vollen Zügen. Aber bisherwaren in Griechenland alle Bemühungenvergebens.SPIEGEL: Was hält die griechische Regierungzurück?Kritikos: Ich fürchte, griechische Politikerstören sich daran, wenn die Organisations-standards solcher Forschungsinstitute Ein-zug hielten, wenn also Forscher nicht mehrnach Parteibuch, sondern nach Qualifika-tion ausgesucht werden. Ihr politischer Ein-fluss wäre hier begrenzt. SPIEGEL: Gilt das auch für die Tsipras-Re-gierung? Sie wollte den Parteienfilz docheigentlich bekämpfen.Kritikos: Die aktuelle Regierung unterschei-det sich in diese Hinsicht leider kaum vonihren Vorgängern. Dabei hätte sie dieChance, das Land vom Filz zu befreien.

Interview: Alexander Neubacher

„Willkürmacht des Beamten“Eurokrise Der Wirtschaftswissenschaftler Alexander Kritikos wirft Griechenlands Regierung Überregulierung und Unternehmerfeindlichkeit vor.

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Aktenstapel im griechischen Finanzministerium: „Bürokratie als Folterinstrument“

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84 DER SPIEGEL 43 / 2015

Eigentlich ist Gerald Schweighofer einUmweltschützer. So sah es zumin-dest der WWF, der jahrelang mit

dem Österreicher und dessen Firma koope-riert hatte. Zusammen wollte man in denKarpaten einen der letzten Urwälder Euro -pas schützen. Hieß es.

Die Firma Holzindustrie Schweighofer,eine der größten ihrer Branche in Europa,macht rumänischen und ukrainischen Waldzu Bauholz, Pellets und Platten. Allein inRumänien betreibt sie drei riesige Säge -werke, in denen ein Großteil des dortigenNadelholzes geschält, zersägt oder ge-schreddert wird. Für 2015 erwartet dieGruppe einen Umsatz von einer MilliardeEuro, ein Fünftel mehr als im Vorjahr.

Dem WWF sind inzwischen Zweifel ge-kommen, ob dies der Umwelt nutzt. DieNaturfreunde bereiten sogar eine Klage ge-gen den einstigen Partner vor, wegen Ver-letzung der EU-HolzhandelsverordnungEUTR. Nächste Woche soll es so weit sein.Der Fall könnte zur Bewährungs probe fürdie als lasch geltende Verordnung werden.

Schweighofers Werke, so der Verdacht,profitierten vom illegalen Kahlschlag in denKarpaten. 400000 Hektar, rund sechs Pro-zent der Waldfläche des Landes, sind lautrumänischem Rechnungshof seit der Wendeohne Genehmigung abgeholzt worden. „EinGroßteil davon wird bei Schweighofer gelan-det sein“, sagt Johannes Zahnen vom WWF.

Zahnen führt in der Beschwerde nochweitere Verstöße an: So seien Stämme lan-ge elektronisch vermessen worden statt mitder vorgesehenen Handmethode – wodurchweniger Holz abgerechnet worden sei.

Schweighofer bestreitet die Vorwürfeund beteuert, „alles Menschenmögliche“zu tun, um illegale Lieferungen auszu-schließen. Umweltschützer bezweifeln die-se Bekenntnisse seit Langem. Ihre Recher-chen versickerten jedoch lange im Dickichtaus untätigen Behörden und bestechlichenForstbeamten.

Dieses Frühjahr allerdings lieferte Ale-xander von Bismarck ein entscheidendesPuzzleteil, das Schweighofer in Bedrängnisbrachte (SPIEGEL 19/2015). Bismarck leitetdie kleine Environmental InvestigationAgency in Washington, die zusammen mitdem WWF gegen Schweighofer vorgeht.Er gab sich als Lieferant aus und filmteManager von Schweighofer dabei, wie sieversichern, es sei „kein Problem“, wenner mehr Holz liefere, als Genehmigungenvorlägen. Bismarck, dessen zweijährigeStudie „Der gestohlene Urwald“ Basis derjetzigen Klage ist, hält die Firma für „denMotor des Kahlschlags“.

Schweighofer bestreitet das, die Aussa-gen damals seien aus dem Kontext gerissen.

Nach der Aktion Bismarcks wurde dasrumänische Umweltministerium aktiv. Eskontrollierte die beiden großen Sägewerkein Radauti und Sebes. Der Bericht der Ermittler liegt seit Kurzem bei der Staats-anwaltschaft. Er erhärtet nicht nur den Verdacht der illegalen Holzverarbeitung,sondern dokumentiert auch die gezielteUmgehung des Meldesystems. Allein imZeitraum von Januar 2014 bis April 2015bestehe der begründete Verdacht, dass 27Lieferanten 30 000 Kubikmeter illegalesHolz ins Werk nach Sebes gebracht hätten.

Eigentlich sollte die seit 2013 geltendeEUTR den Handel mit illegalen Holzpro-dukten verhindern. Jahrelang war um die

* In Rumänien.

Verordnung gerungen worden. Von der ur-sprünglichen Idee, so WWF-Experte Zahnen,sei „nicht mehr als ein erbärmlicher Rest“übrig, der die Branche nicht beeindrucke.

Die Schwächen der Regelung zeigtenGreenpeace und der WWF gleich mehr-fach auf. Sie präsentierten der in Deutsch-land zuständigen Bundesanstalt für Land-wirtschaft und Ernährung Fälle wie dendes illegalen Tropenholzes aus dem Kongo,das bei einer Firma in Gütersloh landete.

Die hiesigen Unternehmen konnten sichdamit retten, die Produkte nicht als Erstein den europäischen Verkehr gebracht zuhaben. Zwar obliegt ihnen eine Prüf- undSorgfaltspflicht, doch „abschreckendeSanktionen“, wie von der EUTR vorgese-hen, sind nicht zu befürchten. Die höchsteBuße aus einigen Hundert Untersuchun-gen betrug hierzulande bisher 50 Euro.

Auch Gerald Schweighofer wälzt dieVerantwortung ab. Wenn Lieferanten zu-sammen mit den Behörden Herkunftsnach-weise fälschten, könne er nichts tun, sagteer in einem ORF-Beitrag.

Wirklich nicht?Der rumänische Umweltaktivist Gabriel

Paun studiert die Praktiken des Konzernsseit Jahren. Er sagt: „Viele der 27 Firmen,die der Ermittlungsbericht nennt, sindSchweighofers Babys, für gewöhnlichmacht er sie groß und finanziert sie.“

Schweighofer teilte dazu mit, an keinerder Firmen beteiligt gewesen zu sein.

Die Österreicher nutzten offenbar nochandere Wege der Kontaktpflege: In einemArte-Beitrag berichtete ein ehemaligerFörster, wie er über Jahre 1000 Euro bekom-men habe, um illegale Rodungen durchzu-winken – pro Tag. Derartige Praktiken, soZahnen, würden Holzindustrie Schweigho-fer zu einem „Anstifter“ machen.

Schweighofer lässt dazu nur wissen, Mit-arbeiter müssten sich „zu 100 Prozent“ angesetzliche Bestimmungen halten.

Der rumänische Förster berichtete nochetwas Interessantes: Das Holz sollte auf3,10 Meter zugeschnitten werden, ein Maß,das nur Schweighofer verlangt hätte. „JeMeter Stamm ist aber nur ein ZentimeterÜberlänge erlaubt“, so Zahnen. Verträge,die dem SPIEGEL vorliegen, bestätigen,dass Schweighofer über Jahre mindestenszehn Zentimeter Überlänge pro Stammforderte. Schweighofer spricht von produk-tionstechnischer „Usance“, nur die Stan-dardlängen seien verrechnet worden.

Schweighofer hätte auf diese Weise großeÜbermengen im Bestand, die er später alsHolzbriketts oder Pellets verkaufen könnte.Abgerechnet und versteuert worden seiendie zusätzlichen Mengen nicht, erzählt eineehemalige Schweighofer-Managerin. Das seinichts anderes als „Diebstahl“. Nils Klawitter

Geschält und zersägtRohstoffe Umweltschützer bereiten eine Klage gegen dieHolzfirma Schweighofer vor. Sie sehen sie als Anstifterin illega -ler Geschäfte in den Karpaten.

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Holzverarbeitung in Schweighofer-Sägewerk*

Das Meldesystem gezielt umgangen

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86 DER SPIEGEL 43 / 2015

Schmutzige MutterDas rituelle Bad im Ganges gehört zu den Zeremonien des Navaratri-

Festes, auf dem gläubige Hindus um Wohlstand und Gesundheit bitten –

so wie dieser als Gott Shiva verkleidete Junge in Allahabad. Der Ganges

ist nicht nur der heilige Fluss Indiens, er ist auch eines der schmutzigsten

Gewässer der Welt. Mehr als 50 Städte leiten täglich über dreieinhalb

Milliarden Liter Abwasser in die „Mutter Ganga“. Mit der Kampagne

„Sauberes Indien“ will Premier Narendra Modi das Bad bald weniger

gefährlich machen.

Kommentar

In der PflichtRiad erhält deutsche Waffen, dafür muss es Verantwortung übernehmen.

Westliche Politiker fahren ungern nach Saudi-Arabien, denndie Presse daheim ist schlecht. Das Königreich missachtet dieMenschenrechte auf schockierende, oft einfach nur groteskeWeise. Zurzeit sitzt dort außer dem Blogger Raif Badawi auchein 74-jähriger Brite im Gefängnis, der ausgepeitscht werdensoll, weil er mit ein paar Flaschen Wein erwischt wurde. Es istschmerzhaft, mit Saudi-Arabien über große Politik zu verhan-deln, solange solche Dinge an der Tagesordnung sind. Doch esist an der Zeit, die Saudis an diesem Schmerz teilhaben zu las-sen. Am Wochenende reist Außenminister Frank-Walter Stein-meier nach Teheran und Riad, um über Syrien zu sprechen. Diesunnitische Führungsmacht Saudi-Arabien könnte viel dazu bei-tragen, Syrien zu befrieden. Sie könnte den Hass der Konfessio-nen dämpfen, sie könnte auf die Schiiten zugehen und Flücht-linge aufnehmen. Stattdessen verschärft Riad den Konfessiona-lismus. Vor einem Jahr wurde ein schiitischer Jugendlicher zum

Tode verurteilt, der an Protesten teilgenommen hatte. Noch istoffen, ob er erst enthauptet und dann am Kreuz zur Schau gestellt wird – oder vielleicht doch vom König begnadigt wird.Im Jemen bombardiert Saudi-Arabiens Luftwaffe, von einerkriegstrunkenen Presse angefeuert, die schiitische Huthi-Miliz,Dutzende Zivilisten kommen Woche für Woche ums Leben.Riad und Teheran müssen sich beide bewegen, um die sunni-tisch-schiitischen Bürgerkriege im Nahen Osten zu beenden.Deutschland aber ist besonders in der Pflicht, vor allem Saudi-Arabien seine strategische Verantwortung klarzumachen. DennBerlin sieht Riad als „strategischen Partner“ in der Region,Deutschland hat Waffen im Wert von Milliarden Euro dorthingeliefert, von wo sie jetzt zum Teil in den Jemen und nach Syrien weitergereicht werden. Es gäbe Mittel, das Königreichunter Druck zu setzen – zum Beispiel, keine Waffen zu schicken. Diese Drohung sollten wir einsetzen. Bernhard Zand

87DER SPIEGEL 43 / 2015

Ausland

Afghanistan

Mehr Soldaten

gegen die Taliban

Die Entscheidung von US-Präsident Barack Obama, denTruppenabzug aus Afghanis-tan auszusetzen, hat weitrei-chende Auswirkungen – auchfür Deutschland. Wie die US-Armee war die Bundeswehrdabei sich zurückzuziehen,das letzte Ausbildungscamp

in Masar-i-Scharif im Nordensollte ursprünglich im Früh-jahr 2016 geschlossen werden.Nun gehen die Deutschen da-von aus, bis mindestens Ende2016 zu bleiben, intern stelltsich die Bundeswehr sogarauf einen längeren Zeitraumein. Auch die Nato kündigtebereits eine längere Missionan. Obamas Vorhaben, stattrund 1000 nun mindestens5500 Soldaten über 2016 hi-

naus in Afghanistan zu belas-sen, ist nicht nur ein Einge-ständnis, dass die afghani-schen Sicherheitskräfte nichtin der Lage sind, das Land zukontrollieren. Es bedeutetauch, dass der US-Präsidentdas Ziel verfehlt, zum Endeseiner Amtszeit im Januar2017 bis auf ein kleines Kon-tingent sämtliche Soldatenzurückzuholen. Die neuenPläne sehen vor, vier Mili -tärstützpunkte in Kabul, Bagram, Jalalabad und Kan -dahar zu erhalten. Damit ver-bunden ist auch ein Strategie-wechsel: Ursprünglich solltendie US-Truppen nur noch fürden Schutz amerikanischerEinrichtungen sowie zur Spio-nage eingesetzt werden. Nunsind von den Stützpunktenoffensive Antiterroroperatio-nen geplant. Die am Don-nerstag verkündete Kursände-rung ist eine Reaktion aufden Vormarsch der Taliban,die wieder weite Landesteilebeherrschen und zuletzt sogarzeitweilig die Stadt Kunduzerobert hatten. mbg, hst

Argentinien

Die ewige

Präsidentin

Anfang Dezember endet offi-ziell die Amtszeit von Präsi-dentin Cristina Fernández deKirchner, 62, doch keinernimmt ihr ab, dass sie sichwirklich zur Ruhe setzt. Vonihrem Haus in El Calafate inPatagonien aus will sie offen-bar mitregieren, falls ihr Favo-rit Daniel Scioli die Präsident-schaftswahl am 25. Oktobergewinnt. Systematisch hat diePräsidentin Angehörige undVertraute in politische Schlüs-selpositionen gebracht. Überihren Sohn Máximo, der sichum ein Abgeordnetenmandatbewirbt, und ihre SchwägerinAlícia Kirchner, die als Gou-verneurin für die ProvinzSanta Cruz kandidiert, kannsie wichtige politische Entscheidungen beeinflussen.Máximo ist zudem Mitbe-gründer der peronistischenJugendorganisation La Cám-pora, einer wichtigen Macht-basis der Präsidentin. Mehre-

ren Cámpora-Mitgliedern hatFernández de Kirchner wich-tige Posten in Staatsbetriebenund in der Politik verschafft.Kirchners Kandidat Scioli, eingemäßigter Peronist, liegt inallen Umfragen vorn. Zu-nächst war er auf Distanz zuFernández de Kirchner ge -gangen, mittlerweile hat ersignalisiert, dass er ihre um-

strittene Wirtschaftspolitikfortführen will. In der End-phase des Wahlkampfs hat erdie Präsidentin bei offiziellenTerminen begleitet, um vonihrer Beliebtheit zu profitie-ren. Zwar ist sie in der Haupt-stadt Buenos Aires verhasst,aber bei den Armen und derunteren Mittelschicht genießtsie hohes Ansehen. jglFußnote

882Dissidenten sind im Sep-

tember auf Kuba verhaf-

tet worden. Laut der un-

abhängigen Kommission

für Menschenrechte und

Versöhnung ist das die

höchste Zahl seit Juni

2014. Sie könnte weiter

steigen, allein am ver-

gangenen Wochenende

wurden rund 300 Opposi-

tionelle zeitweise verhaf-

tet. Und das, obwohl US-

Präsident Barack Obama

sich bald mit Raúl Castro

über eine weitere Annä-

herung austauschen will.

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Fernández de Kirchner (M.), Sohn Máximo, Tochter Florencia 2011

US-Präsident Obama

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Der Platz leert sich. Tag für Tag,Stunde für Stunde. Sabri Baturharrt trotzdem weiter vor dem

Eingang zum Forensischen Institut in An-kara aus. Seit Tagen fragt er die Ärzte ver-gebens: Was ist aus meiner Frau gewor-den? Eine Antwort hat er bislang nicht bekommen.

Fast hundert Menschen starben, undmehrere Hundert wurden zum Teil schwerverletzt, als sich vergangenen Samstag aufeinem Friedensmarsch in der türkischenHauptstadt vermutlich zwei Selbstmord -attentäter in die Luft sprengten. Die Ge-richtsmediziner haben inzwischen einenGroßteil der Leichen identifiziert, doch

von Sabri Baturs Frau gibt es nach demAnschlag keine Spur.

Fatima Batur, 35 Jahre alt, Lokalpoliti-kerin aus Alanya im Süden der Türkei,Mutter zweier Kinder, nahm am 10. Okto-ber an der Demonstration in Ankara teil.Sie telefonierte per Handy mit ihremMann in Alanya, als um 10.04 Uhr die erste

88 DER SPIEGEL 43 / 2015

Eine Zeit des ZerfallsTürkei Nach dem Anschlag auf eine Friedensdemonstration ist das Land tief gespalten.Präsident Erdoğan schürt den Hass seiner Anhänger auf die prokurdische Partei HDP, seine Kritiker beschuldigen ihn der Komplizenschaft mit dem IS.

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Trauernde bei der Beerdigung eines Opfers am 12. Oktober in Istanbul, Protest gegen die türkische Regierung am 11. Oktober in London: Warum konnte der

von zwei Bomben detonierte. Sabri Baturhörte den Knall. Dann brach die Verbin-dung ab. Das Fernsehen zeigte Bilder vondem Attentat: Tote und Verwundete lagenauf den Straßen. Überall war Blut. Spätersollte Batur erfahren, dass die Verletztenin Ankara noch auf Krankenwagen warte-ten, als schon Polizisten herbeieilten undmit Tränengas und Schlagstöcken gegendie Terroropfer vorgingen. 

Der schwerste Anschlag in der jüngerentürkischen Geschichte versetzte das Landfür einige Tage in Schockstarre. Nun mischtsich in die Trauer um die Toten zunehmendZorn. Warum, fragen regierungskritischeTürken, konnte der Staat, dessen Geheim-dienst allmächtig erscheint, das Massakerim Zentrum der Hauptstadt nicht verhin-dern? Warum wurde die Demonstrationnur spärlich von Polizisten geschützt?

Sabri Batur suchte in sämtlichen Kran-kenhäusern Ankaras nach seiner Frau. SeitSamstagabend wartet er in einem Zelt, dasdie Stadtverwaltung für die Angehörigender Opfer vor dem Forensischen Institutaufgestellt hat. Seine Wangen sind einge-fallen, seine Augen gerötet, die Trainings-jacke ist schmutzig. Fatima, erzählt er,habe sich für die Rechte von Frauen ein-gesetzt. „Politik war Fatimas Leben.“ Voreinem Jahr sei sie zur Ortsvorsitzendender „Demokratischen Partei der Völker“(HDP) in Alanya gewählt worden.

Die HDP, ein Bündnis kurdischer undlinker Parteien, erzielte bei der Wahl imJuni gut 13 Prozent der Stimmen und ver-hinderte damit zum ersten Mal seit Lan-gem eine absolute Mehrheit der islamisch-konservativen „Partei für Gerechtigkeitund Fortschritt“ (AKP) von Präsident Re-

cep Tayyip Erdoğan. Damit zog sie sichdessen uneingeschränkten Zorn zu. Weildie HDP die Demonstration in Ankara mit-organisiert hatte, dürfen die Opfer nichtmit dem Mitgefühl der Regierung rechnen. 

Der Präsident hat Neuwahlen für den 1. November ausgerufen, in der Hoffnung,bei einem zweiten Anlauf doch noch dieabsolute Mehrheit zu erringen und seinVolk hinter sich zu einen. Doch im Wahl-kampf wird die Türkei von ihrer dunkelstenVergangenheit eingeholt. Bei Gefechtenzwischen dem türkischen Militär undKämpfern der verbotenen kurdischen Ar-beiterpartei PKK sind in den vergangenendrei Monaten mehrere Hundert Menschengestorben. In Städten im Südosten des Lan-des wurden Ausgangssperren verhängt.

In dieser angespannten Lage fliegt Bun-deskanzlerin Angela Merkel am Sonntag

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Staat, dessen Geheimdienst allmächtig erscheint, das Massaker im Zentrum der Hauptstadt nicht verhindern?

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nach Ankara, um mit Erdoğan über dieFlüchtlingskrise zu beraten. Die EU-Kom-mission hat sich mit der Türkei auf den Entwurf eines Abkommens geeinigt. DieTürkei würde sich dazu verpflichten, dieFlüchtlinge aufzuhalten, die in die EU wol-len, ihnen den legalen Aufenthalt im Landzu ermöglichen und den Kampf gegenSchlepper zu verstärken. Dafür erhielte Er-doğan ein ganzes Paket von Zugeständnis-sen, die er sich seit Jahren wünscht, unteranderem Visa-Erleichterungen für die Ein-reise in den Schengenraum (siehe Seite 93).

In anderen Städten, in Paris oder NewYork, rückte die Gesellschaft nach An-schlägen zusammen, zumindest füreine gewisse Zeit. Doch der 10.Oktober scheint die Türkei weiterzu spalten. Schon jetzt bezichtigensich Regierung und Oppositionwechselseitig, mitschuldig an derKatastrophe zu sein.

Nach dem Attentat formiertensich in vielen türkischen StädtenTrauer- und Protestzüge. Gewerk-schaften und Verbände riefen zuStreiks auf. Studenten blieben den Vorlesungen fern. Doch es gibtauch andere Stimmen: Während ei-ner Schweigeminute für die Opfervor einem Fußballländerspiel ver-höhnten einzelne Zuschauer, wohlNationalisten, die Toten durch Pfif-fe und „Allahu akbar“-Rufe.

Das Attentat markiert eine Zeitdes politischen Zerfalls in der Tür-kei. Erdoğan hat durch seine Re-aktion den Notstand eher beför-dert als befriedet. Der Präsident,der sich ansonsten zu jedem The-ma äußert, tauchte nach dem An-schlag drei Tage lang unter. DieMedien wurden angewiesen, keineBilder des Anschlags zu zeigen.Kein einziges Regierungsmitgliednahm an einer Beerdigung der Op-fer teil.

Wie gering die Rolle ist, die Fak-ten in dieser Auseinandersetzungspielen, zeigt sich in der Behaup-tung des türkischen Premierminis-ters Ahmet Davutoğlu, das Atten-tat sei wahrscheinlich eine Gemeinschafts-aktion des „Islamischen Staats“ (IS) undder kurdischen Miliz PKK gewesen – ob-wohl die beiden Erzfeinde sind und sichin Syrien bekriegen. Doch die Stimmungist so aufgeheizt, dass viele AKP-Anhängergewillt sind, ihm zu glauben. Der Anschlagsei verübt worden, so Davutoğlu diese Wo-che, um eine absolute Mehrheit der AKPbei der Wahl zu verhindern. „Wir sind diewahren Opfer.“

Als Haupttatverdächtige der Ermittlergelten bisher Mitglieder einer Terrorzelledes IS aus der türkisch-syrischen Grenz-stadt Adıyaman. Schon im Juli waren bei

einem Selbstmordattentat in der Grenz-stadt Suruç 34 Menschen getötet worden.Am Mittwoch wurde bekannt, dass einerder beiden Ankara-Attentäter der Bruderjenes türkischen IS-Terroristen ist, der denAnschlag in Suruç begangen haben soll.

Diese Entdeckung lässt das Versagender Sicherheitskräfte als geradezu mons-trös erscheinen: Die türkische Polizei hatin den vergangenen Jahren Hunderte re-gierungskritische Journalisten und De-monstranten als vermeintliche Terroristenverhaften lassen, war aber nicht dazu inder Lage, eine Terrorzelle im Südostendes Landes auszuhebeln. Das wiederum

verstärkt das Misstrauen in jenem Teil dertürkischen Gesellschaft, der den Präsiden-ten der Komplizenschaft mit dem IS ver-dächtigt.

Regierungskritiker werfen Erdoğan vor,das Chaos bewusst zu schüren, um dieAKP vor der Wahl als Ordnungsmacht er-scheinen zu lassen. Viele Menschen wen-den sich gerade deswegen der Oppositionzu. Die Umfragen prophezeien der pro-kurdischen HDP für den 1. November ein mindestens ebenso starkes Ergebniswie bei der Wahl im Juni. Trotz des Auf-ruhrs der vergangenen Monate sind dieWerte der Parteien fast unverändert. Die

AKP liegt nach einer Befragung des In -stituts Gezici vom Donnerstag bei 40,8Prozent, die sozialdemokratische CHP bei27,6 Prozent, die rechtsradikale MHP bei15,8 Prozent und die HDP bei fast 13,6Prozent.

Das Feindbild der AKP-Anhänger ist Se-lahattin Demirtaş, einer der beiden Vor-sitzenden der HDP. Er ist in erster Liniefür das hervorragende Wahlergebnis seinerPartei verantwortlich, er verkörperte be-reits vor dem Anschlag für viele Opposi-tionelle die Hoffnung auf eine bessere, de-mokratische Türkei. Seit dem vergangenenWochenende verklären ihn seine Anhän-

ger als Widerstandskämpfer gegeneinen feindlichen Staat.

Dienstagvormittag vor dem Tee-haus in Fatih, einem konservati-ven Istanbuler Stadtteil. Demirtaşsoll gleich kommen, er will hierAngehörige der Verstorbenen vom 10. Oktober treffen. „Selahattin!Selahattin!“, skandieren die Men-schen, die auf ihn warten. Sie ju-beln ihm zu wie im Wahlkampf.Demirtaş trägt einen schwarzenAnzug und eine dunkle Krawatte.Die vergangenen Tage haben ihmsichtlich zugesetzt. Er ist schlechtrasiert. Tiefe Ringe haben sich un-ter seine Augen gegraben. SeineMitarbeiter sagen, er habe seitdem Anschlag so gut wie nicht ge-schlafen. 

Bei einem Gespräch vor seinemAuftritt, im Istanbuler Gästehausfür Parlamentsabgeordnete, sagt er:„Die AKP begann als eine Volks-partei, doch heute bekämpft Er-doğan das Volk aus Angst vor demMachtverlust.“ Er fügt an: „Nichtder IS ist der Feind der Regierung.Wir Kurden sind der Feind.“ DerPräsident nehme „Krieg in Kauf,um an der Macht zu bleiben“.

Seit dem Erfolg der HDP bei derWahl im Juni attackiert Erdoğandie Kurdenpartei bei jeder Gele-genheit. Staatsnahe Medien de-nunzieren kurdische Politiker alsTerroristen. „Erdoğan hat ein Kli-

ma der Angst und des Hasses geschaffen“,sagt Demirtaş. Allein in den vergangenenvier Monaten wurden in der Türkei 140Anschläge auf Büros der HDP verübt.Laut Beratern von Demirtaş hat der ISMorddrohungen auch gegen ihn ausgesto-ßen. Bereits im August hätten sie dies demInnenministerium mitgeteilt, die Parteihabe seither das Sicherheitspersonal ver-stärkt. Die Gefahr, so ein Berater, gehesowohl vom IS als auch von türkischenNationalisten aus. „Wir nehmen das ex-trem ernst.“

Die Straßen in Fatih sind mit Plakatender Regierungspartei AKP geschmückt. Er-

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HDP-Chef Demirtaş: „Der Anschlag galt uns“

doğan holt in dem Bezirk bei Wahlen re-gelmäßig einen Großteil der Stimmen.Doch als Demirtaş nun über den Markt-platz in Richtung Teehaus läuft, stürmendie Menschen auf ihn zu, wollen ihn an-fassen. Auch die Kamerateams der großentürkischen Sender, die den kurdischen Po-litiker noch vor wenigen Monaten ignorierthaben, scharen sich um ihn. In Istanbuleilt er in einem schwarzen Mercedes vonTermin zu Termin.

Die meisten Terroropfer waren Regie-rungsgegner: Kurden, Linke. Demirtaş be-sucht die Angehörigen, er betet und weintmit ihnen. Er tröstet die Kinder. Er trittauf, als wäre er der Präsident der Türkei.„In Ankara starben nicht nur Kurden, son-dern auch Türken. Gläubige und Nicht-gläubige“, sagt er. „Wir dürfen uns nichtspalten lassen.“ 

Der Kurdenpolitiker setzt sich bewusstvon Erdoğan ab: Während sich der Prä -sident als Macho gibt und Andersden -kende verfolgt, tritt Demirtaş leise und bescheiden auf. Er wohnt bis heute in ei-nem schlichten Apartment in Diyarbakır,im Südosten der Türkei, gemeinsam mit seiner Frau, einer Lehrerin, und zwei Töchtern. 

Unter Erdoğan hat das Land einen atem-beraubenden Wandel durchlebt, von ei-nem Krisenstaat zu einer Regionalmachtund einem EU-Beitrittskandidaten. SeineAKP hat die Wirtschaft modernisiert, dieRechte von Minderheiten gestärkt, dieAussöhnung mit den Kurden vorangetrie-ben. Doch Erdoğan, der nach elf Jahrenals Premier im Sommer 2014 in das Präsi-dentenamt wechselte, wurde mit jedemWahlsieg selbstherrlicher, autoritärer. Erhat dadurch zuletzt immer mehr Menschengegen sich aufgebracht.

Die beiden Spitzenpolitiker Erdoğanund Demirtaş verbindet eine teilweiseidentische Biografie: Beide wuchsen alsKinder von Arbeitern auf, Erdoğan im Is-tanbuler Hafengetto, Demirtaş in Südost -anatolien. Beide vertreten Gesellschafts-gruppen, die vom Staat jahrzehntelang ge-gängelt wurden: Erdoğan die gläubigenMuslime, Demirtaş die Kurden. Nun siehtDemirtaş, ähnlich wie Erdoğan Ende derNeunzigerjahre, die Zeit für einen Wandelin der Gesellschaft angebrochen.

Im Istanbuler Arbeiterviertel Zeytin -burnu warten abermals Hunderte Men-schen auf den HDP-Chef. Sie haben einSpalier gebildet. Demirtaş gibt jedem Ein-zelnen die Hand. Er nutzt die Kondolenz-besuche für eine politische Botschaft. „Er-doğan behauptet, der Anschlag habe demStaat gegolten“, sagt er. „Nein. Der An-schlag galt uns.“ Er sieht sich auf der Seiteder Zivilgesellschaft, die Regierung alsden Gegner.

Demirtaş glaubt längst nicht mehr anbloßes Unvermögen der Behörden. „Wenn

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Erdoğan und Davutoğlu einen Funken An-stand besäßen, würden nach diesem Mas-saker beide zurücktreten“, sagt er. „DerStaat hat Blut an den Händen.“ Erdoğanhabe den IS im Kampf gegen die Kurdenund den syrischen Diktator Baschar al-As-sad lange Zeit unterstützt.

Und die Regierung, so Demirtaş, lassedem IS in der Türkei weiterhin freie Hand –trotz vereinzelter Angriffe des Militärs aufIS-Stellungen in Syrien. Das Attentat inAnkara, so die Unterstellung des Kurden-politikers, sei von Kräften innerhalb desSicherheitsapparats mit vorbereitet oderzumindest hingenommen worden. 

Tatsächlich sah die sunnitisch-islamisti-sche türkische Staatsspitze den IS imKampf gegen Assad lange als das kleinereÜbel an. Dschihadisten konnten über dieTürkei ungehindert nach Syrien einreisen.Seit dem Sommer ist die Grenze nun kaumnoch passierbar, aber bis dahin waren so-gar die offiziellen Übergänge zum IS-be-herrschten Gebiet geöffnet.

Insgesamt sollen nach Schätzungen rund1000, vielleicht sogar 2000 Türken IS-Mit-glieder sein. Vor allem aber hat die Ter-rormiliz seit 2013 ein Netz an lokalen Un-terstützern, geheimen Quartieren undärztlichen Behandlungsmöglichkeiten inder Türkei aufbauen können – mit so gutenKontakten zu den Behörden, dass sie zwei-jährige türkische Aufenthaltsgenehmigun-gen für durchreisende Selbstmordatten -täter besorgen konnte.

Allzu unauffällig mussten die Dschi -hadisten sich in der Türkei offensicht -

lich nicht bewegen. Es gibt mehrere ge-flohene oder gefangene IS-Männer, dieangaben, in der Türkei selbst in einemTrainingslager militärisch ausgebildetworden zu sein.

Dem Land droht nun ein verschärfterKonflikt zwischen Kurden und Türken,zwischen Sunniten und Aleviten. Selahat-tin Demirtaş greift zwar die Regierung an,will die Gräben zwischen den Ethnienund Konfessionen jedoch nicht weiter ver-tiefen.

Wie schwierig dieses Manöver ist, lässtsich auf einer Versammlung in einem Is-tanbuler HDP-Büro beobachten. Hunder-te Parteimitglieder drängen sich auf demGang und in den drei beengten Räumendes Gebäudes. Sie rufen: „Erdoğan! Mör-der!“ An den Wänden hängen Porträtsdes inhaftierten PKK-Führers AbdullahÖcalan.

