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Der Steuermann von Pthor

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Nr. 332

Der Steuermann von Pthor

Auf dem Flug in fremde Dimensionen

von Kurt Mahr

Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist – in der Form eines plötzlich wiederaufgetauchten Stückes des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlan­tis.

Atlan und Razamon, der ehemalige Berserker, haben als einzige den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Herren der FESTUNG ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Die beiden Män­ner landeten auf einer Welt der Wunder und der Schrecken – mit dem Ziel, die Be­herrscher von Pthor schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die Invasi­on kein Schaden erwachse.

Nach vielen gefahrvollen Abenteuern, die am Berg der Magier ihren Anfang nah­men, haben Atlan und Razamon mit ihren neuen Kampfgefährten dieses Ziel inzwi­schen erreicht. Der Angriff auf die FESTUNG, gemeinsam mit den Kindern Odins vorgetragen, war von Erfolg begleitet.

Der »Dimensionsfahrstuhl« Pthor gefährdet nun die Erde nicht mehr, sondern be­findet sich nach den vorangegangenen apokalyptischen Ereignissen von Ragnarök, der Stunde der Götterdämmerung, wieder unterwegs auf dem Flug durch fremde Di-mensionen.

Das besorgt DER STEUERMANN VON PTHOR …

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3 Der Steuermann von Pthor

Die Hautpersonen des Romans:Atlan und Razamon - Der Arkonide und der Atlanter entdecken den Steuermann von Pthor.Koy und Fenrir - Der Trommler und der Wolf verlassen Atlans Gruppe.Thalia - Odins Tochter fühlt sich zu Atlan hingezogen.Balduur, Sigurd und Heimdall - Die Odinssöhne erheben Anspruch auf die Macht.Tarkos, Mintar und Nikkal - Drei Dellos aus der FESTUNG.

1.

Die Landschaft war so unwirklich wie ir­gend etwas, das ich je zuvor erlebt hatte.

Am Himmel leuchteten weder Sterne noch Sonne. Es gab keinen Himmel. Ein dü­steres, graues Zwielicht umhüllte und durch­drang alles. Aus der Ferne war ein immer­währendes Rauschen zu hören, wie von ei­nem Wasserfall.

Wir lagerten in zwei Gruppen. Die Odins­kinder hatten sich von uns abgesondert. Nie­mand verübelte ihnen das. Sie hatten ihre ei­genen Probleme. Unsere Gruppe bestand aus Kolphyr, dem Antimateriewesen, Koy, Raz­amon, mir und dem Wolf.

Kolphyr und der Trommler schwiegen. Die Unterhaltung spielte sich zwischen Raz­amon und mir ab. Aber auch uns kamen die Worte nicht leicht über die Lippen. Der Kampf in der FESTUNG hatte uns mitge­nommen, und die Ungewißheit des Schick­sals, das über uns hing, reizte eher zum Grü­beln als zum Reden.

Hinter uns bildete die riesige Pyramide, in der die Herren der FESTUNG hausten, einen düsteren, furchteinflößenden Koloß inmitten des Halbdunkels. Von der Schön­heit des Gartens, in den die FESTUNG ein­gebettet war, konnte man in diesem Licht nichts mehr wahrnehmen. Schräg vorab lag eine der kleineren Pyramiden, von denen insgesamt sechs die eigentliche FESTUNG im Kreis umgaben.

Fenrir zeigte ein eigentümliches Verhal­ten. Er lag auf dem Boden und hatte den mächtigen Schädel zwischen die Pfoten ge­bettet. So ruhte er minutenlang. Plötzlich aber fuhr er dann wieder auf, hob den Kopf, sah mich eindringlich an und hechelte.

Wenn ich ihm dann den Schädel kraulte, be­ruhigte er sich nicht sofort, sondern erst eine Zeitlang später. Ich wußte nicht, was ihn be­unruhigte. Es mußte irgendeinen Einfluß ge­ben, den zwar der Wolf, aber nicht wir wahrnehmen konnten.

»Eines gibt mir zu denken«, bemerkte nun Razamon.

»Was ist das?« wollte ich wissen. »Wohin ist dieser Dimensionsfahrstuhl

unterwegs?« »Wer weiß es?« antwortete ich müde.

»Auf seinem gewöhnlichen Kurs wahr­scheinlich. Von einer Dimension, von einem Universum, von einer Milchstraße zur ande­ren.«

Die Frage, die dem Pthorer zu denken gab, war mir noch nicht in den Sinn gekom­men. In dem ganzen Durcheinander, von dem die vergangenen Stunden und Tage er­füllt waren, hatte ich einen einzigen, dafür aber um so bedeutenderen Erfolg errungen: Ich hatte dafür gesorgt, daß Pthor auf Fahrt ging und Terra verließ. Solange das nicht geschah, hatte die Gefahr bestanden, daß es den Herren der FESTUNG eines Augen­blicks doch gelang, das Schirmfeld, mit dem die Erde sich gegen Pthor schützte, zu durchbrechen. Das hatte ich verhindern müs­sen. Wie hochentwickelt die terranische Technik auch immer sein mochte – die Erde hätte dem vereinten Ansturm von Bestien, Berserkern und Magiern nicht widerstehen können.

Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, Pthor wieder in Bewegung zu setzen. Das war geschehen – allerdings nicht durch mein unmittelbares Einwirken, sondern durch eine Reihe höchst verwirrender Ereignisse. Aber das Ziel war erreicht: Pthor hatte Terra ver­lassen.

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»Das würde ich gerne glauben«, brummte Razamon, »wenn dieser Aufbruch unter nor­malen Umständen vonstatten gegangen wä­re.«

Ich hatte so intensiv meinen eigenen Ge­danken nachgehangen, daß ich mich nicht mehr daran erinnerte, welcher Teil meiner letzten Antwort es war, den er unter anderen Umständen gerne geglaubt hätte. Ich fragte ihn danach.

»Daß sie auf dem üblichen Kurs sind«, antwortete er ziemlich heftig. »Sie starteten aufs Geratewohl. Sie waren in Panik. In ei­ner Lage wie der ihren konnten sie eigent­lich nur ein einziges Ziel wählen.«

»Und welches wäre das?« »Die Schwarze Galaxis!«

*

Ich hatte eine ziemlich bissige Bemer­kung auf der Zunge, aber im letzten Augen­blick hielt ich sie zurück.

Die Herren der FESTUNG, embryohafte Greise, die in Behältern mit Nährflüssigkeit lebten, waren Geschöpfe der Schwarzen Ga­laxis. Wir wußten so gut wie nichts über die geheimnisvolle Sterneninsel, die sich hinter diesem Namen verbarg – außer, daß sie der Ursprung des Grauens war. Irgendwo in der Schwarzen Galaxis hauste der Große Oheim, als dessen Enkel die Herren der FESTUNG sich bezeichneten. Der Große Oheim, so sagten sie, war ihr Auftraggeber. Er hatte ih­nen zur Aufgabe gemacht, mit dem kosmi­schen Felsbrocken, den sie Pthor nannten, ahnungslose Welten heimzusuchen und ihre Zivilisationen zu vernichten.

Razamon hatte recht. Für die Herren der FESTUNG, die in den Jahrtausenden ihrer Schreckensherrschaft noch nie eine Nieder­lage hatten einstecken müssen, war die La­ge, in der sie sich jetzt befanden, trauma­tisch. Es war nicht unvernünftig, anzuneh­men, daß sie auf die unerhörte Bedrohung durch die Angreifer im Schock reagiert und den Kurs Pthors auf ein Ziel gerichtet hatten, an dem sie rasche Hilfe erwarteten. Dieses

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Ziel aber konnte kein anderes als die Schwarze Galaxis sein.

»Deine Prognose«, sagte ich zu Razamon, »ist logisch, aber unerfreulich.«

Auf seinem hageren Gesicht spiegelte sich ein bitteres Grinsen.

»Ich weiß«, murmelte er. »Lange werden wir dort nicht überleben.«

»Du sagst es, mein Freund. Der Große Oheim, die Bestien der Nacht und was die Schwarze Galaxis sonst noch alles an finste­ren Ungeheuern zu bieten haben mag – da bleibt uns nicht viel Hoffnung. Also gibt es nur eines: Wir müssen diesen Fahrstuhl un­ter unsere Kontrolle bringen! Wir müssen lernen, wie er gesteuert wird, und ihn auf einen anderen Kurs lenken!«

Razamon musterte mich mit einem nicht eben freundlichen Blick.

»Ich dachte, du hättest vielleicht etwas Einfacheres vorzuschlagen«, brummte er. »Etwa die FESTUNG mitsamt ihren Herren aufzuheben und über den Rand von Pthor zu werfen.«

Sein Hohn beeindruckte mich nicht. »Du kannst über meine Vorschläge spot­

ten, wenn du bessere hast«, ermahnte ich ihn. »Übrigens halte ich das Problem zwar für schwierig, aber nicht für unlösbar. Wir wissen, daß die große Pyramide ein ehemali­ges Raumschiff ist. Als die Herren der FE­STUNG die Kontrolle über Pthor übernah­men, haben sie nicht ein neues Steuer- und Kontrollsystem gebaut, um den Felsbrocken zu lenken, sondern ganz einfach die Naviga­tionsmechanismen des Raumschiffs mit dem Antrieb von Pthor gekoppelt. So hätte we­nigstens ich es angefangen. Und es besteht kein Grund zu glauben, daß die Herren an­ders gehandelt haben. Sie sind pervers in ih­rer Sucht nach Grausamkeit. Aber wenn es um Zweckmäßigkeit geht, handeln sie abso­lut logisch.«

»So! Und was bringt uns das ein?« »Zum Beispiel die Erkenntnis, daß sich

Steuerung und Kontrolle von Pthor irgend-wo im Innern der FESTUNG befinden. Wir sollten uns dort umsehen.«

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Razamon machte eine entsetzte Geste. »Zurück in die FESTUNG?« rief er.

»Nachdem ich vor kurzem erst mit Mühe und Not meine Haut gerettet habe?«

Aus der Ferne klang der markerschüttern-de Schrei einer Bestie der Nacht. Ein paar Dutzend Monstren aus der Ebene Kalmlech hatten den Kampf um die FESTUNG über­lebt und irrten in der Düsternis umher.

»Ich brauche dich nicht«, reagierte ich auf Razamons geschauspielertes Entsetzen. »Ich finde mich alleine zurecht, und von Raum­schiffkontrollen verstehe ich ohnehin eine Menge mehr als du.«

Ich wußte, daß ich damit seinen Trotz weckte. Razamon war der letzte, der einge­stehen würde, daß ein wichtiges Vorhaben ohne seine Teilnahme durchgeführt werden könne.

»Verletzte Eitelkeit bringt dich um Kopf und Kragen!« fuhr er mich an. »Niemand dringt alleine in die FESTUNG ein und kommt lebendig wieder heraus!«

Die weitere Unterhaltung hätte wahr­scheinlich zu einem unserer üblichen Wort­wechsel geführt, und zum Schluß wäre Raz­amon bereit gewesen, mich in die FE­STUNG zu begleiten. Aber es kam etwas dazwischen.

Fenrir sprang plötzlich auf. Aus seiner Kehle kam ein dunkles Knurren. Das Nackenhaar war gesträubt, und die Augen funkelten gefährlich.

Ich kannte den Wolf gut genug, um zu wissen, woran ich war.

»Vorsicht!« rief ich laut. »Jemand will uns …«

Das letzte Wort wurde mir vom Mund ge­rissen. Aus dem Dämmerlicht tauchte eine Horde grotesk geformter Gestalten auf: Del­los, die Diener der Herren der FESTUNG. Einer von ihnen sprang mich an. Von einer Sekunde zur anderen verwandelte sich die Szene in wildes Kampfgetümmel.

*

Ich hatte keine Waffe außer meinen Hän­

den. Allerdings trug ich den Anzug der Ver­nichtung, das Goldene Vlies, das mir im Au­genblick der Gefahr zusätzliche Kräfte ver­lieh.

Der Dello hatte offenbar mit einem leich­ten Sieg gerechnet. Er schwang einen höl­zernen Knüppel. Ich unterlief ihn und blockierte den Schlag mit dem linken Arm. Im selben Augenblick trieb ich dem Andro­iden mit voller Wucht die Faust in den Leib. Er gab ein röchelndes Stöhnen von sich und ging zu Boden.

Ich sah mich um. Die Angreifer waren uns an Zahl wenigstens zehnfach überlegen. Aber sie kämpften gegen Krieger, wie sie hier im Garten der FESTUNG noch nie zu­vor gesehen worden waren. Die Odinskinder hatten die Herausforderung willig angenom­men. Balduur stand wie ein Fels in der Bran­dung. Der Schild deckte den mächtigen Kör­per, während das Breitschwert wie ein Schauer tödlicher Blitze auf die Schädel und Schultern der unglückseligen Dellos einhieb. Sigurd hatte nur wenige Schritte entfernt sei­ne Position bezogen, die er ebenso kraftvoll und gewandt verteidigte wie sein Bruder. Die gefährliche Garpa, eine Mischung aus Lanze, Dreizack und Schwert, wühlte unter den Angreifern. Mit einem Schwung fegte Sigurd ein halbes Dutzend Dellos beiseite und warf sie zu Boden.

Heimdalls Streitaxt und Thalias Vars-Kugel rissen Lücken in die Phalanx der An­droiden. Fenrir hatte einen Dello angesprun­gen und zu Boden gerissen. Er durchbiß ihm die Kehle und setzte zum nächsten Sprung an. Kolphyrs riesige Gestalt befand sich mit­ten im Getümmel. Er walzte die Angreifer einfach zu Boden. Auch Razamon stand sei­nen Mann. Er hatte sich einen Platz freige­kämpft. Mit kräftigem Arm wirbelte er das Schwert wie den Rotor eines Hubschraubers. Wer in den Bannkreis der sausenden Waffe geriet, um den war es geschehen.

Die Dellos hatten ursprünglich stumm und verbissen angegriffen. Sie waren ge­kommen, um uns rasch zu überrumpeln. Auf ernsthaften Widerstand waren sie nicht vor­

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bereitet. Jetzt waren sie es, die das Entsetzen packte. Ich sah einen von ihnen sich unter Razamons kreisendem Schwert hinweg­ducken und ein paar Schritte zur Seite eilen.

»Es hat keinen Zweck!« schrie er auf Pthora. »Greift den Göttersohn – und dann nichts wie fort!«

Er hatte eine plärrende, durchdringende Stimme. Sein Befehl wurde sofort befolgt. Die Dellos lösten sich aus dem Kampfge­tümmel. Ich wußte nicht, welchen der Göt­tersöhne der Schreier meinte. Ich stand be­reit, zu helfen, wo auch immer meine Hilfe benötigt werden mochte.

Aber dann kam die große Überraschung. Ehe ich mich's versah, war ich von einer Horde wütender, schreiender Dellos umge­ben. Sie drangen auf mich ein. Sie bearbeite­ten mich mit den Fäusten. Ein paar warfen sich zu Boden und versuchten, mich von den Beinen zu reißen. Offenbar wollten sie mich nicht töten. Ich wechselte die Position. Der Rücken eines Androiden, der eine Zehntel­sekunde zuvor noch an meinem Bein gezerrt hatte, diente mir als Plattform. Aus überhöh­ter Stellung bearbeitete ich die Androiden mit Faustschlägen, denen das Goldene Vlies zusätzliche Kraft verlieh. Das Gefühl der Überlegenheit rann mir wie belebendes Feu­er durch die Adern. Ich wurde zu einer Kampfmaschine, die vernichtende Schläge mit übermenschlicher Geschwindigkeit aus­teilte.

Wahrscheinlich hätte ich der verzweifel­ten Dellos alleine Herr werden können. Aber meine Gefährten ließen das nicht zu. Kol­phyr wälzte sich durch die schreiende Schar und trampelte nieder, was ihm nicht aus dem Weg gehen wollte. Fenrir sprang seine Op­fer an und riß sie nieder. Koy hatte endlich eine Position gefunden, in der er die Broins in Tätigkeit setzen konnte, ohne mich zu ge­fährden. Und Razamon fuhr mit dem Breit­schwert wie eine Furie unter die Androiden, bis ihnen schließlich der Mut vollends aus­ging.

Es waren ihrer höchstens noch ein Dut­zend, die die Flucht ergriffen. Ich hörte den

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mit der plärrenden Stimme schreien: »Zurück zum Lager!« Sie verschwanden im Halbdunkel. Die

Freunde drängten sich um mich. Die Odins­kinder waren herbeigeeilt, um mir beizuste­hen. Aber bevor sie dazu kamen, die Waffen zu schwingen, war der Kampf schon vor­über.

»Bist du verletzt?« stieß Razamon keu­chend hervor.

»Nein. Wir müssen sie verfolgen, hörst du?« rief ich.

Er nickte. »Das Lager«, knurrte er. »Wir müssen das

Lager finden!« »Kommt langsam nach!« trug ich den an­

deren auf. »Wir wissen nicht, mit wieviel Dellos wir es zu tun haben. Kommt uns zu Hilfe, wenn wir euch brauchen!«

Ich wandte mich zum Gehen. Da trat mir Heimdall in den Weg. »Übernimmst du jetzt hier das Kommando?« fragte er.