Die PKK, die trotz ihres erfolgreichenKampfs gegen den IS von den USA undEuropa weiter als Terrororganisation ein-gestuft wird, hat in den vergangenen Mo-naten zur Eskalation der Gewalt in derTürkei beigetragen. PKK-Aktivisten habenseit Juli 140 türkische Sicherheitskräfte beiAnschlägen getötet. Die Organisation willdie Türkei durch Gewalt dazu zwingen,den Kurden im Südosten weitgehend Au-tonomie einzuräumen.

Demirtaş lehnt den Terror der PKK ab.Seine Kampagne baut auf dem Verspre-chen auf, Türken, Kurden und andere Ge-sellschaftsgruppen miteinander zu versöh-nen. Zugleich weiß er aber, dass viele Mit-

glieder seiner Partei Sympathie für diePKK empfinden. Sein eigener Bruderkämpft auf der Seite der Rebellen in denBergen des Nordirak.

Demirtaş erinnert in seiner Rede vorden Parteifreunden daran, dass die PKKnach dem Anschlag von Ankara einenWaffenstillstand verkündet habe – die Tür-kei bombardiert dennoch weiterhin derenHauptquartier im Nordirak. „Wir dürfenuns jetzt nicht provozieren lassen“, sagtDemirtaş.

Die HDP hat für die kommenden Wo-chen sämtliche Großveranstaltungen ab-gesagt. Die Partei sagt, sie könne die Sicherheit ihrer Anhänger nicht gewähr-leisten. Demirtaş versucht trotzdem, Zu-versicht zu verbreiten. „Der Wandel istnicht aufzuhalten“, daran glaubt er. 

In Ankara wartet Sabri Batur Mitte derWoche immer noch auf die Obduktions-ergebnisse. Einige Körper wurden bei derExplosion derart zerfetzt, dass ihre Iden-tität nur mithilfe von DNA-Analysen er-mittelt werden kann. Augenzeugen hattenFatima unmittelbar an jener Stelle stehensehen, an der der erste Sprengkörper de-tonierte. 

Sabri Batur hat keine Hoffnung mehr,dass seine Frau noch am Leben ist. Docher wagt es nicht, seinen Kindern vom Tod der Mutter zu erzählen. Am Mittwochruft sein Sohn an. Er fragt: „Papa, wannkommt Mama wieder nach Hause?“ SabriBatur antwortet: „Morgen.“

Maximilian Popp, Christoph Reuter

Mail: [email protected]

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Opfer-Angehöriger Batur (2.v. l.) vor dem Forensischen Institut in Ankara: Kein einziges Regierungsmitglied nahm an einer Beerdigung teil

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Beim gemeinsamen Abendessenmit den Spitzen der Europäi-schen Union ließ Recep Tayyip

Erdoğan keinen Zweifel daran, wer dasSagen hat. Der türkische Staatspräsi-dent wurde von den Spitzen der EU im8. Stock des Ratsgebäudes empfangen.Doch der Gast benahm sich, als wäreer der Hausherr. Nach ein paar Plaude-reien bat Erdoğan mit einer einladen-den Geste an den festlich gedecktenTisch. „Wie beim Sultan“, erinnert sicheiner, der am Montag vor einer Wochedabei war.

Der Gast bittet die Gastgeber zuTisch. Ein treffenderes Bild für denWandel der Beziehungen zwi-schen der Türkei und der EUhätte Erdoğan nicht liefernkönnen. Jahrzehntelang ka-men die Türken als Bittstellernach Brüssel. Sie baten umdie Aufnahme von Beitritts-verhandlungen, um einefreundliche Behandlung imnächsten Fortschrittsbericht,um Visaerleichterungen beider Einreise in die Schengen-staaten.

Jetzt liegen die Karten an-ders. Mehr als zwei MillionenFlüchtlinge aus dem syrischenBürgerkrieg leben derzeit inder Türkei, und Erdoğan istihr Schleusenwärter. Plötzlichwird ihm in Brüssel der roteTeppich ausgerollt, und Anka-ra wird zum Mittelpunkt dereuropäischen Diplomatie. Ineinem ersten Schritt verstän-digten sich die EU-Kommis -sion und Ankara auf einenAktionsplan. Inhalt: europäisches Geldgegen türkisches Wohlverhalten beiden Flüchtlingen.

Doch Erdoğans Wunschliste ist län-ger. Noch bis vor Kurzem wäre sie inBrüssel in den Giftschrank gewandert,doch angesichts von HunderttausendenFlüchtlingen, die sich aus dem Nahenund Mittleren Osten über die Türkeiauf den Weg nach Europa machen,sind die Europäer zu großen Zuge-ständnissen bereit. Manchem wird daschon mulmig: So wichtig die Türkeibei der Lösung der Flüchtlingsfrage sei,mahnt Parlamentspräsident MartinSchulz: „Es darf keinen Rabatt bei un-seren Grundüberzeugungen geben.“

Doch genau darum geht es. Milliar-den für neue Flüchtlingslager lockerzu-

machen, ist für die EU noch die ein-fachste Übung. Erdoğan aber fordertNachlass, wo es die Europäer besondersschmerzt – bei ihren Werten. Vor allemChristdemokraten vollziehen in diesenTagen eine eigentümliche Wende: Hat-ten sie bislang argumentiert, die Türkeipasse nicht in die christlich-jüdische Tra-dition der EU, erklären sie Erdoğanjetzt zum Retter des Abendlandes.

Wenn die Bundeskanzlerin an die-sem Sonntag nach Ankara reist, bringtsie ein besonderes Geschenk mit. Dieumstrittene Resolution des Bundestagszum Völkermord an den Armeniernwird bis auf Weiteres auf Eis gelegt. In

aller Stille haben sich die Regierungs-fraktionen darauf verständigt, die zwei-te und dritte Lesung der Resolution, inder das Massaker der jungtürkischenRegierung vor 100 Jahren als Völker-mord bezeichnet wird, möglichst langehinauszuzögern. Offiziell wollen sichdie Außenpolitiker von Union undSPD nicht zu dem Vorgang äußern.

Im Frühjahr hatte es um die Resolu -tion Streit gegeben. AußenministerFrank-Walter Steinmeier (SPD) lehntees schon damals aus Rücksicht auf An-kara ab, von Völkermord zu sprechen.Bundespräsident Joachim Gauck hieltdagegen, und in den Reihen der CDUwar der Druck so groß, dass das WortVölkermord am Ende Eingang in denText fand.

Ganz oben auf Erdoğans Wunschlis-te steht auch die Forderung, dass dieTürkei als sicheres Herkunftsland fürFlüchtlinge anerkannt wird. Die EU-Kommission hat einen entsprechendenVorschlag unterbreitet, Angela Merkelund Vizekanzler Sigmar Gabriel signa-lisierten intern Zustimmung. Für dieEuropäer hätte das den Vorteil, dassAsylverfahren beschleunigt und abge-lehnte Asylbewerber schneller in dieTürkei zurückgeschickt werden können.

Erdoğan dagegen geht es um die Auf-wertung. „Sicheres Herkunftsland – dasist wie ein TÜV-Siegel“, sagt der Vor -sitzende des Europaausschusses im Bun-

destag, Gunther Krichbaum(CDU). „Ich bin da zurückhal-tend, denken Sie nur an denKonflikt mit den Kurden oderan die Presse freiheit.“ EinLand, das selbst zwei Millio-nen Flüchtlinge aufgenommenhat, könne kein Verfolgerstaatsein, sagt dagegen Luxem-burgs Außenminister Jean As-selborn. Allerdings müsse si-chergestellt werden, dass ver-folgte Kurden nach wie vor dieMöglichkeit hätten, in der EUAsyl zu bekommen.

Sogar die Verhandlungenüber einen EU-Beitritt wollendie Europäer wiederbeleben.EU-ErweiterungskommissarJohannes Hahn reiste dieseWoche nach Ankara, um wei-tere Zugeständnisse anzubie-ten. „Wir sollten die Kapitel 23und 24 zu den Themen Rechts-staat und Menschenrechte er-öffnen“, sagt Hahn. „Nur wenn

man verhandelt, kann man Druck ma-chen und Verbesserungen erreichen.“

Schließlich geht es um Visaerleichte-rungen für Türken, die in den Schengen-raum einreisen wollen. Eigentlich soll esdazu nur kommen, wenn die Türkei imGegenzug Flüchtlinge, die aus demLand nach Europa reisen, zurücknimmt.So haben es Türken und Europäer ver-einbart. Bei ihren Treffen in der Türkeibrachten die EU-Spitzenleute nun eineBeschleunigung ins Spiel. Sollte sich dieTürkei bei der Rücknahme von Flücht-lingen kooperativer zeigen als bislang,könnte die Visaerleichterung bereits2016 statt 2017 kommen. Am liebstenwäre es den Europäern aber, die Türkenwürden einfach ihre Grenzen schließen.

Peter Müller, Christoph Schult

Der Sultan lässt bittenDiplomatie Die großzügigen Angebote der Europäer an Staatschef Erdoğan

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Politiker Erdoğan, Merkel: Roter Teppich

Auf einem Stausee südlich von War-schau driftet ein Floß aus zusam-mengeschweißten Blechtonnen in

der Oktobersonne, darauf sind mehrereQuadratmeter Rollrasen ausgebreitet.

Die nationalkonservative Partei „Rechtund Gerechtigkeit“ (PiS) hat es bauen las-sen, die „grüne Insel“ soll ein schwimmen-des Mahnmal sein für die Lügen der libe-ralen Regierung in Warschau. Diese hatteden Polen einst versprochen, ihr Land zueiner grünen Insel des Wohlstands zu ma-chen – und nichts davon gehalten, so sehenes zumindest die Nationalkonservativen.

So unbeholfen wie die Idee mit der Inselfällt auch der Auftritt der PiS-Spitzenkan-didatin aus: Beata Szydlo hüpft mit klei-nen Sprüngen über einen Steg auf das Floß.Dort haben sie in der Zwischenzeit achtPlakate aufgestellt. Sie führen die angeb-lich gebrochenen Versprechen der regie-

renden Bürgerplattform (PO) auf. AchtJahre ist diese jetzt an der Regierung, ineiner osteuropäischen Jungdemokratie istdas eine sehr lange Zeit.

Stocksteif, die Hände nervös aneinanderringend, steht Szydlo hinter dem Mikrofon.Sie trägt blaue Hosen, eine blaue Stepp-weste und ein Halstuch. Sie spricht mono-ton, listet Versäumnis um Versäumnis aufund endet mit den Worten: „Wir werdenarbeiten, arbeiten, arbeiten – und nicht soviel versprechen.“

Was fehlt in ihrer Rede, sind die üblichenSchlagwörter der Parteipropaganda: derHass, die deutsche Gefahr, die russischeBedrohung und natürlich die Verschwö-rungstheorien, die Parteichef und PiS-Gründer Jaroslaw Kaczynski gern bemüht.

Szydlos Zurückhaltung scheint sich aus-zuzahlen: Umfragen sehen die National-konservativen derzeit bei 36 Prozent, die

Bürgerplattform unter PremierministerinEwa Kopacz liegt mit mehr als zehn Pro-zentpunkten zurück. Und so könnten dieNationalkonservativen, wie schon vorzehn Jahren, nach der Wahl am 25. Okto-ber wieder die Regierung stellen.

Zum ersten Mal seit dem Unfalltod sei-nes Zwillingsbruders Lech hat JaroslawKaczynski die Spitzenkandidatur nichtselbst übernommen, sondern eine Frauvorgelassen – für die konservativ-katholi-sche PiS Ausdruck eines Epochenwechsels.Der begann schon im Frühjahr 2015, alsdie Parteiführung den bis dahin unbekann-ten Europaabgeordneten Andrzej Dudafür das Präsidentenamt kandidieren ließ.Jaroslaw Kaczynski hatte ihn persönlichauserwählt; er stellt auch die Wahllisteneigenhändig zusammen.

Duda, ein 43-jähriger Jurist aus Krakau,gewann überraschend klar gegen den bür-

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Die Frau von nebenanPolen Mit ihrer Spitzenkandidatin Beata Szydlo steuert die nationalkonservative Partei „Recht undGerechtigkeit“ auf einen Wahlsieg zu. Und zeigt sich zahmer und volksnäher denn je.

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Wahlkämpferin Szydlo: „Arbeiten, arbeiten, arbeiten – und nicht so viel versprechen“

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gerlichen Amtsinhaber. Beata Szydlo willnun, fünf Monate später, diesen Erfolg wie-derholen. Bis vor Kurzem war die Ethno-login, Mutter zweier Söhne und PiS-Hin-terbänklerin, unbekannt wie einst Duda.Szydlo gilt als ausgeglichen, fleißig undbelastbar. Aber auch als langweilig.

Die Rede auf dem Floß schleppt sich da-hin. In Szydlos Kampagne geht es nichtum die weltpolitischen Fragen, sie insze-niert die Wahl auch nicht als historischenSchicksalskampf der Polen. Szydlo hat sichfür die Rolle der einfachen Frau aus demVolk entschieden, einer Frau, die hart ar-beitet aus Sorge um die Familien, um Alte,Arme und die Zukunft der Jugend.

„Wir wollen ein solidarisches Polen. Wirwollen Polen dienen, wir hören den Men-schen zu“, sagt sie in ihrer Rede. Sie setztsich für ein monatliches Kindergeld ein,Alte ab 75 sollen Medikamente umsonstbekommen, Kleinunternehmer wenigerSteuern zahlen, und das Rentenalter sollvon 67 auf 65 Jahre gesenkt werden.

„Die Polen wollen einen Wechsel“, sagtder Krakauer Soziologe Jaroslaw Flis,„aber sie wollen keine nationale Revolu -tion. Deshalb hat PiS den Ton gemäßigt.“

Die Partei „Recht und Gerechtigkeit“,gegründet 2001, beherrscht in Polen dasrechte politische Spektrum ähnlich wie dieCSU in Bayern. Nur ein einziges Malschaffte sie es, über ihre Gegenspieler, dieliberale Bürgerplattform, zu triumphieren.Zwischen 2005 und 2007 waren Jaroslawund sein Zwillingsbruder Lech KaczynskiPremier und Präsident Polens – ein welt-weit einmaliges Gespann, und das nichtnur, weil die eineiigen Zwillinge kaum aus-einanderzuhalten waren.

Für das EU-Neumitglied Polen brach mitden Kaczynskis eine schwere Zeit an: DieBrüder inszenierten im Land politische He-xenjagden auf Seilschaften aus kommunis-tischer Zeit. Außenpolitisch verschärftensie den Ton gegenüber den Deutschen, de-nen sie vorwarfen, die Schuld am ZweitenWeltkrieg kleinreden zu wollen. In Europaübernahm Polen die Rolle des nationalis-tischen Störenfrieds.

Als ihre Koalition mit zwei unzuverläs-sigen Kleinparteien zerbrach, wurde diePiS-Regierung abgewählt – die Polen wa-ren die ständigen inneren Spannungen, diePolarisierung leid. Das war 2007, die libe-rale Bürgerplattform von Donald Tuskkam an die Macht. 2010 stürzte LechKaczynski, der noch amtierende Präsident,mitsamt seiner Führungsriege im Lande-anflug auf das russische Smolensk mit derRegierungsmaschine ab.

Nur wenig später erklärte sich BruderJaroslaw zu seinem Nachfolger in der Par-tei. Fortan focht er allein für die PiS. Undkassierte immer wieder Niederlagen. Seinpolternder Ton, sein Nationalpathos schie-nen nicht mehr zu passen in eine Zeit, in

der das Land einen Wirtschaftsboom er-lebte und in Europa zu einem angesehenenPartner avancierte.

Frische, freundliche Gesichter musstendeshalb her, Leute wie Duda und Szydlo,Politiker mit realistischen Forderungenund gemäßigtem Tonfall. Erstmals seit Jahren scheint die Partei nun aus dem 20- Prozent-Getto der überalterten Stamm -wählerschaft auszubrechen und in der Mit-te der Gesellschaft Stimmen sammeln zukönnen.

Die Bürgerplattform, deren wichtigsterMann, Donald Tusk, im vergangenen Jahrals EU-Ratspräsident nach Brüssel ging,tut sich schwer mit der neuen Herausfor-derung. Früher hatte es gereicht, die PiSals Partei nationalistischer Spinner zu de-nunzieren. Doch das funktioniert nicht

mehr, wie sich im Präsidentschaftswahl-kampf gezeigt hat. Da hatte AmtsinhaberBronislaw Komorowski seinem Kontrahen-ten Duda eine Fernsehdebatte verweigertund dabei dessen Popularität unterschätzt.Die Wähler legten es ihm als arroganteGeste aus.

Seine Parteigenossin, die Premierminis-terin Ewa Kopacz, führt seit Wochen einenuninspirierten Wahlkampf, der nicht zün-det. Kopacz gilt als fantasielose Beamtin,ihre Partei als Haufen machthungriger, ar-roganter Liberaler.

Besonders die sogenannten Luxusaffä-ren haben der Bürgerplattform geschadet:Vor anderthalb Jahren waren der PresseTonbandmitschnitte zugespielt worden, dieGespräche hoher PO-Politiker offenbarten,die in teuren Warschauer Restaurants beigesottenem Tintenfisch diskutierten. Daswirkte nicht nur dekadent, es hörte sich

auch ausgesprochen vulgär an. Man habeden „Amerikanern“ zu lange „einen ge-blasen“, so war etwa der damalige Außen-minister Radek Sikorski auf den Bändernzu hören.

Dann flog auch noch auf, dass ein Ab-geordneter der Bürgerplattform eine100000-Euro-Armbanduhr nicht in seinerVermögenserklärung aufgeführt hatte.Und dass Bildungsministerin Joanna Klu-zik-Rostkowska, verantwortlich für denschlechten Zustand vieler Grundschulen,ihre eigenen Kinder auf eine exklusive Pri-vatschule schickte.

In der Welt der Beata Szydlo kommenweder teure Armbanduhren noch Gour-metrestaurants vor, sie muss sich nicht ver-stellen, um sich volksnah zu geben. SiebenJahre lang war sie Bürgermeisterin inBrzeszcze, ihrer schlesischen Heimatstadtmit 12000 Einwohnern. Ein höheres politi-sches Amt hatte sie noch nie inne.

Im Wahlkampf zeigt sie keine Scheu vorNähe. In der Kleinstadt Pcim packt sie mitan, um die örtliche Schule zu renovieren,deren Dach eine Gewitterböe weggerissenhatte. In Brzeszcze mischt sie sich unterdemonstrierende Bergleute, deren Kohle-zeche von der Pleite bedroht ist. „Damyrade“ – „Wir schaffen das schon“, heißtihr Slogan zur Wahl.

Aber was wird geschehen, sollte sie tat-sächlich die Wahl gewinnen? Wird die PiSdann wieder in die alten nationalistischenMuster zurückfallen, der neue Kurs sichals wahlkampfstrategisches Manöver he-rausstellen?

Erst vergangene Woche zeigte JaroslawKaczynski bei einer Wahlveranstaltung dasandere, altbekannte Gesicht der Partei, alser vor Gefahren durch muslimische Flücht-linge warnte: „Cholera auf den grie-chischen Inseln, Ruhr in Wien, alle Artenvon Parasiten und Bakterien, die in denKörpern dieser Menschen harmlos sind,können hier gefährlich werden.“

Auf der anderen Seite ist Polen heuteein anderes Land als zu Zeiten der Zwil-lings-Regierung: Die Wirtschaft ist trotzweltweiter Finanzkrise kontinuierlich ge-wachsen, die Arbeitslosigkeit niedrig. DasLand ist kein Bittsteller mehr. Die EU er-freut sich, dank der Subventionen für dieBauern und vieler Milliarden an Infrastruk-turhilfen, anhaltend hoher Beliebtheit. DiePolen würden es Kaczynski und seiner Par-tei nicht mehr verzeihen, wenn sie ihrLand wieder zum Außenseiter machenwürden.

Am Stausee kommt Beata Szydlo nach15 Minuten Redezeit zum Ende. Über denSteg balanciert sie zurück an Land. Diegrüne Rollrasen-Insel, jenes Symbol derleeren Versprechungen, lässt sie langsamauf den See abdriften. Nach kurzer Zeitist sie kaum noch zu sehen. Jan Puhl

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Politiker Lech und Jaroslaw Kaczynski 2005

Weltweit einmaliges Gespann

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Mehr als 20 Angriffe, mindestens 30tote Palästinenser und 7 tote Israe-lis, das ist die Bilanz dieser Wo-

chen. Seit Anfang Oktober vergeht keinTag, ohne dass Israelis mit Messern undSteinen attackiert werden, Autos in dieMenge rasen oder, wie am Dienstag, Paläs-tinenser versuchen, einen Bus zu kapern.Für manche ist das der Beginn einer neuenIntifada. Für Naftali Bennett ist es eine Be-stätigung, ein stiller Triumph, bei aller Tra-gik. Denn er hat es ja schon immer gewusst:dass man den Arabern nicht trauen kann,dass man mehr Siedlungen bauen und dasWestjordanland annektieren muss.

So steht Naftali Bennett, Erziehungsmi-nister und Chef der Partei Jüdisches Heim,an einem Abend in der vergangenen Wo-che mit hochgekrempelten Hemdsärmelnvor der Residenz des Premierministers inJerusalem. Er sagt in die Mikrofone, mansolle den Feind auslöschen. Gegen den„feigen arabischen Terror“ erhebe sich eineWelle „jüdischen Mutes und Heldentums“.

Er klingt wie ein Aktivist und nicht wieein Minister und wichtiger Koalitionspart-ner in der Regierung von Benjamin Ne -tanyahu. Um ihn herum stehen Siedler, diehier seit Tagen den vielleicht merkwürdigs-ten Protest der israelischen Geschichte ab-halten: Rechte demonstrieren gegen dierechteste Regierung seit Jahrzehnten – undrechte Politiker, ja sogar Minister, nehmendaran teil. Sie fordern: mehr Siedlungen,mehr Soldaten, härteres Durchgreifen.

Naftali Bennett, der „Netanyahu mitKippa“, gilt als politisches Talent, er ist ei-ner der Begründer der neuen extremenRechten, zusammen mit Ayalet Shaked,die Justizministerin ist. Er ist 43, sie 39,beide machten Karriere im Hightech-Sek-tor, beide arbeiteten im Büro von Neta-nyahu, beide überwarfen sich mit ihm –und gründeten die ultrarechte Lobbygrup-pe „My Israel“. Später übernahm Bennetteine unbedeutende Siedlerpartei, benann-te sie in Jüdisches Heim um und begann,sie für breitere Wählerschichten zu öffnen,indem er urbane Lässigkeit und ultrarechteIdeologie miteinander verschmolz. In kur-zer Zeit wurde Jüdisches Heim zu einerder einflussreichsten Parteien in Israel.

Bennett und Shaked stehen für eineneue, selbstbewusste Generation von Politikern, jung, erfolgreich, smart – undradikal. Sie sind mit der Besatzung auf -gewachsen und sehen sich als Pragmatiker.Zielgerichtet treiben sie ihre Agenda voran: Israel soll zuallererst ein jüdischer

Staat sein, eine Demokratie im Diensteder Mehrheit. An Frieden glauben sienicht, das Westjordanland wollen sie umkeinen Preis aufgeben. Die derzeitige Es-kalation der Gewalt sehen sie als Chance,die alte Führungselite herauszufordern.

Netanyahu, der große Sieger der Wahlim März, steht in diesen Tagen seltsam al-lein da. Von allen Seiten wird er bedrängt:Die Rechten in seiner eigenen Partei undin der Koalition wollen, dass er härter vor-geht, die internationale Gemeinschaft for-dert Deeskalation, die Wähler sind ent-täuscht. Eine Alternative zur jetzigen Ko-alition hat er nicht, Verhandlungen mit derArbeitspartei sind vorerst gescheitert.

Doch diese Lage hat der Premier mitverursacht. Er hat das Land nach rechts ge-rückt – und wird nun von diesen Rechtenunter Druck gesetzt. Denn er hat sich denSiedlern angedient, die jetzt ihren Zoll for-dern, und zu wenig dagegen unternommen,

dass seine Likud-Partei von den Ultrarech-ten unterwandert wurde. Und er hat Ben-netts Partei in seine Regierung geholt unddamit salonfähig gemacht.

Gleichzeitig schuf der Premier mit seinerPolitik ein Klima des Misstrauens gegen-über den Palästinensern, in dem die Ultra-rechten bestens gedeihen. Er hat darauf gesetzt, dass ein palästinensischer Staat immer unwahrscheinlicher wird, je mehrZeit vergeht und je mehr Siedler im West -jordanland leben. Ihre Zahl ist seit Ne -tanyahus Amtsantritt 2009 von 280000 auf400000 gestiegen, vor allem, weil sie imDurchschnitt fünf Kinder bekommen. Ne-tanyahu hielt die Illusion aufrecht, dass sichder Istzustand einfrieren lässt, dass manden Konflikt immer weiterverwalten kann.

So wie auf israelischer Seite die Ultra-rechten immer mehr an Einfluss gewannen,

entstand auf palästinensischer Seite ihr Spie-gelbild: eine Generation von Frustrierten,die meint, dass sie kaum etwas zu verlierenhat. An Verhandlungen glauben sie nichtmehr, ihren eigenen Präsidenten MahmoudAbbas nehmen sie nicht ernst. Die erste unddie zweite Intifada waren politisch motiviertund organisiert, sie ließen sich beenden.Doch diesmal sind die Attentäter jung, oftgut ausgebildet, voller Hass und mörderi-scher Wut, meist handeln sie im Alleingang.Noch zumindest, denn radikale Organisa-tionen wie die Hamas versuchen nun, sichan die Spitze der Angriffswelle zu setzen.

Es reichte ein Funken, um die Wut zuentzünden, diesen Rausch der Gewalt. Indiesem Fall waren es die falschen Gerüch-te, Israel wolle den Muslimen den Tem-pelberg wegnehmen, ja die Heiligtümerwomöglich zerstören. Seitdem heizen überYouTube und Facebook verbreitete Legen-den und Videos die Ausschreitungen an.

Israel reagiert mit Härte: Die meistenAttentäter werden nicht festgenommen,sondern erschossen; die Armee löst Pro-teste sofort auf; die arabischen Viertel vonJerusalem sind abgesperrt; Attentätern solldie Aufenthaltsgenehmigung entzogenwerden, ihr Eigentum soll beschlagnahmt,ihre Häuser sollen zerstört werden.

Den Forderungen der Rechten nach ei-ner größeren militärischen Operation hatsich Netanyahu bisher verweigert, genausowie dem Bau neuer Siedlungen. Seinen Ministern hat er provokante Besuche aufdem Tempelberg untersagt. Aber wie langenoch? Netanyahus Umfragewerte sinken,ist sein wichtigstes Versprechen doch stetsgewesen, sein Land vor Terror zu bewah-ren. In Verteidigungsfragen trauen die Is-raelis inzwischen dem Erziehungsministermehr zu als ihrem Regierungschef.

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Saat der AngstIsrael Die Serie palästinensischer Attentate ist vor allem die Folge des politischen Stillstands, der die Radikalen auf beiden Seiten gestärkt hat. Das macht die Eskalation so gefährlich.

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Minister Bennett, Shaked: Urbane Lässigkeit und ultrarechte Ideologie

Bennett hat bei Netanyahu nicht nur ge-lernt, wie man Angst instrumentalisiert. Ertrifft auch das Lebensgefühl seiner Genera-tion. Die Oslo-Verträge und den Abzug ausdem Gazastreifen haben viele junge Israelisals Fehler erlebt, die zu mehr Terror führ-ten. Frieden mit den Palästinensern haltensie für unrealistisch. Von der internationa-len Gemeinschaft fühlen sie sich zu Unrechtangeprangert. Linke Aktivisten und Politi-ker sehen sie als Verräter. Sie sind nicht im-mer religiös, aber sie wollen Israel jüdischermachen. All das verbindet die neuen Ul-trarechten mit der alten Siedlerbewegung.

Zwar ist der Ausbau der Siedlungen nachwie vor ein wichtiges Ziel der Partei, Ben-nett war schließlich mal Siedlerlobbyist.Aber dabei geht es weniger um die mes-sianische Idee von der göttlichen Erlösungdurch Besiedlung des biblischen Landes,sondern vielmehr um Stolz und Selbstbe-hauptung. So können sich auch Säkularemit den Nationalreligiösen identifizieren.

Justizministerin Ayelet Shaked ist dasbeste Beispiel für diese neue Allianz. Sieist im reichen Norden Tel Avivs aufgewach-sen und nicht religiös, aber sie erkennt ihreWerte im religiösen Zionismus wieder. Beiden Rabbinern genießt sie hohes Ansehen,gerade weil sie als säkulares weibliches Gesicht deren Interessen vertritt. So ist sieneben Bennett zur neuen Ikone der Ultra-rechten aufgestiegen.

Vor einem Jahr, da war sie noch nichtMinisterin, teilte sie einen rassistischen Textauf Facebook, in dem der Autor palästi-

nensische Kinder als „kleine Schlangen“bezeichnete und die „Auslöschung“ auchvon Frauen forderte. Inzwischen ist sie vor-sichtiger, doch ihre Sprache bleibt brutal.

„Wir müssen Dinge tun, die ihnen weh-tun“, sagte sie kürzlich über die Palästi-nenser. Wie man dem Terror begegnensoll? Mit Siedlungsbau. Ob nicht eine po-litische Lösung besser wäre? „Die Fragenach einem palästinensischen Staat ist der-zeit irrelevant, und das weiß auch jeder.“Es ist die Selbstverständlichkeit, ja Beiläu-figkeit solcher Sätze, die erschrecken lässt.

Aber es reicht den Ultrarechten nicht,als Juniorpartner mitzuregieren: Sie wollenden Staat umbauen. Ihr erstes Ziel ist derOberste Gerichtshof, der als demokrati-sches Korrektiv wirkt. Ausgerechnet dieJustizministerin will die Macht des Gerichtsbeschneiden, sie arbeitet an einem Gesetz,nach dem das Parlament Einwände der Ju-risten übergehen könnte. Demokratie be-greifen Shaked und ihre Leute als Machtder jüdischen Mehrheit, der sich universelleWerte und individuelle Rechte unterordnenmüssen. In dieses Bild passt das ebenfallsvon Shaked geförderte Gesetzesvorhaben,das Israel auch juristisch zu einem „jüdi-schen Nationalstaat“ erklärt – und damitMuslime, Christen und andere Minderhei-ten ausgrenzt, immerhin 20 Prozent derBevölkerung. Die Debatte darüber polari-siert das Land und hat das Potenzial, diearabischen Israelis zu radikalisieren.

Die Justizministerin weiß, dass sie nichtall ihre Vorstellungen durchsetzen kann;

bisher ist es vor allem Netanyahu, der siebremst. Weil er die Polarisierung fürchtetund Shaked keinen Triumph gönnen will.Doch ihre Positionen werden von weitenTeilen der Bevölkerung unterstützt.

„Die gesamte Rechte hat sich verän-dert“, sagt die PolitikwissenschaftlerinGayil Talshir. „Es gibt nicht mehr Rechteals vorher, aber sie werden extremer.“Während Netanyahu die ursprüngliche,nationalliberale Tradition des Likud ver-trete, gleite die Partei in Richtung ethno-national ab. Auch Netanyahu werde sichin diese Richtung bewegen müssen.

Es ist ein Teufelskreis der Radikali -sierung: Immer mehr Zivilisten tragenWaffen zur Selbstverteidigung. Mittler-weile gehen auch junge Israelis mit Mes-sern auf Palästinenser los. Rechtsradi -kale Mobs ziehen durch Jerusalem undbrüllen: „Tod den Arabern“. Israelis ver-üben Brandanschläge auf Moscheen undPalästinenser, der Inlandsgeheimdiensthat sogar eine Abteilung für „jüdischenTerror“.

Nach beinahe einem halben JahrhundertBesatzung, nach Jahren des politischenStillstands und der gescheiterten Friedens-prozesse geschieht nun, wovor so lange ge-warnt wurde: Israel wird zum binationalenStaat. Mit dem stillen Tod der Zweistaaten-lösung ist etwas Neues im Entstehen: einStaat, in dem nicht alle Bürger gleich sind,in dem Misstrauen, Hass und Vergeltungherrschen. Nicola Abé

Twitter: @NicolaAbe

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Israelische Sicherheitskräfte in Jerusalem: „Wir müssen Dinge tun, die ihnen wehtun“

Der Mann, der mit seinem Bekennt-nis das Innerste des Vatikans er-schütterte, sieht bestechend gut

aus. Er ist vornehm gebräunt, perfekt fri-siert und trägt auch jetzt, vor der Kathe-drale von Barcelona, noch schwarze Pries-terkleidung. Strahlend posiert er für Foto-grafen – fast so, als wäre nichts passiert.

Befreit wirkt er, wenngleich noch fremdin seiner neuen Heimat, dieser KrzysztofCharamsa. Ehe er Rom fluchtartig verließ,am vorvergangenen Montag, war der Poleführender Mitarbeiter der Glaubenskon-gregation und Teil der vatikanischen Elite.„Als Priester fühle ich mich auch jetztnoch“, sagt er und lächelt – obwohl erweiß, dass seine Karriere in der katholi-schen Kirche beendet ist.

„Ich bin stolz darauf, homosexuell zusein“, mit diesen Worten offenbarte sichCharamsa, 43 Jahre alt und seit zwölf Jah-ren Angehöriger der römischen Kurie, am3. Oktober vor laufenden Kameras. DasOuting hatte er ins einstige Stammlokalvon Federico Fellini verlegt, dessen Film

„La Dolce Vita“ dem sündigen, weltlichenRom huldigt. Charamsa zitierte anschlie-ßend noch seinen Partner zu sich: „Eduard,komm mal her.“ Der Angesprochene, einin der Modebranche beschäftigter Katala-ne, trat daraufhin näher und legte seinenKopf auf die Schulter des Monsignore.

Es waren zwei denkwürdige Bekennt-nisse, die Charamsa da ablegte: Erstmalsin der Geschichte der katholischen Kircheräumte ein so ranghoher Kleriker öffent-lich ein, Männer zu lieben. Und gestanddann auch noch unverblümt, den Zölibatzu brechen, die Keuschheitsverpflichtung.

„Aktive“ Homosexualität gilt als schwe-re Sünde gemäß dem Katechismus von1992. Zur Einhaltung des Zölibats wie -derum zwingt Canon 277, §1 des Kanoni-schen Rechts. Beides weiß keiner besserals der Karriere-Theologe Charamsa.

Von einem „Erdbeben“ kurz vor Beginnder Bischofssynode, die in diesen Tagenüber Zukunft und Zuschnitt der Familieberät – und damit auch über das Verhältniszu Homosexuellen –, schrieb daraufhin der

römische „Messaggero“. Und der Vatikan-Sprecher Padre Federico Lombardi sprachvon einem „schwerwiegenden und unver-antwortlichen“ Schritt – der polnische Prä-lat sei der Doktrin gemäß ab sofort vonseinen Pflichten entbunden.

Charamsas Auftritt überschritt Grenzen,außer Zeitpunkt und Ort trug auch derTon dazu bei. Dass ein Kleriker seine „Brü-der und Schwestern, Homosexuelle, Les-ben, Transen, Bisexuelle, Intersexuelle“einmal öffentlich um Verzeihung dafür bit-ten würde, dass er und seine Mitstreiter inder Kurie sie „zu Leprakranken“ gestem-pelt hätten, galt bisher als unvorstellbar.

Charamsa sagt noch immer „wir“, wenner von seinen ehemaligen Kollegen in derKongregation spricht, auch in seinem Exilin Barcelona. Er sagt aber auch „wir“,wenn er von der Gruppe spricht, die imVatikan „als Feindbild herhalten“ müsse,von den Homosexuellen. Noch scheint er im neuen Leben nicht endgültig an -gekommen; noch sind ihm beide Weltenvertraut.

98 DER SPIEGEL 43 / 2015

Das Kreuz mit der AbstinenzVatikan Das Coming-out des Prälaten Krzysztof Charamsa begann als Medienspektakel. Aller Ämterenthoben und abgetaucht, erneuert der Pole nun seine Vorwürfe – eine Begegnung in Barcelona.

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Kleriker Charamsa im spanischen Exil: Wut und Selbstverachtung

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Zum Treffen in Barcelona hat der Polein die trostlose Lobby des Hotels Rafaelgebeten. Nicht alles, was am 3. Oktobergeschah, sei wohlbedacht gewesen, sagt er.Er hätte seine Erklärung besser nicht voreinem gefüllten Weinregal im Restaurantabgeben und vermutlich auch nicht gleich-zeitig ankündigen sollen, dass seine Erleb-nisse im katholischen Sperrbezirk dem-nächst als Buch auf den Markt kommen.

Charamsas Schritt an die Öffentlichkeitwar lange gereift und gut geplant. Freundevom Bündnis LGBT Italia, das unter an -derem die Interessen von Schwulen undLesben vertritt, haben dabei geholfen. Viel-leicht wirkt Charamsa auch deshalb bis-weilen wie ferngesteuert, wenn er, um poli -tisch korrekte Formulierungen bemüht, sei-ne Beweggründe erläutert. Wenn er vonschwul bis transsexuell sämtliche sexuellenMinderheiten aufzählt, in der Angst, eineGruppe vergessen zu können. Wenn er die„hetero-normative Gesellschaft“beklagt sowie die in Kirchen -kreisen „paranoide, rücksichtsloshomofeindliche“ Stimmung.

In den akademischen Zirkelndieser Kirche hat er sich jahrelangselbst mit wissenschaftlichen Ver-öffentlichungen profiliert – zurMarienverehrung oder zur „Drei-faltigkeit im Lehramt JohannesPauls II.“, alles streng konformder Doktrin. Erkennbar brichtsich bei Charamsa nun neben derWut auch jene SelbstverachtungBahn, die er jahrelang in Rom ge-heim gehalten hat.

An seinem alten Arbeitsplatz,im dreistöckigen Palazzo derKongregation für die Glaubens-lehre, sprechen sie derweil vonVerrat. Hier, in der Trutzburg der Hüterder reinen Lehre, wo einst der AngeklagteGalileo Galilei einsaß und wo heute nachCharamsas Worten „das Herz der Homo-phobie in der katholischen Kirche“ schlägt,gibt Kurienkardinal Gerhard Ludwig Mül-ler den Ton an.

Der mächtige Zweimetermann, dritt-höchster Repräsentant von rund 1,2 Mil -liarden Katholiken weltweit, empfindetCharamsas Verhalten als Fahnenflucht undals feige: „Er hat jahrelang ein Doppel -leben geführt und das Vertrauen von Vor-gesetzten wie Mitarbeitern missbraucht;dass ausgerechnet er sich nun zum Anklä-ger gegen diese aufspielt, ist so schäbigwie unverschämt.“

Zum wiederkehrenden Vorwurf, im Va-tikan ziehe eine Schwulenlobby die Fäden,sagt der Kardinal nur so viel: „Ich kennekeine solche Lobby, habe allerdings auchnicht die Funktion eines Geheimdiensteshier beim Heiligen Stuhl.“

Gerüchte über eine „cordata“, eine Seil-schaft Homosexueller innerhalb der vati-

kanischen Mauern, gab es bereits unterBenedikt XVI. Der Theologe David Berger,bis zu seinem Outing im Jahr 2010 Profes-sor an einer der Päpstlichen Akademien,hat versucht, im Buch „Der heilige Schein“eine Begründung für die Vielzahl Homo-sexueller und gleichzeitig Homophober imVatikan zu liefern: Der Schutzraum imSchatten des Petersdoms ziehe Priester mithomosexuellen Neigungen nun einmal an.Ihr unverändert schlechtes Gewissen be-kämpften sie dort mit verschärfter Fröm-migkeit.

Eine Diagnose, die auch auf MonsignoreCharamsa zutreffen könnte. Joseph Rat-zinger war es, der den mit Bestnoten de-korierten Absolventen der Päpstlichen Uni-versität Gregoriana 2003 in die Glaubens-kongregation berief. Und der ihn später,als Papst Benedikt XVI., mit dem Ehren -titel Kaplan Seiner Heiligkeit auszeichnete.„Ratzinger ist ein intellektuelles Genie“,

sagt Charamsa heute, „aber mir war klar,dass er von modern gelebter Homosexua-lität keine Ahnung hat.“

An Benedikts im November 2005 veröf-fentlichtem Erlass, Homosexuellen dasPriesteramt zu untersagen, wirkte Cha-ramsa maßgeblich mit. Das möge schizo-phren klingen, sagt er, für ihn sei es inWahrheit eine tragische Erfahrung gewe-sen: „Ich habe alles getan, um mich derLinie der Kirche zu unterwerfen. Ich konn-te dieses Gesetz nicht verhindern, ichmusste sogar Argumente finden, um es zuuntermauern – sonst wäre ich verdächtigtworden, selbst schwul zu sein.“ Er habeversucht, „sein Kreuz in totaler sexuellerAbstinenz zu tragen – eine unmenschlicheAufgabe“.

Eines will Charamsa vorläufig nicht –Namen nennen, in großem Stil auspacken.In Barcelona bevorzugt er Andeutungen:Dass es ausgerechnet „im Inneren einerKirche, die überwiegend homophob ist, inder Kurie reichlich Schwule gibt“, steheaußer Zweifel, sagt er.

All jene, die ihm nun vorwerfen, dasKeuschheitsgebot zu brechen, bittet er, ehr-lich zu sein, sich selbst und anderen ge-genüber: „Es wäre höchste Zeit, zu unter-suchen, wie viele Priester überhaupt nochden Zölibat befolgen – also nicht mit einerFrau oder einem Mann zusammenleben,nicht abhängig von Selbstbefriedigung sindund nicht per ,cruising‘ nach Abenteuernauf der Straße suchen.“

Er selbst hat, auf dem Weg heraus „ausdem Schrank“, wie er sein Outing nennt,Signale gesetzt – erste zarte Andeutun -gen, die sich heute wie das Vorwort zu einer angekündigten Entblößung lesen.Zuerst begann der Prälat, Gleichgesinn -ten auf Twitter zu folgen. Ende Auguststellte er ein Foto von sich ins Netz, kna-ckig gebräunt und im T-Shirt, er nanntesich „Cris“. Ende September plädierte erin einem Interview für das Recht aufSelbstbestimmung – von Katalanen und

Schwulen. Es war eine versteck-te Liebeserklärung an seinen Lebenspartner Eduard Planas inBar celona.

Für den 3. Oktober dann, denVorabend der Familiensynodeim Vatikan, ließ er Freunde und Journalisten zusammen-trommeln. „Ich wollte die Her-zen der Bischöfe auf der Syno -de erreichen“, sagt Charamsa.Dem Papst, dem er als Assistenz -sekretär der InternationalenTheo logischen Kommission dien -te, habe er inzwischen einenBrief geschickt, in dem er ihmseine Verzweiflung beschreibe.

An mangelndem Selbstwert -gefühl leidet Krzysztof Charam-sa nicht: Er sagt, wie viel sein

Coming-out – „über mich als Person hinaus“ – für die Kirchengeschichte be -deute, bleibe abzuwarten. Ein Zehn- Punkte-Manifest zur Zukunft der Liebe inder katholischen Kirche hat er immerhinschon vorbereitet. Darin steht unter ande-rem: Die „schändliche Anweisung“ überdie Nichtzulassung Homosexueller zumPriesteramt unter Benedikt XVI. im Jahr2005 sei umgehend zurückzunehmen. JeneVerordnung also, an der er selbst maßgeb-lich mitgewirkt hat.

Er liebe seine Kirche inzwischen mehrals zuvor, so Charamsa, weil er nun freisei, über ihre künftige Gestalt zu reden.Etwa darüber, dass der Zölibat nur einevon mehreren Lebensformen für Priestersein könnte – eine andere wäre die Ehe.Und was spräche eigentlich gegen eine klei-ne Familie dank Leihmutterschaft?

Nichts, sagt der Pole: „Alle Möglichkei-ten, die die Wissenschaft bereithält, solltenin Zukunft auch katholischen Priestern offenstehen.“ Walter Mayr

Mail: [email protected]

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Partner Charamsa, Planas in Rom: „Homofeindliche Stimmung“

100 DER SPIEGEL 43 / 2015

Ausland

Zweihundert Jahre nach Waterloo und fünfundsiebzigJahre nach der Luftschlacht um England öffnet NickMead die Hecktür eines FV-432-Schützenpanzers und

sagt, sein Geschäft laufe ausgezeichnet. Mead verleiht Panzerfür Studentenfeiern, Junggesellenabschiede, Hochzeiten undBeerdigungen, in seinem Fuhrpark finden sich unter anderemeine pink lackierte Abbot-Haubitze und ein schneeweißerFV432 mit Stereoanlage, High-End-Boxen und Minibar. „Wirorganisieren auch Kinderpartys“, sagt er. Auf Tripadvisor hatseine Firma Tanks-A-Lot fünf von fünf Punkten.

Mead ist gerade 54 Jahre alt geworden, er trägt Wüstenstiefel,Tarnhose und ein etwas zu enges sandfarbenes Militärhemd.Er lacht viel, offensichtlich hat er Spaß an seiner kleinen Armeevon Haubitzen, Amphibienfahrzeugen und Artilleriegeschüt-zen, die auf dem Grundstück parkt. Die meisten da-von stammen aus britischen Beständen, aber auchsowjetische Modelle sind dabei. Das Firmengeländeliegt bei Helmdon nördlich von Oxford, man kannes kaum verfehlen, vor der Einfahrt quetscht einPionierpanzer eine Mercedes-Limousine platt.

Dem Unternehmer Mead ist es gelungen, Panzerneine harmlose, lustige Seite abzugewinnen. Daspasst gut in die Zeit, sein Land hatte mit Kriegen inden vergangenen Jahren etwas Pech. Die Einsätzeim Irak, in Afghanistan und Libyen waren, im Nach-hinein betrachtet, keine Anlässe für Triumphgefühle.Die Briten haben keine Lust mehr auf bewaffneteAuseinandersetzungen. Als ihre Regierung vor zweiJahren für einen Militäreinsatz in Syrien warb, lehn-te das Parlament mehrheitlich ab.

Stattdessen stürzt sich das einstige Empire nun in seine wesentlich glorreichere Vergangenheit, stän -dig finden Gedenkveranstaltungen für historischeSchlachten statt. Patriotismus ist neben der Liebezur Königin das umfassende Gefühl, das Groß -britannien eint, Arme und Reiche, Konservative undLinke. Fast 50 Gruppen von Amateurhistorikerntreffen sich regelmäßig, um die schönsten Gefechtezwischen 1939 und 1945 nachzuspielen. Kanonen sind jetztsexy und gesellschaftsfähig, wenn sie niemanden verletzen.Mead zeigt stolz auf eine Delle im Lederpolster seines FV432:„Das war Naomi Campbell mit ihren High Heels.“

Für 450 Pfund plus Mehrwertsteuer dürfen seine Kundenmit einem 56 Tonnen schweren Chieftain über einen OpelOmega rollen. Außerdem verleiht er seine Kettenfahrzeuge anModeagenturen, Filmproduktionen und Computerspielfirmen.Und so kehrt der Panzer, nach Jahren im Exil, auf EnglandsStraßen zurück. Diesmal als Freund. Er fährt sogar über dieLondoner Schwulenparade. Und im September machte sichdie Designerin Vivienne Westwood in dem schneeweißen FV-432-Panzer auf den Weg zum Landhaus von David Came-ron, um gegen Fracking zu protestieren.

Etwa 2000 Pfund kostet ein Panzer pro Tag, inklusive Fahrer.Aber es ist auch beängstigend einfach, als Zivilist mit Militär-fahrzeugen über die Insel zu walzen. Die erforderliche Lizenzfür Spezialfahrzeuge kann man mit etwas Geschick in zweiTagen erwerben.

Bevor er zum Kommandeur eines Militärfuhrparks wurde,führte Mead ein friedliches Leben als Metzger. Zu friedlichvielleicht. Im Krieg war er nie. Eines Tages las er in der Zeitungeinen Bericht über einen Mann, der mit ausgemusterten Ar-meefahrzeugen sein Geld verdiente. Mead kaufte ein Grund-stück und baute es zum Truppenübungsplatz aus. Das war vorelf Jahren. Mittlerweile besitzt er 130 Panzer und Armeefahr-zeuge, einige in gefechtsfähigem Zustand. In der Werkstatthallekauert ein sowjetischer Panzer vom Typ BRDM-2 neben einembritischen Centurion, zwei Biester des Kalten Krieges.

Auf der Wiese dahinter stehen einige Ferrets, die Radpanzerder britischen Armee, dazu Mannschaftswagen, eine HandvollAbbot-Panzerhaubitzen, drei Lance-Raketenfahrzeuge undweiter hinten der speziell gesicherte Tourbus von MargaretThatcher. Mead klettert in die Fahrerluke eines Chieftain, dener einem Pub-Besitzer für 2000 Pfund abgekauft hat, und drückteinige Knöpfe. Die Wiese vibriert, der Motor dröhnt, der Aus-puff spuckt weißen Qualm. Das Monster lebt. „Der Jungeschluckt alles von Diesel bis Salatöl“, brüllt Mead.

Ein Mann mit Baseballmütze und Gummistiefeln nähert sich.Es ist Todd Chamberlain, ein Amerikaner aus New York, dermit Mead an den Panzern herumschraubt. Bevor sich Cham-berlain an der Aufrüstung beteiligte, arbeitete er als Händler

bei JP Morgan. Ihm gefalle die globale Anziehungskraft, dieMeads Unternehmen habe, sagt er. Neulich seien zwei Jungsaus Australien angereist, um den Chieftain zu fahren.

Mead öffnet die Tür zu einem Raum, dessen Fenster mitschweren Gitterstäben gegen Eindringlinge gesichert sind. Anden Wänden hängen Webley-Revolver, eine M20-Panzer -abwehrrakete, ein deutsches Scharfschützengewehr, alles in allem 250 Pistolen und Flinten. Genug, um eine mittlere Revo-lution in Gang zu halten. „Wir sind keine Irren mit Knarren“,sagt Todd Chamberlain. Er stellt ein MG-42 auf den Tisch.„Hey, Nick, stopp mal meine Zeit.“ Er braucht 20 Sekunden,um das Maschinengewehr zu zerlegen und wieder zusammen-zubauen. Christoph Scheuermann

Twitter: @chrischeuermann

Rent-a-tankGlobal Village Ein britischer Unternehmer

profitiert von der Begeisterung seiner Landsleute für Panzer.

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Firmenchef Mead: „Der schluckt alles von Diesel bis Salatöl“

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Akustik

„Laut ist nicht

gleich Lärm“

Wie hört sich Deutschland an?

Was klingt urban, was ist Lärm?

Die Aktion „Stadtklang 2015“,

eine Initiative des Bundesfor-

schungsministeriums, versucht

das herauszufinden. Auf die

Website des Projekts kann

jeder Bürger Hörbeispiele aus

seiner Umgebung laden, ob

Fahrradklingeln oder Schiffsge-

tucker, Stimmengewirr oder

Taubengurren. Thomas Kusitzky,

40, Klangforscher in Berlin und

Berater der Initiative, fordert,

dass Akustik stärker in der Stadt -

planung berücksichtigt wird.

SPIEGEL: Herr Kusitzky, wie unterscheiden sich deutscheStädte in ihrem Klang?Kusitzky: In einer Hafenstadtwie Hamburg sind ganz sicher andere Klänge zu hören als in einer Stadt mitausgedehnten Grünanlagenwie Hannover. In mehrspu -rigen Straßen mit hohen, pa-rallel zueinander stehendenHäusern, wie es sie in Berlingibt, breitet sich der Schallanders aus als in den verwin-kelten Gassen Erfurts oderBambergs. SPIEGEL: Auf der Stadtklang-Website gibt es ein tutendesNebelhorn ebenso wie dieschrillen Rufe von Mauerseg-lern oder singende Fußball-fans. Kann es in einer Stadtguten Lärm geben? Kusitzky: Nein, Lärm ist defi-niert als störender Klang. Aberlaut ist nicht gleich Lärm. EinVolksfest etwa kann durchausgeräuschvoll sein, wird aberzumindest von den Besuchernals lebendig und ausgelassenempfunden. SPIEGEL: Stille ist keine Voraus-setzung für Wohlgefühl?

Kusitzky: In einer Stadt lebtman auch, weil man Aktivitätsucht. Man will da sein, wo an-dere Menschen sind. Das Zielsollte deshalb nicht sein, über-all nur Stille zu erzeugen.Zwar kann Ruhe durchaus ge-wollt sein – an einem Sonntag-morgen etwa. Grundsätzlichsollte man jedoch bei der Pla-nung die gesamte qualitativeBandbreite des Klangs berück-sichtigen und ihn nicht auf lautund leise reduzieren.SPIEGEL: Wie lässt sich eineStadt akustisch planen? Kusitzky: Baumaterial und Bau-weise beeinflussen die Aus-breitung des Schalls. Pflanzenkönnen Singvögel anlocken.Aber vor allem wie wir leben,bestimmt den Klang. SPIEGEL: Welcher Ort klingt fürSie schön? Kusitzky: Ich wohne in Berlinund bin gern am Landwehr -kanal. Dort erlebt man einenhörbar weiten, großzügigenRaum, der an vielen Stellennicht von Verkehrsklängen do-miniert wird – ein entspannterund lebendiger Ort, der geradedadurch urban wirkt. kk

102 DER SPIEGEL 43 / 2015

Wissenschaft+Technik

Fußnote

56600Menschen sind allein

in Sierra Leone nicht an

Ebola erkrankt, weil zwi-

schen Juni 2014 und

Fe bruar 2015 Zentren zur

Behandlung und Isolie-

rung mit Tausenden Pa-

tientenbetten aufgebaut

wurden; das haben For-

scher der London School

of Hygiene & Tropical

Medicine errechnet. Wäre

die Hilfe einen Monat

früher ein getroffen, hätten

weitere 12 500 Menschen

vor dem Virus bewahrt

werden können.

Roboter

Mach einen Fehler!

Menschen können Roboterbesser leiden, wenn diesesich nicht perfekt präsentie-ren, sondern kleine Schwä-chen zeigen. Das ist das Er-gebnis von Experimenten mitRoboter „Erwin“ (EmotionalRobot with Intelligent Net-work), das Forscher der Uni-versity of Lincoln kürzlichauf einem Kongress in Ham-burg vorgestellt haben. „VieleWissenschaftler beschäftigensich mit der Frage, wie Robo-ter aussehen müssen, damitMenschen gut mit ihnen zu-rechtkommen“, sagt JohnMurray, einer der beteiligtenForscher, „uns hingegen inte-ressiert die Persönlichkeit.“In der ersten Versuchsreihesollten Probanden mit Erwinüber alltägliche Themen ins Gespräch kommen, etwaFußball oder das Fernsehpro-gramm. Der Roboter solltedabei so viele Informationen

wie möglich über Vorliebenund Gewohnheiten seines Ge-genübers sammeln. Da Erwinmit einer Sprachsoftware aus-gestattet ist, kann er sinnvol-le Anschlussfragen stellenund textbegleitend mithilfebeweglicher Lippen- und Au-

genbrauenattrappen eine pas-sende Emotion ausdrücken.Beim zweiten Treffen zwi-schen Mensch und Maschineerinnerte sich Erwin dann beider Hälfte der 30 Probandenkorrekt an jedes Detail ausdem ersten Gespräch – wie essich für einen Roboter gehört.Bei der zweiten Hälfte derVersuchsteilnehmer hingegenmachte er gelegentlich kleineFehler, nannte zum Beispieleinen falschen Film als Favo-riten des Probanden oder erinnerte sich an ein Klei-dungsstück, das dieser beimersten Mal gar nicht getragenhatte. Beim dritten Treffenwar Erwins Verhalten dannjedem Probanden gegenübergenau umgekehrt. Am Endeergab die Befragung der Teil-nehmer ein klares Votum für die Menschlichkeit: Irrtesich Erwin hin und wieder,war er seinem Gegenüberdeutlich sympathischer, alswenn er die Perfektion in Per-son war. vh

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Mimik des Roboters „Erwin“

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103DER SPIEGEL 43 / 2015

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Alles im FlussEinem Gemälde gleich rauschen kalt-

graue Gletscherfluten durchs Bett

der Þjórsá, des längsten Stroms Is-

lands, und mischen sich dramatisch

mit rotem, eisenschüssigem Wasser

aus dem Moor. Der Grund: Die Þjórsá

entspringt dem Eisschild des Hofsjö-

kull und speist sich später aus den

Quellen des Þjórsáver-Moorgebiets.

Die Luft aufnahme stammt aus

dem Ende Oktober erscheinenden

Bildband „Wasser“ von Bernhard

Edmaier und Angelika Jung-Hüttl.

Glosse

Der virale KandidatWeshalb Donald Trump nicht gern Hände schüttelt

Die Saison für Noroviren steht bevor. Diese Erreger einer Ma-gen-Darm-Grippe gelten seit je als besonders hartnäckig. Sym p -tome: Bauchkrämpfe, Durchfall, Erbrechen. Experten warnen,Noroviren hätten in diesem Jahr wieder zu einer neuen, heim -tückischen Form gefunden. Die Erreger mutieren dauernd. Umsie abzuwehren, müsste man sich immerfort mindestens 30 Se-kunden lang die Hände waschen. Wer macht das schon?Auch Donald Trump will nicht krank werden. Erst kürzlichbezeichnete der republikanische Präsidentschaftsbewerber dasHändeschütteln als einen der „Flüche der amerikanischen Ge-sellschaft“. Von seinem Rivalen Jeb Bush wurde er dafür als„bakteriophob“ bezeichnet. An sich eine erträgliche Beleidi-gung. Doch wer im amerikanischen Wahlvolk nur mikroben-verseuchten Plebs erkennen kann und diesem den Handschlagverweigert, wird vielleicht nicht krank, aber auch nicht Präsi-dent. Genauso gut könnte Trump Backpfeifen verteilen. An-

dererseits: Mikrobiologisch betrachtet hat der Mann natürlichrecht. Laut Experten werden bis zu 80 Prozent aller Infektio-nen über die Hände weitergereicht. Initiativen wie „NoHands“ werben dafür, den flüchtigen Hautkontakt mit Frem-den zu meiden.

Sollte dennoch ein Norovirus seinen Weg zu Donald Trumpfinden, könnte Wang Yongjie erklären, wie es dazu gekom-men sein muss. Der chinesische Wissenschaftler fand heraus,dass das Virus gern in Austern überdauert. Mehr als 80 Pro-zent der menschlichen Norovirus-Typen waren dort nachweis-bar. Fast zeitgleich entdeckten deutsche Forscher, wie der Genuss von Zitronensaft die Symptome der Krankheit abmil-dern, wenn nicht gar deren Ausbruch verhindern könnte. DerRatschlag für die Noroviren-Saison muss deshalb lauten: Der Plebs lässt das Händeschütteln sein, vor allem mit DonaldTrump. Und isst Austern nur mit Zitrone. Kerstin Kullmann

Wissenschaft

Wer zum ersten Mal das Google-Hauptquartier am Rande derBucht von San Francisco besucht,

erwartet meist Gigantisches, eine Zentraleso überbordend wie der Einfluss und dieAmbitionen des Konzerns. Doch der Cam-pus des Internetriesen könnte auch mittenin einem Gewerbegebiet in Hannover-Südliegen, er ist kaum mehr als eine lose An-sammlung aus einigen Dutzend nichts -sagender Glas- und Betonwürfel.

Es gibt keine imposante Auffahrt, kei-nen Haupteingang, keine zentrale Lobby,noch nicht einmal ein großes Schild, andem sich erkennen ließe: Hier geht es rein.Tore und Schranken, Wächter und hoheZäune, wie man sie von nahezu jedemWeltkonzern kennt, sind nirgends zu finden.

Der Chefetage im vierten Stock einesrotbraunen Klinkerbaus fehlen alle Insi -gnien mächtiger Wirtschaftsführer: die Vor-zimmerdamen, die schweren Möbel, dieteure Kunst. Das Büro von Larry Page,Gründer und Vorstandsvorsitzender desKonzerns, hat kaum mehr als 25 Quadrat-meter, einen einfachen Schreibtisch, eineabgewetzte Besuchercouch. Es ist totenstill.

Page, geboren 1973 in einem kleinen Ortim US-Bundesstaat Michigan, die Elternbeide Informatiker, treibt den Konzernschon seit Jahren zu immer ambitionierte-ren Wetten auf die Zukunft: selbstfahrendeAutos, Internet aus dem Weltall, Roboter,virtuelle Realität, künstliche Intelligenz.Sogar an der Verlängerung des Lebensforscht Google inzwischen. Um diese neu-en, noch futuristischer wirkenden Projekteklarer vom Kerngeschäft der Suchmaschi-ne zu trennen, hat Page Google vor Kur-zem in einen neuen Dachkonzern namensAlphabet umgewandelt.

Doch gleichzeitig sorgt das Geschäfts -gebaren des Konzerns für Unbehagen. Vorallem in Deutschland hat sich das Bild desunersättlichen Datenkraken durchgesetzt,der alle Informationen abgreift, der nichthaltmacht vor dem, was höchst privat oderintim ist, der alles durchdringt und einsam-melt, um es dann zu Geld zu machen. DieEU-Kommission führt ein Wettbewerbs-verfahren, die Politik drängt darauf, denKonzern strenger zu regulieren.

Anders als Steve Jobs, der Apple-Grün-der, ist Page kein natürlicher Charismati-ker – im Gegenteil. Der Google-Gründer

ist introvertiert, fühlt sich unwohl in Men-schenmengen, war als Jugendlicher einNerd, ein Außenseiter. Er spricht fortwäh-rend im gleichen, gemächlichen Tonfall mitraspelnder Stimme, die Folgen einer Auto-immunerkrankung. Vor einigen Jahren, alsseine Stimmbandprobleme das erste Malauftraten, war er kaum noch zu verstehen.

Er läuft mit langsamen, bedächtigenSchritten, und in der Öffentlichkeit, inmit-ten vieler Menschen, sagt er fast nichtsvon Gehalt, bewegt sich so vorsichtig, dasser gleichermaßen schüchtern und unnah-bar wirkt. Meist trägt er dunkelgraue oderschwarze Sakkos über dunkelgrauen oderschwarzen T-Shirts, dazu dunkelgraueJeans und schwarze Turnschuhe. SeineHaare sind grau meliert, die Augenbrauendicht und hervorstechend.

Fragt man Page, ob er das wirklich allesschon vor zehn Jahren hatte vorhersehenkönnen, die Machbarkeit eines selbstfah-renden Autos oder sprachgesteuerterSmartphones, antwortet er: „Natürlich, daswar mir immer klar.“ Er sagt das nicht auf-schneiderisch, sondern sachlich und leise,die Augen niedergeschlagen, als sei es eineBürde, stets wieder erklären zu müssen,dass all dieser Fortschritt doch auf der Handliege, wenn man nur genau hinschaue.

Es ist nicht leicht, Page zu treffen. Ermeidet die Öffentlichkeit mit großem Auf-wand. Man weiß, dass er mit einer Bio -informatikerin verheiratet ist und zwei Kin-der hat, aber nicht einmal deren Namensind bekannt: verbannt aus dem digitalenGedächtnis der Welt. Für jemanden, des-sen Lebensziel es ist, alles Wissen der Weltzu sammeln und für alle zugänglich zu ma-chen, ist Page sehr darauf bedacht, dasWissen über sich selbst zu verknappen.

Dabei gibt es wenige Menschen auf derWelt, über die wir mehr wissen sollten, diewir besser verstehen sollten als Larry Page.Innerhalb weniger Jahre hat er Googlezum wohl einflussreichsten Konzern derWelt, zur ersten Supermacht des digitalenZeitalters gemacht. Doch das reicht ihmnicht. Seine Ambitionen sind größer.

SPIEGEL: Mr Page, Google erhält inzwi-schen jeden Tag Milliarden Such anfragen,die von Algorithmen analysiert und in rie-sigen Datenzentren gespeichert werden.

Das Gespräch führte der Redakteur Thomas Schulz.

Mitunter scheint es, als sehe und wisseGoogle bereits alles. Ist die Such maschineauf dem Weg, allwissend zu werden? Page: Davon sind wir noch sehr weit ent-fernt. Die Maschine hat bis jetzt noch keingutes Verständnis davon, was der Suchen-de weiß oder nicht weiß, kann Fakten ausverschiedenen Bereichen nicht gut ver-knüpfen und deswegen auch nicht einfachjede Frage beantworten, die ihr gestelltwird. Aber noch gehen immer mehr Men-schen online, gibt es immer mehr Informa-tionen im Internet und immer mehr Nut-zer. Dadurch geht es mit der Zeit auch im-mer weiter voran. SPIEGEL: Seit einigen Jahren arbeitet Goo-gle intensiv daran, das Wissen der Welt ineiner riesigen Datenbank miteinander zuverknüpfen und die Suchmaschine Spracheverstehen zu lassen. Was ist Ihr Ziel? EineArt omnipräsenter Supercomputer à la„Star Trek“, mit dem man sich unterhaltenkann?Page: Wir sind auf jeden Fall noch nichtam Ende der Entwicklung angekommen,die Suche wird noch beeindruckendeSprünge machen. Es gibt die Tendenz, denFortschritt zu unterschätzen, weil es kon-tinuierlich und graduell vorangeht. DasGoogle von heute ist mit dem Google vonvor zehn Jahren nicht zu vergleichen. Aberwir haben noch immer große Hürden voruns. Ich bin begeisterter Kitesurfer undwill, dass mir einfach die Frage beantwor-tet wird: Wo soll ich heute surfen gehen?Dazu müssen aber viele unterschiedlicheInformationen zusammengezogen werden:Wo ist es gerade windig, wie komme ichdort hin, und ist der Strand überhaupt öf-fentlich? Das überfordert die Maschinenoch. Aber wir arbeiten dran. SPIEGEL: In den vergangenen Jahren habenSie viele futuristische Projekte angestoßen,die auf den ersten Blick nichts mehr mitdem Kerngeschäft von Google zu tun ha-ben. Was hat Sie von der Suchmaschinezum selbstfahrenden Auto geführt?Page: Wir denken viel über grundlegendeProblemfelder der Menschheit nach undwie wir sie durch Technologie lösen kön-nen. Für uns war dabei offensichtlich, dassVerkehr ein enorm wichtiges Gebiet ist:Die Menschen verbringen unfassbar vielZeit mit Pendeln, dabei wird wahnsinnigviel Energie verbraucht, und es gibt so vie-le Unfälle.