In diesem Augenblick machte ich mir nicht viel aus seiner Frage. Aber später erin­nerte ich mich an den gehässigen Unterton in seiner Stimme.

Ich würdigte ihn keiner Antwort. Zusam­men mit Razamon nahm ich die Verfolgung der fliehenden Dellos auf.

2.

Wir wandten uns in die Richtung, in der die Androiden verschwunden waren. Sie wies auf die große Pyramide zu. Nach etwa hundert Schritten blieben wir stehen, um zu lauschen. Weit vorab hörten wir Schreie und dazwischen die unverkennbare, plärrende Stimme des Anführers.

»Wir sind auf dem richtigen Weg«, knurr­te Razamon. »Komm!«

Der Kampf um die FESTUNG hatte den einstmals paradiesischen Garten in tücki­sches Gelände verwandelt. Zwar gab es die Fallen nicht mehr, die die Enkel des Großen Oheims eingerichtet hatten, um sich gegen Eindringlinge zu schützen. Dafür hatten die Bestien der Nacht den Boden aufgewühlt,

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und Fafnirs glühender Schweif hatte Fur­chen gezogen, die einem rasch zum Ver­hängnis wurden, wenn man die Augen nicht überall hatte.

Wir näherten uns der Pyramide. Der riesi­ge Koloß schien im Dämmerlicht zu lauern. Er wirkte wie ein fremdartiges Lebewesen. Die Drohung, die er ausstrahlte, war körper­lich zu spüren.

Razamon trat in ein Loch und begann zu fluchen. Der Zeitklumpen am linken Bein behinderte ihn ohnehin. Jetzt aber hatte er sich anscheinend den Knöchel verstaucht und wurde noch langsamer.

»Komm mir nach!« riet ich ihm. »Den Teufel werde ich tun!« zischte er

und fing an, sich sprungweise vorwärtszube­wegen.

Kurze Zeit später stießen wir auf einen leblosen Dello. Wir untersuchten ihn. Er hat­te eine klaffende Wunde in der Schulter, die unverkennbar von Razamons Schwert stammte.

Vor uns war es still geworden. Die Flüch­tenden hatten anscheinend ihr Versteck er­reicht. Ich schätzte die Entfernung bis zur Basis der Pyramide auf rund achthundert Meter. Irgendwo entlang dieser Strecke lag das Lager, von dem der Dello mit der plär­renden Stimme gesprochen hatte.

Wir umgingen eine Senke, die die Pran­ken eines Ungeheuers aufgewühlt hatten. Ich hörte Razamon keuchen. Das Springen strengte ihn mehr an, als er zugeben wollte. Ich hätte ihm gerne geraten, sich eine Zeit­lang auszuruhen, während ich die Spuren der Dellos weiterverfolgte. Aber mein Er­folg wäre nicht größer gewesen als beim er­sten Versuch.

Ich sah ihn, wie er sich an dem dünnen Stamm eines zerzausten Bäumchens festhielt und das Ziel seines nächsten Sprunges ins Auge faßte. Seine Brust hob und senkte sich im Rhythmus hastiger Atemzüge.

In diesem Augenblick tat er mir leid. Aber ich kam nicht dazu, meinem Mitleid nachzu­hängen. Razamon stieß sich ab. Er tat einen weiten Sprung.

Im nächsten Augenblick war er ver­schwunden.

*

Verblüfft starrte ich in das Dämmerlicht. Die Sicht war nicht gut, aber dafür, daß

ein Mensch vor meinen Augen verschwand, konnte ich sie nicht verantwortlich machen. Ich schritt vorsichtig in die Richtung, in der Razamon sich bewegt hatte. Ich untersuchte jeden Quadratfuß Boden, bevor ich darauf trat.

»Razamon!« rief ich halblaut. Es kam keine Antwort. Ich wurde unru­

hig. Ich erinnerte mich zu gut an unseren er­sten Vorstoß durch diesen Garten – als die Fallen der FESTUNG noch funktionierten. Wir hatten erfahren, daß sie ausgefallen wa­ren. Der Kampf im Innern der Pyramide hat­te die Steuermechanismen zertrümmert. Aber vielleicht waren sie nicht alle desakti­viert worden.

Ich sah mich um. Soweit der Blick reich­te, war kein menschliches Wesen zu sehen. Nur Sträucher und Bäume, unter denen die Bestien der Nacht gewütet hatten, bildeten einen grotesken Vordergrund gegen das ge­spenstische, graue Halbdunkel, das Pthor umgab, seitdem die Herren der FESTUNG den Startmechanismus ausgelöst hatten.

»Razamon!« Da war es, als hörte ich vor mir einen

stöhnenden Laut. Ich tat einen raschen, un­bedachten Schritt und hatte sofort Grund, meine Hast zu bereuen. Der Boden unter meinen Füßen gab nach. Ich wäre gestürzt, hätte ich mich nicht im letzten Augenblick nach hinten geworfen. Mit Mühe wahrte ich das Gleichgewicht. Dann trat ich von neu­em, diesmal mit größter Vorsicht, an das Loch heran, das sich da so unversehens vor mir aufgetan hatte.

»Bist du dort unten?« fragte ich laut. »Sei still!« zischte es mir aus beträchtli­

cher Entfernung entgegen. »Ich glaube, ich bin auf etwas gestoßen!«

Ich ging auf die Knie nieder und betastete

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den Rand des Loches. Dort, wo der Boden sich einigermaßen fest anfühlte, ließ ich mich nieder und beugte mich weit vornüber. Im Innern des Loches war es stockfinster.

»Was gibt es dort?« fragte ich. »Sssst …!« machte Razamon. Damit mußte ich mich zufrieden geben.

Ich beugte mich ein wenig weiter nach vor­ne und betastete den Innenrand des Loches. Er bestand aus gemauerten Steinen. Ich war nicht sicher, ob ich mich aus dieser Falle je­mals wieder würde herausarbeiten können, wenn ich mich dort hinunterwagte. Ich sah mich hilfesuchend um. Von den Gefährten war noch immer keiner in Sicht.

Schließlich gewann meine Neugierde die Oberhand. Ich mußte unbedingt erfahren, was dort unten vorging. Ich legte mich auf den Bauch und ließ die Beine langsam in den Schacht gleiten. Der Rand, an dem ich mich festkrallte, war einigermaßen stabil. Aber als mein Gewicht voll an ihm hing, gab er nach.

Ich stürzte und prallte auf etwas halbwegs Weiches. Razamon war offenbar fest davon überzeugt, daß jedes überflüssige Geräusch hier unten von Schaden sei. Er gab nur einen unterdrückten Schmerzenslaut von sich. Dann aber fuhr er herum und fauchte mich an:

»Wer hat dich geheißen, hinter mir herzu­kommen?«

»Deine Abfahrt war so elegant, daß ich mir das Vergnügen nicht entgehen lassen wollte«, antwortete ich.

Das brachte ihn zum Schweigen. Ich horchte. Es war mir, als könne ich unter­drückte Stimmen hören. Sie kamen irgend-wo aus der Wand des Schachtes. Ich lehnte den Kopf an die Wand und suchte, wo ich am meisten hören konnte.

Schließlich hatte ich Erfolg. Ich hörte eine Stimme, die ich kannte. Ich verstand die Worte nicht, aber es war eindeutig das plär­rende Organ des Dellos, der die Angreifer befehligt hatte. Das Lager der Androiden, nach dem wir suchten, befand sich unter der Erde. Der Zufall hatte Razamon in dieses

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Loch befördert, wahrscheinlich einen alten Belüftungsschacht der unterirdischen Anla­gen. Der Raum, aus dem die Stimmen ka­men, konnte nicht mehr als ein oder zwei Meter entfernt sein.

Als ich anfing, die Mauersteine zu beta­sten, wurde Razamon rebellisch.

»Was machst du da?« fauchte er. »Sie werden dich hören!«

»Den Teufel werden sie«, antwortete ich. »Ich muß das Ohr an die Wand halten, um überhaupt etwas mitzukriegen.«

Razamon war keiner, der sich logischen Einwänden verschloß.

»Was suchst du?« fragte er noch einmal, diesmal jedoch wesentlich ruhiger.

»Ob es hier irgendeinen Weg gibt«, ant­wortete ich. »Wofür hältst du dieses Loch?«

»Für einen alten Luftschacht.« »Wieso alt?« »Weil er mit Erde gefüllt ist. Früher hat er

wahrscheinlich bis in die Tiefen der unterir­dischen Anlagen hinabgereicht, und da wäre ich nicht mehr am Leben.«

»Gut. Wenn dies hier ein alter Luft­schacht ist, warum sollte es dann nicht eine schwache Stelle im Gemäuer geben?« fragte ich.

»Laß uns suchen!« schlug er vor, plötz­lich begeistert von meiner Idee.

Unsere Geduld wurde auf keine allzu har­te Probe gestellt. Es gab mehrere Stellen, an denen das Gemäuer morsch war. Die Er­schütterungen, die den Kampf um die FE­STUNG begleiteten, mochten dazu beigetra­gen haben, unsere Aufgabe zu erleichtern. Wir entfernten einen Stein. Das Geräusch der Stimmen wurde abrupt lauter. Erdreich rieselte in den Schacht. Wir arbeiteten be­hutsamer. Der zweite Stein löste eine ganze Lawine aus, aber drüben fuhr die Unterhal­tung ununterbrochen fort. Ich räumte mit den Händen die Erde beiseite. Plötzlich sah ich einen Lichtpunkt. Ich beugte mich weit nach vorne und erkannte, daß wir die Wand eines Raumes durchstoßen hatten, der um et­liches tiefer lag als der Erdhaufen, auf dem wir standen. Das Loch, durch das der Licht­

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schein drang, lag dicht unterhalb der Decke des Raumes. Ich konnte nicht sehen, wer sich dort drüben befand. Aber ich verstand jetzt die Worte der Unterhaltung.

*

»Sie sind zu stark für uns«, sagte der mit der plärrenden Stimme. »Wir waren ihnen mehr als zehnfach überlegen, und dennoch jagten sie uns davon. Du mußt deinen Plan aufgeben, Tarkos!«

»Niemals!« antwortete eine zweite Stim­me. »Wir sind armselige Dellos, billige Ge­schöpfe der Herren, zu Hunderten aus der Retorte erzeugt. Das Schicksal hat uns eine einmalige Gelegenheit gegeben. Wir werden sie nutzen. Wenn zehnfache Überlegenheit nicht genügt, dann müssen wir hundertfach überlegen sein.«

»Soviele Dellos gibt es überhaupt nicht, Tarkos!« erklärte der Plärrer. »Was sagst du da? Im Bereich der FESTUNG gibt es mehr als zwanzigtausend unserer Art!«

»Hat es gegeben!« wurde er verbessert. »Mindestens die Hälfte ist umgekommen. Und von dem Rest kannst du nur eine gerin­ge Anzahl für deine Idee gewinnen!«

Der Dello namens Tarkos schwieg. Wahr­scheinlich erkannte er die Richtigkeit des Einwands an. Ich konnte mir Tarkos' Lage recht gut vorstellen. Er war einer der weni­gen Dellos, die Initiative besaßen. Es mußte sich dabei um eine Art Konstruktionsfehler handeln, denn die Herren der FESTUNG legten sicherlich keinen Wert darauf, daß die Androiden, die sie wie Sklaven benutzten, eigene Vorstellungen entwickelten. Solche Fehler kamen anscheinend jedoch immer wieder vor. Das letzte Beispiel, das wir er­lebt hatten, war Darsior, der Dello, der mit uns in die FESTUNG eingedrungen war und den wir im Verlauf des Getümmels aus den Augen verloren hatten. Tarkos war ein wei­terer solcher Fall.

Schließlich sagte Tarkos: »Ich gebe trotzdem nicht auf. Wieviel

Leute sind noch im Vorraum?«

»Kein einziger mehr«, antwortete der Plärrer. »Der Schreck ist ihnen so in die Knochen gefahren, daß sie auf meine Befeh­le nicht mehr achteten. Sie liefen nach allen Richtungen davon.«

»Was ist mit den Robotern?« wollte Tar­kos wissen.

»Keine Ahnung. Sie sind ein ziemlich ei­genwilliges Volk. Glaubst du, du könntest sie für deinen Plan begeistern? Warum soll­ten sie lieber unter deiner Herrschaft als un­ter irgendeiner anderen leben wollen?«

»Ich werde es versuchen«, antwortete Tarkos verbissen. »Stehst du noch zu mir, Mintar?«

»Ich sehe nicht, was mir anderes übrig bleibt«, antwortete der mit der plärrenden Stimme. »Du und ich, wir sind von dersel­ben Art. Du bist der geschicktere von uns beiden. Deswegen bist du der Herr und ich der Knecht. Ich halte zu dir, solange du mich anständig behandelst!«

»Gut«, sagte Tarkos. »Dann übernimm diesen Auftrag: Geh in die FESTUNG und sprich zu den Robotern. Lade sie ein, zu mir zu kommen. Ich will mit ihnen über die Zu­kunft von Pthor reden.«

»Und wenn sie sich weigern zu kom­men?«

»Dann muß ich meinen Plan endgültig aufgeben, und dich trifft keine Schuld.«

»Das ist gerecht«, erkannte Mintar an. »Ich gehe!«

Das war für mich das Alarmsignal. Ich mußte Mintar fassen, wenn er das unterirdi­sche Versteck verließ.

»Wirst du es ertragen können, wenn ich dir auf die Schulter steige?« fragte ich Raza­mon leise.

»Ich bin kein Schwächling«, antwortete er. »Was hast du vor?«

»Später!« drängte ich. »Ich darf keine Se­kunde verlieren.«

»Laß mich nur nicht hier unten stecken!« bat er.

Mit seiner Hilfe erreichte ich den Rand des Loches. Ich zog mich an einem Stück Grasnarbe in die Höhe. Natürlich wußte ich

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nicht, an welcher Stelle Mintar zum Vor­schein kommen würde. Ich konnte nur hof­fen, daß es irgendwo in der Nähe war.

Ich hatte Glück. Mintar erschien keine fünf Schritte von mir entfernt. Er sah mich nicht, weil er in Richtung der großen Pyra­mide blickte. Als ich ihn packte, erschrak er fast zu Tode – ein weiterer Beweis dafür, daß er nicht zu der üblichen Sorte von An­droiden gehörte.

Ich durchsuchte ihn nach Waffen. Er be­saß keine. Er starrte mich an und stammelte:

»Der … der Göttersohn!« »Das ist eines der Dinge, über die ich von

dir hören will«, sagte ich. »Warum nennt ihr mich den Göttersohn?«

»Weil … weil du mehr Macht besitzt als die anderen vier Odinskinder zusammen«, antwortete er eingeschüchtert.

»Woran erkennst du das?« »Du kämpfst ohne Waffen und bist den­

noch jedem anderen überlegen«, erklärte er. »Du hast den Mut eines Berserkers, aber du bist nicht grausam wie diese.«

Das war schmeichelhaft. Ich bezog es je­doch nicht auf mich selbst, sondern auf den Anzug der Vernichtung, der mir zusätzliche Kräfte verlieh und mich in mehr als einer Hinsicht nahezu unverwundbar machte. Ich sagte zu Mintar:

»Ich bin kein Göttersohn. Es hätte dir nichts eingebracht, mich gefangenzuneh­men. Ich bin auch nicht dein Feind – weder deiner, noch Tarkos'.«

Er zuckte zusammen. »Woher weißt du von Tarkos?« »Ich habe eure Unterhaltung mitangehört.

Ich habe dich aufgehalten, damit du mich zu Tarkos führst. Glaubst du, er wird mich an­hören?«

Die Frage verwirrte ihn. »Herr, du … du bist … ein Mensch!«

stieß er abgerissen hervor. »Mindestens ein Mensch, wenn nicht gar ein Sohn der Göt­ter! Warum sollte ein erbärmlicher Androide dich nicht anhören wollen?«

»Dann laß uns gehen! Und vergiß nicht: Ich bin nicht euer Feind, aber ich glaube

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auch nicht, daß Tarkos jemals der Herr von Pthor werden wird.«

»Auch das weißt du!« murmelte er ent­setzt.

Dann wandte er sich um und führte mich zum Eingang des unterirdischen Verstecks.

*

Der Eingang war weiter nichts als ein Loch im Boden – ähnlich dem Belüftungs­schacht, den Razamon entdeckt hatte. Eines der Monstren der Nacht hatte hier seine Wut ausgetobt und dabei einen unterirdischen Gang freigelegt. Der Gang war gemauert. Die Mauern zeigten Spuren einer grünlichen Flüssigkeit, die vor nicht allzu langer Zeit die Wände herabgeronnen und eingetrocknet war. Das Monstrum mußte sich bei seinem Tobsuchtsanfall verletzt und einige Liter sei­nes fremdartigen Blutes verloren haben. Es stank.

Der Gang war zum Teil beleuchtet. Unter der Decke waren kleine, batteriebetriebene Lampen angebracht worden. Nur in der Nä­he des Eingangs war es halbwegs finster. Man hatte dafür gesorgt, daß der verräte­rische Lichtschein nicht ins Freie drang.

Mintar schritt voraus. Er kam an eine Tür, an die er in einem eigenartigen, offenbar vereinbarten Rhythmus pochte.

»Wer ist es?« erklang von drinnen Tarkos' Stimme.