„Ich bin einfach Optimist“SPIEGEL-Gespräch Google-Gründer Larry Page, 42, hat große Ziele: Der wohl mächtigste Unternehmer der Erde will mit intelligenten Maschinen wie dem selbstfahrenden Auto nicht nur Geld verdienen, sondern auch die Welt verbessern.

104 DER SPIEGEL 43 / 2015

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Visionär Page

105DER SPIEGEL 43 / 2015

Wissenschaft

SPIEGEL: Aber wie müssen wir uns das vor-stellen? Sie sitzen mit Ihrem MitgründerSergey Brin bei einer Tasse Kaffee zusam-men und überlegen: Niemand versteht Da-tenverarbeitung besser als wir, die Auto-industrie schläft, bauen wir also doch ein-fach ein selbstfahrendes Auto?Page: Zumindest hilft es, wenn man prin-zipiell seine Überlegungen so beginnt: Wirwollen ganz bewusst Großes vollbringen.Und wir begegnen dabei auch wiederholtProblemen, von denen wir lernen und dieuns in neuen Bereichen weiterbringen.Durch Street View und Google Mapskannten wir uns im Straßenverkehr be-reits gut aus, verstanden Kosten und Pro-bleme. Für uns war es deswegen wohlleichter als für andere zu erkennen, dassein selbstfahrendes Auto eine vielverspre-chende Technologie ist. Und letztlich gehtes dabei am Ende vor allem um Informa-tionsverarbeitung, und darin sind wirziemlich gut. SPIEGEL: Für Sie war es also ein logischerSchritt, die ständig wachsende Maschinen-intelligenz zu nutzen, einen fahrenden Ro-boter zu bauen?Page: Auf der Hand lag es nicht gerade.Wenn Sie jemanden fragen würden: Kannman selbstfahrende Autos bauen?, ist die in-tuitive Antwort bei den meisten: nein. Unddeswegen halte ich es auch grundsätzlich füreine sehr schlechte Idee, unternehmerischeEntscheidungen auf der Grundlage einesBauchgefühls zu treffen. Man muss tief ein-steigen, alles hinterfragen, und dann erstsieht man Möglichkeiten, die andere nicht er -kennen. Denn Technologie wird immer kom-plizierter, immer schwerer zu verstehen.SPIEGEL: Auch für Sie?Page: Auch für mich. Immer öfter geht esum physikalische Grundsatzfragen, diekaum noch ganz nachzuvollziehen sind.Deswegen ist es so schwer, die Zukunftder Informatik, den Weg der Digitalisie-rung vorherzusagen. Im Falle des selbst-fahrenden Autos gab es ursprünglich nureine sehr kleine Anzahl von Leuten, diedas Konzept wirklich verstand. SPIEGEL: Die technologische Machbarkeitsteht mittlerweile außer Frage, nahezu je-der Hersteller arbeitet an eigenen Projek-ten. Nur: Wie will Google mit Roboter -autos Geld verdienen?Page: Immer wieder heißt es: Ach, die wer-den in den selbstfahrenden Autos Datensammeln und dann Werbung verkaufen.Das macht absolut keinen Sinn.SPIEGEL: Aber kann Google wirklich eineeigene Autoproduktion und ein Händler-netz hochziehen? Da ist Ihnen die Auto -industrie doch weit überlegen. Und auchin der Technologie holen die Herstellernun schnell auf. Page: Schauen Sie, am Anfang wussten wirauch nicht, wie wir mit der SuchmaschineGeld verdienen sollten, sondern haben erst

Trend in den vergangenen Jahren umge-kehrt hat. Dass auch andere endlich wiederambitionierter sind. So weit hätten wirauch vor fünf Jahren schon sein können,aber es fehlte der Mut. SPIEGEL: Vielleicht aus gutem Grund. In denvergangenen Monaten haben prominenteUnternehmer und Wissenschaftler, von BillGates über Tesla-Gründer Elon Musk bisStephen Hawking, öffentlich gewarnt, dasskünstliche Intelligenz zu einer Bedrohungfür die Menschheit werden könnte.Page: Die Diskussion wird da auch von zuvielen Science-Fiction-Geschichten geprägt.Ja, wir machen sicherlich Fortschritte inRichtung künstlicher Intelligenz, aber wirsind dennoch weit von ihr entfernt. Ich ver-stehe auch die grundsätzlichen Bedenken,und deswegen versuchen wir, offen und besonnen mit allen unseren Projekten aus diesem Bereich umzugehen. Prinzipiellbin ich aber überzeugt, dass es sehr, sehrwichtig ist, uns weiter in diese Richtung zu bewegen. Denn das Potenzial, die Le-bensqualität für uns alle zu steigern unddie Welt besser zu machen, scheint mirenorm. SPIEGEL: Intelligentere Maschinen verspre-chen nicht zuletzt in der Robotik erheb -liche Fortschritte. Google hat in den ver-gangenen Jahren mehrere Robotikfirmenübernommen. Planen Sie nun einen An-

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2005 2007 2009 2011 2013 2015

Quelle:Thomson Reuters

Datastream

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September 2008Verfügbarkeit des Webbrowsers Chrome

September 2008Das Betriebssystem Android für Smartphones kommt auf den Markt

Juni 2012Präsentation der Datenbrille Google Glass

Januar 2014

Übernahme des Thermostat-Herstellers Nest

459,2

Oktober 2006Google erwirbt die Videoplattform YouTube

Mai 2007Street ViewSpezialkameras fertigen 360˚-Fotos für die Kartendienste Google Maps und Google Earth

September 2013Gründung des Biotech-Labors Calico

April 2011 Page wird Google-Chef

Aufkommende IntelligenzBörsenwert von Google*in Milliarden Dollar*seit Oktober 2015 nach Umstrukturierung: Alphabet

einmal die Technologie entwickelt. Mitdem selbstfahrenden Auto wird es ähnlichsein: Es ist ein Produkt, das Einfluss auffast die gesamte Menschheit haben wird.Und deswegen wird es auch ein riesigesGeschäft werden. Ich bin mir absolut sicher, dass wir damit ordentlich Geld verdienen werden, auf welche Art auchimmer.SPIEGEL: Autonomes Fahren ist erst durchgroße Fortschritte in der Informatik mög-lich geworden, vor allem durch Sprüngeim maschinellen Lernen und durch soge-nannte neuronale Netze: Computerpro-gramme bringen sich dabei quasi selbstneue Fähigkeiten bei, wie ein mensch -liches Gehirn, das stetig Neues lernt. Wer-den nun alle Maschinen rasant immer klüger?Page: Ja, die Begeisterung in Wissenschaftund Industrie ist groß, und es entstehenfortwährend neue Anwendungen dank ma-schinellen Lernens. Aber hier bei Googlebasiert quasi alles, was wir machen, schonimmer zu einem großen Teil darauf. Wäh-rend andere da lange skeptisch waren, ha-ben wir die Erfahrung gemacht, dass dieFortschritte stets riesig waren, wenn wiran Probleme mit solchen Lerntechnikenherangegangen sind. Sogar bei Projekten,die fast unmöglich schienen, etwa einerÜbersetzungsmaschine. Und wir stehenerst am Anfang. SPIEGEL: Und das Ziel ist künstliche Intelli-genz?Page: Ich ziehe es vor, zunächst noch vonaufkommender Intelligenz zu sprechen.SPIEGEL: Weil Computer versuchen, sichechter Intelligenz zu nähern, aber dazunoch nicht wirklich in der Lage sind?Page: So kann man es sagen. Die For-schung zur künstlichen Intelligenz war lan-ge aus der Mode, das Thema galt als abge-hakt und aussichtslos. Ich habe das nie sogesehen, im Gegenteil, ich habe es beiGoogle immer vorangetrieben. Und des-wegen freue ich mich nun, dass sich der

griff auf die Maschinenbauindustrie? Odersoll bald in jedem Haushalt ein Google-Roboter stehen? Page: In der Robotik hat sich zuletzt einigesgetan, und ich habe mich auch persönlichviel mit dem Thema beschäftigt. Das hatin der Tat für einiges Aufsehen gesorgt. Füruns ist das, glaube ich, der richtige Weg:Felder zu wählen, die wir für wichtig hal-ten, und dann andere dafür zu begeistern.Deutschland ist ja sehr stark in der Auto-produktion, hat viel Erfahrung in der Ro-botik, und deswegen ist das Thema bei Ih-nen im Land nicht so neu. Aber für an dereIndustrien gilt das nicht. Ich sehe deswegenerhebliche Möglichkeiten, durch Roboterdie Produktivität zu steigern, Prozesse ef-fizienter zu machen, Kosten zu senken.SPIEGEL: Konkreter bitte. Google betreibtbeispielsweise mit Android das am meistenverbreitete Smartphone-Betriebssystemder Welt. Manche Experten glauben nun,dass Sie an einem ähnlichen Standard -betriebssystem für Roboter arbeiten, dasses Ihnen also am Ende eher um die Soft-ware als um die Hardware geht. Page: Darauf kann ich Ihnen genauso wenig eine eindeutige Antwort geben wieauf die Frage nach dem Geschäftsmodellfür selbstfahrende Autos. Wir sind einfachnoch in einem zu frühen Stadium mit alldiesen neuen Technologien. Sprechen Siemanchmal mit Robotikexperten?SPIEGEL: Ja, und sie sagen alle, dass es nochimmer extrem schwierig ist, Roboter zubauen, die etwa besser greifen können, we-niger gefährlich für Menschen sind odereigenständig neue Aufgaben lernen.

Page: Ganz genau. Ich kenne so ziemlichjeden führenden Experten aus diesem Be-reich, und viele sind frustriert. Vielleichtsind wir mit der Robotik gerade an einemähnlichen Punkt wie vor zehn Jahren mitder Forschung zur künstlichen Intelligenz:Jeder weiß, dass wir auf einen Wende-punkt zusteuern, aber keiner weiß genau,was dazu passieren muss. Klar ist aber,dass er kommen wird.SPIEGEL: Der Fortschritt hat sich in den ver-gangenen Jahren beschleunigt, die techno-logischen Sprünge werden immer größer.Viele Menschen kommen dabei nicht mehrmit, nicht wenigen macht diese Entwick-lung Angst. Verstehen Sie das?Page: Vor allem in Europa scheint es diesesWeltbild zu geben, dass Technologie et-was ist, vor dem man sich fürchten muss.Denken Sie mal zurück an die Welt -ausstellungen von früher. Da sind dieMenschen begeistert hingeströmt, um vonder Zukunft zu träumen. Ich habe neulichim Kino den Film „Tomorrowland“ ge -sehen …SPIEGEL: … in dem George Clooney einenErfinder spielt, der in eine futuristischeTraumwelt reist.Page: Ich finde solche Filme wichtig, dennda wird noch Begeisterung vermittelt fürdie Welt von morgen. Bislang ist die Weltdurch Fortschritt doch immer ein Stückbesser geworden, mit weniger Armut, mitweniger Menschen, die in Kriegen sterben.Warum sind wir bloß so pessimistisch? Ichverstehe das nicht, das ist doch irrationalund macht wissenschaftlich keinen Sinn.Wir sollten viel optimistischer sein.

SPIEGEL: Das klingt, als seien Sie frustriert,nur weil nicht jeder Ihrem radikalen Zu-kunftsoptimismus folgen will. Page: Negativität frustriert doch jeden,oder? Deswegen sollten wir auch mehr da-rüber diskutieren, warum es diese ableh-nende Haltung gibt. Das Internet, selbstfah-rende Autos, das sind doch grandiose Errun -genschaften, die aus Optimismus geborenwurden. Und es ist ja nicht so, dass uns diegroßen Probleme ausgehen würden, die esnoch zu lösen gilt. Warum sind wir also nichtbegeisterter von den Zukunftsaussichten?SPIEGEL: Das wollen wir von Ihnen wissen.Page: Ich glaube, wir haben ein Stück weitdas Vertrauen in unsere großen Institutio-nen verloren. Die Menschen glauben nicht,dass Unternehmen in ihrem Sinne handeln,dass sie es ernst meinen können mit sozia-len Visionen – trotz aller Errungenschaften.Das müssen wir ändern und damit denMenschen helfen, wieder begeistert davonzu sein, am Fortschritt zu arbeiten. SPIEGEL: Es gibt aber gute Gründe, die ge-gen einen uneingeschränkten Technologie-optimismus sprechen. Ökonomen warnen,dass zumindest mittelfristig weltweit struk-turelle Jobverluste drohen, wenn Compu-ter und Software zunehmend menschlicheArbeitnehmer ersetzen. Page: Das ist ein sehr wichtiges Thema, mitdem ich mich intensiv befasse und zu demich sehr viel lese. Das Internet eröffnetenorme neue Möglichkeiten, aber es führtauch zu Verwerfungen. Ich rechne mit gro-ßen Umbrüchen. Und wenn man in einemUnternehmen arbeitet, das mit der Digita-lisierung zu kämpfen hat, dann sorgt man

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Forscher in einem Projektionsraum für virtuelle Realität: „Warum sind wir nicht begeisterter von den Zukunftsaussichten?“

sich natürlich. Aber auch hier plädiere ichdafür, optimistisch zu sein und vor allemdie Vorteile zu sehen.SPIEGEL: Was soll der Vorteil sein, wenndie Menschen in immer mehr Jobs zuneh-mend von Software ersetzt werden? Page: Die Menschen werden mehr Zeit undmehr Flexibilität haben. Fünf Tage die Wo-che von neun bis fünf bei irgendeinemKonzern zu arbeiten, ein stabiler Job, denman aber öde findet, ist doch nun auchwirklich nicht die tollste Sache der Welt.Wenn man arbeitet, dann doch in einemJob, der erfüllend ist. SPIEGEL: Jetzt machen Sie es sich zu ein-fach. Es ist weit besser einen langweiligen,als gar keinen Job zu haben. Page: Natürlich. Und all diese disruptivenVeränderungen durch die Digitalisierungkönnen einem auch Angst machen. Aberich glaube, dass wir Lösungen finden wer-den. Ich habe das gerade mit Richard Bran-son diskutiert …SPIEGEL: … dem britischen Unternehmer,der unter anderem die Fluglinie Virgin ge-gründet hat. Page: Er schlägt vor, strukturelle Arbeits-platzverluste zum Beispiel zu bekämp-fen, indem mehr Urlaub eingeführt wirdund so die Arbeitszeiten verringert wer-den. Warum sollten wir nicht über eineUno-Resolution nachdenken, weltweit dieZahl der Urlaubstage um zehn Prozentan zu heben, sodass kein Land einen Stand-ortvorteil hat? Damit könnten Unter -

Page: Aber den Fortschritt zu verlangsa-men macht die Probleme in unserem jet-zigen System doch nur größer. Wer im glo-balen Wettbewerb zu langsam ist, verliert. SPIEGEL: Vor allem in Deutschland sorgensich die Menschen um den Datenschutzim digitalen Zeitalter. Google hat sich da-bei in der Vergangenheit den Ruf als rück-sichtsloser Datenkrake erobert. NehmenSie die Sorgen der Menschen nicht ernst?Page: Ich denke schon immer viel über Da-tenschutz und Datensicherheit nach undhalte beides für immens wichtige Themen.Computer und die Digitalisierung habendabei zu großen Veränderungen geführt,und da ist es nur natürlich, dass sich dieMenschen sorgen. Aber Technologie, dasTeilen von Informationen, kann auch ge-radezu transformativ sein und uns aufwichtige neue Wege führen.SPIEGEL: Ihr Optimismus in allen Ehren, abereinem laxeren Datenschutz können wirwirklich keine positive Seite abgewinnen.Page: Davon spreche ich auch nicht, lassenSie es mich verdeutlichen: Ich habe vorKurzem an der Stanford University meineDNA analysieren lassen. Dabei wurdenmir eine Menge Fragen zum Datenschutzgestellt, was richtig ist, denn es ist natürlicheine schwerwiegende Sache, sein Erbgutsequenzieren zu lassen. Ich habe dabeiauch zugestimmt, dass meine DNA in derForschung verwendet wird. Aber woranich vor allem interessiert bin, ist aus Da-tenschutzgründen nicht möglich: Sollte ein

108 DER SPIEGEL 43 / 2015

nehmen trotz weniger Arbeit mehr Jobssichern.SPIEGEL: Das klingt nach einer sozialroman-tischen Fantasie. Sind Sie am Ende einUtopist?Page: Nein, den Begriff finde ich schon wie-der zu negativ besetzt. Ich bin einfach Op-timist. Ist das so schlimm? Es wird ja auchimmer gern darüber gewitzelt, dass SergeyBrin und ich Montessori-Schulen besuchthaben. Aber wir haben dort gelernt, un-abhängig zu denken, alles infrage zu stel-len und ungewöhnliche Wege zu gehen. SPIEGEL: Zurück zu Ihrem Vorschlag: MehrUrlaub ist aber keine dauerhafte Lösung fürein strukturelles Arbeitslosigkeitsproblem.Page: Solche Ideen sind natürlich nur Mo -saiksteine. Mir geht es darum, den Menschendiese große Angst vor Veränderung zu neh-men. Der Blick auf die Welt scheint mir zustatisch. Die Arbeitswelt hat sich doch schonimmer stark verändert. Wie viele Menschenarbeiten etwa heute noch in der Landwirt-schaft? Wenn wir unsere Produktivität starkerhöhen, dann kann das enorme Vorteilebringen. Ich kenne viele Menschen, vor al-lem Alleinerziehende, die nicht genügendZeit haben, sich um ihre Kinder zu küm-mern, weil sie zu viel arbeiten. Wir solltendanach streben, das zu ändern, das Lebenleichter zu machen. Vielleicht bin ich aberauch einfach zu idealistisch.SPIEGEL: Den Idealismus verübelt Ihnenwohl kaum jemand, eher schon, dass Siezu schnell, zu aggressiv vorgehen.

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Straßen in Shanghai: „Das Potenzial, die Lebensqualität für uns alle zu steigern, scheint mir enorm“

FÜR DICH NUR DAS BESTE!AZ ALKMAAR - FC AUGSBURG 22. OKTOBER, AB 18:00 UHR

.DE APP .FM TV

Forscher etwas Ungewöhnliches in mei-nem Erbgut finden, möchte ich, dass ermich anonym kontaktieren kann und michinformiert. Aber in unserem System gehtso etwas nicht, weil wir aus Angst zu vieleBarrieren errichten. Das finde ich traurig.SPIEGEL: Aus einem so spezifischen Son-derfall kann man doch noch lange nichtdie Lehre ziehen, dass wir prinzipiell frei-zügiger mit unseren persönlichen Datenumgehen sollten. Page: Das fordere ich ja nicht. Mir geht esdarum, dass die Lage komplizierter ist, alssie manchmal erscheint. Immer wenn ichintensiv über dieses Thema nachdenke,habe ich das Gefühl, dass wir uns bei allenberechtigten Bedenken gleichzeitig auchTüren verschließen. Und das sorgt mich.Informationen zu teilen, auch sehr private,kann heutzutage durch die Computertech-nologie zu großen Fortschritten führen, bei-spielsweise eben in der Medizin. Natürlichmuss Missbrauch verhindert werden. An-dererseits sollten wir nicht aus PrinzipWege verhindern, von denen wir noch garnicht wissen, wo sie uns hinführen.SPIEGEL: Sie wünschen sich also neue Wertefür das digitale Zeitalter?Page: Nein, aber wir sollten uns ehrlichereingestehen, dass wir einfach noch nicht

genau wissen können, wie wir mit den potenziellen Chancen und Problemen um-gehen sollen, die sich aus all den neuenDingen ergeben. Wir brauchen klare Leit-linien und Regeln, natürlich, aber wir soll-ten gemeinsam in einem kontinuierlichenProzess lernen, welches die richtigen sind.Wir müssen dabei sicherstellen, eine Weltzu ermöglichen, in der wir mit großenSchritten vorankommen können. SPIEGEL: Ihrem Plädoyer will die Politik al-lerdings nicht folgen. Vor allem in Brüsselund Berlin denkt man stattdessen darübernach, wie Google Grenzen gesetzt werdenkönnen. Und die EU-Kommission wirftGoogle in einem Wettbewerbsverfahrenvor, seine marktbeherrschende Stellungrücksichtslos auszunutzen. Page: Wir befinden uns in einer sehr dynamischen Umgebung: Es entstehenständig neue Firmen, neue Ideen, neueProdukte. Und genau das ist es ja auch,was wir wollen: eine Welt, in der schnellesWachstum und großer Fortschritt möglichsind. Für den Konsumenten ist das doch

gut. Und es löst automatisch auch einigeder wettbewerbsrechtlichen Probleme,weil ständig Neues entsteht, der Marktständig in Bewegung ist. Auch Googlewird in zehn Jahren völlig anders aus -sehen als heute.SPIEGEL: Um diese Verwandlung in ein neues, ganz anderes Google noch schnellervoranzutreiben, haben Sie vor wenigenMonaten eine neue Konzernstruktur vor-gestellt: Das Kerngeschäft Suchmaschinehaben Sie dabei von den Experimentier-feldern wie dem selbstfahrenden Auto ge-trennt, die künftig eigenständige Firmeninnerhalb eines neuen Dachkonzern na-mens Alphabet sind. Hatten Sie Angst,dass Google zu aufgebläht würde, oderwollten Sie nur die Wall Street ruhigstellen,die schon lange über Ihr unübersichtlichesGeschäft klagt? Page: Mit der neuen, schlankeren Strukturkönnen wir uns sicherlich besser fokussie-ren, das ist die Idee. Das Unternehmenläuft ja zweifellos sehr gut, aber es war ander Zeit, eine klarere Linie reinzubringenund alles nachvollziehbarer zu machen.Mich hat schon immer beschäftigt, dassUnternehmen mit der Zeit zu bequem, zulangsam werden und sich nur noch in Trip-pelschrittchen vorwärts bewegen. Gerade

Wissenschaft

Video: Wie Larry Page

Mr Google wurde

spiegel.de/sp432015page

oder in der App DER SPIEGEL

Nicht von Helene Fischer, trotzdem ein Hit: Penicillin wird erstmals groß-industriell hergestellt und bekämpft seither verschiedene bakterielle Krank-heitserreger.

Cleverer als Gips: Beim Kurieren von Bänderriss & Co. helfen leichte Orthesen aus Hoch leistungskunststoffen.

Für die Chemie eine echte Herzens angelegenheit: Betablocker kommen auf den Markt und schützen seitdem die Herzen von Millionen Patienten.

Zum Sehen und nicht, um gesehen zu werden:

Kontakt linsen aus Silikon - Hydrogel-Copolymeren können

dank ihrer erhöhten Sauerstoff-durchlässigkeit länger

getragen werden.

Deutschlands wichtigste

1944

1988

19

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1999

in der Technologieindustrie geht das abernicht, da braucht man revolutionäre Ideenund große Sprünge. SPIEGEL: Ihr Drang zu rasendem Fortschrittund Veränderung drückt sich in der Goo-gle-Philosophie des 10x-Thinking, derZehnfach-Denke aus: Alles Neue soll nichtnur zehn Prozent, sondern zehnmal bessersein. Aber mit großen Schritten trampeltman auch schnell über andere hinweg.Kommt man nicht manchmal auch mit klei-neren, vorsichtigen Schritten zum Ziel?Page: Jedes Jahr sterben Millionen Men-schen bei Autounfällen. Ist es da besser,fünf oder zehn Jahre zu brauchen, um einselbstfahrendes Auto auf den Markt zubringen, das die Straßen sicherer macht?Ich würde ja konservativer vorgehen,wenn die Welt in einem großartigen Zu-stand wäre. Aber wir sind doch längstnicht an dem Punkt, wo wir überall Sicher-heit und Freiheit oder einfach nur genü-gend Essen für alle haben. Ich sehe keinArgument dafür, dass menschliches Leidgut ist. Wir müssen schnell sein. SPIEGEL: Unermüdlich verkünden Sie, dieWelt besser machen zu wollen. Aber Sieleiten einen Konzern, der bislang vor allemGeld mit Werbung verdient, also keineWohltätigkeitsorganisation ist. Dienen Ihre

großen Visionen letztlich nicht einfach nurdazu, ganz banale Geschäfte schönzu -färben?Page: Ich glaube, dass sich große Ideen amschnellsten auf globaler Ebene durchsetzenlassen, wenn man sie mit einem Produkt,mit einem Geschäft verbindet. So erreichtman sehr viele Menschen. Und ich haltees für unerlässlich, dass große Unterneh-men auch große Ambitionen entwickeln,sonst haben sie es nicht verdient, relevantzu sein. Ich konnte mir schon als Studentnie vorstellen, für eine Firma zuarbeiten, die mich nicht inspiriert.Und leider finde ich heute nochdie wenigsten Konzerne auch nuransatzweise inspirierend. SPIEGEL: Am Ende ist aber derZweck jedes Unternehmens, Pro-fite zu machen. Sobald dieses Zielgefährdet ist, fliegen doch alle tol-len Weltverbesserungspläne überBord.Page: Ich glaube, das stimmt soeinfach nicht. Von einem gewissenPunkt an spielt Geld nicht mehrdie alleinige Rolle. Sobald man ge-nug verdient, um seine Familie zuernähren, ist ja auch das Einkom-men meistens nicht mehr der aus-

schlaggebende Faktor, sondern der Jobmuss einen Sinn haben. Wenn ich einenUnternehmensführer treffe, von dem ichdas Gefühl habe, er ist vor allem von Geldmotiviert, schreibe ich die ganze Firmagleich ab – weil der Chef die Firma verlässt,sobald er genügend Geld gemacht hat.SPIEGEL: Warum setzen sich dann nicht mehrUnternehmen enorm ambitionierte Zieleund versuchen, die Welt besser zu machen?Page: Der Kapitalismus ist sicher sehr effizient, aber er fördert ein ausgeprägtes

Kurzfristdenken, das in vielenUnternehmen zu finden ist. Da-mit kann man sicher eine Weilegut fahren, aber es führt auch zugroßen Problemen auf langeSicht. Ich finde, es ist den Versuchwert, einen anderen Weg zu gehen. Warum sollen wir nichtgute Geschäfte machen undgleichzeitig versuchen, dabei dieWelt voranzubringen? Ich bin mirsicher: Wenn man 10 oder 20 Jahre als Perspektive wählt, kön-nen wirtschaftliche und gesell-schaftliche Ziele zusammen er-reicht werden.SPIEGEL: Mr Page, wir danken Ih-nen für dieses Gespräch.

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Technik

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Wirkung hat er gezeigt, der Abgas-skandal: Volkswagen ist ein zer-schmettertes Weltreich, sein Ex -

imperator Winterkorn ein Rentner ohneRuhm. Es bleibt die Frage: Ist wirklich nurVW der Täter, sind alle anderen sauber?

Im Auftrag von BundesverkehrsministerAlexander Dobrindt (CSU) findet derzeitauf deutschen Straßen eine Großfahndungnach Abgassündern statt: An die hundertDiesel-Pkw verschiedener Hersteller wer-den von TÜV und Dekra mit portablenMessgeräten im realen Fahrbetrieb über-prüft. Die Ergebnisse, erklärt das Ministeri-um, sollen „in einigen Wochen“ vorliegen.

Fachleute werden von diesen kaumüberrascht sein. Unabhängige Institute wieICCT, das den Skandal aufdeckte, habenlängst getan, was die Prüfdienste jetzt ma-chen, längst festgestellt, dass der Ausstoßdes giftigen Gases im echten Fahrbetriebauch bei Autos anderer Hersteller um einVielfaches höher ist als auf dem Prüfstand.

Das allein ist kein Beweis für kriminellesHandeln, nur ein Indiz. Den Beleg, dassdas Steuergerät eines Autos die Abgas -regelung außerhalb des Prüfzyklus abschal-tet, könnten TÜV-Ingenieure liefern. Siebrauchten nur den entscheidenden Schlüs-sel, den sogenannten Quellcode. Wer ihnhat, kann ungehindert in den Datenspei-cher blicken und feststellen, ob dort un-terschiedliche Kennfelder für Prüfstands-fahrt und Straßenbetrieb angelegt sind.

Doch die Hersteller hüten diesen Code.„Es ist ihre Strategie, die Prüfdienste da-tenmäßig auszuhungern“, sagt Jürgen Bön-ninger, Geschäftsführer der FSD Fahrzeug-systemdaten GmbH in Dresden. Das Un-ternehmen wurde vor elf Jahren vonTÜVs, Dekra und anderen gegründet, umgenau solche Probleme zu beseitigen.

Bönninger soll die Prüfdienste aus derOhnmacht elektronischer Ignoranz befrei-en, in der sie sich lange bequem eingerich-tet hatten; unentwegt kämpft er gegen denWiderstand der Autoindustrie. Es gibtzwar eine EU-Verordnung aus dem Jahr2007, die die Hersteller verpflichtet, allefür Prüfzwecke relevanten Daten heraus-zugeben. Es ist dieselbe, die deutlich ver-bietet, dass sich die Abgasregelung abschal-ten lässt. Sie wird beharrlich ignoriert.

Im März 2009 protestierte der frühereBundesinnenminister Gerhart Baum alsAnwalt im Auftrag der FSD schriftlichbeim damaligen Vizepräsidenten der EU-Kommission Günter Verheugen, dass „dasVerhalten der Hersteller … gegen unmit-telbar geltendes Recht verstößt“. Baumlegte dem Schreiben einen SPIEGEL-Ar -

tikel bei, der die Blockadehaltung der Hersteller gegenüber den Prüfdiensten be-klagte. Es gab darauf eine lange Korres-pondenz, aber keine Grundsatzentschei-dung, die Hersteller wirklich in die Pflichtzu nehmen.

Bönninger schlug Alarm. Seit zwei Jah-ren befasst er sich mit dem Problem, dasskriminelle Anbieter defekte Rußfilter ge-gen billige Attrappen ohne Filter austau-schen und darauf die Motorelektronik sofrisieren, dass die Warnlampe im Cockpitdunkel bleibt. TÜV-Ingenieure könntendas ebenso sicher entdecken wie eine Ab-gastrickserei à la VW. Sie brauchten nurden Zugang zum Datentresor.

Zu den wenigen Herstellern, die Bön-ninger diesen Schlüssel geliefert haben,zählen Honda, Fiat und Renault. Kein ein-ziger deutscher Produzent folgte dem Bei-spiel. So genießen Kriminelle den Schutzvon Mercedes, BMW und Volkswagen.

Baum beschrieb in seinem Protestbriefan Verheugen die perfide Strategie der Au-tokonzerne: „Wir haben sogar erfahren“,heißt es darin, „dass die Hersteller … be-absichtigen, die entsprechenden Daten erstzur Verfügung zu stellen, wenn ein Her-steller hierzu einmal gerichtlich gezwun-gen wird.“ Einen solchen Prozess jedochhat bisher niemand angestrengt. Er wäreteuer und würde sicherlich über Jahre hin-weg durch die Instanzen getragen.

Doch dieser Rechtsweg müsste gar nichterst beschritten werden, wenn Regierun-gen die Umsetzung der EU-Verordnungklar vorschrieben und jede Geheimniskrä-merei mit Fahrzeugdaten sanktionierten.Die Gelegenheit wäre jetzt so günstig wienie. „Einen besseren Anlass wird Dobrindtnicht mehr bekommen, endlich für Trans-parenz zu sorgen“, sagt Bönninger.

Der sieht das im Prinzip auch so, zögertaber. Auf Anfrage des SPIEGEL erklärtesein Ministerium am Donnerstag: „Das Er-kennen und Verhindern von rechtswidri-gen Abschalteinrichtungen sollte Bestand-teil der Weiterentwicklung der europäi-schen Typgenehmigungsvorschriften sein.“Ob die Offenlegung der MotorsoftwareTeil dieser Weiterentwicklung sein soll, sei„zu prüfen“. Bewusst oder unbewusst, die-se Mitteilung ignoriert, dass die Pflicht zurOffenlegung seit acht Jahren Bestandteileiner EU-Vorschrift ist.