»Ich bin es, Mintar. Ich bringe einen, der mit dir sprechen will.«

Die Tür wurde geöffnet. Der Raum dahin­ter war völlig leer. Tarkos war ein stämmig gebauter Mann von etwa 1,80 Meter Größe. Er hatte kurz geschnittenes, dunkles Haar. Sein Gesichtsausdruck war finster. Er war überrascht, mich zu sehen, aber er verriet keine Furcht.

»Der Göttersohn!« sagte er. »Was willst du von mir?«

Er war nicht bewaffnet. Ich hatte nichts von ihm zu befürchten.

»Ich komme, um dir zu sagen, daß du nicht der Herrscher von Pthor werden

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wirst«, erklärte ich. Ich hatte erwartet, daß er mir widerspre­

chen werde. In der Unterhaltung mit Mintar, die ich belauscht hatte, war er fest entschlos­sen gewesen, seinen Plan weiterzuverfolgen. In der Zwischenzeit war er anscheinend an­deren Sinnes geworden. Er sah zu Boden und antwortete mit dumpfer Stimme:

»Ich weiß es!« »Ich komme außerdem«, fuhr ich fort,

»um dir zu sagen, daß ich nicht dein Feind bin. Deine Leute haben mich angegriffen. Meine Gefährten und ich haben sie zurück­geschlagen. Viele von euch sind dabei ums Leben gekommen. Das muß nicht sein. Wir können friedlich nebeneinander leben.«

»Du hast recht«, sagte er. »Ich war ein Narr. Du hast nichts mehr von mir zu be­fürchten. Ich habe keine Leute mehr, mit de­nen ich dich und deine Begleiter angreifen könnte – selbst wenn ich Derartiges noch im Sinn hätte.«

Er meinte es ehrlich. »Und ich komme drittens«, setzte ich von

neuem an, »um dir eine Frage zu stellen.« »Welche ist das?« »Was verleitet dich zu dem Glauben, daß

du die Herrschaft über Pthor an dich reißen könntest?«

Er wirkte verwundert. »Bin ich nicht so gut wie irgend sonst je­

mand?« fragte er. »Ich bin ein Dello, könn­test du sagen. Aber ich sehe aus wie ein Mensch. Ich kann denken wie ein Mensch. Ich habe Empfindungen wie ein Mensch. Ich bin nicht schlechter als irgendeiner, der nach der Herrschaft über Pthor strebt!«

»Die Herren der FESTUNG werden die Verwirrung überwinden. Wenn das ge­schieht, werden sie die Macht an sich reißen. Wie hättest du dich ihnen widersetzen wol­len?«

Da sah er mich zuerst bestürzt an. Dann fing er lauthals an zu lachen.

»Die Herren der FESTUNG sind tot!« rief er. »Wußtest du das nicht?«

3.

»Tot?« wiederholte ich ungläubig. »Tot!« bestätigte Tarkos. »Ihre

Schreckensherrschaft ist zu Ende.« Der Verstand hatte Mühe, das Unglaubli­

che zu begreifen. »Was hat … wer hat sie getötet?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Tarkos.

»Als der Lärm des Kampfes allmählich ver­ebbte und die Befehle der Herren ausblie­ben, getraute ich mich in die FESTUNG. Da fand ich sie, in der großen Halle, in ihren Behältern. Aber die Flüssigkeit, in der sie schwammen, wurde nicht mehr erneuert. Sie war trüb geworden. Die Sauerstoffzufuhr war abgeschnitten. Die Herren rührten sich nicht mehr. Da wußte ich, daß sie tot wa­ren.«

Meine Gedanken kreisten. Die Herren der FESTUNG waren tot. Pthor war herrenlos.

Pthor war auf dem Weg zur Schwarzen Galaxis.

Plötzlich empfand ich Mitleid mit den Wesen, die diesen kosmischen Felsbrocken bevölkerten. Die Herrschaft der FESTUNG war grausam gewesen, aber sie hatte für Ru­he und Stabilität gesorgt. Sobald sich die Nachricht vom Tode der Herren verbreitete, würde der Kampf um die Macht beginnen und unsagbares Elend über Pthor bringen. Es gab Dutzende von Interessengruppen, von denen jede einen Grund zu haben glaub­te, sich als den rechtmäßigen Erben der Herrschaft über Pthor zu betrachten. Voran standen die Magier aus der großen Barriere von Oth. Von ihnen hatte man seit einiger Zeit nichts mehr gehört, aber beizeiten wür­den sie sich schon melden. Dann kamen die Technos, die Gordys, womöglich die Händ­ler von Orxeya – und andere von ihrer Art.

Zum Schluß aber waren da noch die Od-inskinder, die ohnehin der Überzeugung wa­ren, daß sie die rechtmäßigen Herren von Pthor seien. Sie waren die gefährlichsten von allen. Sie waren an Ort und Stelle. Sie würden als erste vom Tod der Herren der FESTUNG erfahren.

Über allem aber hing die große Drohung. Pthor war unterwegs zur Schwarzen Gala­

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xis! Das war die größte Gefahr. »Es ist wichtig, daß Pthor auf einen ande­

ren Kurs gebracht wird«, sagte ich zu Tar­kos.

Er verstand mich nicht sofort. »Pthor ist auf dem Weg in die Schwarze

Galaxis!« erklärte ich ihm. Er wurde bleich. Seine Augen nahmen

einen ängstlichen Schimmer an. »In die Schwarze Galaxis?« hauchte er.

»Das … das ist entsetzlich!« »Was weißt du über die Schwarze Gala­

xis?« fragte ich. »Nichts«, antwortete er hilflos. »Außer

daß sie die Quelle allen Übels ist.« »Die Herren der FESTUNG stammten

von dort.« »Das ist richtig. Sie nannten sich die En­

kel des Großen Oheims und bezeichneten den Großen Oheim als den Herrscher der Schwarzen Galaxis. Es wird furchtbar sein, wenn Pthor dorthin gelangt!«

»Deswegen müssen wir den Kurs än­dern!« erklärte ich ihm. »Wir müssen den Steuermechanismus finden. Ich nehme an, daß er in der großen Pyramide installiert ist.«

Zu meiner Überraschung machte Tarkos eine verneinende Geste.

»Das ist er bestimmt nicht«, behauptete er. »Ich kenne die Pyramide. Ich war ein be­vorzugter Sklave und arbeitete in unmittel­barer Nähe der Herren. Glaube mir: Die Steuerung ist nicht in der Pyramide!«

Ich war ratlos. »Wo sonst soll sie sein?« fragte ich. »Ich weiß es nicht. Die Pyramide ist ein

uraltes Raumschiff. Die sechs kleineren Py­ramiden waren früher Beiboote. Vielleicht enthält eine von ihnen den Steuermechanis­mus. Viel eher aber glaube ich, daß Antrieb und Steuerung sich in der Tiefe befinden.«

»In der Tiefe?« »In den unterirdischen Anlagen, die viele

hundert Meter weit in das Innere von Pthor hineinreichen.«

»Wir werden danach suchen!« versprach ich.

Kurt Mahr

Er sah mich an. »Was wird aus mir?« fragte er. »Und aus

Mintar, der sein Schicksal mit dem meinen verbunden hat?«

»Ich weiß es nicht, Tarkos«, antwortete ich. »Ich bin froh, daß du dich an dem Kampf um die Macht nicht beteiligen willst. Es hätte nur zu deinem Verderben geführt. Du und Mintar – ihr seid intelligent, und ihr habt Initiative. Ich an eurer Stelle würde der FESTUNG den Rücken kehren und irgend-wo sonst einen neuen Anfang machen. Die­ses Land ist klein, aber es enthält eine Viel­falt menschlicher Lebensformen. Seht euch um! Verratet niemand, daß ihr Dellos seid! Wenn ihr euch klug verhaltet und nach den Regeln der Gesellschaft richtet, in der ihr lebt, wird es euch an nichts mangeln!«

Tarkos neigte das Haupt. »Ich danke dir, Herr«, sagte er. »Wir wer­

den deinen Rat beherzigen. Du hast als Freund an uns gehandelt. Wenn unsere Pfa­de einander wieder kreuzen, werden wir im­mer noch deine Freunde sein!«

Ohne sich noch einmal umzusehen, schritt er davon. Mintar warf mir einen dankbaren Blick zu, dann folgte er seinem Anführer. Ich hörte die Geräusche ihrer Schritte drau­ßen im Gang verhallen.

Es war still – aber nicht lange. Von der Decke herab krächzte eine vertraute Stim­me:

»Heh – wie lange soll ich noch in diesem dreckigen Loch steckenbleiben?«

*

Ich half Razamon ins Freie. »Du hast alles gehört?« fragte ich. »Alles. Jetzt geht der Zirkus erst richtig

los. Warte, wie die Odinskinder sich aufplu­stern und die Herrschaft für sich beanspru­chen werden!«

»Im Grunde genommen wären sie nicht die schlechtesten Herrscher«, überlegte ich. »Es gibt eine Reihe von Mitgliedern der Fa­milie Gordy, denen ich weitaus weniger trauen würde als Balduur, Heimdall, Thalia

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13 Der Steuermann von Pthor

und Sigurd. Und von den Magiern aus Oth weiß man überhaupt nicht, was sie Pthor zu bieten hätten.«

»Du wirst ihnen nicht etwa frei heraus mitteilen, daß es die Herren der FESTUNG nicht mehr gibt, oder?« fragte er bestürzt.

»Ich käme mir schäbig vor, wenn ich es nicht täte«, antwortete ich. »Man müßte meine Zurückhaltung als Furcht oder Intrige auslegen.«

»Du und deine moralischen Skrupel!« knurrte Razamon.

»Laß uns sehen, wie sie sich verhalten!« riet ich ihm. »Sie sind eigenwillig, bockbei­nig, wirklichkeitsfremd und von einem Va­terkomplex besessen. Aber sie sind nicht schlecht. Es steckt eine ganze Menge Menschlichkeit in ihnen. Außerdem sind sie zu viert. Es wird einer dem andern auf die Finger schauen. Das kommt dem Volk zugu­te.«

Die Ruhe in dem zugeschütteten Belüf­tungsschacht hatte dem Pthorer gut getan. Er humpelte kaum mehr als sonst, als wir uns auf den Rückweg zu unserer Lagerstätte machten. Nach kurzer Zeit tauchten zwei Gestalten im Halbdunkel vor uns auf: eine gedrungene und eine riesenhafte; Koy und Kolphyr. Sie hielten an und erwarteten uns.

»Was gibt es Neues?« fragte Kolphyr mit der eigentümlich hellen Stimme, die in Kon­trast zu seinem gigantischen Wuchs stand.

Er sprach Pthora mittlerweile fließend, wenn auch nicht perfekt. Manche Redewen­dungen, die er gebrauchte, waren so ko­misch, daß wir über sie lachen mußten. Er freute sich, wenn er zu unserer Heiterkeit beitrug, und wenn wir gar zu laut lachten, erwachte sein Liebkosungsbedürfnis, und wir hatten alle Hände voll zu tun, uns vor seinen Umarmungen zu schützen.

»Die Herren der FESTUNG sind tot«, antwortete ich. »Die Dellos bedeuten keine Gefahr mehr. Wo ist Fenrir?«

Im selben Augenblick hechelte es aus der Düsternis heran – Fenrir, in großen, halb spielerischen Sätzen, mit funkelnden Augen und offenbar in bester Laune. Er hockte sich

neben mich auf den Boden und schob den Schädel unter meine Hand, damit ich ihn kraule.

»Wo warst du, Grauer?« fragte ich. Er aber hechelte nur und knuffte gegen

meine Hand, bis ich ihn zu kraulen anfing. Nur Augenblicke später tauchten die Ge­

stalten der vier Odinskinder auf. Thalia, die sich den Namen Honir zugelegt hatte und darunter litt, daß sie nicht ein Sohn war, wirkte wahrhaft pathetisch in der über­großen Rüstung, die an ihrem nicht eben massiven Körper herumschlotterte, seitdem sie die Körpermuskelmaske verloren hatte. Balduur, Heimdall und Sigurd blickten grimmig. In Thalias Augen dagegen schim­merten Furcht und Verwirrung.

»Was hast du herausgefunden, Fremder?« fragte Heimdall.

Es war das erste Mal, daß er mich so nannte. Ich erinnerte mich an seine finstere Frage, ob ich jetzt das Kommando überneh­men wolle. Es war unübersehbar, daß Heim­dall Abstand gewinnen wollte. Vielleicht ahnte er schon, daß das größte Hindernis auf dem Weg zur Macht beiseite geräumt wor­den war.

»Daß die Dellos keine Gefahr mehr für uns darstellen«, antwortete ich.

Er lachte höhnisch. »Als ob sie das jemals getan hätten! Wir

jagen sie zu Hunderten, wenn es sein muß!« »Außerdem habe ich erfahren, daß die

Herren der FESTUNG tot sind«, sagte ich. Einen Augenblick lang starrte er mich an,

als zweifle er an meinem Verstand. »Das lügst du!« fuhr er mich an. »Sag noch ein solches Wort«, fuhr ich ihn

an, »und ich nehme dir die Streitaxt ab, um dir ein wenig Verstand damit einzubleuen!«

Er wich unwillkürlich zurück. Mein Zorn war echt. Ich hatte keine Neigung, mich von einem beleidigen zu lassen, der seinen An­spruch auf eine höhere Stellung mit weiter nichts begründen konnte, als daß er der Sohn des legendären Odin sei.

»Ist es wirklich wahr?« fragte er begierig. »Ich habe es von einem Dello«, antworte­

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te ich kalt, »an dessen Worten ich nicht zu zweifeln brauche!«

Da trat ein Leuchten in seine Augen. Oh­ne den Blick von mir zu wenden, rief er sei­nen Brüdern zu:

»Habt ihr es gehört? Die Herren der FE­STUNG sind nicht mehr! Der Thron von Pthor steht leer!«

»Wir brauchen Gewißheit!« belehrte ihn Balduur. »Auf die Worte eines Dellos kön­nen wir nichts geben.«

»Geht in die FESTUNG und seht euch um!« riet ich ihnen. »Die Herren sind noch in ihren Behältern, aber das Lebenserhal­tungssystem funktioniert nicht mehr.«

»Bei meinem Vater Odin – das werden wir tun!« rief Heimdall voller Begeisterung. »Und morgen wird alle Welt erfahren, daß wir die ererbte Herrschaft über Pthor wieder an uns genommen haben!«

Es war nicht ganz klar, was er mit »morgen« meinte. Die Düsternis kannte we­der Nacht, noch Tag. Aber das störte Heim­dall wenig. Er schritt an mir vorbei, auf die große Pyramide zu, und seine Brüder folgten ihm. Thalia machte die Nachhut. Sie drehte sich noch einmal um und warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte.

Plötzlich erscholl ein Ruf: »Fenrir – zu mir!« Das war Balduurs Stimme. Der Wolf wur­

de unruhig. Er lief ein paar Schritte in die Richtung, aus der der Ruf erklungen war. Aber dann besann er sich eines Besseren. Er schlug einen Haken und kehrte zurück. Er legte sich auf den Boden und starrte in das Halbdunkel.

*

Wir kehrten an den Lagerplatz zurück. Unterwegs beobachtete ich den Wolf. Er trottete hinter uns her und schien seiner Sa­che nicht eben sicher zu sein. Mehrmals blieb er stehen und äugte in die Richtung der großen Pyramide. Ich verstand ihn – wenn man überhaupt davon sprechen kann, daß ein Mensch einen Wolf versteht. Sein frühe-

Kurt Mahr

rer Herr verlangte ihn zurück. Fenrir besann sich der Loyalität gegenüber Balduur. Daß der ihn fast umgebracht hatte, daran erinner­te er sich wahrscheinlich nicht mehr allzu deutlich.

Den Lagerplatz hatten wir gewählt, weil er auf einer sanften Erhebung lag. Der Vor­teil der Anhöhe wurde durch das ungewisse Dämmerlicht natürlich zur Hälfte wieder kompensiert. Trotzdem fühlten wir uns si­cherer, wenn wir auf die Umgebung hin­abblicken konnten.

Die Stimmung in dieser Stunde war ge­drückt. Die Konfrontation mit den Odinskin­dern warf ihren Schatten voraus. Zudem gin­gen wir einem ungewissen Schicksal entge­gen. Niemand wußte, wie weit der Weg in die Schwarze Galaxis war. Wer gab uns die Garantie, daß nicht schon in der nächsten Sekunde ein neuer Himmel über Pthor auf­tauchte und sich mit Sternen bevölkerte, über die der Große Oheim herrschte?

Aber gerade in dem Augenblick, in dem mich der Schlaf davontragen wollte, hörte ich einen Ruf. Er war merkwürdig deutlich und eindringlich. Ich fuhr in die Höhe und wunderte mich, daß sich die andern völlig ruhig verhielten, als hätten sie nichts gehört.

Ich stieß Razamon an. Er knurrte unwil­lig. Es bedurfte einiger zusätzlicher Knüffe, um ihn wachzumachen.

»Was willst du?« brummte er. »Hast du nichts gehört?«

»Gehört? Was?« »Ach – nichts«, wehrte ich ab. Er wurde ärgerlich. »Höre, es hat mich Mühe genug gekostet

einzuschlafen!« fuhr er mich an. »Das näch­ste Mal warte gefälligst, bis du einen besse­ren Grund hast, mich aufzuwecken!«

Er drehte sich auf die andere Seite, und wenige Augenblicke später bewiesen seine tiefen, regelmäßigen Atemzüge, daß er be­züglich des Einschlafens nicht wirklich so­viel Mühe hatte, wie er mich glauben ma­chen wollte.

Der Ruf wiederholte sich nicht. Er hatte eigenartig geklungen. Es war kein Hilferuf,

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kein Wutschrei gewesen, wie man sie in die­ser Umgebung wohl zu hören erwartete. Es hatte mehr wie ein übermütiger Schrei ge­klungen, wie ein Ausdruck der Freude, wie die Äußerung eines, der nach langem War­ten endlich das bekommen hat, wonach er sich sehnt.

Je länger ich darüber nachdachte, desto unsicherer wurde ich, ob ich den Ruf wirk­lich gehört hatte. Akustisch, sollte das hei­ßen. Womöglich war es eine telepathische Impression in meinem Bewußtsein gewesen. Ich bin kein Telepath; aber es hat Fälle ge­geben, in denen andere, die die Telepathie beherrschten, ihre Gedanken in meinem Ge­hirn materialisieren lassen konnten.

Das viele Nachdenken verwirrte mich schließlich. Der Extrasinn hatte vorüberge­hend den Dienst quittiert. Wahrscheinlich wußte er keine Erklärung. Als die Gedanken sich im Kreis zu drehen begannen, kam die Müdigkeit von neuem über mich.

Der Schlaf war eine Erlösung.

4.

Als ich aufwachte, herrschte dasselbe graue Dämmerlicht. Das ferne Rauschen war noch immer allgegenwärtig.

Ich richtete mich auf und wußte, bevor ich mich umgesehen hatte, daß etwas nicht in Ordnung war. Mir gegenüber hockte Kol­phyr. Er war wach und starrte mich aus sei­ner grinsenden Froschphysiognomie an.

»Fenrir ist gegangen«, sagte er. Ich blickte um mich. Fenrir war ver­

schwunden. Es hätte sein können, daß er auf der Suche nach Nahrung war. Aber ich wuß­te, daß er nicht mehr zurückkehren würde. Die Ereignisse der vergangenen Stunden waren mir noch zu deutlich im Gedächtnis. Der Wolf hatte lange Zeit geschwankt – zwischen Balduur, der ihn um ein Haar getö­tet hätte, und uns, von denen er gerettet wor­den war. Mein Gott – wie lange war das schon her! Damals, an der Küste der Stille, als wir auf dem Weg zur Feste Grool waren.

Fenrir hatte seine Entscheidung getroffen.

Sie war zu Balduurs Gunsten gefallen. Es überraschte mich, festzustellen, daß mich das schmerzte. Ich fühlte mich verraten. Ich versuchte mir klarzumachen, daß es sich letzten Endes nur um ein Tier handele. Aber das brachte nichts ein. Es stimmte mich trau­rig, daß der Wolf nicht mehr da war.

Razamon erwachte. »Was stehst du da wie einer, dem gerade

die Geliebte davongelaufen ist?« fragte er an Stelle einer Begrüßung.

»Fenrir ist gegangen«, antwortete ich. Razamon sprang auf. »Fenrir? Ach was! Der ist irgendwo beim

Fouragieren!« »Nein, nein!« protestierte Kolphyr mit

durchdringender Stimme. »Ist fort – ganz und für immer! Hat gefressen kurz bevor fortgehen!«

Razamon stemmte die Arme in die Hüfte. »Sprich einer von Undankbarkeit!« knurr­

te er. »Wahrscheinlich ist er Balduur nach­gelaufen.«

Ich winkte ab. Es hatte keinen Sinn, daß wir uns mit einem treulosen Wolf beschäf­tigten. Hatte ich treulos gedacht? Wirklich und wahrhaftig! Die Wertmaßstäbe des Menschen geraten durcheinander, wenn er aus seiner gewohnten Welt in eine so grotes­ke Umgebung wie Pthor gerät.

»Wir haben einiges vor uns«, sagte ich. »Es bleibt bei unserer gestrigen Abmachung. Wenn meine Informationen richtig sind, dann ist der pthorische Steuermechanismus in einer der sechs kleinen Pyramiden zu fin­den, die Beiboote des Raumschiffs sind, das einst die große Pyramide darstellte.«

»Wie habter die Herren dem FESTUNG gehandhabt der Steuerung?« erkundigte sich der Bera, diesmal im Kauderwelsch. »Habt nicht könnter gegangen von großer zu klei­ner Pyramide!«

»Es muß eine Fernsteuerung geben«, ant­wortete ich. »Oder zumindest gegeben ha­ben.«

»Trotzdem ist die Idee gut«, fiel Razamon ein. »Warum suchen wir nicht einfach nach der Fernsteuerung?«

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»Zwei Gründe. Erstens glaube ich nicht, daß sie noch funktioniert. Erinnere dich an die Hölle, die im Innern der FESTUNG los war. Zweitens sind die sogenannten Götter­söhne jetzt in der großen Pyramide. Es gibt keine offene Feindseligkeit zwischen uns. Aber glaubst du, sie würden uns ungestört arbeiten lassen?«

»Wahrscheinlich nicht«, brummte der Pthorer. »Also gut – machen wir uns auf den Weg!«

Koy, der Trommler, war längst wach. Er hatte noch kein Wort gesprochen.

»Ihr beide haltet die Stellung«, empfahl ich ihm und Kolphyr. »Wenn ihr uns sucht, sind wir in der nordwestlichen Pyramide zu finden. Wir geben uns Mühe, nicht allzu lan­ge fort zu sein. Unser Treffpunkt ist hier.«

Der Bera nickte – eine Geste, die er von Razamon und mir gelernt hatte. »Ich bin ein­verstanden«, versicherte er.

»Koy – wirst du noch hier sein, wenn wir zurückkehren?« fragte ich den Trommler.

Er sah mich aus traurigen Augen an. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. Die Art, wie er es sagte, ließ seine Mutlo­

sigkeit erkennen. Ich erwiderte seinen Blick, aber er hatte nicht die Kraft, mir standzuhal­ten. Er senkte die Augen. Da wußte ich, daß ich ihn so bald nicht wiedersehen würde.

Razamon und ich machten uns auf den Weg. Das Ziel, dem wir entgegengingen, mochte gefährlich sein. Unsere Bewaffnung war auf niederschmetternde Art unzurei­chend. Razamon hatte weiter nichts als sein Breitschwert, und ich trug das Goldene Vlies, das nicht eigentlich eine Waffe war, sondern mich im Augenblick der Gefahr nur unterstützte, indem es mir zusätzliche Kräfte gab und verschiedenerlei Einflüsse von mir fernhielt.

*

Die eigentliche Festungsanlage bestand aus der großen Pyramide, die von sechs klei­neren Pyramiden umgeben war. Es gab mitt­lerweile keinen Zweifel mehr daran, daß es

Kurt Mahr

sich bei der großen Pyramide, der eigentli­chen FESTUNG, um ein ehemaliges Raum­schiff handelte. Wie es hierhergekommen war, ob es dem Großen Oheim oder seinen Enkeln gehört hatte, von welcher Technolo­gie es hergestellt worden war – das alles war uns unbekannt.

Die sechs kleinen Pyramiden waren einst Beiboote des Raumschiffs gewesen. Sie standen zu einem regelmäßigen Sechseck geordnet, dessen Mittelpunkt die große Py­ramide bildete. Die kleinen Pyramiden wa­ren so angeordnet, daß die Entfernung zwi­schen ihnen und dem nächsten Punkt an der Peripherie des Mutterraumschiffs etwa zwei­hundert Meter betrug. Der Raum zwischen der großen und den kleinen Pyramiden war unbepflanzt. Vor dem Kampf um die FE­STUNG hatte es dort ebenes Gelände gege­ben. Die Straße der Mächtigen aber hatte, als sie sich glühend aus ihrem Bett erhob, um die Festungsanlage mit feurigen Peit­schenhieben einzudecken, den Grund aufge­wühlt und der Ebenheit ein rasches Ende ge­macht. Es sah dort aus wie in einem trockenen Flußbett, in dem die letzte Flut übermannsgroße Felsbrocken aufeinander­getürmt hatte.

Unser Lagerplatz lag weit außerhalb des Sechsecks, das die kleinen Pyramiden bilde­ten. Wir hatten uns, als wir aus der FE­STUNG flohen, in nordwestliche Richtung gewandt. Warum, das wußte niemand. Es war die Richtung, aus der wir gekommen waren. Das mochte ein ausreichender Grund sein. Die nordwestliche der sechs Pyramiden war uns infolgedessen am nächsten. Da Tar­kos mir nicht hatte verraten können, welches der sechs ehemaligen Beiboote mir am ehe­sten zur Entschlüsselung des großen Ge­heimnisses verhelfen würde, war für unsere Zwecke eine der Pyramiden so gut wie die andere.

In der grauen Dämmerung verloren wir Kolphyr und Koy bald aus den Augen. Ich machte mir Sorgen um Koy. Er war verwirrt und mochte in diesem Zustand eine Ent­scheidung treffen, die ihn in Gefahr brachte.

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Am liebsten hätte ich ihn bei mir gehabt. Aber es ging darum, die Suche nach dem Steuerungsmechanismus möglichst rasch zum Erfolg zu führen. Dabei wäre Koy kei­ne Hilfe gewesen.

Um den Bera dagegen machte ich mir kei­ne Sorgen. Er verfügte über gewaltige Kör­perkräfte. Und wenn die nicht ausreichten, dann hatte er noch den Velst-Schleier, jene geheimnisvolle Hülle aus übergeordneter Energie, die seinen aus Antimaterie beste­henden Körper vor dem Kontakt mit der Materie dieses Universums schützte. Auf dem langen Weg von der Eiszitadelle zur FESTUNG hatte Kolphyr uns gezeigt, wie er den Schleier blitzschnell und auf eng be­grenzter Fläche lüften konnte. Der Kontakt seiner Körpermaterie mit der Umwelt er­zeugte eine kräftige Explosion. Kolphyr ver­lor dabei wahrscheinlich nur einen Hautfet­zen, der selbst mit dem Mikroskop schwie­rig zu entdecken gewesen wäre. Aber wer immer sich sonst noch im Bannkreis der Ex­plosion befand, um den war es geschehen.

Um Kolphyr brauchte ich mich nicht zu kümmern. Er verband eine überwältigende Fähigkeit, sich gegen alle Unbill zu verteidi­gen, mit einem hellen, überlegenen Ver­stand, der ihn in die Lage versetzte, in nahe­zu jeder Lage die richtige Entscheidung zu treffen. Insgeheim hegte ich eine gewisse Art von Bewunderung für den Bera. Diese Welt mußte ihm unsagbar fremd sein – viel fremder noch als etwa mir. Trotzdem be­wegte er sich in ihr mit einer Heiterkeit und Gelassenheit, als fühle er sich zu Hause.

Kolphyr war in Ordnung. Es war Koy, um den ich mir Sorgen machte!

Wir erreichten schließlich unser Ziel. Als erstes schritten wir einmal die gesamte Peri­pherie der kleinen Pyramide ab. Der graue Stahl, aus dem sie bestand, war im Lauf der Jahrtausende korrodiert. Furchen waren ent­standen, in denen der Wind Erdreich ange­sammelt hatte. Die dünne Erdschicht bot ei­ner niedrigen Moosart Halt und Nahrung. Mehr als die Hälfte der Pyramide war von Moos überwuchert.

Razamon blieb stehen. »Riechst du was?« fragte er mißtrauisch. Das war in der Tat so. Die kleine Pyrami­

de strömte einen merkwürdigen Geruch aus. Ein Teil davon war der Gestank von altem Metall, das ständig einer feuchten Atmo­sphäre ausgesetzt ist. Aber der andere Teil war unerklärlich, fremdartig. Nicht etwa ab­stoßend. Ganz einfach fremd.

»Ich rieche es«, antwortete ich auf Raza­mons Frage.

»Meinst du, es kommt aus dem Innern der Pyramide?«

»Ich weiß nicht. Ich habe keine Öffnung gesehen.«

»Das ist es eben. Wenn wir Fenrir dabei hätten – er hätte das Loch längst gefunden!«

»Welches Loch?« »Das Loch, aus dem der merkwürdige

Geruch kommt!« Seine Logik war zweifelhaft. Aber im Au­

genblick hatte ich keine Lust, mit ihm zu ar­gumentieren. Wir schritten den Rand der Py­ramide ein zweites Mal ab, diesmal mit wa­chen Nasen. Und tatsächlich fanden wir, daß die Intensität des fremdartigen Geruchs ent­lang der Peripherie der Pyramide variierte.

Dort, wo er am stärksten war, begannen wir zu suchen. Der Geruch schien einen be­fruchtenden Einfluß auf das Moos zu haben. Auf jeden Fall war gerade da, wo wir mit der Suche anfingen, der Moosbewuchs am stärksten. Razamon zog sein Breitschwert und schabte mehrere Quadratmeter Moosfla­den von der Oberfläche der Pyramide ab.

Und schließlich fanden wir, wonach wir suchten. Ein rechteckiger Umriß erschien in der korrodierten Stahloberfläche. Ich lehnte mich dagegen. Das Metall gab nach. Ich stolperte in einen finsteren Raum, dessen Ausmaße kaum mehr als anderthalb mal an­derthalb Meter betrugen.

»Eine Schleuse«, sagte ich. »Das äußere Schott ist beschädigt.«

Gleichzeitig bemerkte ich, daß der fremd­artige Geruch um mehrere Nuancen intensi­ver geworden war.

Razamons Logik mochte zweifelhaft ge­

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wesen sein – aber er hatte recht behalten.

*

Das innere Schleusenschottt stand dem äußeren an Unzuverlässigkeit kaum nach. Es ließ sich einfach zur Seite schieben. Dieses Beiboot wäre im Vakuum des Weltalls nichts mehr wert gewesen. Der Zustand die­ser einen Schleuse gab mehr als deutlich zu verstehen, daß das Fahrzeug seit Tausenden von Jahren nicht mehr in Gebrauch gewesen war und keine Wartung mehr genossen hat­te.

»Heh, da hinten ist Licht!« rief Razamon. Durch das innere Schott waren wir auf

einen schmalen Gang geraten, der sich auf der Ebene der Pyramidenbasis bewegte. Der Beginn des Ganges war finster, aber im Hin­tergrund gab es einen Lichtschimmer.

Wir eilten darauf zu. Wir kamen an eine Stelle, an der der Gang halbwegs durch ein metallenes Schott verschlossen war. Hinter der Öffnung quoll die Helligkeit hervor. Wir zwängten uns hindurch und befanden uns in einem quadratischen Raum, der wenigstens die Hälfte der Pyramidengrundfläche be­deckte und voller Gerät stak, das uns absolut fremdartig erschien.

Wir sahen uns um. »Was auch immer das sein mag«, be­

merkte Razamon, »es ist total verrottet!« Er hatte recht. Die Einrichtung des Raum-

es bestand aus metallenen Kästen, deren Oberfläche eine grünliche Färbung ange­nommen hatte. An verschiedenen Stellen war die Verkleidung aufgebrochen. Kabel­stränge kamen zum Vorschein. Die verschie­denen Kabelfarben waren noch vage unter­scheidbar. An anderen Stellen hatte sich das Moos angesiedelt, dessen Sporen offenbar von draußen hereingeweht worden waren. Hier, im Lampenlicht, war das Gewächs von hellgrüner, fast gelblicher Farbe.

Es roch nach Feuchtigkeit, Moder und ab­gestandener Luft.

»Ich glaube nicht, daß wir hier den Steu­ermechanismus finden«, bemerkte ich.

Kurt Mahr

Razamon hatte sein Breitschwert längst wieder fortgesteckt. Ihn interessierte die Stelle, an der die Verkleidung eines der Ka­sten aufgesprungen war und die Verkabe­lung freilegte.

»Warte noch einen Augenblick!« bat er. »Siehst du das hier?«

Ich trat näher. Er zeigte auf einen Kabel­strang, dessen Bestandteile einst wie ein mehrfacher Regenbogen geleuchtet haben mußte – nach den verblichenen Farbtönen zu schließen, deren Reste jetzt noch auf den Isolierungsoberflächen der Drähte zu sehen waren.

»Schau hin!« forderte Razamon mich auf. Ich hätte es nicht gesehen, wenn Razamon

nicht mit dem Finger darauf gezeigt hätte. Was ich sah, war ein Fächer winziger Fäden, die von schmutzigweißer Farbe waren, – mit einem Schimmer ins Gelbliche. Sie wucher­ten rings um den Kabelstrang. Als ich den Strang ein wenig zur Seite zog, sah ich, daß sie in das Innere des Kastens hineinreichten: Sie waren elastisch. Wenn ich an ihnen zog, dehnten sie sich. Sie rissen nicht ab.

»Ein Gewächs«, schloß ich. »Es hat sich einen merkwürdigen Platz

ausgesucht«, sagte Razamon. »Da drinnen ist es ziemlich finster. Welches Gewächs würde sich ausgerechnet hier ansiedeln?«

Ich nehme an, mein Gesichtsausdruck gab ihm klar zu verstehen, daß ich von niemand und nichts, das mir auf Pthor begegnete, ver­langte, daß es meinen Vorstellungen von lo­gischer Daseinsberechtigung genüge.