Das Risiko einer sofortigen Aufklärungliegt auf der Hand: Wenn Abschalteinrich-tungen eher die Regel als die Ausnahmesind, wäre der nächste Schritt unvermeid-lich: Das Ministerium müsste einen Groß-teil des deutschen Fahrzeugbestands un-verzüglich stilllegen lassen. Der Abgasbe-trug würde in einer ökologischen Großtatgipfeln: der umfangreichsten Verkehrsbe-ruhigungsmaßnahme in der Geschichte derKraftfahrt. Christian Wüst

Mail: [email protected]

Ohnmachtder PrüferVW-Skandal Eine Durchleuchtungder Motorsoftware könnte Abgas-tricks der Hersteller entlarven.Doch die halten den Zugang geheim – gegen geltendes Recht.

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Pkw bei Abgasmessung: Kein Zugang zum Datentresor

Wissenschaft

Des Totengräberkäfers Geschäft istLeichenfledderei. Immer wenn et-was stirbt, im Wald oder auf der

Flur, krabbelt er heran, gelockt vom Odemdes Todes.

Aus einigen Kilometer Entfernung kanndas kaum zwei Zentimeter lange InsektWitterung aufnehmen. Hat es ein totesTier gefunden, einen Maulwurf etwa oderein Vogeljunges, fängt es an zu buddelnund wird nicht müde, bis das Aas unterder Erde ist. Dort, in dieser Grabeshöhle,betupft der Käfer den Korpus mit Sekretengegen die Verwesung. Ein anderer Saft ver-flüssigt den Kadaver dann zu Babybrei:Der Totengräber füttert seine Larven mitder stinkenden Fleischsoße.

Appetitlich klingt das nicht. Doch For-scher sind begeistert von dem morbidenKerbtier. Denn was der Totengräber mitseinen Körpersäften schafft, würde sichder Mensch gern zunutze machen.

„Wie gelingt es einem so kleinen Käfer,eine komplette Maus zu konservieren undzu verflüssigen?“, fragt der Gießener In-sektenforscher Andreas Vilcinskas, 51.„Das ist, als würde ich Sie anspucken undSie lösten sich mit Haut und Haaren auf!“

Der Totengräberkäfer sei ganz offenbardazu in der Lage, extrem wirkungsvolleKonservierungsstoffe und Enzyme zu produzieren, sagt Vilcinskas. Und nochmehr erfreut den Forscher: „Ein solcherKadaverbewohner muss eine tolle Immun-abwehr haben.“ Die einst, so die Hoff-nung, auch dem Menschen Gesundheitschenken kann.

Vilcinskas ist Leiter des Loewe Zen-trums für Insektenbiotechnologie & Bio-ressourcen in Gießen. Krabbeltiere sindseine Leidenschaft. Doch nicht Antennen-länge oder Gliederzahl interessieren denProfessor – er begeistert sich für die inne-ren Werte der Tiere. „Jedes einzelne In-sekt ist ein prall gefüllter Wirkstoff-schrank“, sagt der Entomologe. Die Sechs-beiner seien die erfolgreichste Tiergruppeauf Erden, „und ich bin überzeugt, dassihre Vielfalt sich auch in den Molekülenwiderspiegelt, die sie produzieren“.

Vilcinskas glaubt, Wirkstoffe aus denkleinen Körpern gewinnen zu können, dieKrankheitserreger bekämpfen oder Ge-tränke haltbar machen; er hofft auf Medi-kamente gegen Malaria, Krebs oder Aids,auf Pestizide und biochemische Helferleinfür die Lebensmittelbranche. Auch drin-gend benötigte neue Antibiotika sollen dieKrabbeltiere der Menschheit liefern.

„Gelbe Biotechnologie“ nennt der Pro-fessor seine Disziplin – weil die Körper-flüssigkeit der Insekten, die sogenannteHämolymphe, häufig gelb ist. Vilcinskaswill dem Forschungsfeld zum Durchbruchverhelfen. 50 Millionen Euro hat er für dienächsten sechs Jahre eingeworben, unteranderem von dem Pharmakonzern Sanofiund dem Chemieriesen Dow Chemical.

Auf einer Wiese direkt gegenüber Vil-cinskas’ Büro an der Justus-Liebig-Univer-sität wird im kommenden Jahr zudem mitdem Bau des Fraunhofer-Instituts für Bio-ressourcen begonnen. 30 Millionen Eurohaben Land und Bund zugesagt.

Ein neuer deutscher Wissenschaftsver-bund blüht auf. Und Vilcinskas ist derenhauptamtlicher Visionär. „Von Insekten ler-nen heißt siegen lernen“, lautet der Wahl-spruch des Biologen.

Insekten werden seit Jahrtausenden heil-kundlich genutzt. Die chinesische Medizinallein verzeichnet 1700 Arzneien aus etwa300 Insektenarten. Die Fäden des Seiden-spinners sollen gegen Krämpfe und Blähun-gen helfen. Honig befördert die Wundhei-lung, Bienengift wird in der Naturheilkundegegen Rückenschmerzen und Rheuma ein-gesetzt, und mit getrockneten Ölkäfern be-kämpften Heiler einst Warzen und Krebs.

Welche Wunderstoffe wirken da in In-sektenblut und Käferspucke? Was fürSchätze sind in Silberfischchen und Stab-heuschrecke vielleicht noch zu finden? Bio-chemiker wollen es genauer wissen. SeitEnde der Achtzigerjahre versucht beispiels-weise die Regierung Costa Ricas, die au-ßergewöhnliche Biodiversität des Tropen-landes für die Wirkstoffentwicklung zunutzen. Doch trotz der Unterstützungdurch große Pharmafirmen ist die Ausbeu-te des Krabbeltier-Screenings bislang über-schaubar.

Sogar ein ausgewiesener Experte aufdem Gebiet, der Biologe Jules Hoffmannvom Nationalen ForschungszentrumCNRS in Straßburg, scheiterte bei demVersuch, neue Wirkstoffe aus Insekten aufden Markt zu bringen. Der später mit demNobelpreis ausgezeichnete Franzose initi-ierte 1999 die Gründung der Firma Ento-med. Die Experten analysierten TausendeInsektenextrakte aus aller Welt. Doch be-vor klinische Tests beginnen konnten, gingEntomed das Geld aus.

„Die Erwartungen waren damals einfachzu hoch“, sagt Vilcinskas. Mit einem neuenAnsatz will er nun mehr erreichen. Ihmhilft, dass es Biochemikern heute besserdenn je gelingt, Wirkmoleküle in den win-zigen Insektenkörpern aufzuspüren.

Vor allem aber macht sich Vilcinskas sei-ne eigene Expertise als Entomologe zunut-ze. Lange suchten Forscher ziemlich wahl-los im Heer der Insekten nach Molekülenmit Wirkstoffpotenzial. Vilcinskas jedochist überzeugt, die Chance auf Funde erhö-hen zu können, wenn er zunächst Lebens-weise und Evolution der Tiere studiert.

Wo kommt eine Art vor? Vor welchenHerausforderungen steht sie? Die Antwor-ten auf solche Fragen liefern oft wertvolleHinweise. Denn die Jackpot-Moleküle, soVilcinskas’ Kalkül, steckten in Insekten,die sich in feindseliger oder gar giftigerUmgebung behaupten müssten. Wenn siezum Beispiel in Gülle wohnen oder sich,wie der Totengräber, gleich an Leichen la-ben. Die dort dräuenden Keime lassen sich

114 DER SPIEGEL 43 / 2015

Der Schatz im SilberfischBiotechnik Antibiotika aus Fliegenblut, Wundsalben aus Madenspucke, Enzyme aus Käferkotze –Forscher entdecken den Wert der Insekten für Medizin und Ackerbau.

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Biologe Vilcinskas

„Das ist, als würde ich Sie anspucken“

Totengräber

Konservierungs-mittel, Enzyme für die Industrie

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Apotheke der KrabbeltiereWie aus Insekten Wirkstoffe für Arzneien gewonnen werden

Die Insektenstoffe werden direkt synthetisiert oder biotechnologisch her-gestellt. Dann testen die Forscher die Wirkung der Substanzen auf menschliche Krankheitserreger.

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Vielversprechende Wirkstoffe können anschließend beispielsweise in antibakteriellen Salben verwendet oder zu anderen Medikamenten weiterentwickelt werden. Im Asia-tischen Marienkäfer fand sich zum Beispiel der Stoff Harmonin, der Malariaerreger abtötet.

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Asiatischer Marienkäfer

Wirkstoffe gegen Tuberkulosebakterien und Malariaerreger

1 Forscher injizieren den Insekten eine Bakterienlösung, um die Immunabwehr zu aktivieren. Die Attacke der Erreger führt dazu, dass die Tiere bestimmte Gene hochregulieren, die die Synthese von Abwehrstoffen steuern. Allein im Asiatischen Marienkäfer haben die Forscher auf diese Weise über 50 antimikrobiell wirkende Eiweißstoffe gefunden.

Alternativ untersuchen die Biochemiker direkt den Speichel, den Darminhalt oder die Hämo-lymphe der Insekten und fahnden darin nach noch unbekannten Abwehrsubstanzen.

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Antimikrobielles Peptid

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zieren die Tiere, wenn sie um ihr Lebenkämpfen“, sagt Vilcinskas.

Nun wird untersucht, wie diese Subs -tanzen auf bestimmte Krankheitserregerdes Menschen wirken. VielversprechendeStoffe sollen anschließend in Bioreaktoren hergestellt werden. Wundsalben oder mitden Wirksubstanzen getränkte Pflasterwill Vilcinskas dann mit Industriepartnernentwickeln.

Bei den Abwehrstoffen der Goldfliegen-made handelt es sich um sogenannte Anti-mikrobielle Peptide, die sich in den Sekre-ten vieler Insekten finden. Die kleinen Eiweißstoffe sind ausgesprochen wirk-mächtig. Blockadeschiffen gleich, könnensie an einer Vielzahl Krankheitserreger an-docken und deren Zerstörungswerk ver-hindern.

Forscher haben inzwischen Insek-tenpeptide gefunden, die Aids-und Herpesviren unschädlich ma-chen. Und Stoffe wie Melittinaus dem Gift der Biene lösendie Zellmembranen von Bakte-rien auf und wirken damit anti-biotisch.

Aber es gibt ein Problem: Pep-tide sind für herkömmliche Medi -kamente ungeeignet. Die Eiweiß -moleküle lassen sich nicht via Ver -dauungstrakt ins Blut lotsen, weil sie sofort zerlegt werden. AllenfallsWundsalben und andere äußerlicheAnwendungen sind bislang denkbar.

Doch das Arsenal der Insekten istmit den Peptiden noch lange nichterschöpft. In Mottenblut, Madenspei-chel und Marienkäferkotze finden sichviele Stoffe, die keine Eiweiße sind unddeshalb einfacher in Tabletten verpacktwerden könnten. Selbst im winzigen In-sektendarm werden die Biologen fündig.Wie auch bei Säugetieren leben dort aller-lei Mikroorganismen, die eine überborden-

de Vielfalt an Wirksubstanzen her-stellen.Eines von Vilcinskas’ Lieblingstier-

chen ist der Asiatische Marienkäfer, einGeschöpf von aggressiver Natur. Seit Jahr-

zehnten wird es in Gewächshäusernund Obstgärten zur biologischenBekämpfung von Blattläuseneingesetzt. Von dort aus ha -

ben die Krabbler aus Fernost ei-nen triumphalen Zug durch Europa

angetreten – und unterwegs den hei-mischen Siebenpunkt-Marienkäfer

ruchlos verdrängt. Vilcinskas wird sofortneugierig, wenn er von ei-

nem solchen Hansdampf desInsektenreichs hört. Was lässt den Käfersoviel Unbill überleben? Was macht ihnso erfolgreich? Die Forscher haben dasKerbtier getestet: Im fingerbreit mit Was-ser gefüllten Rüttelglas ließen sie Exem-

nur mit einer schlagkräftigen Immunab-wehr überleben.

Im Institut in Gießen liegen die Versuchs-tiere in Plastikdosen bereit. Die sackförmi-gen Rattenschwanzlarven der Mistbieneetwa leben untergetaucht in Jauchegruben.Nur ein bis zu zehn Zentimeter langerSchnorchel versorgt sie mit Luft. 19 anti-bakteriell wirksame Substanzen haben dieForscher in der Hämolymphe der Gülle -bewohner gefunden.

Oder die feisten Maden der Goldfliege:Sie sind ein Paradebeispiel für die Strategieder Wirkstofffahnder.

Die segensreiche Wirkung der blässli-chen Fliegenlarven notierte erstmals derfranzösische Feldarzt Baron DominiqueLarrey vor rund 200 Jahren. Verwundete,die tagelang ohne medizinische Versor-gung zwischen den Fronten liegen blieben,überlebten eher als jene, die direkt ins La-zarett kamen. Grund war das Gewimmelin den Wunden der Zurückgelassenen. DieMaden, so zeigte sich bald, produzierenSubstanzen, die Infektionen lindern. Zu-dem fressen sie das abgestorbene Gewebeund säubern so die Wunde.

In Krankenhäusern werden die Tierchenbei schwer heilenden Wunden eingesetzt.„Mit den Maden läuft die Heilung bis zu18-mal schneller ab“, sagt Vilcinskas. „DerMadenspeichel tötet sogar Bakterien, diegegen viele Antibiotika resistent sind.“

Die Gießener Forscher analysierten dieMadensekrete deshalb genauer. Dafür in-jizierten sie den weißen Würmchen zu-nächst eine geballte Ladung Bakterien, umdie Immunabwehr der Tiere auf Hochtou-ren zu bringen. Dann untersuchten sie,welche Abschnitte des Erbguts in den Ma-denzellen für die Mikrobenbekämpfunghochreguliert wurden. Fast 50 Madengeneidentifizierten die Forscher, mit deren Hil-fe antimikrobiell wirkende Stoffe herge-stellt werden. „Ihre besten Waffen produ-

Kurzflügler

Medikamente gegen Tumorerkrankungen

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Wissenschaft

einer Armada von Pilzen, Bakterien undViren, denen auch Pflanzen ausgesetztsind. So schleusten die Gießener Forscherversuchsweise die Gensequenz eines Tau-fliegenpeptids in Gerste ein – und damiteine Resistenz gegen Schlauchpilze, die inder Landwirtschaft jährlich Ernteverlustein Milliardenhöhe verursachen.

Auch der Lebensmittelindustrie könn-ten Stoffe aus dem Arsenal der Sechs-

beiner helfen. Ein Team um denGießener Lebensmittelchemiker

Holger Zorn isolierte ausBohrkäfern ein Enzym, das

den Getreidebestandteil Glutenentschärfen kann. Der Stoff kann,

einfach in den Teig gerührt, Baguette undWeizenbrötchen wieder auf den Speise-plan all der Menschen mit Gluten-Unver-träglichkeit befördern.

Andreas Vilcinskas öffnet jetzt die letzteTupperdose seiner Kerbtiersammlung.Zwei Totengräber sind darin verborgen.Der Professor muss erst ein bisschen dunk-le Erde zur Seite schieben, bis die schwar-zen Krabbler mit den orangegelben Fle-cken erscheinen.

Sein Team hat die Käfer an einem Wald-rand bei Gießen gefangen. Dafür vergra-ben die Forscher leere Joghurtbecher imBoden. Direkt darüber schichten sie Wald-boden; darauf wird eine tote Maus gelegt.Sobald die Totengräber beginnen, die Mäu-se zu verbuddeln, sacken sie mit dem Aasdirekt in die Falle.

Was dann hinter den Labortüren ge-schieht, muss dem Laien so profan wie ge-wöhnungsbedürftig erscheinen. „Ich neh-me die Käfer in die Hand, dann drückeich ein bisschen“, erläutert Vilcinskas,„und was rausquillt, analysieren wir.“ Mehrals 30 interessante Substanzen fanden sichin den Käfersekreten, unter ihnen, wie er-wartet, einige höchst wirksame Konservie-rungsstoffe. Andere Substanzen des Aas-fressers bauen organisches Material ab. Siekönnten beispielsweise künftig helfen,Schlachtabfälle zu recyceln.

Auch unbekannte Mikroorganismen be-herbergt das Krabbeltier zuhauf. „Wir ha-ben eine total abgefahrene Darmflora ge-funden“, berichtet Vilcinskas. „Das ist einerichtige Schatztruhe.“

Besonders begeistern den Forscher bei-spielsweise einige neue Hefen der GattungYarrowia. Der Gießener Insektenforscherhofft, dass die Einzeller bald als „Arbeits-pferde der Biotechnologie“ in Fermenternwertvolle Substanzen für die Industrie herstellen.

Um die nützlichen Pilze zu finden, muss-ten die Biologen allerdings an einen deli-katen Ort der Kerbtieranatomie vordrin-gen. „Diese Hefen stammen aus dem Hin-tern des Totengräbers“, sagt Vilcinskas.

Philip BethgeMail: [email protected], Twitter: @philipbethge

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gebildet, sondern von Bakterien, die imKörper des Tieres leben. Alle Versuche,diese Mikroorganismen außerhalb des In-sekts zu züchten, seien bislang gescheitert,sagt Dettner: „Wir schaffen es einfachnicht, genug Pederin für medizinischeTests herzustellen.“

Zudem ist die biologische Aktivität desStoffs kaum zu kontrollieren. Wie vieleHoffnungsträger der Krebsforschung wirktdie Substanz so stark, dass sie auch gesun-des Gewebe angreift. Die Forscher versu-chen, Pederin chemisch zu entschärfen.Doch bis derlei Labortricks Erfolg haben,können Jahre vergehen.

„Es ist unrealistisch, gleich auf einen neu-en Krebswirkstoff oder ein neues Penicillinzu hoffen“, sagt Vilcinskas. „Die Entwick-lung von Medikamenten dauert leicht 10bis 15 Jahre.“ Entmutigen lässt sich derProfessor dennoch nicht. Vilcinskas fährtlängst mehrgleisig: Er sucht zusätzlich nachPflanzenschutzmitteln.

Dass Insekten Pestizide herstellen, liegtnahe, erwehren sie sich doch tagtäglich

plare des Marienkäfers zappeln. Dabei ga-ben die Tiere etwas Hämolymphe ab, einreflexhafter Verteidigungsmechanismus.

Das Extrakt schickten die Biochemikerdurch empfindlichste, eine halbe MillionEuro teure Analysegeräte; die detektierennoch die kleinsten organischen Moleküle.Und tatsächlich: Ein Stoff fiel auf. Die For-scher tauften ihn Harmonin.

Allerlei Erregerstämme beträufelten dieWissenschaftler mit der Substanz. Alsbaldmachten sie eine faszinierende Entde-ckung: Harmonin wirkt gegen Tuberkulo-sebakterien. Vor allem aber tötet die Sub-stanz den gefährlichsten Parasiten derErde, den Erreger der Malaria.

„Die meisten bisherigen Malariamittelsind nur gegen bestimmte Stadien der Pa-rasiten aktiv“, schwärmt Vilcinskas, „Har-monin aber wirkt gegen alle Plasmodium-Erscheinungsformen.“ Beste Voraussetzun-gen, um den Stoff zur Arznei gegen dieTropenkrankheit weiterzuentwickeln.

In der Krebsmedizin ist es der Stoff Pe-derin, der Hoffnungen weckt. ItalienischeForscher isolierten ihn aus Kurzflüglern.Die Käferweibchen imprägnieren ihre Eierkurz vor der Ablage mit der Substanz, umden Nachwuchs vor Spinnenfraß zu schüt-zen. Für Mediziner ist bemerkenswert,wie Pederin das Wachstum bestimmter Tu-more hemmt. „Pederin greift direkt in denZellteilungsmechanismus ein“, sagt derBiologe Konrad Dettner von der Univer-sität Bayreuth, der den Stoff erforscht hat.

Doch Pederin zeigt exemplarisch aucheinige der großen Probleme der Insekten-biotechnologie. Zwar könne die Substanzim Labor synthetisiert werden, berichtetDettner, jedoch nur in kleinsten Mengen.Pederin wird nicht vom Kurzflügler selbst

Forschungsobjekt Rattenschwanzlarven: Schnorcheln in der Jauchegrube

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SPIEGEL: Herr Forssén-Ehrlin, Sie habendreieinhalb Jahre lang an Ihrem Buch geschrieben*. Das ist ziemlich lange fürdie Erfindung von ein paar Vorlesetricks,oder?Forssén-Ehrlin: Das Buch besteht ja nichtnur aus einer einzelnen Methode, sondernaus einem Mix aus Rhetorik, Pä-dagogik und Psychologie. Ich woll-te, dass die Kinder sich auf Ent-spannung konzentrieren, darauf,müde zu werden. Also habe ichversucht, sie für die Geschichte zuinteressieren, sich mit dem Kanin-chen, das nicht einschlafen kann,zu identifizieren. Ich habe dieWörter und Sätze sehr präzise ge-wählt.SPIEGEL: In der deutschen Überset-zung wird das Wort „Schlaf“ aufwenigen Seiten 80-mal wiederholt.Das kann nerven … Forssén-Ehrlin: … ist aber ganz simp-le Psychologie. Manche Wörtersind fett und manche kursiv ge-druckt, und Sie werden darinschnell ein Muster erkennen: DieWörter „Schlafen“ und „jetzt“ sindfett markiert, sie sollen besondersbetont werden. Die Wörter, die zurEntspannung beitragen sollen, sindkursiv gedruckt, zum langsamenVorlesen. SPIEGEL: Ganz ehrlich: Sind wir soleicht zu manipulieren? Dass wiruns durch bloße Wiederholung ein-lullen lassen?Forssén-Ehrlin: Ja, vor allem Kinder.Ihr Gehirn ist noch nicht so ausge-reift wie das eines Erwachsenen.Die können einen Schritt zurücktreten undüber die Worte nachdenken. Trotzdemsind auch Erwachsene recht leicht zu be-einflussen. SPIEGEL: Ach ja?Forssén-Ehrlin: Zum Beispiel mit dem pink-farbenen Elefanten, an den Sie jetzt aufkeinen Fall denken dürfen! SPIEGEL: Und?Forssén-Ehrlin: Sie denken natürlich trotz-dem sofort an einen pinkfarbenen Ele -fanten.SPIEGEL: Stimmt. Warum eigentlich? Forssén-Ehrlin: Weil das Gehirn nicht gut dasWort „nicht“ oder „kein“ denken kann.

* Carl-Johan Forssén-Ehrlin: „Das kleine Kaninchen, dasso gerne einschlafen möchte“. Mosaik Verlag, München;32 Seiten; 12,99 Euro.

Auch das ist eine Technik, die ich in mei-nem Buch verwende. SPIEGEL: Was antworten Sie Eltern, die sichbeschweren und sagen, dass das ihre Kindernur gelangweilt habe? Oder gar verärgert? Forssén-Ehrlin: Ich versuche nicht, Wunderzu vollbringen. Das Buch wird nicht jedes

Kind auf der ganzen Welt zum Schlafenbringen, selbst wenn ich mir das wünschenwürde. Das kann aber auch daran liegen,wie Eltern vorlesen. Sind sie gestresst undwollen das Kind unbedingt zum Einschla-fen bringen, fühlt es das vielleicht. Außer-dem ist diese Art, es vorzulesen, nur einVorschlag. Wenn Sie merken, dass es IhrKind irritiert, können Sie es auch andersmachen. SPIEGEL: Wie alt ist Ihre Zielgruppe?Forssén-Ehrlin: Wir haben die Geschichtelange in Vorschulen und an Kindern vonFreunden getestet, ab einem Alter vonetwa zweieinhalb Jahren. Ich bekam aberschon Mails von Eltern, die es ihren achtMonate alten Babys vorgelesen haben.Auch Eltern von Teenagern mit Schlafpro-blemen haben mir geschrieben: Deren Kin-

der haben sich das Hörbuch angehört, undes hat geholfen. Ein Teenager verwendetes natürlich anders, er trifft die bewussteWahl, damit sein Problem zu überwinden. SPIEGEL: Aber nimmt Ihr Buch mit seinerPsychomanipulation den Kindern nichtden Spaß am Lesen? Am Entdecken einerGeschichte? Forssén-Ehrlin: Eltern, die früher fünf Stun-den gebraucht haben, um ihr Kind ins Bettzu bringen, haben mir geschrieben, dasssie froh sind, dass es jetzt schneller klappt.Es gibt aber auch Eltern, die sagen, dasssie die Verbindung mit ihrem Kind überdas Lesen behalten wollen und deswegen

erst ein oder zwei Lieblingsge-schichten vorlesen und danach dasKaninchenbuch. Das ja im Übri-gen auch nicht auf seine reineFunktion als Entspannungsmittelkonzipiert ist, sondern eine Ge-schichte erzählt und verschiedene,wie ich finde: fantasievolle Cha-raktere wie die Schnecke oder denZauberer vorführt.SPIEGEL: Was sollten Eltern beach-ten, die abends am Bett selbst eineGutenachtgeschichte erfinden?Forssén-Ehrlin: Wenn Sie dem Kindhelfen wollen einzuschlafen, be-nutzen Sie Worte, die mit Entspan-nung und Erholung zu tun haben.Erzählen Sie nicht von einem lus-tigen Elefanten, der herumspringtund einen tollen Tag hat. Sondernvon einem müden. SPIEGEL: Müde Tiere, die ins Bettwollen? Kinder kennen den Trick. Forssén-Ehrlin: Deswegen muss manviel subtiler vorgehen und die Geschichte anders beginnen las-sen. Es sollte ein Tier im Alter Ihres Kindes sein, nicht älter, nicht jünger, das genauso vielSpaß am Spielen hat. Die Kleinensollten sich mit dem Tier identifi-zieren. So kann man den erstenWiderstand überwinden.

SPIEGEL: Funktioniert das Buch bei Ihremzweijährigen Sohn?Forssén-Ehrlin: Wir lesen vor allem tagsüber.Abends spielen wir ihm das Hörbuch vor,dann schläft er ein.SPIEGEL: Worüber werden Sie in Zukunftschreiben?Forssén-Ehrlin: Ich werde noch zwei Gute-nachtgeschichten schreiben. Eltern mel-den sich immer häufiger bei mir und beklagen, dass es ihnen langweilig wird,abends immer dieselbe Geschichte vorzu-lesen. Für die Kinder gilt das anscheinendnicht. Interview: Kerstin Kullmann

Autor Forssén-Ehrlin: „Erzählen Sie von müden Elefanten“

„Man muss subtil vorgehen“Bücher Der schwedische Psychologe Carl-Johan Forssén-Ehrlin, 37,will Kinder mit Mentaltricks in den Schlaf lesen. Kann das gut gehen?

Hörprobe: „Das kleine Kaninchen,

das so gerne einschlafen möchte“

spiegel.de/sp432015schlafen oder in der App DER SPIEGEL

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Charmante

Vehemenz

Wenn sie ihre Klassenarbei-ten zeigt, fällt dem Zuschauerwieder ein, dass Malala You-safzai nicht bloß Weltpoliti ke -rin ist, sondern auch Teenager. Davis Guggenheims Dokumen -tation „Malala – Ihr Recht aufBildung“ (Kinostart: 22. Ok to -ber) folgt der heute 18-jäh ri -gen Pakistanerin, die im ver-gangenen Jahr den Friedens-nobelpreis erhielt, durch denAlltag und erzählt ihre Ge-schichte. Im Swat-Tal geborenund aufgewachsen, berichteteMalala von 2009 an in einemBlog für die BBC aus ihrerHeimat. Im Oktober 2012wurde sie von einem Talibanniedergeschossen und über-lebte nur knapp. Guggen-

heim zeigt sie als fröhlichesund mutiges Mädchen, das essich zur Lebensaufgabe ge-macht hat, für das Recht aufSchule zu kämpfen. Bildungist in Malalas Augen ein Le-bensmittel, und sie fordert es mit charmanter Vehemenzein. Ein kurzweiliges undkomplexes Porträt. lob

Streaming

Angriff aufs

Traditionskino

Nachdem sich der Streaming-Dienst Netflix unter anderemmit „House of Cards“ und„Orange Is the New Black“als erfolgreicher Serienprodu-zent bewiesen hat, steht nun die Bewährungsprobe imFilmgeschäft an. Seit dem 16. Oktober ist die erste ex-klusive Spielfilmakquise desUnternehmens auf Netflixverfügbar, auch in Deutsch-land: „Beasts of No Nation“vom „True Detective“-Regis-seur Cary Fukunaga. Auf die Leinwand kommt derFilm über einen Jungen, derin den Wirren eines afrika -nischen Bürgerkriegs seineFamilie verliert und als Kin-dersoldat rekrutiert wird,

aber nur in wenigen Spiel -stätten in den USA und Groß-britannien. Traditionelle Verleiher und Kinos sehen ihrGeschäftsmodell in Gefahr,wenn Filme zu nahe am Kino-start als Video-on-Demandangeboten werden – und boy-kottieren den Film. Netflixdürfte von der Kontroversetrotzdem profitieren, kannsich das Unternehmen dochwieder einmal als Branchen -revolutionär gerieren. Regis-seur Fukunaga hingegen wirdprüfen müssen, ob sich derDeal auch für ihn gelohnt hat.Im Streit um die Zukunft derganzen Branche droht unter-zugehen, was für einen inten-siven, kunstvollen Film er gemacht hat – am besten zugenießen wäre der allerdingsauf einer großen Leinwandmit guter Soundanlage. hpi

Essen

Wettlauf der

FoodmuseenDank zahlloser Foodblogs, Koch-shows und Starköche hat sich Essen längst von der bloßen Nah -rungsaufnahme zum Kultur -phänomen entwickelt – doch erstjetzt wird das Thema in größe-rem Stil musealisiert. In Londonund in New York eröffnen in diesem Monat unabhängig von -einander zwei Museen zum The-ma Essen. Das British Museumof Food, erdacht von den bri -tischen Essensdesignern SamBompas und Harry Parr, liegtam berühmten Borough Marketnahe der London Bridge undwolle die Besucher zu „einer in-teraktiven Erkundung“ einladen,wie Bompas sagt. Zu den Höhe-punkten gehören eine Schokola-den-Installation mit Verkösti -gungs möglichkeit und eine virtu-elle Reise durch den mensch -lichen Darm in vibrierendenMassagesesseln. Bompas undParr, die in Großbritannien mitspektakulären Wackelpudding-Installationen bekannt gewordensind, kommen damit dem seit einem Jahrzehnt geplantenNew Yorker Museum of Food and Drink des FoodbloggersDave Arnold zuvor. Im Stadtteil Brooklyn soll sich dieEröffnungs ausstellung vor allem dem Geschmack widmen.Beide Museen verstehen sich in der Anfangsphase als „Test -

küchen“ und planen baldige Vergrößerung. „Wir freuen uns,dass wir die Ersten sind“, sagte Bompas dem SPIEGEL. „Vielmehr geht es aber darum, dass das Thema Essen endlichdie Foren bekommt, die es verdient.“ Und da seien zwei Museen noch viel zu wenig. das

118 DER SPIEGEL 43 / 2015

Kultur

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Malala Yousafzai

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Laura Andersen

Mir liegt die Welt zu Füßen. Und bei euch so?

Wahrscheinlich hat Angus Deaton kürz-lich Hugh Hefner beraten. Der einebekam am Montag den Wirtschafts-nobelpreis für seine Konsum- undGlücksforschung zugesprochen, derandere ließ zeitnah seinen Manager

verkünden, der „Playboy“ werdebald ohne Nacktbilder erscheinen. Die

Begründung für Letzteres war denkbar lakonisch, sie war dem ökonomischen Handbuch, Kapitel 1,Angebot & Nachfrage, entnommen: Was wir auf Papierverkaufen wollen, gibt es inzwischen im Netz überall um-sonst. Aber natürlich viel schlechter.

Wenn jemand diese Tragik begreift, dann sicher wirJournalisten. So wie der „Playboy“ und seine Brüder imFleische auf dem Unterschied zwischen einer brillant undeiner mau ausgeleuchteten Frau an Auto, auf Fell oder in actu bestehen, so müssen wir darauf hinweisen, dassungeprüfte Fotos, nachlässig übersetzte Meldungen oderschlampig recherchierte Geschichten, mögen sie auch um-sonst und noch so verführerisch sein, den ehrenwertenStandards nicht genügen. Es ist aber sehr schwer, Quali-tätsbewusstsein zu erzeugen. Der Mensch nimmt mit, waser erregungsmäßig kriegen kann, auch wenn er sich da-von fiese Krankheiten holt oder schlimme Ängste. DieKommentare zu Hefners Rückzug ins Sublime fielen des-halb auch verhalten aus, wie Pornografie überhaupt vonunterschiedlichen Gruppen unterschiedlich beurteilt wird.