»Ich meine«, kommentierte er, »keine Pflanze wäre dumm genug, sich gerade da anzusiedeln, wo sie die geringsten Überle­bensaussichten hat – oder nicht?«

Ich blieb dabei. »Von Pflanzen auf einer normalen Welt

würde ich das ohne weiteres behaupten. Aber von einer Pflanze auf Pthor?«

Er machte eine mißmutige Geste. »Wofür hältst du das hier?« wollte er wissen.

»Wenn die fremden Erbauer dieses Raumschiffs etwa nach denselben Prinzipien arbeiteten, wie wir es tun, dann würde ich

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sagen, das hier müßte der Triebwerkssektor sein. Immerhin befinden wir uns an der Ba­sis der Pyramide. Wo anders hätten die Triebwerke sonst angebracht werden sol­len?«

»Wenn das ein Triebwerkssektor ist«, murmelte er, »kannst du dir vorstellen, wie schwierig es sein wird, den Steuermechanis­mus zu identifizieren? Ich meine – sieht das hier wie eine Triebwerksabteilung aus?«

Er breitete die Arme aus und machte eine Geste, die das gesamte verrottete Durchein­ander umfaßte. Ich verstand, was er meinte. Die Technologie, der dieses Fahrzeug ent­stammte, war von der unseren so weltenweit verschieden, daß keinerlei Gemeinsamkeit vorhanden zu sein schien.

»Laß uns die Hoffnung noch nicht aufge­ben«, riet ich. »Am besten fangen wir damit an, daß wir nach Ähnlichkeiten der Kon­struktionsweisen suchen. Wenn es welche gibt, werden sie uns helfen, uns rascher zu­rechtzufinden.«

»Wie meinst du das?« fragte er. »Dieser Raum liegt in der Mitte der Pyra­

midenbasis. Er enthält also die Längsachse der Pyramide. Wenn ich dieses Boot zu er­bauen gehabt hätte, wäre in die Mitte des Ganzen ein Verbindungsschacht gekommen, durch den sich der vertikale Verkehr be­wegt. Laß uns suchen, ob es so etwas gibt!«

Nach dem Augenmaß ermittelten wir den Mittelpunkt des Raumes. Dort befand sich ein großer Metallkasten, der bis zur Decke hinaufreichte. Er war das einzige Gebilde, dessen Oberfläche der korrodierenden Wir­kung der Jahrtausende einigermaßen stand­gehalten hatte.

Razamon begutachtete ihn mißtrauisch von allen Seiten. Der Mißerfolg machte ihn anscheinend zornig. Ich sah, wie er ausholte und mit voller Wucht gegen die Kastenwand trat. Das Resultat war überaus verblüffend. Zunächst gab es einen donnernden Krach. Der Kasten geriet ins Wanken und sackte in sich zusammen. Eine Staubwolke stob auf und hüllte die Szene vorübergehend ein. Als sich die Sicht klärte, stand Razamon bis zu

den Knien in einem Trümmerhaufen aus rostzerfressenen Metallstücken. Der Kasten war nicht mehr da. Sein stabiles Äußeres hatte getäuscht. Von innen her hatte der Rost alles bis auf eine hauchdünne Metallschicht zerfressen.

Statt des Kastens war jedoch etwas ande­res zu sehen: Eine Leiter, die vom Boden bis hinauf zu einem runden Loch in der Decke reichte. Razamon, der seine Überraschung bald überwunden hatte, war schon dabei, sie auszuprobieren. Sie bestand aus einer Art Kunststoff und war erfreulich stabil.

Der Pthorer nickte mir grinsend zu. »Eins zu null für dich!« sagte er. »Es gibt

also Ähnlichkeiten!«

*

Razamon überließ mir den Vorrang. Auf der Leiter nützte ihm, falls wir angegriffen wurden, das Schwert so gut wie nichts. Ich dagegen trug wenigstens den Anzug der Vernichtung. Ich traute der uralten Kletterin­stallation nicht so recht und nahm die ersten zwei Sprossen mit äußerster Vorsicht. Die Leiter hatte zwei Holme, die in rund einem halben Meter Abstand parallel zueinander verliefen. Die Sprossen waren kräftig und nicht mehr als jeweils vierzig Zentimeter voneinander entfernt. Das Produkt hätte aus einer terranischen Werkstatt kommen kön­nen. Die fremden Erbauer dieses Fahrzeugs waren anscheinend, zumindest was ihren Fortbewegungsmechanismus anging, von uns nicht allzu verschieden.

Die Decke des Raumes lag in etwa drei Metern Höhe. Ich steckte den Kopf durch das runde Loch und blickte, sozusagen aus der Froschperspektive, in das nächsthöhere Deck. Viel war da nicht zu sehen. Die Leiter lief weiter. Abermals drei Meter über mir gab es weiteres Loch in einer weiteren Decke. Ansonsten blickte ich in einen kreis­runden Raum, dessen Durchmesser viel­leicht drei Meter betrug und dessen Zentrum die Leiter bildete. Ringsum war er von dunklen Metallwänden abgeschlossen. Tü­

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ren oder Schotte konnte ich nirgendwo er­kennen. Die Korrosion schien hier weniger gewütet zu haben als unten im Triebwerks­sektor.

»In Ordnung!« rief ich Razamon zu. »Komm nach!«

Ich trat von der Leiter weg auf den metal­lenen Rundsteg, der das Schachtloch um­rahmte. Erst dabei fiel mir auf, daß die Hel­ligkeit, die mich umgab, nicht durch das Loch aus dem tiefergelegenen Raum herauf­drang, sondern aus versteckt angebrachten Leuchtkörpern in der Decke kam.

Wenn man in dem jahrtausendealten Wrack eines ehemaligen Raumschiffs das Licht brennen sieht, macht einen das stutzig. Die Lampen waren nicht von der fluoreszen­ten Art, wie sie gegenwärtig in der terrani­schen Raumfahrt verwendet wurden. Sie verbreiteten ein gelblich-weißes Licht, und die eigentliche Lichtquelle war auf ein win­ziges Volumen konzentriert.

Razamon stand auf der Leiter und sah sich neugierig um.

»Hast du die Wände schon ausprobiert?« fragte er.

»Noch nicht.« »Immer nur zu! Hier ist alles verrottet und

verrostet! Leiser Druck genügt, um selbst die stabilste Struktur zum Zusammenbruch zu bringen!«

Ich folgte seinem Rat. Ich lehnte mich ge­gen die Metallwand, preßte die Schulter da­gegen, kickte und trat – nichts!

»Laß mich das machen!« verlangte Raza­mon.

Er schwang sich von der Leiter auf den Rundsteg, nahm einen kurzen Anlauf und trat mit voller Wucht gegen die Wand.

Das Schicksal ist für die Unvoreingenom­menen. Das Wunder geschah: Die Wand öffnete sich. Diesmal brach sie nicht zusam­men, es schwenkte vielmehr ein rechtecki­ges Stück von vielleicht zwei Metern Höhe und einem Dreiviertelmeter Breite nach in­nen. Zweifellos handelte es sich um ein Schott. Razamons Gewaltakt hatte den Ver­riegelungsmechanismus zerbrochen. Es war

Kurt Mahr

weiter nichts als Glück, daß er auf Anhieb die richtige Stelle gefunden hatte. Er wußte es ebenso gut wie ich. Trotzdem grinste er mich hämisch an.

»Nicht jedem lacht die Göttin des Glücks!« spottete er.

Mir fiel auf, daß auch in dem Raum jen­seits des Schottes das Licht brannte.

*

Der Raum war in Wirklichkeit ein Gang. Er führte zur Peripherie des Raumboots. Mit fast zwei Metern war er ungewöhnlich breit für einen Korridor an Bord eines kleinen Raumfahrzeugs. Wie alles in diesem Boot, so bestanden auch hier Wände, Decken und Boden aus Metall. Die Wände zumal waren aus langen, rechteckigen Metallplatten ge­bildet.

Razamon zog das kurze Schwert und klopfte sie ab. Vor einer Platte, die einen merkwürdigen Ton von sich gab, blieb er stehen. Er drehte das Schwert um und schlug mit dem Knauf zu. Die Platte verbog sich. Ein Eck trat hervor. Razamon packte es und zog daran. Da löste sich die Platte mit krei­schendem Geräusch aus der Wand und pol­terte zu Boden.

»Sieh dir das an!« rief der Pthorer. Mit ein paar Schritten stand ich neben

ihm. Ich sah in einen Kabelstollen, der par­allel zu dem Korridor verlief, in dem wir uns befanden. Etwa zwanzig starke Kabel, die einst zu einem Strang gebündelt gewesen waren, liefen den Stollen entlang. Sie waren durch dick aufgetragene Isolatorschichten gegeneinander geschützt. Die Isolation hatte einst einem gewissen Farbkode gehorcht. Jetzt jedoch waren die Farben verblichen, und an einigen Stellen war die Isolation selbst zerstört.

Aber das war es nicht, was Razamon ge­meint hatte. Der ganze Kabelstrang war von einem hauchdünnen Gespinst jener Substanz umgeben, die wir unten im Triebwerkssektor zum ersten Mal bemerkt hatten. Die Fäden des Gespinsts waren von schmutzigem

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Weiß. An manchen Stellen verwuchsen sie zu einem kleinen Knoten und bildeten von da an einen stärkeren Strang.

Mir wurde mit einemmal klar, daß es mit diesen fahlweißen Fäden etwas Besonderes auf sich haben mußte. Ich war nicht eben überzeugt gewesen, als ich unten im Trieb­werkssektor von den Pflanzen auf Pthor ge­sprochen hatte, die nicht weniger unbere­chenbar waren als die Menschen, die auf diesem Felsbrocken lebten.

Jetzt aber war ich sicher, daß sie eine ganz bestimmte Bedeutung hatten. Ich trat näher heran und untersuchte das Gespinst. Da sah ich, daß überall dort, wo an den ur­sprünglichen Kabeln die Isolierung aufge­brochen war, einer der blassen Fäden durch den Riß drang, als suche er den Kontakt mit dem Metall des Kabels. An einer Stelle la­gen mehrere Risse in der Isolation auf eng­stem Raum nebeneinander. Aus jedem drang einer der Fäden hervor. Ein paar Zentimeter von dem Kabel entfernt vereinigten sie sich zu einem Knoten, aus dem ein ziemlich star­ker Strang in den Hintergrund des Kabelstol­lens lief.

Ich packte den Knoten und zerrte daran. »Au weh!« Ich war so überrascht, daß ich sofort wie­

der losließ. »Was ist los?« fragte Razamon. »Hast du

geschrien?« »Geschrien? Was geschrien?« »Au weh!« Er musterte mich mit eigenartigem Blick. »Du hast vielleicht nicht genug geschla­

fen«, sagte er scheinheilig besorgt. »Oder die Luft bekommt dir nicht. Hast du …«

»Hör auf mit dem Geschwätz!« fiel ich ihm ins Wort. »Hast du geschrien oder nicht?«

»Natürlich nicht!« »Hast du etwas gehört?« »Auch nicht.« Ich dachte an den Ruf, den ich vor dem

Einschlafen gehört hatte – wie viele Stunden war das her?

Ich glaubte, den Ausruf »Au weh« gehört

zu haben. In Wirklichkeit hatte es nur einen telepathischen Impuls gegeben, abgesandt von einem denkenden Wesen, das intensiven Schmerz empfand. Mein Verstand hatte den Impuls interpretiert und mir den Eindruck vermittelt, die Ohren hätten das akustische Signal »Au weh« empfangen.

Noch mehr: Der Verstand hatte die Rich­tung angepeilt, aus der der Impuls kam. Ich hatte ganz eindeutig den Eindruck, der Ruf sei von oben gekommen.

Razamon war verblüfft, als ich mich um­wandte und in Richtung des Leiterschachts davoneilte.

»Wo willst du hin?« rief er. Ich antwortete nicht. Er folgte mir trotz­

dem.

*

Das nächsthöhere Deck sah anders aus. Der Schacht mündete unmittelbar in einen runden Raum, der einen Durchmesser von fast fünfzehn Metern besaß. Ich wußte, so­bald ich den Kopf durch das Schachtloch steckte, daß wir den Kontrollraum des Bei­boots erreicht hatten. An den Wänden ent­lang waren kastenartige Konsolen angeord­net. Davor standen im Boden verankerte, wahrscheinlich drehbare Sessel, die mit Gurtvorrichtungen versehen waren und ei­nem Menschen wahrscheinlich nicht unbe­quem gewesen wären. Über den Konsolen gab es mehrere große Bildschirme. Sie wa­ren blind. Aber auch dieser Raum war, wie alle anderen Räume an Bord des Beiboots, hell erleuchtet.

Razamon kam hinter mir hergekeucht. »Was willst du hier?« stieß er hervor. »Sei nicht lächerlich! Siehst du nicht, daß

dies hier der Kontrollraum des Fahrzeugs ist?«

Er sah sich um. »Du hast recht! Also machen wir uns an

die Arbeit!« Er schritt auf die Konsole zu, die ihm am

nächsten stand. Sie trug in ihrem Mittelteil eine Tastatur, die aus etwa dreißig Tasten

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bestand. Auf den Oberflächen der Tasten waren Symbole eingraviert, die im Lauf der Jahrtausende verblichen und fast ausge­wischt waren.

Ehe ich den Pthorer hindern konnte, hatte er von neuem sein Schwert gezogen und hämmerte mit voller Wucht auf die Verklei­dung der Konsole ein. Er hatte bald Erfolg. In dem dünnen Metallgehäuse entstand ein Riß. Razamon fuhr mit dem Schwert hinein und stemmte ihn auf. Er arbeitete mit grim­miger Entschlossenheit. Stück um Stück lös­te sich das Gehäuse des Konsolenkastens. Nur ein Gerüst blieb stehen. Razamon führte den letzten Streich und fällte das einzige Hindernis, das den Blick ins Innere des Ka­stens noch verwehrte.

Dann trat er zur Seite und rief triumphie­rend:

»Komm her und schau, was wir gefunden haben!«

Für mich war es keine Überraschung. Ich hatte es erwartet. Der Kasten unter der Kon­sole bestand in der Hauptsache aus kompli­zierter Verkabelung. Sie war eingehüllt in ein wucherndes Gewebe aus schmutzigwei­ßen Fäden. Die Fäden waren allgegenwärtig. Sie drangen bis in die letzte Fuge des Ka­stens. Sie quollen aus dem Gerüst hervor, als wären sie zu lange eingesperrt gewesen und sehnten sich nach dem Licht, das von der Decke strahlte. Sie bewegten sich wie die Extremitäten eines lebenden Wesens.

»Du stehst nicht nahe genug!« rief der Pthorer mir zu. »Sieh dir das an!«

Er stach mit dem Schwert in das Gespinst und zog es auseinander. Im Hintergrund wurde ein Knoten sichtbar, in dem Hunderte von Strähnen des unheimlichen Gewebes zusammenliefen. Der Knoten war ein annä­hernd kugelförmiges Gebilde mit einem Durchmesser von rund fünfzehn Zentime­tern. Er hing in der Luft, von weiter nichts gehalten als von den Fäden, die in ihm mün­deten.

»Wir werden sehen, was es damit auf sich hat!« knurrte Razamon wütend.

Das breite Schwert blitzte durch die Luft.

Kurt Mahr

Das Gespinst schnellte in seine frühere Form zurück und verbarg den Knoten. Aber die Schneide des Schwertes war scharf. Es durchtrennte die Strähnen und traf mit kaum gebremster Wucht auf den Knoten.

Es ging alles so schnell, daß meine War­nung viel zu spät kam. Ich ahnte – nein, ich wußte, daß Razamons Ungestüm gefährlich war. Ich schrie. Aber im selben Augenblick stieß ein anderes Bewußtsein einen gellen­den Schmerzensschrei aus, der so gewaltig war, daß er mich fast betäubte. Ich taumelte. Halb benommen hörte ich, wie ein helles, durchdringendes Summen den runden Raum erfüllte. Vor der Konsole, auf die Razamon mit seinem Schwert eindrosch, entstand eine Zone intensiven Flimmerns. Razamon selbst stand einige Sekunden lang starr wie eine Statue. Dann machte er eine ruckartige Be­wegung, als wolle er sich nach hinten wer­fen. Der Versuch schlug fehl. Er hatte noch immer das Schwert in der Hand. Eine frem­de Kraft, die aus dem Innern der Konsole wirkte, hatte die Waffe in ihren Bann gezo­gen.

»Laß los!« schrie ich. Aber Razamon hörte mich entweder nicht,

oder er hatte nicht mehr genug Verstand, um meinen Rat zu befolgen. Er wurde vorwärts gerissen. Dann stieß er einen entsetzlichen Schrei aus und stürzte zu Boden. Die Hand mit dem Schwert stak immer noch im Innern des Kastens.

Ich sprang hinzu. Im selben Augenblick, als ich Razamon berührte, wurde mir klar, daß ich mich wie ein Narr benahm. Raza­mons Körper stand unter elektrischer Span­nung. Ein Schock durchfuhr mich wie ein glühender Peitschenschlag. Ich zuckte zu­sammen.

Vielleicht war das, was Razamon das Le­ben rettete. Der Ruck beförderte Arm und Schwert aus dem Innern des Kastens. Raza­mon, bewußtlos, fiel hintenüber. Und mit ihm fiel ich. Ich spürte nicht mehr, wie ich aufprallte. Der Schock war intensiv genug gewesen, um mein Bewußtsein auszulö­schen.

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23 Der Steuermann von Pthor

5.

Die vier Odinskinder hatten die FE­STUNG inspiziert und dort alles so gefun­den, wie es ihnen geschildert worden war. Nichtsdestoweniger war es ihnen im Innern der großen Pyramide unheimlich, wiewohl dort Helligkeit und eine angenehm frische Atmosphäre herrschten, während es draußen halbdunkel war und die kühle, mit Feuchtig­keit gesättigte Luft Unbehagen bereitete.

»Laßt uns zum Lagerplatz zurückkehren!« schlug Sigurd vor, der in den vergangenen Stunden einen Großteil der Initiative an sich gerissen hatte. »Die Fremden sollen die er­sten sein, die von uns erfahren, daß ab sofort Odins Kinder die Herrscher von Pthor sind.«

»Ich glaube, soviel vermuten sie schon«, reagierte Thalia, nicht eben begeistert von ihres Bruders Ansinnen. »Heimdall hat laut genug gesprochen, als wir ihnen zum letzten Mal begegneten.«

Sigurd musterte die Schwester mit spötti­schem Blick.

»Du scheinst nicht sehr angetan von dem Schicksal, das wir uns mit den eigenen Waf­fen erkämpft haben«, sagte er. »Liegt dir nichts an der Macht? Ist es, weil du nicht Honir bist, sondern eben – nur eine Frau?«

Thalia blitzte ihn zornig an. »Eines Tages, mein Bruder«, fauchte sie,

»wirst du in eine Lage kommen, in der du tausendmal jede Gelegenheit bereust, bei der du mir zu verstehen gegeben hast, ich sei nur eine Frau! Eines Tages wirst du in Not geraten, und niemand wird in der Nähe sein, dir zu helfen, außer mir!«

»Das weißt du so genau?« fragte Sigurd, immer noch spöttisch.

»Ja!« »Woher?« »Die Nornen weben an unserem Schicksal

– und die Nornen sind Frauen! Sie hören deine Beleidigungen.«

»Die Nornen gebieten nicht über das Schicksal«, wehrte Sigurd ab.

»Die Nornen weben jedermanns Schick­

sal, das der Menschen ebenso wie das der Götter! Wenn du übrigens wirklich ein Göt­tersohn wärest, warum hast du dann die Ty­rannei der Herren der FESTUNG so lange ertragen?«

Sigurd brauste auf. »Sie spricht wie der Fremde!« ereiferte er

sich. »Was sollen wir …« In diesem Augenblick setzte Heimdall die

Streitaxt Khylda mit scharfem Knall zu Bo­den.

»Was soll die Streiterei?« fragte er düster. »Noch haben wir die Macht nicht an uns ge­nommen, und schon herrscht Unfriede unter uns? Wir sind von Odins Blut! Uns gehört die Macht über Pthor – sie zu halten, bis Odin selbst zurückkehrt!«

Er wandte sich ab und schritt in Richtung des Ausgangs. Balduur und Thalia folgten ihm. Sigurd starrte eine Zeitlang verdrossen vor sich hin, dann schloß er sich an.

*

Als sie die FESTUNG verlassen hatten und draußen über die von Trümmern übersä­te Fläche zwischen der großen und den sechs kleinen Pyramiden stapften, begegnete ihnen eines der Robotwesen aus Wolterha­ven. Viele von ihnen, zumeist würdige Die­ner ihrer Herren, waren den Enkeln des Großen Oheims zur Verfügung gestellt wor­den. Sie hatten in der FESTUNG verschie­denartige Verrichtungen getan, für die sie besser geeignet waren als die Dellos. Wie diesen aber fehlte es ihnen jetzt plötzlich an den Anweisungen, die sie früher, als die Herren der FESTUNG noch lebten, fast pau­senlos erhalten hatten. So irrten sie ziellos umher, und wenn nicht bald etwas geschah, würde derjenige Teil ihrer Programmierung, den man auf Terra den »Timeout« nannte, sämtliche Roboter im Bereich der FE­STUNG lahmlegen.

Dieser Roboter glitt auf drei Beinen durch das unebene Gelände. Zwei davon besaßen Raupentriebwerke, die wie überdimensiona­le Rollschuhe wirkten. Das dritte, vordere

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Bein endete in einem Rad. Da die Beine mit Gelenken und das vordere Bein sogar mit gelenkiger Federung ausgestattet waren, be­reitete es dem Geschöpf aus Wolterhaven keine Schwierigkeit, sich über das höchst unebene Gelände zu bewegen, ohne daß sein eiförmiger, mit insgesamt sechs Armen aus­gestatteter Körper dabei auch nur im gering­sten ins Schwanken geriet. Dennoch schien der Roboter ganz und gar mit der Tätigkeit der Fortbewegung beschäftigt zu sein. Er hätte die vier Odinskinder einfach passiert, wenn Sigurd nicht zu sprechen begonnen hätte.

»Heh da, Robot aus Wolterhaven!« rief er. »Siehst du nicht deine Herren? Weißt du nicht, daß du uns Respekt schuldest?«

Der Roboter hielt an. Er wandte den Kopf, und die blitzenden Knöpfe in seinem Schädel, die zu seinem optischen Wahrneh­mungssystem gehörten, richteten sich auf Si­gurd.

»Ich habe nur einen Herren«, antwortete eine schlecht modulierte Stimme. »Das ist der Herr Geraint, einer der drei Herren mit den meisten Kugeln! Ich verstehe nicht, wo­von du redest.«

Sigurd war zum Spotten aufgelegt. »Wie lange ist es hier, daß du von dem

Herrn Geraint zum letzten Mal gehört hast?« fragte er. »Kommt es dir nicht manchmal so vor, als hätte der Herr Geraint dich im Stich gelassen?«

»Keineswegs«, antwortete der Roboter ru­hig. »Es gehörte zur Abmachung zwischen den Herrschern der FESTUNG und meinem Herrn Geraint, daß ich Anweisungen nur noch von den Herrschern empfangen wür­de.«

Die Gelassenheit des Roboters machte Si­gurd ärgerlich.

»Du bist der dümmsten einer!« fuhr er die Maschine an. »Die Herren der FESTUNG sind tot. Dein Herr Geraint meldet sich nicht. Ich sage dir: Wir sind deine Herren!«

»Das kann ich nicht anerkennen«, erklärte der Roboter beharrlich.

»Warum nicht?«

Kurt Mahr

»Weil ich dazu eine Anweisung meines Herrn Geraint brauche.«

»Aber der meldet sich doch nicht!« »Dann müssen es eben die Herren der FE­

STUNG mir sagen.« »Die sind tot!« »Dann kann ich dir nicht helfen.« Das brachte Sigurd vollends aus dem

Gleichgewicht. »Helfen?« schrie er voller Zorn. »Du

willst mir helfen? Ich bin dein Herr! Ich kann dir jeden Befehl erteilen, der mir in den Sinn kommt, und du mußt gehorchen. Du bist verwirrt! Du bist derjenige, der Hilfe braucht!«

»Wirklich?« sagte der Roboter und rollte davon.

Sigurd sah aus, als wolle er ihm nachei­len. Im letzten Augenblick besann er sich je­doch eines Besseren. Er stach die Garpa durch die Luft und knurrte:

»Mit der Zeit werden sie es schon begrei­fen!«

»Da hast du recht, Bruder«, antwortete Balduur mit trauriger Stimme. »Gib ihnen Zeit. Nicht jeder weiß, wohin er gehört – vor allen Dingen dann nicht, wenn die Verhält­nisse sich so rasch ändern wie in diesen Ta­gen. Wir sind die Herren. Gib den Geschöp­fen dieses Landes Zeit, sich an diese Vor­stellung zu gewöhnen.«

Dann wandte Balduur sich ab und rief in die graue Düsternis hinaus: »Fenrir …!«

*

Die Odinskinder überschritten den Kreis der sechs kleinen Pyramiden und bewegten sich über das Gelände, das einst der paradie­sische Garten gewesen war, der die FE­STUNG umgeben hatte.

Sie waren müde und erschöpft. Als sie die Geräusche eines großen Tieres hörten, das sich ihnen aus dem Halbdunkel näherte, war Sigurd der einzige, der sich kampfbereit machte. Aber das Tier entpuppte sich als Fenrir, nach dem Balduur gerufen hatte.

Der Wolf war, nach den Geräuschen zu

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urteilen, mit großer Geschwindigkeit heran­gekommen. Auf den letzten Metern jedoch wurde er langsamer, und als er sich Balduur näherte, bewegte er sich mit äußerster Vor­sicht.

Balduur musterte ihn mit starrem Blick. Als Fenrir heran war, ließ er die Hand auf den Schädel des Wolfes fallen und kraulte ihm die Stirn.

»Es ist gut, daß du wieder da bist, Fenrir«, sagte er. »Du hast mir gefehlt!«

Mehr wurde nicht gesprochen. Odins Kin­der schritten weiter durch den aufgewühlten Garten. Schließlich blieb Heimdall stehen. Er schleuderte die Khylda von sich, daß sie mit der Spitze in der Erde steckenblieb.

»Bis hierher«, verkündete er, »und keinen Schritt weiter! Ich bin zu müde!«

Es war, als hätten sie alle nur darauf ge­wartet, daß einer das erlösende Wort aus­sprach. Sie waren allesamt am Rand ihrer Kräfte angelangt. Sie warfen die Waffen von sich und streiften von den Rüstungen ab, was ihnen beim Schlafen hinderlich war. Dann sanken sie zu Boden, und es waren kaum zwei Minuten vergangen, da hatte der Schlaf sie übermannt.

Aber sie schliefen nicht ruhig. Eine Stim­me rief sie aus weiter Ferne, und als sie die Stimme hörten und die Augen öffneten, da sahen sie Odin, den Vater, in einem Kreis aus Feuer stehen. Und sie hörten seine Wor­te:

»Der Augenblick ist gekommen, meine Söhne, daß ihr das Erbe antretet! Ihr seid die rechtmäßigen Herren von Pthor. Euch ge­bührt es, in der FESTUNG zu wohnen und alle Bewohner dieses Landes als Untertanen zu haben. Sie schulden euch Treue und Ge­folgschaft. Und ihr habt die Pflicht, ihnen ehrliche Herren zu sein. Es geziemt euch nicht, Herrschsucht oder Grausamkeit zu zeigen. Ihr seid die Herren über die Men­schen des Landes, und sie sollen wie die Kinder sein, über deren Wohlergehen ihr hü­tet. Es soll alles, Herren und Diener, ein Volk sein, das zusammen steht und zusam­men fällt.«

Er schwieg, und sie waren alle beein­druckt von seinen Worten. Dann aber sprach Heimdall:

»Sag uns – sollen wir tun, Vater?« »Zieht in die FESTUNG ein! Besteigt den

Thron, den die Neidinge, die Enkel des Großen Oheims, an sich gerissen hatten! Laßt das Land wissen, daß Odins Söhne von jetzt an die Herren sind!«

»Wer, Vater?« drängte Heimdall. »Welcher von uns soll den Thron bestei­gen?«

Da wurde Odins Miene düster, und aus seinen Augen funkelte es zornig.

»Wer von euch?« rief er so laut, daß es weithin über das Land hallte. »Wer von euch hält sich für besser als seine Brüder? Warum könnt ihr nicht alle herrschen! Warum soll es Streit unter Odins Söhnen geben, wenn doch die Herrschaft eine so schwere Bürde ist, daß vier Schultern an ihr besser tragen als eine?«

»Ich verstehe, Vater!« antwortete Heim­dall.

»Das ist gut!« donnerte Odin. »Denn Neid unter meinen Söhnen ist das schlimmste Un­heil, das dieser Welt widerfahren kann!«

Der Feuerkreis erlosch. Odins Gestalt ver­schwamm, das graue Halbdunkel nahm von dem Ort Besitz, an dem er eben noch gestan­den hatte.

Odins Kinder schliefen wieder ein. Sie ruhten mehrere Stunden lang, und als sie er­wachten, fühlten sie sich gekräftigt – weni­ger von der Ruhe als von den Worten ihres Vaters, die ihnen die Richtung gewiesen hat­ten. Sie wußten nun, daß sie in der Tat dazu ausersehen waren, über Pthor zu herrschen. Die Zweifel, die vor kurzer Zeit noch ihre Gedanken beherrscht hatten, waren ver­schwunden.

Das galt insbesondere für Balduur, Heim­dall und Sigurd.

Thalia dagegen, obwohl sie sich ebenfalls gestärkt fühlte, war gleichermaßen verwirrt. Odin und seine Söhne – das war ein Ge­heimkult, dem sie sich anzuschließen ver­sucht hatte, indem sie ihre Weiblichkeit ver­

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leugnete und den Namen und die Gestalt Honirs annahm. Es war ihr nicht klar, wen sie mit ihrer Maskerade eigentlich hatte täu­schen wollen. Denn ihre Brüder wußten längst, daß sich hinter Honirs Maske ein Weib verbarg. Und ihrem Vater, dem nahe­zu Allwissenden, war ihr Versteckspiel auch nicht verborgen geblieben.

Thalia wollte ein Teil des Kultes sein, aber in ihrem Herzen blieb der Kult ihr fremd. Sie begann zu zweifeln, ob es Odin, den Vater, überhaupt jemals gegeben habe. Sie sah, daß ihre Brüder sich in eine Legen­de verstrickt hatten, aus deren tückisch ge­wobenem Gespinst sie nicht mehr entkom­men konnten. Und sie selbst, indem sie sich Mühe gab, ein Teil des Kults zu sein, ver­strickte sich ebenfalls in dieses Gewebe.

Denn das, was sie im Schlaf erlebt hatten, war nicht wirklich eine Manifestation des Göttervaters gewesen. Sie hatten eine Hallu­zination gehabt. Das Legendengespinst hatte sie in ihren Bann geschlagen. Sie hatten Odin, den Vater, gesehen, weil sie ihn sehen wollten. Sie hatten seinen Rat erhalten, weil sie seinen Rat begehrten. Vater Odin, wie er ihnen im Schlaf erschienen war, war weiter nichts als eine Ausgeburt ihrer verwirrten Bewußtseine. Odin – zumindest den Odin, den sie vor wenigen Stunden gesehen hatten – gab es nicht. Er war ein Produkt ihrer Phantasie. Und so wunderbar, durch das Ge­spinst der Legende verbunden, wirkten ihre Bewußtseine zusammen, daß sie alle diesel­be Halluzination erlebten!

Sie brachen auf. Der alte Lagerplatz, an dem sie die Fremden vermuteten, war ihr Ziel.

Der Wolf schritt an Balduurs Seite. Die Brüder waren guter Laune. Balduur hatte die Traurigkeit von sich geworfen, und Heim­dall sprach nicht mehr in düsteren Orakeln. Ihr Lachen hallte durch das Halbdunkel.

Hinter ihnen schleppte sich Thalia. Ihre Rüstung schepperte.

*

Kurt Mahr

Nach einiger Zeit erreichten sie die Erhö­hung, auf der sich der alte Lagerplatz be­fand. Von denen, die sie bei sich selbst »die Fremden« nannten, waren aber nur zwei da: der Riese, der Kolphyr oder auch Gloophy genannt wurde, und der kleine Mann mit den zwei Hörnern auf der Stirn: Koy, der Trommler.

»Wo sind die beiden anderen?« fragte Heimdall barsch.

Kolphyr grinste freundlich. »Sintie schon seit langer gefortgangen«,

antwortete er in wunderlichem Pthora. »Wohin?« wollte Heimdall wissen. »Was gehterdich an?« antwortete Kolphyr

freundlich. Heimdall wollte aufbrausen. Aber aus den

Augen des Fremden, die durch Lücken in dem eigentümlichen Schleier leuchteten, glitzerte es gefährlich. Da überlegte es Heimdall sich anders. In fast verbindlichem Tonfall erklärte er:

»Wir sind die neuen Herren von Pthor. Wir sind für das Wohlergehen unseres Vol­kes verantwortlich. Wir machen uns Sorgen um Atlan und Razamon. Sie könnten sich in Gefahr befinden!«

Kolphyr lächelte. »Glaubter ich nicht, daß Atlan und Raza­

mon ihm betrachten als Männer vom deine Volk«, sagte er. »Aber werden trotzdem ge­halten dir viel Dankbarkeit und Verpflich­tung für Sorge deinem.«

Das war in etwa die längste Ansprache, die der Bera je auf Pthora gehalten hatte. Ihr Sinn war verständlich, trotz des Kauder­welschs, dessen er sich bediente.

Heimdall war mit der Art und Weise, wie sich die Situation entwickelte, nicht zufrie­den. Er fühlte sich von dem fremden Riesen verspottet. Er empfand die Notwendigkeit, diesen Ort nicht eher zu verlassen, als bis er die Überlegenheit seiner Position unter Be­weis gestellt hatte.