Hätte der „Playboy“ nur früher auf den Princeton-Pro-fessor Angus Deaton gehört, so hätte das wohl baissepro-phylaktisch gewirkt. Deaton nämlich entkleidete die all-gemeine Statistik aus der sogenannten Wirtschaftswissen-schaft ihres Fetischcharakters: Der Homo oeconomicus,mit dem gern mathematischer Hokuspokus getriebenwird, ist nur ein Gespinst der Ideologie. Der durchschnitt-liche Mann ist kein verlässlicher Partner, nicht einmal,wenn es um Bückware geht. Er macht, was er will, undwarum er will, was er macht, weiß eine Studentin vonBourdieu im Zweifel besser als ein McKinsey-Manager.Zudem wies Deaton, ein kluges Kind sehr armer Schot-ten, durch empirische Feinarbeit nach, dass Frohsinn undKonsum nicht Zwillinge, sondern Cousins sind: Ab einerschönen, aber nicht einmal glamourösen Einkommens -stufe macht mehr Geld nicht glücklicher. Ständig von guttrainierten Finsterlingen umgeben zu sein, weil die Entfüh-rung wartet, nie einfach in einer Kneipe abhängen zu können – das macht schlechte Laune. Im Herzen sind wiralle Sozialdemokraten, aber das wissen viele nicht mehr.

Dies könnte Deaton zu Hefner gesagt haben: Lass ab,guter Mann, vom Naschwerk erotischer Art, wenn du be-merkst, dass die Menschen übersättigt sind. Mehr Busenim Marzipanton, mehr Süße im Luderkleid wird dir nichtmehr Dollars bringen. Oder noch dialektischer: Mehr Dol-lars bringen auch dir, Hugh Hefner, nicht mehr Zufrie -denheit. Du bist ein alter Mann, die Glocken läuten dirbald, gründe schnell noch eine Stiftung oder ein Museumfür erotische Fotografie. Oder gib dein Geld den deut-schen Sozialdemokraten, die dringend herausfinden soll-ten, warum es immer noch Nachfrage gibt, obwohl siefast nichts mehr im Angebot haben.

An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und Nils Minkmar im Wechsel.

Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht

Glück ganz nackt

Zhadan, 41, gilt als einer der wichtigsten

Schriftsteller der Ukraine. Er lebt in Charkiw,

wo er im vergangenen Jahr von prorussischen

Separatisten, die ein städtisches Gebäude

gestürmt hatten, krankenhausreif geschlagen

wurde. Zuletzt erschien von ihm der Roman

„Mesopotamien“ (Suhrkamp), der vom ukrai-

nischen Zweistromland erzählt, der Region zwi-

schen dem Dnipro und dem russischen Don

im Osten.

Auf der Schnellstraße hinter Arte-miwsk halten wir an. Die Fahrerziehen sich kugelsichere Westen

über und holen Maschinenpistolen hervor.Onkel Mischa, unser Fahrer, gehört zu denEhrenamtlichen, er ist dicklich und lächeltin einem fort, in der kugelsicheren Westesieht er etwas merkwürdig aus. Aber er ist

in allem sehr konzentriert. Die Waffen holter nur im Ernstfall raus. Jetzt jedoch liegtunwegsames Gelände vor uns, die Straßeist von beiden Seiten mit Büschen über -wuchert, da kann alles Mögliche passieren.

Am Horizont tauchen Schornsteine auf– dort ist bereits Separatistengebiet. Dieeinstweilige Frontlinie verläuft am Hori-zont. Auf der einen Seite sind unsere, aufder anderen Seite die Fremden. Schnellhaben alle diesen Unterschied gelernt: „un-sere“, „die anderen“, „wir, „sie“. Damitkommen alle zurecht. Was sich jenseits derFrontlinie abspielt, ist schwer vorstellbar,aber die aufragenden Schornsteine sindtot, kein Rauch, kein Lebenszeichen. Dies-seits der Front sieht es nicht anders aus:eine zerstörte Straße, namenlose Dörfer,ein von Gras überwucherter Schienen-

strang, der offenbar schon seit Langemnicht mehr befahren wird. Hin und wiederkommen Linienbusse vorbei, die Straßen-hunden ähneln – sie spüren den Weg mitder Nase auf. Oder mithilfe der Sonne.Sonne gibt es reichlich, die letzten Som-mertage sind warm und still, der Wein istschwarz und schwer, die Erde heiß undfreigebig. Wir haben einen weiterenKriegsherbst vor uns.

Unterwegs rufen wir die Panzerfahreran, denen wir ein paar Dinge übergebenwollen. Der Truppenführer erklärt uns amTelefon, wo wir abbiegen, wo wir anhaltenund auf ihn warten sollen. Aber Onkel Mi-scha hat irgendetwas nicht richtig verstan-den, wir verpassen den Abzweig und fah-ren lange durch verdächtiges Gelände. DerTruppenführer ruft immer wieder an und

120 DER SPIEGEL 43 / 2015

Krieg als GewohnheitUkraine Ein Bericht von der Front im eigenen Land. Von Serhij Zhadan

Kultur

will herausfinden, wo wir sind. Aber wirkönnen es ihm nicht erklären. Weit undbreit keine lebendige Seele. Schließlich hal-ten wir einfach mitten auf der Straße an.Klarer Himmel, schweres Augustgrün. DieFelder hat in diesem Jahr niemand bestellt.

Schließlich kehren wir um und treffenauf den zerbeulten Jeep des Truppenfüh-rers. Der Kommandeur lacht und will wis-sen, wo wir gewesen sind. Er weist uns an,ihm zu folgen. Wir durchfahren Waldstrei-fen, erreichen ein Dorf. An der Dorfein-fahrt steht ein Blockposten, hinter denBäumen sieht man Soldaten, sie erkennenden Truppenführer und lassen uns passie-ren. Die Dorfbewohner haben den Ort ver-lassen, nur ein alter Mann ist geblieben,er konnte nirgendwohin. Und so versorgenihn die Soldaten mit Essen.

Ruhig habt ihr es hier, sagen wir zu demKommandeur. Ja, sagt er, morgens sei esimmer ruhig. Aber wir werden schon diedritte Nacht in Folge beschossen. Er er-zählt auch, dass das Dorf jede Nacht unterBeschuss liege. Trotz des Waffenstillstands,trotz aller Abmachungen. Der Truppen-führer klagt über schlechten Schlaf. OnkelMischa entlädt seinen Jeep.

Krieg, das sind auch die Menschen, dievon ihren angestammten Orten vertriebenwurden, Hunderte und Tausende Stadt-und Dorfbewohner, die von einem Ortzum anderen irren auf der Suche nachsich selbst. Wie viele merkwürdige Ge-sprächspartner, wie viele Gesichter, wieviele Biografien sind mir in den vergan-genen anderthalb Jahren begegnet. DerKrieg, auch wenn er nicht tötet, entwur-zelt, reißt die Menschen aus ihrer gewohn-ten Umgebung, weckt etwas, deckt ande-res zu und lässt es unwichtig erscheinen.Ein Mensch, den man aus seinem gewohn-ten Umfeld reißt, wird empfindsamer, ver-liert den Schutz der natür lichen Kulisse,verliert den Schutz der Neutralität. WennKrieg ist, musst du Stellung beziehen unddir über deine Überzeugungen klar wer-den – ob du willst oder nicht.

So ist es auch mit Onkel Mischa. Er ist ein wohlhabender Kiewer Geschäfts-mann, kein Politiker; seit Kriegsbeginn,seit die russischen Soldaten aufgetauchtsind, ist er mit seinem Jeep in der Ost -ukraine unterwegs und unterstützt Sol -daten und Zivilisten. Er hängt das nichtan die große Glocke und stellt sich nichtvor laufende Kameras, ich weiß nicht ein-mal seinen richtigen Namen. Er nimmteinfach jeden Monat einen Teil seines Geldes, um andere zu unterstützen. Er beklagt sich nicht, und er verspricht nichts, was er nicht erfüllen kann. Fährtmit einem Auto voller Lebensmittel undKleidung durch den Donbass und verteiltalles, dann rast er zurück in die Haupt-stadt und macht sich wieder ans Geld -verdienen. Der Krieg geht weiter, undauch das Leben geht weiter. Kaum jemandbemerkt, wie eng beides miteinander ver-flochten ist.

Die Panzer stehen in den Gehöften, zwi-schen Obstbäumen. Hin und wieder pral-len reife Äpfel dumpf auf das schmutzigwarme Metall. Die Panzer sind zur Fronthin ausgerichtet, aber sie stehen nur da.Der Truppenführer hat im Afghanistan-krieg gekämpft, damals noch in derSowjet armee. Überhaupt gibt es vieleAfgha nistankämpfer in der ukrainischenArmee, nach einem Vierteljahrhunderthat sie der Krieg eingeholt. Und nun sit-zen sie wieder in diesen engen Metallkis-ten. Allerdings kämpfen sie heute auf ih-rem eigenen Territorium, was sie, so neh-me ich an, überrascht hat. Aber Kriegkommt immer überraschend, meist wie

ein Einbrecher, zur Unzeit und ausgerech-net zu dir.

Wir fahren auf die Schnellstraße, Rich-tung Norden, weg von der Demarkations-linie. Unsere nächste Station sind die Ar-tilleristen. Wir hatten sie im Frühjahrschon einmal besucht, als sie näher an derFrontlinie standen. Jetzt wurden sie insHinterland abgezogen und in einer ehe-maligen Autofabrik untergebracht. AllemAnschein nach hat man sie dort vergessen.Die Soldaten sind offenkundig nervös.„Wie kann das sein?“, fragen sie. „Wir wur-den abgezogen, und täglich kommen un-sere Soldaten an der Front ums Leben.“Aber Waffenstillstand ist Waffenstillstand,selbst wenn sich nicht alle daran halten.Der Kommandeur zeigt uns die Anlage,führt uns herum, betritt mit uns ein Ge-bäude. Zu Sowjetzeiten war das ein Ge-sundheitsklub, das Schwimmbecken istnoch da, es gibt allerdings kein Wasser.„Ich habe darum gebeten, dass wir Wasserbekommen“, klagt der Kommandeur, „aberwir kriegen keins.“ Er steht über dem lee-ren Becken und zetert, als wäre das seinschlimmstes Problem.

Am nächsten Tag fahren wir zu kinder-reichen Flüchtlingsfamilien und Kranken-häusern. Onkel Mischa hat noch einenKleinbus dabei, der mit unterschiedlichenDingen beladen ist. Wir verabreden unsim Vorfeld mit Verwaltungsmitarbeitern,und diese begleiten uns dann. Im vergan-genen Sommer, als die Kämpfe besondersheftig tobten, sind viele Menschen aus denIndustrieregionen des Donbass in den Nor-den des Gebiets Luhansk geflohen. Dieörtlichen Behörden haben versucht, Hilfezu leisten. Auch die lokale Bevölkerungbringt viel Verständnis für die Flüchtlingeauf. Den Umsiedlern wurden leer stehendeGebäude als Wohnraum zugeteilt, man un-terstützt die Arbeitssuche. Einige Flücht-linge haben sich eingelebt, andere sind beider erstbesten Gelegenheit an ihren ange-stammten Wohnort zurückgekehrt. Manch

121DER SPIEGEL 43 / 2015

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Minenwarnung am Strand von Mariupol

Auch das Leben geht weiter

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Autor Zhadan

Stellung beziehen, ob du willst oder nicht

einer konnte nicht zurückkehren – weil essein Haus nicht mehr gab.

Freiwillige Helfer aus Kiew haben füreine kinderreiche Familie eine Waschma-schine mitgegeben. Die ist zwar gebraucht,funktioniert aber tadellos. Mischa und sei-ne Kollegen bringen sie der Familie. Sielebt in einem kleinen Häuschen, im Schlaf-zimmer sind die Betten zusammengescho-ben, alle müssen Platz finden, sich einrich-ten. Die Kinder sitzen im Wohnzimmerund schauen die Besucher verschreckt an.Die Mutter hat eine verbundene Hand. Siehabe am Morgen Wäsche gewaschen, sagtsie, bei einer großen Familie fällt einigesan. Die Waschmaschine ist also mehr alsnötig. „Gerade habe ich Bad und Toilettein Ordnung gebracht, und jetzt macht dieBesitzerin Andeutungen, wir müssten wo-möglich ausziehen“, beklagt sich der Vater.„Wo sollen wir denn hin?“, fragt er. DieBehördenmitarbeiter wollen noch einmalmit der Besitzerin reden. Wir versprechenwiederzukommen. Sie bleiben allein – mitihren zusammengeschobenen Betten in einem fremden Haus. Auf dem Dach ragteine selbst gebaute Fernsehantenne in dieHöhe, die aus zwei leeren Bierbüchsen besteht, damit man die nationalen ukrai-nischen Fernsehkanäle empfangen kann.

Am Nachmittag kommen wir in meineHeimatstadt Starobilsk, eine Kleinstadt inder Steppe. Seit vergangenem Jahr wirddie Stadt von der ukrainischen Armee ge-halten, die Separatisten haben hier keinegroße Unterstützung, obwohl es natürlichMenschen mit ganz unterschiedlichen An-sichten gibt, darunter sicher auch solche,die nichts dagegen hätten, wenn morgendie russische Armee einmarschieren wür-de. Wir rufen den Chefarzt des Kreiskran-kenhauses an. Biegen auf den schläfrigenKrankenhausvorplatz ein. Mit unverhoh-lener Freude entlädt Onkel Mischa seinAuto und übergibt die Sachen dem Kran-kenhaus – von Pampers bis zu Konserven.

Der Arzt sieht müde aus, wahrscheinlichist er eher besorgt, er spricht darüber, wasfehlt und welche Probleme es gibt. Es fehltpraktisch an allem. Der Staat teilt jedemPatienten pro Tag 1,50 Hrywnja für Essenzu, das sind nicht einmal zehn Cent. Bisvor Kurzem wurde das Krankenhaus voneiner Militäreinheit mit Nahrungsmittelnbeliefert. Die Einheit wurde verlegt, seit-dem ist die Versorgungsfrage für das Kran-kenhaus ungeklärt.

Wir rufen unsere Panzereinheit an undbitten um Hilfe. Die Panzerfahrer zeigenVerständnis, die Armee erhält ausreichendLebensmittel, die Panzerfahrer wollen sichwas einfallen lassen. Der Arzt erzählt

Kriegsgeschichten. Er erinnert sich daran,wie Ehrenamtliche einen verwundeten rus-sischen Scharfschützen vorbeibrachten. Erwurde hier behandelt. Der Verwundetewar allerdings die ganze Zeit über miss-trauisch, er befürchtete, man würde ihnauf dem Operationstisch einfach abschlach-ten. Dann wurde er ausgetauscht. KurzeZeit später sah der Arzt im Fernsehen einInterview, das der Verwundete in Rostowgab. Darin beklagte er sich unter anderemüber die Behandlung im ukrainischenKrankenhaus.

Ich trete auf den stillen und sonnigenVorplatz hinaus. Ein Stück entfernt befin-det sich die Kardiologie. Im vergangenenJahr lag mein Vater hier mit einem Herz-infarkt. Das Herz setzte aus, als er am Steuer saß, in letzter Minute wurde er hier eingeliefert. Die Ärzte haben ihn wie-der hingekriegt, und jetzt ist er wie frühermit seinem zerbeulten Lada unterwegs.

122 DER SPIEGEL 43 / 2015

Sommer ausklang im zweiten Kriegsjahr,Kreiskrankenhaus, alte Gebäude mit Me-tallbetten, Gras im Hof, der Krieg nur ei-nige Dutzend Kilometer entfernt.

Die Menschen gewöhnen sich an denKrieg wie an jede andere Unannehmlich-keit. Wie an das Leben mit einem unange-nehmen Nachbarn zum Beispiel. Oder wiean ein schädliches Klima, an schlechte Um-weltbedingungen, an die Gegenwart vonGeistern und Gespenstern in der Woh-nung. Die Menschen gewöhnen sich anden Krieg. Und lernen, mit ihm umzuge-hen. Es ist nicht unbedingt komfortabel,manchmal auch gefährlich, aber das Lebenmuss irgendwie weitergehen. Also geht esweiter. Und so ist es auch mit dem Krieg –das Leben geht weiter, die Welt ist nichtstehen geblieben und nicht aus den Fugengeraten. Es sterben beinahe täglich Solda-ten. Mehr als eine Million Menschen muss-ten ihren Wohnort verlassen, Zehntausen-de Männer haben Angriffe, Artilleriefeuerund Einkesselungen durchgemacht. Tau-sende sind in Gefangenschaft geraten. Tau-sende wohl spurlos verschwunden.

Das Land versucht weiterzuleben, zuwiderstehen, auszuharren, sich selbst zuschützen. Jeder Einzelne erlebt Zerstö-rung, Krieg und Schmerz. Jeder sucht sei-nen Weg, versucht, eine Position zu finden.Manche halten den Krieg weiterhin für eingroßes und ungerechtfertigtes Missver-ständnis, andere nehmen ihn als etwas Unausweichliches hin, das man in keinerWeise beeinflussen kann, wieder anderewissen mittlerweile, wie man mit demKrieg Geld verdienen und die Frontlinie,die Todes linie, zu einem Businessprojektmachen kann. Diese Prozesse laufen sooder ähnlich dies- und jenseits der Front -linie ab. Als Erstes haben sich natürlichdie Poli tiker besonnen – ihr Geschäft er-fordert eine permanente Nachfrage, ihreWaren sind schnell verderblich, deswegenmüssen sie jeden Tag arbeiten, egal wieviele Tote in den Morgennachrichten ge-meldet werden.

Entlang der Schnellstraße hängen un-zählige politische Werbeplakate. Die Kom-munalwahlen stehen ins Haus, die Politikerkämpfen um Wählerstimmen. Helden -gesichter, seriöse Bewegungen, erprobteGesten. Die „Alten“ wollen auf ihre frü-heren Plätze zurückkehren, die „Jetzigen“wollen sich auf ihren Posten halten, die„Neuen“ messen ihre Kräfte und fühlensich noch unsicher im politischen Geschäft.Aber an die Politik gewöhnt man sichschnell, schneller noch als an den Krieg.Und so kämpfen sie um Wähler und Stim-men. Sie beschuldigen die Regierung, re-den vom Frieden, versprechen Stabilitätund Ruhe und Aufschwung. Das Kreis -krankenhaus mit Lebensmitteln zu versor-gen verspricht keiner.

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

Krieg kommt immer überraschend, meist wieein Einbrecher und ausgerechnet zu dir.

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Zerstörtes Haus in Horliwka: Von einem Ort zum anderen irren

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18 (20) Meike WinnemuthUm es kurz zu machen Knaus; 16,99 Euro

19 (–) Thomas Gottschalk Herbstblond Heyne; 19,99 Euro

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Ein Mann reist mit dem Todund seiner Exfreundin durchsLand. Herrlicher Männerkitschvom früheren Frontmann derHamburger Popband Tomte

Für sein Porträt der FamilieThomas Mann hat der Histo -riker Lahme Tausende bis-lang unbeachteter Briefe undDokumente ausgewertet

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Die Erfindung des Großschriftstel-lers Frank Witzel durch eine pa-nischprogressive Jury im Herbst

2015 war die Riesenüberraschung am Tagvor der Eröffnung der Frankfurter Buch-messe. Bis zum Montag war der Autor einnur wenigen Lesern bekannter Mann. Seinjüngster und 800 Seiten dicker Roman warvon angeblich 36 Verlagen abgelehnt wor-den, bevor man sich bei Matthes & Seitzein Herz fasste. Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, der den bestendeutschsprachigen Roman des Jahres kü-ren soll, galt Witzels Werk als krasser Au-ßenseiter – bis die Buchpreisjuroren esauszeichneten. Es trägt den kuriosen Titel„Die Erfindung der Roten Armee Fraktiondurch einen manisch-depressiven Teen-ager im Sommer 1969“.

Witzels Buch ist ein Wahnsinnsunter-nehmen und ein Wunderwerk. In 98 Ka -piteln wird die Atmosphäre einer langevergangenen Zeit heraufbeschworen undversucht, aus dieser Erkundung die Gegen-wart zu begreifen. Ein Dreizehneinhalb-jähriger, der wie der Autor Witzel im Jahr1955 geboren ist, durchlebt eine Schre-ckensjugend in der deutschen Provinz –und blickt zwischendurch aus Erwach -senenperspektive zurück auf diese Zeit. Erwolle, wie es einmal heißt, „klären, wiees damals war und wie es heute ist“.

Warum wird eine Coming-of-Age-Story,die großteils in den Spätsechzigern spielt,ein Vierteljahrhundert nach der Wieder-vereinigung als wichtiges Buch gefeiert?Der Schriftsteller Witzel selbst bekannte

während der Buchmesse seine Verblüffung.Er dankte seinem Mentor Ingo Schulzeund würdigte den Kollegen Lutz Seiler, diebeide in ihren Büchern den Seelenzustandder DDR-Bürger zu Zeiten der deutschenTeilung mit ähnlicher Akribie beschriebenhaben, wie es Witzel im Fall des bundes-republikanischen Bewusstseins tut. In Wit-zels und Seilers Fall gilt die literarische Re-

konstruktion dem Staunen über merkwür-dige Heilsgestalten – und darüber, dasssich Menschen in einer merkwürdigenWelt bequem einrichten.

Anders als Seilers letztjähriger Buch-preis-Sieger „Kruso“ aber erzählt Witzelnicht von der Anbetung einer esoterischenErlöserfigur, sondern von der merkwürdi-gen Faszination, die manch jugendlicherWestdeutscher für einen Haufen selbst er-nannter antikapitalistischer Revolutionäreund Brandstifter hegte. Im Sommer 1969ist der junge Held seines Romans, der imWiesbadener Stadtteil Biebrich aufwächst,von den Kaufhausbrandanschlägen derStadtguerilleros Gudrun Ensslin und An-dreas Baader – die damals noch niemand„Terroristen“ nannte – so beeindruckt, dasser seine Spielzeugfiguren nach den beidenbenennt. Baader ist ein schwarz glänzen-der Ritter, Ensslin eine eher unattraktiveIndianersquaw aus braunem Plastik, die„gar keine Details hat“.

Tatsächlich denkt sich der Junge seineeigene RAF aus. Zu Beginn berichtet ervon einer abenteuerlich actiongeladenenFlucht vor der Polizei: Da rasen drei halb-wüchsige Attentäter in einem zitronen -gelben Knatterauto, einem NSU Prinz,durch eine Schneelandschaft, nachdem derProtagonist gemeinsam mit einer Freundinund einem Kumpan eine Kaufhalle aufdem platten Land in Brand gesetzt hat.

„Die Erfindung der Roten Armee Frak-tion durch einen manisch-depressivenTeenager im Sommer 1969“ ist ein Schel-menroman und ein Lügenbuch, das doch

124 DER SPIEGEL 43 / 2015

RAF-Terroristen Baader, Ensslin 1976

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Schriftsteller Witzel

Frank Witzel

Die Erfindung der

Roten Armee Fraktion

durch einen manisch-

depressiven Teenager

im Sommer 1969

Verlag Matthes & Seitz, Berlin; 800 Seiten; 24,99 Euro.

Ein Land, das Brandstifter als Helden verehrtLiteratur Frank Witzel erhielt überraschend den Deutschen Buchpreis, sein Roman erzählt von der deutschen Sehnsucht nach Heilsbringern, von schwiemeligem Alltag und vom Wahn.

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von historischer Wahrheit erzählt, von einer realen Schwiemeligkeit und von hehren Idealen. Den Geist, den Duft undden Sound einer Epoche will Frank Witzeleinfangen, er bedient sich dazu eines unzuverlässigen, hochgebildeten, zu er-staunlichen Zeitsprüngen begabten Erzäh-lers. Die Familie des Jungen ist zerrüttet,anstelle der kranken Mutter tritt eine„Frau von der Caritas“. Weil ihn seine Mit-menschen für psychisch kaputt halten, lan-det der Held erst in einem Sanatorium,später im Konvikt zur Vorbereitung aufden Priesterberuf.

Witzels Buch besteht aus gelehrten Ab-handlungen und den scheinbar naiv nach-erzählten Erlebnissen eines Heranwach-senden. Es gibt darin diverse elegant bisholzknüppeldick eingestreute Verweiseauf die Lehren von Lacan, Derrida undFoucault. Und weil der Held einerseits katholischer Ministrant ist und anderer-seits beseelt von der Musik der Beatles,erfährt der Leser viel über Beichtübungen,Songzeilen in Beatles-Liedern und die Bedeutung von Gummi und Plastik imSchaffen von Lennon/McCartney undFrank Zappa.

Das klingt gaga, ist aber über weite Stre-cken ein Lesespaß. Der nur vorgeblich wir-re Verhau von Textformen und Themen,von Schokoriegel-Markenkunde, Struktu-ralismus-Seminar und Terrorismus-Ge-schichtsschreibung fügt sich in Frank Wit-zels Erzählkosmos zu einer beinahe selbst-verständlichen Ordnung. Deren Logikfolgt dem Erkenntnisschock im Kopf desmöglicherweise gar nicht so verwirrten,sondern nur hypersensiblen Jungen.

„Die Kindheit erscheint uns nur deshalbso unwiederbringlich kostbar, weil wir unsin ihr noch nicht aufgeteilt haben, weil

wir uns noch nicht selbst über die Schultersehen“, heißt es einmal. „Im Wahn jedochhat das alles ein Ende. Im Wahn findet al-les gleichzeitig statt, erlebe ich paralleldie ganze Historie meines Lebens und das,was an beiden Seiten über sie hinaus-lappt.“

Es gibt eine Tradition von an Verstandund Seele angeschlagenen Erzählern inder Literaturgeschichte. Beim Blick ausder Irrenanstalt nehme sich die Welt „drol-lig“ aus, hat der später von vielen Hippiesals Guru verehrte Hermann Hesse behaup-tet. Witzels Erzähler ist ein ziemlich ent-schiedener Hippiegegner und nutzt seinenPatientenstatus bisweilen für Gedanken-

exkurse gemäß Thomas Pynchons Motto„Why should things be easy to under-stand?“ Das Resultat sind poetische Apho-rismen von Strahlkraft: „Selbst das Un -erklärliche hat einen Kontext. Wie dieLichtreflexion am Himmel.“

Es ist mehr als Zufall, dass kurz nachder Auszeichnung Witzels mit dem Buch-preis in diesem Oktober der SchriftstellerRainald Goetz mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt wird – der wichtigsten Aus-zeichnung, die für deutschsprachige Auto-rinnen und Autoren im Angebot ist. Quer-verbindungen zwischen dem Roman vonWitzel und den Büchern von Goetz sindoffensichtlich.

Goetz, Jahrgang 1954, hat sich früh amMythos und an den Tätern der RAF abge-

arbeitet, er hat eine kluge, manchmal hals-brecherische Zusammenschau von Popund Politik betrieben und in der Hoffnungauf Erkenntnis unermüdlich Material ge-sammelt: in Talkshowmitschriften undBundestagsreden, Partygeschwätz undSongzeilen, Paragrafen und Medizinfach-büchern.

Ein „Weltempfänger“ nennt sich Goetz,dessen Beobachtungswut angeblich strengauf die schiere Gegenwart fixiert ist, wäh-rend Witzels Forscherblick vordergründigallein dem Gestern gilt. Ihre Resultate undihre Verfahren ähneln sich. Beide braucheneinen Zerrspiegel, um Erkenntnis zu stif-ten. Der Debütroman, mit dem Goetz imJahr 1983 bekannt wurde, hieß „Irre“. Erspielt zu großen Teilen in der Psychiatrie.

Die Buchpreis-Auszeichnung für FrankWitzels „Die Erfindung der Roten ArmeeFraktion durch einen manisch-depressivenTeenager im Sommer 1969“ ist aber we -niger deshalb interessant, weil sich die Juroren des Preises für anspruchsvolle Er-zähltechniken begeistern. Sie passt in eineZeit, in der die Deutschen glauben, sichvon den bizarren Heroen und Heilsfigurenihrer Vergangenheit befreit zu haben, unddoch merken, dass die als Dämonen durchdie Gegenwart spuken. Auch in der er -folgreichsten literarischen Neuerscheinungder Herbstsaison, Jonathan Franzens „Un-schuld“, ist eine der Hauptrollen mit einemDeutschen besetzt, einem früheren DDR-Bürger, einem Mörder und Menschenfischer.

Frank Witzel hat bekannt, wie unsicherer selbst nach dem Druck seines Romansüber dessen Wirkung gewesen sei. „Ichhabe eigentlich nur in meiner eigenen klei-nen Vergangenheit gegraben.“

Einmal, im Kapitel mit der Nummer 91,nimmt er alle Buchstaben des Alphabetsdurch und klopft sie ab auf Wert und Klangund Bedeutung, ja sogar auf ihre angeb -liche emotionale Verfassung. Das Z steheam Ende und habe „das Gefühl, nicht dorthinzugehören“. Über das W schreibt Wit-zels Erzähler: „Das W ist der Buchstabeder Frage … Es ist der Konsonant derÜberlegung, des Innehaltens, bevor dieSprache sich entfaltet, ein Windhauch, derdie Silben bewegt.“

Natürlich ist „Die Erfindung der RotenArmee Fraktion durch einen manisch-de-pressiven Teenager im Sommer 1969“ einW-Buch, in dem ununterbrochen nach derEnge Nachkriegsdeutschlands, nach derKälte im Herz und Hirn seiner Bewohnergefragt wird. „Tatsächlich aber stellt sichheraus, wenn man ganz genau hinschaut,dass die Bedeutung gerade darin liegt, esnicht erklären, nicht auflösen, vor allemnicht kontrollieren zu können“, behauptetWitzels Erzähler.

Die Wahrheit über die Geheimnisse derDeutschen entsteht aus dem Wahn.

Wolfgang Höbel

126 DER SPIEGEL 43 / 2015

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Literat Goetz: Ein „Weltempfänger“

Die Auszeichnung passt ineine Zeit, in der die Deutschenhoffen, sich von bizarren Heroen befreit zu haben.

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An die Villa, die einst in der Ahorn-allee 27 in Breslau stand, erinnertelange nur noch ein historisches

Foto. Hinter einem gusseisernen Zaun er-hebt sich eine vornehme Fassade, die imoberen Geschoss von einer Säulenloggiaaufgebrochen wird. Dieses Anwesen gibtes nicht mehr. Es wurde ersetzt durchschmucklose Reihenhäuser.

Nun sind Dokumente aus der Zeit desNationalsozialismus entdeckt worden, dieden Glanz im Inneren dieses Wohnsitzesauf fast gespenstische Weise wieder vor-stellbar machen. Die Nazis hatten es aufdie Kunst-und-Antiquitäten-Sammlungdes Villenbesitzers David Friedmann ab-gesehen. Vor der Beschlagnahmung ließensie alles taxieren, 1938 und noch einmalzwei Jahre später. Die Liste vom 24. Janu-ar 1940 verzeichnet 306 Nummern, die Ob-jekte sind geordnet nach den Zimmern, indenen sie sich befanden.

Dass die NS-Akten nach so langer Zeitim Labyrinth eines polnischen Archivs auf-gespürt wurden, ist eine Sensation, fastein Wunder. Und dieses Wunder wird fürAufregung sorgen: bei jüdischen Familien,die glaubten, solche Schriftstücke ließensich nicht mehr ausmachen, und die nunwieder hoffen – und auch bei den Leuten,die sich fragen müssen, ob die Kunst ausder Breslauer Ahornallee oder aus denHäusern anderer jüdischer Eigentümer inihren Besitz gelangte, in ihre Privatsamm-lungen oder Museen einging.

David Friedmann wohnte in dem Hausin der Ahornallee. Ein Deutscher jüdischenGlaubens, ein Witwer. Die Nazis schmis-sen ihn 1941 aus seiner Villa; er war 84 Jah-re alt, als er die Kündigung des Luftgau-kommandos erhielt. Es blieb nicht bei dem einen Umzug für den alten Mann, er starbim Februar 1942 in einer Breslauer Woh-nung, Adresse: „Straße der SA 127“. ImMärz 1942 wurde seine Tochter Charlottenach Ravensbrück deportiert, dann nach

Auschwitz, wo sie im Oktober ermordetwurde. Sie war 59 Jahre alt.

Für seinen Großneffen David Toren hatder Kunstliebhaber aus der Ahornallee nocheine große Präsenz. Toren und sein Bruderwaren wie Enkel für Friedmann gewesen,dessen Tochter keine Kinder hatte. Man ver-brachte immer wieder Zeit mit einander, inBreslau, ebenso auf Friedmanns schlossähn-lichem Rittergut Großburg.

Toren, der seit Langem in New Yorklebt, sagt, sein Großonkel habe sich mehrfür seine Kunst als für seine Landgüter unddie anderen Besitztümer interessiert. Einwarmherziger Mensch sei er gewesen, nichtuneitel, deshalb habe er sich die Glatzegepudert. Er selbst habe als kleiner Jungegedacht, der Großonkel trage Zucker aufdem Kopf – schließlich gehörte Friedmanneine Zuckerfabrik.