»Ich habe keine Zeit, auf die beiden Bur­schen zu warten«, erklärte er. »Ich gebe dir hiermit einen Befehl.«

»Gibter mir einen Befehl«, antwortete

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Kolphyr gut gelaunt. »Wie heißter, Befehl?« »Wenn sie zurückkommen, sag' ihnen daß

Odins Kinder die Herrschaft über Pthor an­getreten haben und daß sie von nun an unse­re Knechte sind.«

Kolphyr nickte. »Werde ich sagen«, versprach er. »Und

was sollen dann machen, Atlan und Raza­mon? Die Kratzfuß? Die Bückling?«

Heimdall zog es vor, die Unterhaltung zu beenden. Er wandte sich um und stapfte da­von. Balduur, Sigurd, Fenrir und schließlich auch Thalia folgten ihm. Der Machtantritt der Odinskinder stand offenbar nicht unter einem guten Stern. Es gab in der Gegend der FESTUNG zu viele, die nicht den nötigen Respekt hatten.

*

Die Gestalten der Odinssöhne waren im Halbdunkel verschwunden. Plötzlich sprang Koy auf.

Kolphyr sah ihn grinsend an. »Was machst du?«

»Ich halte es hier nicht mehr aus«, ant­wortete der Trommler. »Ich bin voller Unru­he. Ich muß diesen Ort verlassen!«

»Anderswo schöner, meinst du?« »Ich weiß es nicht. Hier riecht die Luft

nach Gefahr und Gewalttat, und der Boden dampft von Blut. Es liegt mir wie eine Last auf der Seele. Der Kampf um die Macht wird entbrennen. Ich will das nicht mit anse­hen! Ich will fort von hier?«

»Wohin gehen?« Koy machte eine ungewisse Geste. »Ich war der Jäger der Herren der FE­

STUNG. Ich kenne viele Plätze. Jetzt, da es die Herren nicht mehr gibt, brauche ich ih­ren Zorn nicht zu fürchten. Ich kann tun, was mir beliebt.«

Plötzlich kam ihm eine Idee. Er lächelte – das erste Mal seit langer Zeit.

»Ich wette, Amshun sehnt sich nach mir!« »Wer ist Amshun?« »Mein Pflegevater.« »Wo lebt er?«

»In Aghmonth.« »Weit von hier?« »Fünf bis sechs Tagesmärsche.« »Dann sollst du gehen!« Der Trommler sah Kolphyr überrascht an. »Meinst du das wirklich?« fragte er. »Natürlich mein' ich das!« »Und du glaubst nicht, daß Atlan und

Razamon es mir als Feigheit auslegen wer­den, als Verrat?«

Kolphyr machte eine großspurige Geste. »Was ist Feigheit? Was ist Verrat? Wir

kommen zurecht, ohne dich!« Der Trommler strahlte. »Ich danke dir, Kolphyr! Du machst mir

das Herz leicht!« Der Bera war bester Laune. Er kauder­

welschte wieder: »Machter ich dir leichtes Herz, freuter

mich um so mehr! Also geh!« Das ließ sich Koy nicht zweimal sagen. Er

machte sich auf den Weg. Er trug kein Ge­päck außer der Gesäßtasche, die ihm vom Gürtel baumelte. Kurz bevor er in der Dü­sternis verschwand, wandte er sich noch ein­mal um und winkte Kolphyr zu.

*

Zunächst war es nur Verdrossenheit, die Thalia dazu bewegte, den Abstand zu ihren Brüdern immer größer werden zu lassen. Als sie sah, daß sich niemand nach ihr umdrehte, hockte sie sich auf einen niedrigen Fels­block, stützte die Ellbogen auf die Knie, das Kinn in die Hände und starrte vor sich hin.

Sie war voller Überdruß. Dieses Gefühl machte es ihr unmöglich, an irgend etwas Spaß zu haben, sich für irgend etwas zu be­geistern. Sie fühlte sich nutzlos und verlo­ren, und jedesmal, wenn sie an der schlottri­gen Rüstung hinabsah, empfand sie Wider­willen.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie stand auf. Die Vars-Kugel fiel mit

dumpfem Laut zu Boden. Der Helm flog nach rückwärts und traf mit lautem Schep­pern auf den Felsblock, auf dem Thalia eben

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noch gesessen hatte. Die Verschlüsse der Rüstung öffneten sich mit lautem Klicken. Ein Stück nach dem andern wurde abge­streift, und je mehr Stahl ringsum auf dem Boden lag, desto größer wurde Thalias Be­geisterung.

Sie fragte sich, warum ihr diese Idee nicht schon längst gekommen war. Sie fühlte sich erleichtert, fast erlöst. Sie genoß die kühle, feuchte Luft, die ihr über den Körper strich. Sie trug ein eng anliegendes Gewand aus leichtem Stoff. Sie fröstelte, aber die so un­erwartet gewonnene Freiheit erschien ihr dennoch kostbar.

»Und was geschieht jetzt?« fragte sie laut. Es überraschte sie, sich zu sich selbst

sprechen zu hören. Sie hatte nie in ihrem Le­ben Selbstgespräche geführt.

»Ich habe überhaupt in meinem Leben nicht viele Gespräche geführt«, bekräftigte sie.

Ein Gedanke schoß ihr durch den Sinn. Sie wollte Atlan aufsuchen und sich mit ihm unterhalten. Von allen Männern, die ihr je begegnet waren, hatte Atlan den größten Eindruck auf sie gemacht. Es war nur natür­lich, daß sie ihn jetzt, da sie über ihre Ein­samkeit nachzudenken begonnen hatte, zu sehen begehrte.

»Also machen wir uns auf den Weg!« re­dete sie sich zu.

Einen Augenblick lang erwog sie, die Vars-Kugel mitzunehmen, weil sie sonst keine Waffe besaß. Dann jedoch machte sie eine wegwerfende Handbewegung und sag­te:

»Ach was! Wer sieht schon eine Frau an, die eine eiserne Kugel mit sich herum­schleppt? Und wir wollen doch, daß er uns ansieht, oder nicht? Also …!«

Sie schritt den Weg zurück, den sie ge­kommen war. Nach einer Viertelstunde er­reichte sie den alten Lagerplatz.

Kolphyr stand auf, als er sie kommen sah. Er war sichtlich überrascht.

»Wie kommter hier in diese Einöde, die Schönheit?« fragte er.

»Ich bin Thalia«, wurde ihm geantwortet.

Kurt Mahr

»Thalia, der wo andermal ist der Honir?« erkundigte sich der Bera.

»Derselbe«, bestätigte Thalia. Die Sprechweise des Beras belustigte sie.

Sie fühlte den Drang, laut zu lachen. »Siebter jetzt viel schöner aus als vorhin«,

erklärte Kolphyr. »Sollter immer so 'rumlau­fen statt mit die Blech.«

»Ich werd's mir überlegen Fremder«, ließ Thalia ihn wissen. »Ich suche Atlan. Wo ist er?«

Da wurde Kolphyrs Gesichtsausdruck mißtrauisch.

»Ister wer, der fragt? Honir oder Thalia?« »Macht das einen Unterschied?« lachte

die Tochter Odins. »Und ob! Honir kriegter keine Antwort.

Gehten nichts an!« »Also gut: Thalia fragt.« Der Bera grinste. »Dachter mich schon. Atlan, ister gegan­

gen zu die kleine Pyramide dort, zusammen mit der Razamon.«

Sein Arm zeigte ins Halbdunkel. Der Um­riß des Bauwerks ließ sich eben noch erah­nen.

»Ich werde dort nach ihm suchen«, erklär­te Thalia.

»Da wirter vielen Freude haben«, meinte Kolphyr.

Thalia war sich nicht sicher, wie sie diese Bemerkung verstehen sollte. Aber selbst wenn sie spöttisch war, machte es ihr nichts aus.

Sie schritt auf die kleine Pyramide zu.

*

Sie hatte etwa die Hälfte des Weges zu­rückgelegt, da hörte sie zur linken Hand Ge­räusche. Sie wartete und sah schließlich eine Horde Dellos aus dem Halbdunkel auftau­chen. Es waren ihrer etwa dreißig, und sie alle waren für eine besondere Aufgabe er­schaffen worden, wie ihre kurzen, stämmi­gen Beine und die überlangen, dünnen Arme bewiesen. Sie waren kahlköpfig. Die Augen quollen ihnen halbkugelförmig aus den Höh­

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29 Der Steuermann von Pthor

len. Sie waren häßliche und zugleich bedau­ernswerte Geschöpfe.

Sie blieben stehen, als sie Thalia bemerk­ten. Sie tuschelten untereinander – ein Zei­chen, daß sie mit dieser Begegnung nichts anzufangen wußten.

»Woher kommt ihr?« hallte Thalias helle Stimme durch die Dämmerung.

»Wir kommen aus der kleinen Pyramide, Herrin«, antwortete einer der Dellos.

»Dieser dort?« fragte Thalia besorgt und deutete in Richtung des Bauwerks, das ihr Ziel war.

»Nein, Herrin. Wir kommen aus der, die weiter nach Osten liegt.«

»Was wolltet ihr dort?« »Unterkunft finden, Herrin. In der FE­

STUNG und im Freien war es uns zu un­heimlich.«

»Warum seid ihr nicht dort geblieben?« »Wir wurden verjagt, Herrin.« »Verjagt? Von wem?« »Vom Steuermann!« »Vom Steuermann?« wiederholte Thalia

verwundert. »Wer ist er?« »Wir wissen es nicht, Herrin.« »Wie konnte er euch da verjagen?« »Er sprach zu uns. Er gab uns zu verste­

hen, daß wir uns auf heiligem Boden befän­den.«

»Und?« »Wir lachten ihn aus. Wir sagten ihm, es

gäbe keinen heiligen Boden mehr, seitdem die Herren der FESTUNG gestorben sind.«

»Ihr lachtet ihn aus. Was tat er dann?« »Er tötete ein paar von uns. Alles, was wir

anfaßten, war plötzlich voller Energie. Als fünf von uns gestorben waren, meldete sich der Steuermann von neuem. Er ließ uns wis­sen, daß er fortfahren werde, uns zu töten, wenn wir seine Behausung nicht verließen.«

»Seine Behausung! Die kleine Pyrami­de?« fragte Thalia.

»Wir wissen es nicht, Herrin«, lautete die Antwort. »Wir nehmen es nur an. Auf jeden Fall haben wir die Pyramide verlassen, und seitdem ist uns nichts mehr geschehen.«

Thalia nickte.

»Es ist recht, ihr könnt gehen.« »Wir danken dir, Herrin«, erklang es aus

der Mitte der Dello-Horde. Dann zogen die Androiden weiter.

*

Thalia war nachdenklich geworden. Sie hatte nie von dem Steuermann gehört. Die Art, wie er handelte, schien geheimnisvoll genug. Thalia fragte sich, ob er auch ihr das Betreten der Pyramide verbieten würde – ihr, der Odinstochter! Stolz regte sich in ih­rem Bewußtsein. Sie verwarf den Gedanken schließlich. Erstens war sie nicht auf dem Weg zu jener Pyramide, die der Steuermann als seine Behausung bezeichnete, und zwei­tens war ihr der Gedanke, daß ihr besondere Behandlung widerfahren müsse, nur weil sie Odins Tochter war, mit einemmal widerwär­tig.

Sie erreichte die Pyramide, die Kolphyr ihr gezeigt hatte. Sie rief Atlans Namen. Als sie keine Antwort bekam, begann sie, die Basis des Bauwerks abzusuchen. Lag es dar­an, daß Pthor ihre Heimat war, oder daran, daß sie einfach ein besseres Wahrnehmungs­vermögen besaß: Sie brauchte nicht halb so lang wie ein paar Stunden zuvor Atlan und Razamon, um den verborgenen Eingang zu finden.

Wie ihre beiden Vorgänger wunderte sie sich darüber, daß es im Innern der Pyramide hell war. Sie fand die Leiter, die vom Erdge­schoß zu den höhergelegenen Etagen hinauf­führte. Im ersten Obergeschoß hielt sie an und untersuchte die Öffnung, die Razamon geschaffen hatte. Sie drang in den Gang ein und fand die herabgefallene Metallplatte. Sie rief abermals nach Atlan und bekam auch diesmal keine Antwort.

Da kehrte sie zur Leiter zurück und klet­terte höher. Als sie das nächste Deck er­reichte, sah sie die beiden leblosen Körper. Mit lautem Schrei stieß sie sich von der Lei­ter ab und lief auf Atlan zu. Sie kniete neben ihm nieder und drehte ihn so, daß er auf den Rücken zu liegen kam. Sie hielt das Ohr an

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seinen Mund und spürte den matten Hauch seines Atems. Erleichtert wandte sie sich At­lans Begleiter zu und stellte fest, daß auch er noch lebte.

Sie sah sich um. Sie suchte nach Wasser. Ein paar Tropfen auf Stirn und Schläfen würden die Männer rascher wieder zu sich bringen. Aber statt Wasser fand sie die ka­stenförmige Konsole, die Razamon der Ver­kleidung beraubt hatte. Sie trat näher hinzu und studierte neugierig das Gewirr der ehe­mals bunten Drähte und das häßliche Ge­spinst, das aussah, als bestünde es aus dün­nen Würmern, die unter der Erde lebten, wo die Helligkeit keine Macht besaß, ihre Haut zu färben.

In diesem Augenblick hörte sie die frem­de Stimme. Sie entstand mitten in ihrem Ge­hirn und sprach:

»Sie wollten das erhabene Gleichmaß der pulsierenden Ströme stören, da mußte ich mich ihrer erwehren.«

Verblüfft sah Thalia sich um. Der Spre­cher war nirgendwo zu sehen. Seine Stimme hatte halb erklärend, halb entschuldigend ge­klungen.

»Wer spricht da?« rief Thalia. Aber sie erhielt keine Antwort.

6.

Es war ein seltsames Erwachen. Ich spürte etwas Warmes, Weiches auf

den Lippen, öffnete die Augen und sah un­mittelbar über mir einen allerliebsten Frau­enkopf mit kurzem, goldblondem Haar, strahlend blauen Augen, vollen Lippen und ein paar matten Sommersprossen um die Na­se.

»Thalia …?« entfuhr es mir. Sie wich zurück. Sie hatte mich geküßt.

Ich war im falschen Augenblick zu mir ge­kommen. Verlegene Röte überzog ihr Ge­sicht. In den ausrucksvollen Augen wechsel­te Verwirrung mit Zorn.

»Wie kommst du hierher?« fragte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.

»Ich suchte dich!« fuhr sie mich an. »Auf

Kurt Mahr

meinen zwei Beinen kam ich hierher!« Das eng anliegende Trikot stand ihr gut.

Wer Honir in der unförmigen Rüstung und Thalia, wie sie jetzt vor mir stand, miteinan­der verglich, der verstand ein wenig von dem grotesken Dilemma, das diesem Land auferlegt war wie ein Fluch.

»Was starrst du mich an?« fragte die Od-instochter ungnädig. »Warum stehst du nicht auf? Hat die Kraft dich verlassen?«

Ich stemmte mich in die Höhe. Mir war schwindlig. Mein Blick fiel auf Razamon. Er war noch immer bewußtlos. Ich untersuchte ihn. An der rechten Hand und auf dem rech­ten Unterarm hatte er ein paar winzige Stel­len, an der die Haut gebräunt und wie ver­brannt wirkte. Das war das Resultat des elektrischen Schocks. Razamon atmete re­gelmäßig. Er würde im Lauf der nächsten Minuten zu sich kommen. Wir hatten Glück, daß wir mit dem Leben davongekommen waren.

Als Thalias Verlegenheit verebbte, ge­wann die Neugierde wieder die Oberhand.

»Was ist hier geschehen?« wollte sie wis­sen.

Ich erstattete einen kurzen Bericht und schloß:

»Es gibt hier irgend etwas, organisch oder nicht, mit dem nicht zu spaßen ist. Es strahlt telepathische Nachrichten aus, und es wehrt sich, wenn …«

»Nachrichten?« fiel mir Thalia ins Wort. »Rufe, meinst du?«

»Ja. Man glaubt zuerst, man hätte eine Stimme gehört. In Wirklichkeit sind es tele­pathische Impulse, die unmittelbar vom Ge­hirn empfangen werden.«

»Ich habe auch einen solchen Ruf ge­hört«, erklärte sie.

»Du? Wann?« »Vor einer halben Stunde. Als du noch

bewußtlos warst.« Sie wiederholte die Worte, die die fremde

Stimme zu ihr gesprochen hatte. Ich war verwundert. Die Herren der FESTUNG hat­ten diese Anlage mit allerlei geheimnisvol­len Einrichtungen versehen, aber der un­

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sichtbare Sprecher war ohne Zweifel eine der geheimnisvollsten. Er hatte mit den wei­ßen Fäden zu tun, die in der Art eines Ge­spinstes die Verkabelung innerhalb des Bei­boots umgaben. Aber es erschien mir kaum glaublich, daß er mit dem Gespinst identisch sein könne.

Ich erinnerte mich an das erste Mal, da ich die Stimme des Unsichtbaren gehört hat­te – den fast übermütigen Schrei, als ich ge­rade im Begriff war einzuschlafen. Ein Be­wußtsein, das zu solcher Äußerung fähig war, mußte organisch, mußte menschenähn­lich sein.