Der Jurist Toren, heute 90-jährig, warselbst schon ein älterer Herr, als er anfing,sich für den Verbleib der Bilder zu interes-sieren. Viel war da zuerst nicht an Spuren,nur ein Brief aus dem Jahr 1939, in demein Oberregierungsrat betonte, wie wert-voll Friedmanns Kunstsammlung sei. AlsBeispiele nannte er zwei Bilder Max Lie-bermanns.

Als dann 2013 der Fall Gurlitt an die Öf-fentlichkeit kam, ließ sich – auch dank die-ses Briefes – schnell eine Verbindung zie-hen vom München der Gegenwart zur Ver-gangenheit der Breslauer Ahornallee 27.Eines der Ölbilder aus Cornelius GurlittsWohnung in Schwabing stammte aus Fried-manns Villa. Es handelte sich um Lieber-manns so lange verschollenes Gemälde„Zwei Reiter am Strand“. Weltweit wurdedarüber berichtet.

Etwa 1500 Werke hatte Cornelius Gurlittvon seinem Vater geerbt, dem NS-Kunst-händler Hildebrand Gurlitt. Auch das Lie-bermann-Pastell „Die Korbflechter“ waraus Friedmanns konfiszierter Sammlungzu den Gurlitts gelangt. Dieses Bild jedoch

hatte wohl Cornelius Gurlitts Schwesterim Jahr 2000 beim Auktionshaus Villa Gri-sebach in Berlin versteigern lassen, es er-zielte einen hohen Preis, vor drei Jahrenstarb sie. Sie war Kunsthistorikerin, siedürfte gewusst haben, was Raubkunst ist.

Wo aber war der Rest der Sammlung,was genau gehörte überhaupt dazu? Selbstein von der Bundesregierung eingesetztesExpertenteam – offiziell „Taskforce“ ge-nannt – fand nichts Aussagekräftiges, ob-wohl es sich doch eingehend mit demKunstbesitz von Friedmann beschäftigte.

Nun hat ein Rechercheur, der von To-rens deutschen Anwälten engagiert wurdeund sich gut mit polnischen Archiven aus-kennt, in einer anderen Bibliotheksabtei-lung nachgesehen, als das die Provenienz-forscher üblicherweise tun. Hier stieß erauf eine handschriftliche Taxierung vonFriedmanns Besitz aus dem Juni 1938 so-wie auf die spätere, mit Schreibmaschineverfasste „Aufnahme und Schätzung allerKunstgegenstände, Antiquitäten, Gemäl-de, echter Teppiche etc. im Hause Ahorn-allee 27“. Die detailliertere Aufzählungliest sich wie ein Reiseführer durch dasAnwesen, sie beginnt mit „Garderobe“,führt über die „Diele“ ins „Herrenzim-mer“ und weiter.

In der Garderobe: unter anderem eng -lische Kupferstiche, ein Marmorrelief ausdem 17. Jahrhundert, Perserbrücken. Inder Diele: Bronzefiguren, Krüge, chinesi-sche Vasen, Ölbilder, eine Amor-Gestaltaus Marmor.

Im Herrenzimmer: Schnitzereien aus Elfenbein, Marmorfiguren, Bronzen, einbesonders wertvoller Gobelin. Gemälde,dazu Max Liebermanns Zeichnung mit einem nähenden Mädchen, von Lovis Corinth ein getuschtes Porträt.

Danach die besondere Pracht des Salons,ein Ölbild des berühmten Franzosen Gustave Courbet, vom Impressionisten Ca -mille Pissarro eine Landschaftsansicht mit

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Das Haus in der AhornalleeRaubkunst David Toren erhielt aus dem Gurlitt-Erbe ein Gemälde Max Liebermanns zurück. Jetzt zeigteine wiederentdeckte Liste der Nazis, wie viel mehr seiner Familie geraubt wurde.

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Friedmann-Villa in Breslau, Liebermann-Pastell „Die Korbflechter“ (1900), Erbe Toren in New York: Hoffen auf Anstand und Seele

Kultur

Fluss. Dazu der fünfflammi-ge Bronzeleuchter, auch eineSeidenbrücke wird erwähnt.Dosen und Vasen aus Meiß-ner Porzellan und Perlmutt.Ein venezianisches Glas, eineastronomische Jahresuhr auseiner Breslauer Manufaktur.Weitere Liebhaberstücke.

So geht es durch die Räu-me, durch das Speisezimmer,den Wintergarten, das Wohn-zimmer, durch das Arbeits-zimmer, die Treppe hinauf(dort, im Aufgang, befandsich auch ein Gebetsteppich)ins Schlafzimmer. Man siehtdie Kunst vor sich, die schö-nen Teppiche. Man ahnt dieAngst des alten Mannes, demschon anderes weggenom-men wurde, ganze Landgü-ter, und der weiß, dass seinLeben und das seiner Tochterin Gefahr ist. Man stellt sichden eifrigen Gutachter vor,der alles in jenem Winter„nach bestem Wissen und Ge-wissen geschätzt“ hat. So ver-merkte er es.

Dieser Sachverständige,ein Händler namens ErichSchaffranietz, fügte hinzu,dass das Mobiliar von derbesten Werkstatt Breslaus imfranzösischen Stil angefertigtund die Kunstsammlung ineinem Zeitraum von 60 Jah-ren unter Leitung des Kunst-salons Cassirer in Berlin zu-sammengetragen worden sei; Cassirer, daswar einmal die erste Adresse für moderneKunst. Etliche Gemälde, so merkte derGutachter an, würden „in Friedenszeitenschnell und sicher Devisen“ bringen.

Friedmann gefielen augenscheinlichLandschaftsansichten, flirrende Sehn-suchtsbilder, Impressionistisches. Er hatteetliche Werke von Künstlern erworben,die einst der Berliner Secession angehör-ten, allen voran Max Liebermann. EinigeNamen sind in Vergessenheit geraten. An-deres dürfte von zeitlos musealer Bedeu-tung sein, der Courbet, auch der Pissarro,Werke von Jean-François Raffaëlli, ebensodie Zeichnungen von Adolph Menzel, MaxLiebermann, Lovis Corinth. Friedmannwar das, was man einen Connaisseurnennt.

Die Rechnung für die unfreiwilligeSchätzung seiner Kunst musste Friedmannbegleichen, 1216 Reichsmark. Manche Brie-fe zu dem Vorgang tragen den Verweis:„Betrifft: Arisierungsangelegenheit D.Friedmann“. Die Gestapo mischte sich ein,zeigte Friedmann und seine Tochter wegenVolks- und Staatsfeindlichkeit an. Der

Grund: Ein Treuhänder habe eine „Zweit-schrift der Aufstellung der zur Beschlag-nahme gemeldeten Kunstwerte des F. nichtfertigen lassen“.

Die neuen Erkenntnisse über die ge-raubte Kunst werden bald in die Daten-bank „Lost Art“ eingestellt. Toren hofft,dass die heutigen Besitzer die Größe ha-ben, sich zu melden. Er will zurück, waseinst der Familie gehörte, er würde das alsspätes Zeichen dafür nehmen, dass dieMenschen doch Anstand besitzen, er lässtdas Wort „Seele“ fallen.

Womöglich aber ist Empathie hierzulan-de die Ausnahme. Als Toren und die Kin-der seines verstorbenen Bruders das Lie-bermann-Bild mit den Reitern am Strandzugesprochen bekamen und es vor einpaar Monaten in London versteigern lie-ßen, war in Kommentaren deutscher Zei-tungen ein seltsamer Unterton, fast einVorwurf zu hören. Warum, so die zu ver-nehmende Frage, hat er das Bild nicht be-halten, nachdem er darum gekämpft hatte?Kaum restituiert, lande es auf dem Kunst-markt, so schrieb „Die Welt“. Doch Torengeht es darum, ein Stück Gerechtigkeit

wiederherzustellen, und esist ein Skandal und ein Zy-nismus, dass er selbst dafürsorgen muss. Dass er nach-forschen lässt und dass diesnicht die Deutschen mit dernotwendigen Sorgfalt tun.

1925 in Breslau geboren,entkam Toren, der ursprüng-lich Klaus Günther Tar-nowski hieß, 1939 mit einemKindertransport nach Schwe-den, da war er 14 Jahre alt.Von seiner Familie blieb ihmnur ein Foto. Bis heute istihm nicht einmal bekannt,wer alles zu seiner Verwandt-schaft zählte, was ihr nochalles gehörte. Er ist über-rascht, als er hört, dass derBruder seiner Oma Betty einberühmter Augenarzt war,der in Berlin an der Univer-sität lehrte, dass ein weitererihrer Brüder Bankier undihre Schwester die Mutter desZionisten Richard Lichtheimwar.

Dass sein Großonkel Da-vid mit Leuten wie demKomponisten Richard StraussKarten spielte, hatte er einstmitbekommen. Aber nicht,dass ein Schwager von Da -vid Friedmann stellvertre -tender preußischer Minister-präsident gewesen war, dass ein weiterer Schwager derKunstsammler Max Prings-heim war.

David Toren kann sich erinnern an dieGüte, die seine Großmutter Betty Fried-mann ausstrahlte, dass sie Uhland, Fon -tane und Thomas Mann zitierte. Wöchent-lich lud sie zum Essen ein. Viel später erfuhr er, dass sie drei Tage nach einerOperation deportiert worden war und amersten Tag im KZ starb. Auch seine Eltern,Georg Tarnowski und Marie Friedmann,wurden im KZ getötet.

Jahre zuvor durfte der auch literarischgesinnte Rechtsanwalt Tarnowski noch sei-ne politischen Gedichte in seiner wöchent-lichen Kolumne in der „Breslauer Zeitung“veröffentlichen. Sein sprühender Geist warlegendär. Wie sein Vater wurde David To-ren Anwalt, sein eigener Sohn ist es auch.

In einem Archiv mit alten Unterlagender jüdischen Gemeinde in Breslau findetsich ein handbeschriebener Zettel, ein Lehrer oder eine Lehrerin hatte die Noteneiner fünften Klasse im Fach Englisch ver-merkt. Ein „Tarnowski, Klaus“ kommt vor.Er erhielt eine sehr gute Note. Dieser Jun-ge dürfte der Klaus Tarnowski gewesensein, aus dem David Toren wurde.

Ulrike Knöfel

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NS-Taxierung von 1940 (Auszug): „Nach bestem Wissen und Gewissen“

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Kultur

Als Nicholas Müller seine Angst be-siegt und nach über anderthalb Jah-ren wieder eine Bühne betritt, hat

das Schicksal noch eine Pointe für ihn. Mül-ler soll in Berlin auf dem Sommerfest einesPlattenlabels auftreten und fünf, sechsSongs spielen. Eine Gitarre hängt um sei-nen Hals, er sieht ernst aus, schwitzt. Mül-ler will dem Musikbusiness zeigen, dass erzurück ist. Für ihn ist es ein finaler Test,ein Beweis, dass er nach langer Therapiewieder gesund ist. Denn bei seinem bislangletzten Auftritt hatte Müller gedacht, dasser auf der Bühne sterben wird.

Müller spielt die ersten Akkorde undschaut durch das Scheinwerferlicht in denKlub, doch dort steht niemand. Der Um-bau hat länger gedauert, das Publikum istinzwischen nach draußen gegangen. Drin-nen steht Müller, verloren. So beginnt fastunbemerkt ein Comeback, mit dem nie-mand mehr gerechnet hat.

Es ist erst ein paar Jahre her, da spielteMüller noch auf Festivals vor 60000 Zu-schauern. Als Sänger der Band Jupiter Jones. Auf der Bühne sah er dabei aus wieein Koloss. Fast zwei Meter groß, kräftigeStatur, Arme und Beine tätowiert. Müllerwirkte wie jemand, den so schnell nichts

umhaut. Jahrelang war er mit seiner Bandin einem VW-Bus durch das Land gefahren.Sie spielten vor 20 Zuschauern in Göttin-gen und vor 2 in Hamburg. Sie spielten füreine Kiste Bier und Benzingeld. Als siekurz vor dem Durchbruch standen, gabender Schlagzeuger und der Gitarrist ihrenFahrzeugbrief und ihre Lebensversicherungals letzte Sicherheit der Bank.

Das erste Album bei einem großen Plat-tenlabel verkaufte sich 2011 über 100 000-mal. Die erste Single über 300000-mal. Ju-piter Jones bekamen eine Goldene Schall-platte, eine Platinplatte, den MusikpreisEcho. Auf dem Höhepunkt des Erfolgsstieg Müller aus, nach zwölf Jahren. Einneues Album war gerade erschienen, eineDeutschlandtour sollte wenige Wochenspäter beginnen. „Ich kann nicht mehr“,schrieb Müller seinen Fans auf Facebook.Das war Anfang 2014.

Warum tut jemand so etwas? Die Ant-wort ist kompliziert. Wie so oft, wenn esum psychische Störungen geht. „Ich hatteblanke Panik. Jeder Termin war eine unüberwindbare Aufgabe für mich“, sagter. Müller sitzt in einem Gasthaus in derAltstadt von Münster, weit hinten in einerEcke, und erzählt mit ruhiger Stimme

seine Geschichte. Es ist das erste von mehreren Treffen, und immer wieder wird es um den Tod gehen. Wie es sichanfühlt, wenn einem die Furcht langsamin den Kopf krabbelt. Müller wird vonüber tausend Panikattacken erzählen. VonStunden, Tagen und Wochen, in denen er auf dem Fußboden lag und vor Ver-zweiflung schrie. Angst störungen sind diehäufigste psychische Störung in Deutsch-land.

Aufgewachsen ist er in der Eifel. DerOrt, aus dem er kommt, hat 872 Einwohner.Mit seinen Eltern, einer Tante, den Groß-eltern und Urgroßeltern wohnte er in einemalten Steinhaus. Am Morgen kümmertesich seine Oma um ihn, am Nachmittag sei-ne Mutter. Müller sagt: „Ich hatte eineKindheit wie aus dem Bilderbuch.“ SeineLehrer sagen, sie hätten ihn genauso ge-mocht, wie sie ihn gehasst hätten.

Als Müller 16 war, flog er vom Gymna-sium. Er färbte sich die Haare, begann zukiffen, wohnte in verschiedenen WGs,manchmal auch nur auf dem Sofa einesKumpels. Eine Ausbildung zum Erzieherbrach er ab, genauso wie die Ausbildungzum Heilerziehungspfleger. Müller arbei-tete als Kellner, dann als Hausmeister. Bit-

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StillKrisen Nicholas Müller war Star der deutschen Popband Jupiter Jones. Wegen einer Angststörung musste er seine Karriere beenden. Jetzt kehrt er aufdie Bühne zurück, obwohl er einst fürchtete, dort zu sterben.

Sänger und Angstpatient Müller in einem Studio in Hamburg: „Mir war die Empathie abhandengekommen – ich war mit Überleben beschäftigt“

tet man ihn um genaue Zeitangaben, lä-chelt er entschuldigend. Er ist ein Mensch,der sich im Alltag verirren kann.

Seine Mutter starb, da war er keine 25.Als die Ärzte bei ihr Brustkrebs feststell-ten, zog er zurück in sein Elternhaus. Kurzzuvor war seine Oma gestorben. Nachtslag er schlaflos im Bett, seine Mutter zweiStockwerke über ihm. Müller sagt: „Ichhabe sie trotzdem gehört.“ Eines Morgenswar es still. Müller blieb starr im Bett lie-gen und wartete darauf, dass sein Vaterins Zimmer kam. Danach schlug er seineFaust so oft gegen die Wand, bis sie blutete.Dann fuhr er 70 Kilometer in die nächsteStadt und kaufte sich ein Sakko für dieTrauerfeier.

Müller ist jetzt 33 Jahre alt. Er kann vieleStunden sprechen, ohne die Konzentrationzu verlieren. Es gibt Momente, da möchteman ihn bremsen, weil er so ungeschütztaus seinem Leben erzählt. Bis einem klarwird, dass er es genau so erzählen möchte.Mit allen Details. Vielleicht, weil er ande-ren Menschen Mut machen will. Vielleicht,weil er furchtloser ist, als er denkt.

Am Ende hat sich ein Berg an Informa-tionen aufgetürmt. Sucht man darin nachdem, was sein Leben über all die Jahreausgemacht hat, dann ist es die Musik.Mehr als sein halbes Leben steht er schonauf der Bühne, spielt Gitarre, notiert sichTextzeilen, die ihm unter der Dusche ein-fallen. Auch den Beginn seiner Angststö-rung beschreibt man am besten mit einemSong, dem Lied „Still“. Es ist der größteHit, den Müller geschrieben hat.

Jede Band, die Erfolg haben will,braucht so einen Hit. Ein Lied, das sie von

kleinen Klubs auf große Bühnen katapul-tiert. Jupiter Jones gelang der Durchbruchmit dieser traurig-schönen Ballade. In demLied „Still“ singt Müller mit heiserer Stim-me: „So still, dass jeder von uns wusste,das hier ist für immer / für immer und einLeben und es war so still / dass jeder vonuns ahnte, hierfür gibt’s kein Wort / dasjemals das Gefühl beschreiben kann.“ Eswar 2011 das meistgespielte deutschspra-chige Lied im Radio. Der Text handeltnicht vom Ende einer Beziehung, sondernvom Tod seiner Mutter. Auf ihrer Trauer-feier hatte Müller seine erste Panik attacke.

Er saß in der Kirche ganz vorn, als ihmschwindelig wurde. Er bekam keine Luft,spürte einen Druck auf der Brust, das Herzschlug schneller. Müller war nicht nur trau-rig, er hatte Angst um sein Leben. Er wank-te nach draußen, vorbei an Familie undFreunden. Seine Tante musste ihn stützen,sein bester Freund fuhr ihn ins Kranken-haus. Müller weinte die ganze Fahrt lang.Im Krankenhaus kontrollierte ein Arzt sei-nen Puls, er maß den Blutdruck: alles nichtlebensgefährlich. Sie machten ein EKG, sieschauten sich seine Blutwerte an. Ein Ner-venzusammenbruch, sagte der Arzt. Dasgeht vorbei. Ging es aber nicht.

Müller war bei HNO-Ärzten, Neurolo-gen, Kardiologen. Niemand fand eine Er-klärung für seine Hitzewallungen, denSchwindel, die Übelkeit, das Herzrasen,den Kaltschweiß. „Ich hoffte irgendwann,dass sie etwas finden, irgendwas“, sagtMüller. Eine Ärztin sagte schließlich: „Siesind körperlich gesund, was Sie fertig-macht, ist Ihre Psyche.“ Seitdem hat ereine Dia gnose: generalisierte Angststörung

mit starken Panikattacken, Hypochondrieund depressiven Episoden.

Es ist schwer zu beurteilen, warumAngst zu einer krankhaften Störung wird.Im Jahr 2014 veröffentlichte eine Fach -kommission einen Leitfaden zur Behand-lung von Angststörungen. Die Expertenaus Medizin und anderen Wissenschaftenschrieben sinngemäß, dass es schwer zusagen ist, warum aus natürlicher Furchtkrankhafte Angst wird. Klar ist, dieses Ur-gefühl hat schon viele Leben ausgebremst.Es hat Beziehungen zerstört und Men-schen arbeitsunfähig gemacht.

Angst gilt aber auch als Triebfeder, geradefür künstlerische Leistungen. Auffallend vie-le Musiker, Schauspieler, Schriftsteller leidenoder litten unter Ängsten. David Bowie, Ma-donna, Rihanna, Woody Allen, Winona Ry-der. Einst auch Goethe, Brecht und Kafka.Selbst Charles Darwin, Begründer der Evo-lutionstheorie, hatte große Angst, nicht nurwenn er auf Menschenmengen traf.

Müller schrieb immer wieder über seineÄngste, nicht nur den Hit „Still“, sondernauch einen Titel mit der Zeile „HalloAngst, du Arschloch“ und das Lied „Damitdas endet“. Es hat 43 Strophen, 2000 Wör-ter. Er hat es nie veröffentlicht. Hört manalte Songs von Jupiter Jones, hat man oftdas Gefühl, Müller wolle zu viele Gedan-ken in drei Minuten Popmusik stopfen.Man muss das nicht mögen. Aber es istMusik, die so wahr ist, dass sie wehtut.

Nach der Diagnose ging Müller in eineTagesklinik. Am Wochenende spielte erKonzerte. Er bekam Medikamente. Ermachte eine Therapie. Er ließ sich den Satz„I own my fear so it doesn’t own me“ auf

133DER SPIEGEL 43 / 2015

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die Hände tätowieren. Es sah aus, als wür-de die Krankheit ihn nicht umhauen.

Aber die Panikattacken kamen zurück.Manchmal zwei-, drei-, viermal am Tag.Ohne Anlass. Wenn eine Attacke kam, leg-te Müller sich mit geschlossenen Augenauf den Boden, seine Beine im 90-Grad-Winkel, und wartete, bis sein Körper keineKraft mehr hatte. Ging er einkaufen, such-te er Fluchtwege. Ging er schlafen, lag einTelefon neben dem Bett. Müller sagt: „DieÄngste waren irrational, aber ich konntemeine Gefühle nicht steuern.“ Wie imWahn kontrollierte er seinen Puls und prüf-te seinen Blutdruck. Er kannte alle kriti-schen Werte. Kannte er etwas nicht, goo-gelte er die Symptome.

Müller lernte eine Frau kennen. An gu-ten Tagen schärfte er ihr ein, keinen Ret-tungswagen zu rufen, sollte er eine Attackebekommen. An schlechten Tagen beknieteer sie, es doch zu tun. „Mir war die Empa-thie abhandengekommen. Ich war mitÜberleben beschäftigt“, sagt Müller. Nurdie Musik hielt sein Leben noch zusammen.

Ein Konzert in Berlin änderte auch das.Zuerst spürte Müller die Angst in seinenFüßen, wie sie in ihm hochkroch. Er schau-te zu seinen Bandkollegen. Die Zwischen-ansagen wurden kürzer. Er bekam keineLuft. „Als Sänger muss ich singen, ichkann die Angst nicht wegatmen“, sagt Müller. Schließlich keuchte er nur nochdie Songtitel. Müller rettete sich in denSchlussapplaus.

Experten sagen, die Angst ist ein nim-mersattes Monster. Es zwingt einen dazu,bestimmte Situationen zu meiden. Gehtman darauf ein, breitet es sich aus. Es kannpassieren, dass jemand, der Angst vor demAufzug hat, irgendwann keine U-Bahnmehr fährt, dann keine S-Bahn, dann kei-nen Bus. Schließlich geht er überhauptnicht mehr vor die Tür.

Müller verlor in dieser Nacht seinenletzten Rückzugsort. Auf der Bühne hatteer immer funktioniert. Seine Bandkolle-gen waren es gewohnt, dass er nur mithalber Kraft spielte. Nun wussten sie nicht,ob er überhaupt auftrat. Wenn sie in denBackstage-Bereich kamen, sahen sie oft,wie er apathisch vor sich hin starrte. EinKonzert in Mainz konnte nur stattfinden,weil ein Psychologe zur Halle kam. In Iserlohn mussten sie auf eine Zugabe ver-zichten.

Einen Auftritt auf dem Deichbrand- Festival brach Müller schließlich ab: „Ichbrauchte sofort einen Arzt, der mir bestä-tigte, dass ich den Abend überlebe.“ Mül-ler lief von der Bühne und legte sich in einen Krankenwagen. Die Panikattackengingen vorbei, aber Müller entschied sich,die Gruppe zu verlassen.

Es heißt, das Ende einer Band sei wiedas Ende einer Liebesbeziehung. Nurschlimmer. „In dem Moment darf man kei-

nen Applaus erwarten“, sagt Müller. EineBand ist auch ein kompliziertes Konstrukt,in dem Menschen sich voneinander entfer-nen können und Rollen sich verfestigen.

Müller war Sänger und Texter von Jupi-ter Jones. Er war aber auch der Typ, deralle mürbemachte. Das Ende kostete alleKraft und Geld. Müller hat darüber vielnachgedacht. Er sagt: „Was die Band sichgewünscht hat, konnte ich nicht erfüllen.Was ich mir gewünscht habe, auch nicht.“Zum Abschied wünschten sie sich gegen-seitig alles Gute.

Nach dem Ausstieg ging er für viele Wo-chen in eine Klinik. Dann mietete er amRand von Münster eine Doppelhaushälfte

mit Garten und bekam eine Tochter mitder Frau, die an guten und schlechten Ta-gen bei ihm geblieben war.

Wenn Menschen eine schwere Krankheitüberstehen, nutzen sie die Gelegenheit danach oft, um sich neu zu erfinden. Sieverklären die Vergangenheit, verlassen ihre Frau oder suchen einen neuen Job.Müller hat einfach wieder begonnen, Mu-sik zu machen. Er hat Songs geschriebenund für einen österreichischen Schlager-sänger Demos eingesungen, um Geld zuverdienen. Müller sagt: „Ich kann nichtsanderes.“

Anfang Juni dieses Jahres reiste er fürein paar Tage nach Hamburg. In einemTonstudio am Stadtrand hat er mit seinerneuen Band „von Brücken“ ein paar Lie-der aufgenommen. Das neue Album „Weitweg von fertig“ erscheint Ende Oktober.Müller kann immer noch so viel Traurig-keit in seine Stimme legen, dass man eineGänsehaut bekommt.

Er sei nicht mehr in seiner Gedanken-welt gefangen, man müsse sich um ihn kei-ne Sorgen mehr machen, hoffen seineFreunde. Müller selbst meint: „Ich werdemindestens 85 Jahre alt.“ Er sagt auch,dass er nicht mehr wisse, wann seine letztePanikattacke war. Aber vielleicht ist dasein bisschen gelogen. Die Angst ist nochimmer in seinem Leben: „Sie ist meindunkler Begleiter. Ich bin meilenweit vo-raus, aber wenn ich stehen bleibe, kriegtsie mich noch mal kurz.“

Kürzlich war Müller wieder beim Arzt.Der fragte: „Wie steht es um Ihren Puls?“Müller sagte: „Ich weiß nicht.“ Er öffneteeine Fitness-App auf seiner Uhr. Dort warsein Pulsschlag der letzten vier Wochengespeichert. Müller hatte völlig vergessen,ihn zu kontrollieren. Jonas Leppin

Twitter: @jolepp

134 DER SPIEGEL 43 / 2015

SPIEGEL TV MAGAZINSONNTAG, 18. 10., 22.05 – 23.15 UHR | RTL

Bei Anruf Abzocke – Das internationaleNetzwerk der Telefonbetrüger; Abschiebung, nein danke! – Asylklage-flut am Verwaltungsgericht Düssel-dorf; Kalter Entzug – Wenn Menschenoffline gehen.

SPIEGEL GESCHICHTESONNTAG, 18. 10., 22.00 – 22.50 UHR | SKY

Planet Oil – Die Geschichte

des Öls, Teil 1

Im ersten Teil der dreiteiligen BBC-Dokumentation beleuchtet Iain Stewart die Anfänge der globalen Öl-wirtschaft von den ersten Bohrungenbis zur Zeit nach dem Zweiten Welt-krieg, als Öl zum inter nationalen Politikum wird. Anfangs nutzte man

den Brennstoff nur für Öl lampen, dieErfindung der Glühlampe drohte die Ölwirtschaft zu ruinieren. Dochmit dem Aufkommen des Autos begann ein neues Zeitalter: Öl wurdezu einer kostbaren Ressource.

SPIEGEL TV WISSENFREITAG, 23. 10., 21.05 – 21.50 UHR | PAY-TV

BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN

Mangas, Elfen, Superhelden –

Leidenschaft Cosplay

Das Kostümspiel aus Comics und Fil-men nach japanischem Vorbild liegtim Trend. Die DoKomi in Düsseldorfgehört mit rund 20000 Besuchern zu den größten Manga-Fantreffen inEuropa. SPIEGEL TV drehte aufder seit Mona ten ausverkauften Ver-anstaltung.

BB

C

Ölplattform Statfjord B in der Nordsee

Cosplay-Fans

Müller kann immer noch so viel Traurigkeit in seineStimme legen, dass maneine Gänsehaut bekommt.

dmax.de

Einer der bedeutendsten Schöpfer der musikalischen Mo-derne, der früh so nah an die Atonalität ging, wie es ihmund dem Zeitgeist möglich war, lebte als Mensch ein ge-

ordnetes, eher kleinbürgerliches bajuwarisches Leben, in demMut keinen Platz hatte. So gewagt seine Opern „Salome“ und„Elektra“ auch waren, so schnell und brüsk wandte sich RichardStrauss von seinen frühen Erfolgen musikalisch wieder ab. Alswären sie ein schräges Aufstöhnen der Musikgeschichte. Esfolgte der eher herzige „Rosenkavalier“, eine Liebestragikomö -die voller Schmelz und nostalgischem Walzerparfum.

Und drei Jahre später, mitten im Ersten Weltkrieg, hatte inWien in ihrer zweiten, heute fast ausschließlich gespielten Fas-sung, die Jugendstiloper „Ariadne auf Naxos“ mit dem Librettovon Hugo von Hofmannsthal Premiere, ein klassizistisches,ironisches Werk mit großen Melodiebögen und halsbreche -rischen Koloraturen für ein hoch qualifiziertes Ensemble undein relativ kleines, nur 36 Musiker umfassendes Orchester. Es ist eine Oper über das Künstlertum, über den Wettstreitzwischen Tragödie und Komödie, ein einziges musikalischesAugenzwinkern.

Das ideale Stück, um damit auf Reisen zu gehen. In Pariswurde „Ariadne“ 1937 erstmals gespielt, im Théâtre desChamps-Élysées. Am vergangenen Montag nun kehrte sie genau dorthin zurück, in einer fulminanten konzertanten Aufführung der Bayerischen Staatsoper aus München.

Es war das erste Mal, dass deren Generalmusikdirektor KirillPetrenko, 43, in Paris dirigierte, nachdem er als Nachfolger

von Sir Simon Rattle zum Chefdirigenten der Berliner Philhar-moniker ernannt worden war.

Am Tag der Vorstellung hatte sich schon herumgesprochen,was anderntags verkündet wurde: Petrenko wird bis 2021 in München wirken, obwohl der Berliner Posten schon 2018vakant ist. In München arbeitet er in seiner letzten Saisondann nicht mehr als Generalmusikdirektor, sondern als Gast-dirigent, gleichzeitig dirigiert er verstärkt in Berlin, bevor erdort in der Saison 2019/2020 sein Amt mit voller Verantwor-tung antritt.

Nikolaus Bachler, Intendant der Münchner Staatsoper, derKent Nagano als GMD vergrault und Petrenko 2013 nach Mün-chen geholt hatte, verlässt zeitgleich mit dem Dirigenten dasHaus. Er soll, so erwarten es offensichtlich die Münchner, nochvor seinem Abgang einen adäquaten Nachfolger für den russi-schen Dirigenten organisieren.

Das wird, wie auch das triumphale Pariser Gastspiel bewies,schwierig. Petrenko ist, wie Simon Rattle, ein äußerlich uneitlerOrchesterchef, der Musiker und Solisten zu Höchstleistungenführt, ohne sie diktatorisch zu beherrschen.

Er ist weder nur Klangmagier noch Strukturalist. Er ist beides.Petrenko bringt die Partitur zum Blühen und ihre Strukturzum Leuchten, was gerade der filigranen „Ariadne“ gut be-kommt. Es geht Petrenko nicht um interpretatorische Effekte,nicht um das, was ihn von anderen Dirigenten unterscheidenkönnte, es geht ihm um das Stück und darum, wie es seinerMeinung nach am besten klingen sollte.

Während der morgendlichen Anspielprobe am Tag der Auf-führung tritt der zierliche Mann im schwarzen, langärmeligenPolohemd nicht auf, er ist irgendwann einfach da.

Mit überraschend hoher Stimme gibt er Anweisungen, wendet sich gelegentlich zu seiner Assistentin um, die im Saal sitzt, und fragt sie knapp, ob das Orchester nicht zu laut sei. Er selbst bleibt stets leise, konzentriert. Interview -anfragen lehnt Petrenko seit Jahren ab. Das könnte für denChefposten in Berlin zum Problem werden. Dort hat man sich darauf eingestellt, dass der Orchestervorstand mehr PR-Arbeitin eigener Sache übernehmen muss. Wer Petrenko will, be-kommt eine charismatische Sphinx, die nur durch die Musikspricht.

In Paris hatte Petrenko für sein „Ariadne“-Ensemble dreiüberragende Damen und einen männlichen Weltstar zur

Verfügung: Amber Wagner als stimmstarke,gelegentlich etwas schrille Ariadne, AliceCoote als leidenschaftlicher Komponist undBrenda Rae als Zerbinetta, die mit ihrer Koloraturarie das Publikum zu Szenen -applaus hinriss. Dass keine Inszenierung zusehen war, sondern nur eine konzertante,wenn auch durch Gesten, Auf- und Ab -gänge von den Sängern hinreichend leben -dig gestaltete Aufführung, störte das Pub -likum nicht. Die Spannung im Saal war von Anfang an da, beinahe wie bei einer Premiere.

Schwer hatte es Jonas Kaufmann alsBacchus, in der undankbarsten Rolle der Oper.Bacchus tritt spät in Erscheinung, hat kaumZeit, seine verteufelt hoch liegende Partie zuentwickeln, und ist bald wieder verschwun-den. Strauss war das Problem der Partie be-kannt, er habe, entschuldigte er sich, „haltnoch nie für Tenor schreiben können“. In denszenischen „Ariadne“-Vorstellungen, die inMünchen folgen, wird Peter Seiffert die ver-trackte Partie singen. Joachim Kronsbein

136 DER SPIEGEL 43 / 2015

Kultur

Ist es zu laut?Opernkritik Kirill Petrenko, künftig Chef der

Berliner Philharmoniker, zeigt mit „Ariadne auf Naxos“ sein Musikverständnis.

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Dirigent Petrenko, Solistinnen in Paris: Charismatische Sphinx

138 DER SPIEGEL 43 / 2015

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HILLA BECHER, 81

Ihre Motive waren die Hinterlassenschaften ausgedienterIndustrieanlagen: alte Hochöfen, Fördertürme, Steinwerke,Gasometer, Wasser- und Kühltürme, Getreidesilos. Gemein-sam mit ihrem Mann Bernd entwickelte die gelernte Foto-grafin, die in Potsdam in einer großbürgerlichen Familieaufgewachsen war, seit Ende der Fünfzigerjahre eine Lei-denschaft für diese, wie sie sagte, „anonymen Skulpturen“.Die beiden versuchten, ihre Objekte so sachlich und detail-reich wie möglich aufzunehmen sowie in Form und Struk-tur zu typologisieren. Diesen Teil übernahm bei dem an-sonsten gleichberechtigt arbeitenden Eheleuten vor allemHilla, deren Stärken Geduld und Präzision waren. Mit ih-ren ästhetischen Schwarz-Weiß-Fotografien in der Traditionder Neuen Sachlichkeit wurde das Paar – spätestens seitder Documenta 1972 – als Künstler berühmt. Durch ihre„Erinnerungsarbeit“ galten beide als Chronisten einer un-tergehenden Industriekultur. Nachdem Bernd Becher 1976eine Professur für Fotografie an der Kunstakademie Düssel-dorf erhalten hatte und Hilla dort mit tätig war, entstanddie sogenannte Becher-Schule, aus der viele inzwischenweltbekannte Künstlerpersönlichkeiten wie Andreas Gursky, Candida Höfer oder Thomas Ruff hervorgingen.Nach dem Tod ihres Mannes 2007 führte die Witwe das gemeinsame Werk fort. Als Grande Dame der deutschenFotografie wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.Hilla Becher starb am 10. Oktober in Düsseldorf. kle

GAIL ZAPPA, 70

Große Künstler werden geliebtund manchmal auch gehasst.Gute Manager werden gefürch-tet. Und die einen könnennicht ohne die anderen. Es istzumindest unklar, ob die Kar-riere von Frank Zappa ohneseine Frau Gail ähnlich erfolg-reich verlaufen wäre. Gail wardie Tochter eines Kernphysi-kers, sie wuchs in Hollywoodauf, Jim Morrison und siekannten sich schon als Kinder.Frank Zappa traf sie 1966 beieinem Auftritt, ein Jahr späterheirateten die beiden. Er warein aufstrebender Bürger-schreck, der verquere Rockmu-sik machte und für seine Ver -achtung des Establishments

geliebt wurde. Gail Zappakämpfte in seinem Namen mitden Plattenfirmen, gründeteselbst welche und baute in denAchtzigern den unabhängigenMailorder auf, mit dem ZappaMerchandising und späterauch seine Musik vertrieb.Nach Zappas Tod 1993 verwal-tete sie sein Erbe, gründeteden Zappa Family Trust undbrachte noch 38 posthumeZappa-Alben heraus. Insge-samt sind es nun 100. IhremRuf als humorlose Geschäfts-frau wurde sie gerecht, als sie2008 versuchte, dem Zappa-Fan-Festival Zappanale in BadDoberan zu verbieten, den Namen ihres Mannes zu be -nutzen. Gail Zappa starb am 7. Oktober in Los Angeles. rap

KEVIN CORCORAN, 66

Der Sohn eines Wachmannsbei den amerikanischen MGM-Studios kam schon als Kindzum Film: Sein Vater stellteihn eines Tages vor, als auf dieSchnelle noch ein junger Dar-steller gesucht wurde. KevinsAusstrahlung als amerikani-sches Durchschnittskind mit einer gesunden Neugier brach-

te ihm 1956 eine Rolle in „Ad-ventures in Dairyland“ ein, ei-ner Serie, die im „MickeyMouse Club“ gezeigt wurde.„Moochie“, wie er darin hieß,war fortan sein Spitzname.Viele andere Auftritte in Dis-ney-Produk tionen folgten, biser noch als Teenager beschloss,die Seiten zu wechseln, umspäter als Produzent und Re-gisseur hinter der Kamera zustehen. Kevin Corcoran starbam 6. Oktober in Burbank,Kalifornien, an Darmkrebs. kle

CAREY LANDER, 33

Auf großen Ruhm legten esdie Mitglieder der schotti-schen Indie-Pop-Band CameraObscura nie an. Ihnen ging eseher um nerdige Coolness undum melancholische Nostalgie.2002 schloss sich die Key-boarderin Carey Lander dersechs Jahre zuvor in Glasgowgegründeten Band an, derenAlben – zum Beispiel „Let’sGet Out of This Country“,

„My Maudlin Career“, „Desi-re Lines“ – viele Fans fanden.2011 wurde bei Carey Landerein Osteosarkom diagnosti-ziert, ein seltener, bösartigerKnochentumor. Zunächst ge-lang es ihr, die Krankheit zu-rückzudrängen, doch in die-sem Jahr kam sie wieder.Über eine Website hat Landermittlerweile über 90000 EuroSpendengelder zusammen -getragen, sie sollen in die Er-forschung der Krankheit flie-ßen. Carey Lander starb am11. Oktober in Glasgow. rap

139DER SPIEGEL 43 / 2015

GEOFFREY HOWE, 88

Sein größter Coup wardie Abschiedsrede vonder RegierungsbankEnde 1990. Howe hattegenug von MargaretThatcher, ihrer immerradikaleren Europa -politik, genug von denLaunen der britischenPremierministerin, dieer jahrelang brav er -tragen hatte. Seit 1979hatte er ihr als Schatz-

kanzler gedient, Außenminister und stellvertretender Premier, loyal bis zur Selbstaufgabe. In seiner 18 Minutenlangen Rede verglich er Thatchers Verhandlungstaktik inBrüssel mit einem Kricketteam, dessen Kapitän die Schlä-ger schon vor dem Spiel zerbrochen habe. Es war die Rache eines Mannes, der sich nicht mehr demütigen lassenwollte. Thatcher war in ihrer Partei bereits angeschlagen,Howes Demission besiegelte ihr Schicksal. Neun Tage spä-ter kündigte sie ihren Rücktritt an. Geoffrey Howe starbam 9. Oktober in Warwickshire. cx

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Der Spender

Der Grünen-Abgeordnete Özcan Mutlu,

47, schenkt dem NPD-Parteivorstand einGrundgesetz. Anlass für die Spende gab ein Brief der NPD an Mutlu und an-dere Bundestagsabgeordnete. Darin beklagt die rechte Partei die vermeintliche„Gefährdung des deutschen Sozialstaa-tes“ durch die hohe Zahl Asylsuchenderund fordert die Volksvertreter auf, Maßnahmen zu ergreifen, die „der Asyl-flut Einhalt gebieten“. In dem fast dreiSeiten langen Schreiben wird suggeriert,die Mehrheit der Flüchtlinge käme aus

wirtschaftlichen Gründen nach Deutsch-land. Mutlu antwortete vergangene Woche auf den „menschenfeind lichenBrief“ mit dem Hinweis, dass die NPDihre Politik doch auf der Basis des bei -gelegten Grundgesetzes gestalten solle:So könnten „nicht nur Schäden der Opfer durch Straftaten“ – im Jahr 2015gab es über 440 Übergriffe auf Asyl -unterkünfte –, sondern auch „Steuerver-schwendung in Millionenhöhe zur Behandlung dieser Delikte vermieden“werden. „Dies müsste ja auch in IhremInteresse sein“, schreibt Mutlu und endet mit „freundlichen Grüßen“. ks

142 DER SPIEGEL 43 / 2015

SchamlosPaparazzi sind für Pro-minente längst nichtmehr das Hauptärgernisim Alltag. Viel schlim-mer sind Fans mit Mobil-telefonen. Die sind all -gegenwärtig und kennenkeine Scheu, wenn sieauf der Jagd sind nachdem modernen Äquiva-lent des Autogramms: ei-nem Selfie an der Seiteihrer Lieblingsberühmt-heit. Ob das Objekt derBegierde mit der Familieunterwegs ist, auf einerLiege am Pool döst odergerade ein Steak genießt,Fans kennen kein Par-don. Die beiden briti-schen Models Kate Moss,

41, und Cara Delevingne,

23, mussten eine neueDimension dieser Grenz-überschreitungen erleben,wie sie jetzt verrieten:„Ich war in einer Toi -lette, und jemand fragte,ob er ein Bild machendürfe“, erzählt Dele -vingne. Moss teilt die Er-fahrung: „Ja, das ist mirauch schon passiert. Siefolgen dir aufs Klo, weilsie denken, dann habensie dich. Als ob ich einSelfie in einer Toilette ma - chen würde!“ ks B

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143DER SPIEGEL 43 / 2015

Personalien

Robert Harris, 58, britischer Best -sellerautor, fühlt sich auch deshalbzum römischen Redner und Poli tiker Cicero hingezogen, weil er sich in ihm wiedererkennt: in einem Außenseiter aus der Pro-vinz, der nur Erfolg hat, weil er gut mit Sprache umgehen kann.Harris, geboren in Nottingham,wuchs in bescheidenen Verhältnis-sen auf; heute verdient er Millio-nen mit Politthrillern wie seinerCicero-Trilogie, deren letzter Teil„Dictator“ jetzt bei Heyne er-scheint. „Cicero war ein Genie,das bin ich nicht“, sagt Harris.Aber er erkenne in Ciceros Per-sönlichkeit all die Macken, dieehrgeizige Emporkömmlinge ofthätten: Unsicherheit, Ängstlich-keit und Angeberei. tob

Ingrida Labucka, 52, lettische Rich-terin am Gericht der EU, hat deut-sche Bäcker glücklich gemacht:Deren polnische Kollegen hattensich den Begriff „SchlesischerStreuselkuchen“ geografisch schüt -zen lassen – den niederschlesi-schen Bäckern diesseits der Gren-ze war es damit untersagt, dasTraditionsgebäck unter diesemNamen anzubieten. Labucka undihre Kollegen fanden eine salo -monische Lösung: Der geschützteBegriff sei falsch übersetzt, aufDeutsch heiße der polnische „Ko-locz slaski“ nur „Schlesischer Kuchen“ – „Schlesischer Streusel-kuchen“ darf also auch in Deutsch -land wieder verkauft werden. hip

Jo Wood, 60, Exfrau des Rolling-Stones-Gitarristen Ronnie Wood,würde gern noch einmal heiraten.Es wäre die dritte Ehe. Seit ihrerScheidung im Jahr 2009 sei siezum ersten Mal in ihrem LebenSingle, sagte sie dem „Sunday Telegraph“. Sie habe enormeSchwie rigkeiten, jemanden ken-nenzulernen: „Niemand bittetmich um ein Rendezvous.“ Poten-zielle Verehrer fühlen sich offen-bar eingeschüchtert durch Woodseinstige Verbindung mit demRockstar. ks

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Vertrauensvorschuss

Die österreichische Regisseurin Feo Aladag,

43, bekannt geworden mit engagiertenKinofilmen über Ehrenmord („DieFremde“, 2010) und den Afgha nistan -einsatz der Bundeswehr („Zwischen

Welten“, 2014), arbeitet erstmals fürsFernsehen. Das Drehbuch, das sie für dasZDF entwickelt, handelt von zwei Jun-gen aus Kriegsgebieten, die ohne Beglei-tung nach Deutschland fliehen; dort brin-gen sie das bisher geordnete Leben einerFamilie durcheinander. Während diemeisten Filmemacher in Deutschlandüber die Einflussnahme der TV-Redaktio-nen auf ihre Werke jammern, sieht Ala-dag ihre Kreativität nicht beschnitten.„Wenn man die Redakteure als Partnerund nicht als Gegner begreift, kann daseine fruchtbare Zusammenarbeit sein“,sagt sie. Allerdings produziert ihre eige-ne Firma Independent Artists den Film,was deutlich mehr kreative Kontrolle ihrerseits garantieren dürfte als üblich.Kino wolle sie auf keinen Fall aufgeben,aber jetzt genieße sie die Verlässlichkeit,die ein TV-Sender biete. Das ermöglicheein ungeahntes Produktionstempo, dasbei dem Thema auch besonders wichtigsei: „Ich möchte das jetzt erzählen, nicht erst in zwei Jahren.“ Anfang 2016 soll Drehbeginn sein, das ZDF plant ei-nen Sendetermin im Herbst. das

Ehetipps vom Präsidenten

Für seine Sicherheitsbeamten war eswohl ein kleiner Albtraum, für Prä -sident Barack Obama, 54, hingegen sicht-lich ein Vergnügen: ein spontaner Einsatz als Ehrengast einer Hochzeit –und zwar auf dem Golfplatz. Am vergangenen Wochenende entspanntesich Obama beim Spiel auf dem PlatzTorrey Pines in San Diego; in der Nähedes 18. Lochs, an dem Obama seine Runde beendete, war der Traualtar für

Stephanie und Brian Tobe aufgebaut. DasBrautpaar beobachtete den Präsidentender Vereinigten Staaten zunächst ausder Ferne, während er Passanten dieHand schüttelte. Dann liefen die beidenlos, um zur Krönung ihres Festtags dieNähe des mächtigsten Mannes der Weltzu suchen. Der war sichtlich angetanund plauderte gut gelaunt mit den bei-den. Obama, seit 23 Jahren verheiratet,gab dem Bräutigam auch noch einen Rat für den Start ins Eheleben: nicht aufsKleid der Braut treten. ks

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Assad, das kleinere ÜbelNr. 42/2015 Putin greift an – Russlands Weltmachtspiele

Statt endlich wieder auf Bismarcks Spurenzu wandeln und sich nicht Russland zumFeind zu machen, kriechen unsere Regie-renden den USA geradezu in den Hintern –allen voran unsere Kanzlerin. Und Sie rei-hen sich nahtlos in dieses gefährliche Spielein. Diese Politik wird uns noch auf dieFüße fallen! Ein starkes Europa brauchtRussland, Vertrauen, Frieden.Uwe Zander, Grünheide (Brandenb.)

Sowohl Obama als auch Putin haben vorder Uno-Generalversammlung von Kom-promissen und ihrer Stärke in der Berück-sichtigung verschiedener Meinungen undStandpunkte gesprochen. Sie sollten esdoch wissen, dass eine Außenpolitik nichtohne und nicht gegen Russland stattfindensoll, der Westen will einfach nicht verste-hen. Bei der Behandlung der Ursachen derFlucht so vieler Menschen wird mit keinemWort auf die Kriege in Syrien, Libyen, Irak,Afghanistan eingegangen, und schon garnicht auf die Rolle des Westens und seinerVerbündeten am Golf als Verursacher die-ser mörderischen Kriege. Die internatio-nale Gemeinschaft soll sich endlich aufeine Strategie der Stabilisierung und dessozialökonomischen Wiederaufbaus eini-gen, natürlich mit Russland.Petra Lorenz, Köln

Warum schauen wir vier Jahre zu, bis Sy-rien implodiert? Warten ab, bis Russlandauch im Irak eingreift? Warum bombardiertdie Nato-Türkei die Kurden, die von Nato-Deutschland erst mit Waffen für denKampf gegen den IS beliefert worden sind?Ist die Nato ein ähnlich hilfloses Wesenwie die EU geworden? Und: Warum pro-voziert der SPIEGEL weiter? Hieß es 2013bei Ihnen noch „Der Halbstarke“, zeigt Pu-tin durch seinen „Vorstoß“, dass er auf dieBühne der Weltpolitik zurückgekehrt ist?Dr. Eberhard Ulm, Borna (Sachsen)

Putin ist gewiss keine sympathische Figurder globalen Politik. Trotzdem wäre eineüberlegtere Wortwahl auf dem Titel durch-aus angebracht. Alle Regime, die der Wes-ten in dieser Region unterstützte, sind undwaren keine vorzeigbaren demokratischenHelden. Sie erwiesen sich durchweg als au-toritär und korrupt. So gesehen hat Russ-land dort quasi noch Fehlschläge gut.Heinrich Hörtdörfer, Heidelberg

Bei einem gewissen Verständnis für Ihr Erstaunen über putinsche Realpolitik, kön-nen Sie nicht allen Ernstes die Entstehungs-geschichte und das damit verbundene sa-genhafte Scheitern des Westens im NahenOsten als Randnotiz behandeln. Die Al-leingänge der USA haben doch diese Situation, in der es nur noch eine sehr be-grenzte Zahl von Handlungsoptionen undguten Partnern gibt, erst hervorgerufen.Die Geschichte lehrt: Nicht der, der sich ineinem Konflikt die Hände schmutzigmacht, ist zugleich dessen Verursacher.Björn Glitza, Hannover

Nach außen ist zwar auf transatlantischerSeite Empörung und Sorge über das russi-sche Vorgehen en vogue. Tatsächlich mussaber davon ausgegangen werden, dass sichPutin und Obama darauf verständigt ha-ben, Assad als einen verlässlicheren Mo-saikstein im Kräftespiel des Nahen Ostensaufzufassen als den unberechenbaren IS.Der beständige Despot Assad ist das klei-nere Übel gegenüber den Terrorhordenvom IS. So gesehen manifestiert sich hiereine Art moderner Hitler-Stalin-Pakt.Dr. Volker Brand, Bad Oeynhausen

Als Russland 2012 für eine Übergangs -regierung in Syrien unter Beteiligung derOpposition plädierte, hatte der Bürgerkriegetwa 60000 Opfer gefordert. Der Vorschlagwurde abgelehnt. Heute sind es schon über240000 Tote. Und dies nicht genug, hat sicheine der gefährlichsten Terrororganisatio-nen, der IS, ausgebreitet. Worauf soll Putinwarten? Auf die Amerikaner, auf den Wes-ten? Letztere haben doch das Chaos verur-sacht und dem IS den Weg geebnet.Dietmar Sobottka, Chemnitz

Noch viel mehr als Putins aggressive Weltmachtspiele irritieren mich die große Sympathie und Unterstützung, die diesemlupenreinen Autokraten von so vielenDeutschen entgegengebracht wird.Christofer Grass, Freiburg im Breisgau

Kleinliche NörglerNr. 41/2015 Plagiatsvorwürfe bringen Verteidigungs -ministerin Ursula von der Leyen in Bedrängnis

Wen interessiert, ob Dr. von der Leyenvor 25 Jahren in ihrer Arbeit richtig zitierthat? Zumal sie ja nicht als Möchtegernme-diziner und Quacksalber die Gesundheitargloser Patienten gefährdet. Haben wirkeine anderen Probleme, die unsere Auf-merksamkeit und Energie erfordern? Christian Forker, München

Ärzte mögen aus Eitelkeit promovieren,jedoch wesentlich auch deswegen, weilvon den Medizinern der Titel erwartetwird, obgleich Forschungserfahrung für diepraktische Tätigkeit eigentlich unnötig ist.Frau von der Leyen hat es immerhin ge-schafft, eine Arbeit vorzulegen, die wis-senschaftlichen Nährwert und klinische Re-levanz hat, was bei Doktorarbeiten eherselten ist. Fragwürdig ist vor allem das Trei-ben der Plagiatsjäger, die aus sicherer Ano-nymität Großwildjagd betreiben. Ihr Han-deln ist in Summe schädlich, es dient wohlkaum der hehren Wissenschaft, sonderndazu, Politiker zur Strecke zu bringen. Uwe Klemeyer, Berlin

Als oberste Chefin der Bundeswehrhoch-schulen sollte die Verteidigungsministerinauch hinsichtlich ihrer wissenschaftlichenArbeitsweise als gutes Beispiel dienen.Prof. Dr. Alexander Lerchl, Bremen

Frau von der Leyen hat vor 25 Jahren Fehlergemacht. Dies jedoch wahrscheinlich nichtin betrügerischer Absicht, eher wohl indem Bestreben, ihre Arbeit zügig zu erle-digen. Die Frage, die sich stellt, lautet: Musswegen eines solchen Fehlers die Laufbahneiner der fähigsten Personen in unserer Politik beendet werden? Ich meine: nein.Jürgen Reuter, Oberstleutnant a. D., Ottobeuren (Bayern)

Es wird entschieden zu wenig die Ver -antwortungslosigkeit der Doktorväter und-mütter und übrigen professoralen Mitglie-der der Promotionskommission kritisiert.Sie haben zu prüfen, ob der Doktorand alles richtig gemacht hat und ob Zitate undQuellenangaben korrekt sind. Es ist eineschwache Erklärung, darauf zu verweisen,dass Schlamperei bei medizinischen Dis-sertationen üblich war und wohl vielfachnoch ist. Wer hat denn solchen Schlendrianeingeführt und sich ausbreiten lassen? Sicher nicht die Kandidaten. Prof. em. Dr. Klaus Jürgen Gantzel, Universität Hamburg

144 DER SPIEGEL 43 / 2015

„Putin greift nicht an, Putin greift endlich ein, nachdem der Westen wieder mal mit seiner Konzeptionslosigkeit nicht in der Lage ist, dem IS die Stirn zu bieten.“Karl Romstedt, Blankenfelde-Mahlow (Brandenb.)

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Russischer Luftschlag auf Daret Azze in Syrien

Das Bekritteln von Prominenten-Arbeitendient nur der Befriedigung kleinlicherNörgler und ist eine Rosinenpickerei, diekeinerlei wissenschaftlichen Ansprüchengenügt. Die Plagiatsjäger sollten mal einenJahrgang von medizinischen Doktorarbei-ten überprüfen. Sie würden wohl auch beimir fündig werden, aber wem nützt das?Dr. med. Dankwart Buchard, Bergen (Bayern)

Da lamentiert Strauß aus der Uckermark,dass ihm auf dem Bildschirm die Gräuelaus Afghanistan und Beslan zugemutetwerden. Dabei sollte ihm als letztem Deut-schen zuallererst gegenwärtig sein, dass sei-ne (und meine) Elterngeneration ein Viel-hunderttausendfaches solcher Gräuel ver-schuldet hat: Grund genug für die Rächerihrer Opfer, sie (und damit uns) von derErde zu tilgen. Dass das nicht geschah, dassvielmehr Botho und ich hier und heute vonniemandem gehindert „zum dritten MalC. F. Meyer und den ‚Zauberberg‘ lesen“können, ist doch eine unbegreifliche Gnade.Hermann Muntschick, Göttingen

Strauß’ Sorge kommt väterlich gewandetdaher, beinhaltet aber in zeitgemäß ver-schleierter Form Treitschkes Überfrem-dungsängste. Auch wenn Strauß weit da-von entfernt ist, ein Nationalchauvinist zusein, ist er doch der Wegbereiter für jene.Peter Porath, Freising (Bayern)

Strauß tut so, als wenn „das Deutsche“ frü-her existierte und heutzutage nur noch imGeist konserviert werden darf. Dabei war„das Deutsche“ schon früher bloß ein geis-tiger Sehnsuchtsort, eine übertrieben her-beigeschriebene und von oben befohleneKopfgeburt, wie schon Heine wusste, derdie Deutschen sarkastisch als „Herrscherim Luftreich des Traums“ bezeichnete. Da-her rührt auch die Fragilität und Aggres -

sivität der Deutschen, etwas Eingebildetesverteidigen zu müssen. Ein Hineinsteigernin Regeln und fehlende Toleranz für das,was nicht so ist. Als (vermeintlicher) Aus-länder merkt man das im Alltag häufig. Hakan Yilmaztürk, Hamburg

Sie sprechen mir aus der Seele. Was kön-nen wir aber tun, außer empört zu sein?Als voll berufstätige Mutter war es mirnicht möglich, gegen diese zweifelhafteLernmethode anzukämpfen. Christiane Schemel, Heppenheim (Hessen)

Es ist immer wieder verblüffend und är-gerlich, wie über die Methode „Lesendurch Schreiben“ hergezogen wird. Bei ge-sunder Entwicklung entsteht in anregenderUmgebung ganz von allein in jedem Kinddie Kompetenz des Lesens, als Nebener-werb der lautierenden Schreibkompetenz. Gudrun Obleser, Lehrerin i. R., Winnenden (Bad.-Württ.)

Dass die meisten der von Schülern produ-zierten Texte ohne Rücksicht auf Ortho-grafie, Grammatik und Stilistik in Handysgeklopft werden, kann man sicher nichtdem Bildungsforscher Brügelmann anlas-ten, eher dem außerschulischen Zeitgeist. Dr. Dieter Marenbach, Sinzing (Bayern)

145DER SPIEGEL 43 / 2015

Briefe

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Verteidigungsministerin von der Leyen

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Schriftsteller Strauß in der Uckermark

Winnetou IIINr. 41/2015 Botho Strauß sieht sich als der letzte Deutsche

Dass Strauß angesichts der selbst berausch-ten Begeisterungsstürme bei der Ankunftder Flüchtlinge Beklemmung empfindet,kann ich nachvollziehen. Ebenso, dass erden kollektiven Optimismus als diktato-risch erlebt. Aber warum diese Untergangs-stimmung? Die Erfahrung mit der mehroder weniger gelungenen Integration derTürken zeigt doch, dass es eine Menge Pro-bleme gab und gibt, Künstler und Intellek-tuelle mit türkischen Wurzeln unsere Kul-tur heute aber in hohem Maße bereichern.Das liegt vor allem daran, dass sich ihreSicht der Dinge aus verschiedenen Tradi-tionen speist. Es wird doch niemand darangehindert, weiter in der Uckermark Klop-stock zu lesen. Michaele Happich, Fürth

Wie kann man denn einer derart larmo -yanten Heulsuse so viel Platz einräumen? Stefan Sehl, Düsseldorf

Botho Strauß sieht sich also als Chingach-gook der deutschen Nationalliteratur. Erist aber allenfalls Winnetou III. Tja, HerrStrauß, auch aus einer tiefen Wurzelsprießt manchmal nur etwas Flaches.Sönke Schulz, Groß Grönau (Schl.-Holst.)

Auch wenn man nicht allem zustimmenkann – der Text von Strauß ist stark! Jetztwerden die guten Menschen aufschreien:Rechtsradikaler, Ausländerfeind, Rassist!Doch auch ich gehöre zu denjenigen, dienicht in einem kulturell völlig verändertenLand leben wollen. Die Mitgliederzahlender beiden Kirchen werden bald unter 20Millionen sinken, die Zahl der Muslimewird absehbar auf 10 Millionen steigen. Reinhard Grätz, Wuppertal

Außerschulischer ZeitgeistNr. 41/2015 Kommentar – Schraibn nach Gehöa

Endlich regt sich zaghafter Widerstand ge-gen den Wahnsinn des Recht- und Schön-schreibe-Elends. Das ist mitverursacht vomTrend, Kindern nichts mehr zumuten zuwollen, und wird gefördert vom DrangLehrender, sich mit angeblich wissenschaft-lich gesicherten Erkenntnissen zur Didaktikdes Grundschulunterrichts hervorzutun.Rolf Strom, Schopfheim (Bad.-Württ.)

Darfs etwas weniger sein?Nr. 41/2015 Eine Supermarktkampagne bedient sexistische Klischees

Diese Werbung ist wirklich widerlich se-xistisch und absolut erniedrigend für alleFrauen der Erde. Im Ernst, es gibt großeProbleme, dieser Gag gehört nicht dazu.Andreas Urhahn, Wrestedt (Nieders.)

Wir sollten nicht so viel Fleisch essen. Dasind die Frauen uns Männern etwas voraus.In diese Kerbe zielt eine nette Werbungfür Fleischsalat. Gemüsefreundinnen, dieda noch an der Erziehung ihres Mannesarbeiten, wird das nicht erfreuen. Frau Kel-ler empört es. In der Kiste von Kulturge-schichte und Soziologie findet sie Geneh-mes gegen den Fleischsalat für Papa. Esfolgt eine Verbindung zwischen Fleisch-verzehr und Prostitution. So schaukelt siesich zu einer Hasstirade hoch, um endlichzu der Wissenschaft vom Gender-Food zukommen. Darfs nicht etwas weniger sein? Detlef Kaulbach, Bonn

Emanzipation heißt, dass jeder selbst de -finieren darf, was ihm schmeckt.Uwe Sauter, Bretten (Bad.-Württ.)

Hurra! Endlich Werbung, die auch Mamaversteht!Clemens Creynfeld, Bornheim

Wie hier der ganz große Bogen gespanntwird, von der Evolution bis hin zur Unter-drückung der Frau, ist nur noch peinlich. Benjamin Glauer, Hanau

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe

([email protected]) gekürzt

sowie digital zu veröffent lichen und unter

www.spiegel.de zu archivieren.

Hohlspiegel Rückspiegel

Aus dem Onlinedienst des NDR: „Köstlichkeiten aus dem Wald:

Pilze schmecken nicht lecker und sindzugleich gesund.“

Aus dem „Amtsblatt Gemeinde Reins-berg“: „Trotz einer eingeleiteten

tierärztlichen Notoperation hatte derZwergpudel mit dem Leben nicht

zu vereinbarende Verletzungen erlitten.“

Überschrift aus der „Hanauer Wochenpost“: „Hanauer Band Bailey

produziert einen Song über fleischlose Ernährung – Vegetarisch- vegane Musik zum Kürbismarkt.“

Überschrift aus dem „PreussenSpiegel“:„Fahrten im Drogenrausch –

Polizei stoppt Verkehrsteilnehmer inNauen mit Betäubungsmitteln.“

Zitate

Der „Tagesspiegel“ zum SPIEGEL-Beitragder SPD-Politiker Sigmar Gabriel undFrank-Walter Steinmeier „Die Zahlenmüssen sinken“ über die deutsche Flücht-lingspolitik (Nr. 42/2015):

Bislang verfährt Gabriel nach der Me -thode sowohl als auch: Nach MerkelsAuftritt bei Anne Will verteidigte er dieKanzlerin energisch: „Wir haben inEuropa keine Zugbrücke, die wir hoch-ziehen können.“ Nur einen Tag spätersetzte er sich von Merkel ab und brachteeine Obergrenze für die Zahl der Asyl -bewerber ins Spiel. „Wir können nichtdauerhaft in jedem Jahr mehr als eineMillion Flüchtlinge aufnehmen und integrieren“, schrieb er gemeinsam mit Außenminister Frank-Walter Steinmeierim SPIEGEL. Vielmehr müssten die Menschen mit ihren Problemen und Bedürfnissen ernst genommen werden,forderten beide.

Die „Süddeutsche Zeitung“ zur Ankün -digung der US-Ausgabe des Magazins„Playboy“, künftig keine nackten Frauenmehr zeigen zu wollen:

Für alle, die nicht wissen, was Sache ist,hier ein paar Handreichungen zum„Playboy“: Der „Playboy“ war langeZeit so etwas wie der SPIEGEL für Män-ner, die das Wort Enthüllungsjourna -lismus als ironische Metapher begreifenund großen Wert auf gut gemachte Re-portagen und Interviews legen.

Der SPIEGEL berichtete …

… in Heft 30/2015 über gefundene Splitterin den Wrackteilen der über der Ostukrai-ne abgestürzten malaysischen Boeing777: „Die Fragmente stammen zweifels-frei vom Gefechtskopf eines russischenFlugabwehrgeschützes des Typs Buk-M1.“

Am Dienstag bestätigte der Sicherheitsratder Niederlande nach 15-monatigen Er-mittlungen, dass in den Wrackteilen desFlugzeugs und in Leichenteilen von Crew -mitgliedern Splitter eines Gefechtskopfsdes Typs 9N314M gefunden worden seien.Dieser gehört zu einer Rakete des russi-schen Flugabwehrgeschützes Buk.

Ausgezeichnet

SPIEGEL-Reporter Christoph Reuter, 47,ist Gewinner des diesjährigen Bayeux-Calvados-Preises für Kriegsreporter. Aus-gezeichnet wurde er für seinen Beitrag„Der Stratege des Terrors“ über den 2014erschossenen IS-Drahtzieher Haji Bakr(SPIEGEL 17/2015).

146 DER SPIEGEL 43 / 2015

Die 500 reichsten Deutschen

Internet-Millionäre Das Leben der jungen Wilden

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