Aber wo hielt sich dieses Bewußtsein ver­steckt? Und was hatte es mit den unansehn­lichen, wurmähnlichen Fäden gemein, die sich in den Kabelstollen des Beiboots breit­gemacht hatten wie ein wucherndes Krebs­geschwür?

Noch etwas war seltsam. Razamon hatte weder jenen ersten Ruf gehört, noch den zweiten, den Schmerzensschrei, als wir ein Deck tiefer an den weißen Fäden zupften. Razamon war taub für die Stimme des Un­sichtbaren. Thalia dagegen und ich – wir empfingen seine Impulse. Was hatten wir gemeinsam, das uns diese Fähigkeit verlieh?

Während wir darauf warteten, daß Raza­mon zu sich kam, schilderte Thalia, was sie in den vergangenen Stunden erlebt hatte.

»Es scheint, daß die Söhne Odins dazu verdammt sind, um die Herrschaft über Pthor zu kämpfen. Gegen den Willen des Vaters gibt es keinen Widerstand. Wenn er uns erscheint, dann müssen wir tun, was er uns aufträgt. So wenigstens denken Balduur, Heimdall und Sigurd.«

»Aber du nicht?« fragte ich. »Ich weiß nicht, was ich denken soll.

Manchmal glaube ich, wir bilden uns Odins Erscheinung nur ein. Wir sehen ihn, weil wir ihn sehen wollen. Er spricht zu uns, weil wir ihn hören wollen. Er ist eine Ausgeburt un­serer Unsicherheit, die den Rat des Mächti­gen braucht. Aber dann wieder weiß ich nicht, ob es sich wirklich so verhält.«

Sie lachte kurz auf.

»Wie sollte ich auch? Das ist ja eben das Wesen der Unsicherheit, daß sie einen daran hindert, selbst den einfachsten Schluß zu ziehen!«

Sie war eine bemerkenswerte Frau. Auf­gewachsen auf Pthor, umgeben von Tabus und Magie, hatte sie soeben die grundlegen­de Schwierigkeit, mit der sie und ihre Brü­der zu kämpfen hatten, klar und prägnant formuliert, wie es ein terranischer Psycholo­ge nicht besser hätte tun können.

In diesem Augenblick erwachte Razamon. Er erkannte Thalia nicht sofort, was in An­betracht der ungewohnten Kleidung kein Wunder war. Aber er nahm wahr, daß er ei­ne schöne Frau vor sich hatte. Er war sofort hell wach, und seine Augen leuchteten.

»Wo bin ich hier?« rief er. »Ist das das Paradies?«

Dann sah er sich um, entdeckte den Ka­sten, von dem er die Verkleidung abgeschla­gen hatte, und murmelte:

»Kann wohl nicht sein. Das Paradies hät­ten sie bestimmt schöner eingerichtet.«

Ich half ihm auf die Beine. Der elektri­sche Schock hatte keine Nachwirkung hin­terlassen. Er nahm sein Breitschwert wieder auf und barg es in der Scheide. Ich berichte­te ihm von Thalias Abenteuern. Ich war ge­spannt auf seine Reaktion, was die Machtge­lüste der Odinssöhne anging.

Er dachte eine Zeitlang nach. Schließlich sagte er:

»Ich glaube, wir brauchen uns keine allzu großen Sorgen zu machen. Pthor könnte schlimmere Herren bekommen als Odins Söhne. Sie sind ein wenig wirr im Kopf, und manchmal tun sie Dinge, die kein vernünfti­ges Wesen tun würde. Aber sie sind frei von Grausamkeit, und der Auftrag ihres Vaters besagt, daß sie die Menschen von Pthor als ihre Kinder, nicht als ihre Sklaven zu be­trachten haben.« Er nickte bekräftigend. »Das ist in Ordnung, soweit es mich be­trifft«, schloß er.

»Die Frage ist allerdings«, wandte ich ein, »ob es ihnen gelingen wird, die Macht an sich zu reißen!«

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»Da hast du recht. Immerhin sind sie in der besten Position. Nicht nur sind sie im entscheidenden Augenblick an Ort und Stel­le, sie können überdies für sich in Anspruch nehmen, daß sie zum Sturz der Herren der FESTUNG erheblich beigetragen hatten. Keiner ihrer Mitbewerber um die Herrschaft auf Pthor könnte dasselbe von sich behaup­ten. Ich würde sagen: Es sieht gut aus für die Söhne Odins!«

Thalia war unserer Unterhaltung mit zu­nehmender Verwirrung gefolgt. Als Raza­mon endete, platzte es aus ihr heraus:

»Ihr meint, ihr wollt meine Brüder als eu­re Herren anerkennen?«

*

Razamon maß die Tochter Odins von oben bis unten, als sei sie ihm soeben zum ersten Mal unter die Augen gekommen.

»Unsere Herren?« fragte er mit unmißver­ständlicher Betonung. »Wer sagt, daß wir Herren brauchen? Wir sind Gäste auf dieser Welt. Sobald sich uns eine Gelegenheit bie­tet, werden wir sie wieder verlassen. Wir ge­horchen unserem eigenen Entschluß, sonst niemand.«

»So mögt ihr denken – Atlan und du«, rief Thalia. »Aber Heimdall, Sigurd und Balduur denken anders. Sie streben nach der Herr­schaft über alles und jeden. Sie werden sich auch für eure Herren halten!«

»Ich weiß es«, versuchte ich, sie zu be­sänftigen. »Deine Brüder werden auch uns als ihre Untertanen betrachten. Wir aber ha­ben den neuen Herren von Pthor gegenüber denselben Status wie früher die Odinssöhne gegenüber den Herren der FESTUNG. Zwi­schen uns herrscht das Prinzip der Nichtein­mischung.«

»Sie werden niemals darauf eingehen!« erklärte Thalia mit Bestimmtheit.

»Sie werden nicht darauf eingehen wol­len«, verbesserte ich. »Aber am Ende wird ihnen nichts anderes übrigbleiben.«

»Also kommt es zum Kampf!« »Vielleicht, aber es muß nicht sein. Viel-

Kurt Mahr

leicht finden wir einen Weg, unsere Kraft zu zeigen, so daß deine Brüder uns in Ruhe las­sen, ohne im Verlauf eines Kampfes heraus­zufinden, daß unsere Macht größer ist als die ihre.«

»Aber trotzdem haltet ihr sie für die be­sten Herren von Pthor?«

»Unter den gegenwärtigen Umständen, ja. Und nicht nur sie. Dich auch!«

»Mich?« »Es gibt vier Odinskinder. Sie herrschen

zusammen. Nur vereint sind sie stark. Wenn sie sich entzweien, werden sie stürzen.«

Ein Ausdruck wie von Verzweiflung lag in ihrem Blick.

»Du sagst mir, ich soll zu meinen Brüdern zurückkehren und zusammen mit ihnen um die Macht auf Pthor kämpfen?«

Ich nickte. »Das sage ich dir«, antwortete ich. »Und

je größer die Einigkeit unter Odins Söhnen ist, desto leichter wird der Kampf sein, der euch an die Macht bringt.«

Da sah sie zu Boden. Ich wußte, daß mei­ne Worte nicht das waren, was sie hatte hö­ren wollen. Sie hatte gegen ihr Schicksal re­belliert. Mit der Rüstung hatte sie den Fluch von sich abstreifen wollen, der darin be­stand, daß sie Odins Tochter war. Sie war zu mir gekommen, weil sie bei mir Schutz suchte. Ich besaß ihre Zuneigung. Es hätte des Kusses, mit dem sie mich weckte, nicht bedurft, um mich darüber aufzuklären.

Ich aber schickte sie fort. Sie war ent­täuscht, verbittert.

Und warum das alles? Für Pthor! Die nächsten Herren durften keine ande­

ren als die vier Odinskinder sein. Dem Di-mensionenfahrstuhl standen unruhige Zeiten bevor. Balduur, Heimdall, Thalia und Sigurd waren die Garantie dafür, daß das Leid, dem die Menschen von Pthor entgegengingen, sich in Grenzen hielt. Und das Leid, das Pthor über andere Welten brachte, wenn es auf ihnen landete.

»Ich verstehe dich nicht«, murmelte Tha­lia. »Aber ich werde tun, was du sagst.«

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Der Steuermann von Pthor

In einer matten Geste hob sie die Hand zum Gruß. Dann wandte sie sich ab und schritt auf die Leiter zu. Sie blickte nicht mehr zurück. Ich hörte ihre Tritte auf den Kunststoffsprossen. Wenige Augenblicke später war es still.

»Manchmal«, seufzte Razamon, »hast du eine Härte an dir, die selbst mich schaudern macht!«

*

Wir machten uns wieder an die Arbeit. Wir wußten jetzt, worum es ging. Das

weiße Gespinst war die Spur, die zu dem Unsichtbaren führte. Ihn galt es zu finden. Wir hatten keinen Beweis dafür, aber wir waren fest davon überzeugt, daß der Unbe­kannte mit der telepathischen Stimme uns an den Ort führen könne, von dem aus Pthor gesteuert wurde.

Wir wußten auch, daß wir das Gespinst in Ruhe zu lassen hatten. Jede Beeinträchti­gung der schmutzigweißen Fäden veranlaßte den Unsichtbaren zu einer Gegenreaktion. Und seine Reaktionen waren gefährlich, so­viel hatten wir inzwischen schon erfahren.

Mit dem Gleichmaß der pulsierenden Ströme, über das er zu Thalia gesprochen hatte, wußte ich nichts Rechtes anzufangen. Fast klang es, als sei die Rede von einer Energieleitung. War der Unsichtbare der Aufseher über die Energieversorgung von Pthor? Und floß die Energie womöglich durch die weißen Fäden des Gespinsts? Das erschien unglaublich. Die Strähnen waren zu dünn, um mehr als einen geringen Betrag elektrischer Leistung transportieren zu kön­nen. Außerdem bestanden sie aus einem Ma­terial, dem ich nicht allzu viel Leitfähigkeit zutraute. Eher mochten sich in ihnen die Kontrollimpulse bewegen, die das pthori­sche Energieversorgungssystem steuerten.

Razamon musterte den halb zerstörten Konsolenkasten von allen Seiten.

»Ich glaube, das hier hilft uns weiter!« sagte er plötzlich.

Auf der Rückseite des Kastens hatte er

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einen Strang parallel verlaufender Strähnen gefunden, die unmittelbar aus dem Knoten kamen, den wir zuvor bemerkt hatten. Der Strang bewegte sich geradlinig und ver­schwand mit einer Neigung von etwa 45 Grad im Boden unter der Konsole.

Ich peilte die Richtung an, in der der Strang verlief. Sie wies nach Nordosten und zwar, wie ich bald ermittelte, genau auf die nordöstliche Kante der Pyramide, in der wir uns befanden.

Das gab mir zu denken. Die sechs Pyra­miden waren auf dem Kreis, der die große Pyramide umgab, so angeordnet, daß die ge­dachte Verbindungslinie zwischen zwei ein­ander gegenüberliegenden Pyramidenkanten auf den Mittelpunkt des Kreises zeigte oder, mit anderen Worten, einen Abschnitt eines Kreisradius bildete. Die Verbindungslinie zwischen den beiden übrigen Kanten lief, da es sich um eine regelmäßige Pyramide mit quadratischem Querschnitt handelte, senk­recht zu der ersten Linie. Sie hatte somit den Verlauf eines Kreistangente.

Ich hatte plötzlich eine Idee. Der Raum, in dem wir uns befanden, war kreisrund und hatte eine leichtgewölbte Decke. Es war möglich, daß die Wand dieses Raumes an vier symmetrisch angeordneten Punkten die Außenhülle der Pyramide berührte. Aber überall sonst mußte es Hohlräume zwischen der Wand und der äußeren Hülle geben. Ich folgte der Richtung, in der der Strang weißer Fäden wies, bis ich die Wand erreichte. Zwi­schen zwei Geräten gab es knapp einen Me­ter Raum, in den ich mich hineinzwängte. Ich klopfte an die Wand. Sie klang hohl.

»Ob die Glücksgöttin immer noch auf dei­ner Seite ist?« fragte ich den Pthorer.

»Du meinst, ob in meinem Fuß noch im­mer die vernichtende Kraft steckt, der selbst stählerne Wände nicht standhalten können?« rief er lachend.

»Genau das meine ich.« »Laß es mich ausprobieren!« sagte er. Ich gab ihm den Weg frei. Aber anstatt ei­

nes einzigen Trittes bedurfte es diesmal ei­nes Dutzends, bevor die erste Öffnung in der

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altersschwachen Wand entstand.

*

Das Licht von der Decke des Rundraums fiel in ein seltsam geformtes Gemach. Die vordere Begrenzung hatte die Form eines Viertelkreises. Im Hintergrund wurde das Gemach begrenzt von zwei rechtwinklig aufeinanderstoßenden Außenwänden der Py­ramide. Die Wände bildeten eine Kante, und zwar die nordöstliche Pyramidenkante.

Dieser Raum war offenbar niemals für ir­gendeinen Zweck benützt worden. Er war ein Abfallprodukt, entstanden aus der Un­vereinbarkeit einer kreisrunden Anlage mit dem quadratischen Querschnitt der Pyrami­de.

»Jetzt, da wir uns mit soviel Mühe Eintritt verschafft haben«, bemerkte Razamon bis­sig, »magst du mir vielleicht sagen, was du hier suchst.«

Ich bückte mich und untersuchte den Bo­den. Er bestand aus rechteckigen Metallplat­ten, die so sauber gearbeitet waren, daß man die Fugen zwischen ihnen kaum erkennen konnte.

»Borg mir dein Schwert!« bat ich den Pthorer.

»In deinem eigenen Interesse hoffe ich, daß du weißt, was du tust«, sagte er, als er mir die Waffe reichte.

Ich stemmte die Spitze des Schwertes in die Fuge zwischen zwei Metallplatten. Ein halbes dutzendmal glitt ich ab. Aber inzwi­schen hatte das Metall an den Rändern der Platten unter dem Druck des Schwertstahls abzubröckeln begonnen. Dadurch entstand eine Rille, die mir einen besseren Hebel­punkt bot. Schließlich löste sich eine der Platten aus dem Boden. Razamon eilte her­bei, hob sie auf und legte sie abseits nieder.

Platt auf dem Bauch liegend, starrte ich durch das viereckige Loch. Die Lichtverhält­nisse waren kaum hinreichend. Anfangs sah ich überhaupt nichts, erst als meine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, bemerk­te ich den fahlweißen Strang, der unter den

Kurt Mahr

Metallplatten hinweg über eine Reihe fla­cher Metallstege bis zur Außenwand der Py­ramide verlief. Und hier endlich fand ich meine Vermutung bestätigt. Der Strang, des­sen Verlauf dort, wo er unter der Konsole im Boden verschwand, haargenau auf die nord­östliche Ecke der Pyramide zeigte, be­schrieb, bevor er die Ecke erreichte, eine ge­ringfügige, aber äußerst bedeutungsvolle Kursänderung. Er knickte um ein paar Grad in Richtung Ost ab.

Der Verlauf des Stranges folgte somit nicht mehr der Kreistangente. Er stimmte eher mit der Kante des Sechsecks überein, die diese Pyramide mit ihrem annähernd in nordöstlicher Richtung gelegenen Nachbarn verband.

Was ich hatte, war beileibe kein schlüssi­ger Beweis. Daß der Strang in Richtung der nächsten Pyramide wies, die zu dem die am weitesten nördlich gelegene war, brauchte nicht zu bedeuten, daß er wirklich auch bis dorthin verlief. Auf jeden Fall aber war die Sache eine Untersuchung wert.

Ich erklärte Razamon, was ich gefunden hatte.

»Worauf warten wir noch?« fragte er. »Die Sache wird allmählich spannend!«

7.

Bitterkeit war alles, was Thalia empfand, als sie in das feuchte Halbdunkel trat, das über Pthor herrschte, seitdem die Herren der FESTUNG den kosmischen Felsbrocken in Bewegung gesetzt hatten.

Ohne Eile schritt sie davon. Mehr mit Hil­fe des Instinkts als aufgrund einer bewußten Entscheidung hielt sie sich in Richtung des Ortes, an dem sie die Rüstung von sich ge­worfen hatte – um für immer von ihr frei zu sein, wie sie damals gedacht hatte.

Unterwegs begann sie nachzudenken. Aus der Bitterkeit wuchs Zorn – Zorn auf Atlan, der sie verstoßen hatte, als sie um Hilfe zu ihm kam. Dann aber fielen ihr die Worte wieder ein, die Atlan zu ihr gesprochen hat­te. Es kam ihr in den Sinn, daß womöglich

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auch er ein Opfer gebracht hatte. Wäre es für ihn nicht einfacher gewesen, die Frau bei sich aufzunehmen, dachte Thalia, die sich ihrer weiblichen Vorzüge sehr wohl bewußt war.

Atlan hatte aufrichtig zu ihr gesprochen. Es ging ihm um Pthor. Er hielt die Herr­schaft der Odinskinder für die beste, die Pthor sich in diesem Augenblick wünschen könne – oder doch für die am wenigsten schlechte unter einer großen Anzahl wählba­rer Möglichkeiten.

Und er hatte recht, wenn er behauptete, Odins Kinder wären zur Herrschaft nicht fä­hig, es sei denn, sie vermieden allen Zwist.

Mit einemmal faßte Thalia neuen Mut. Und ausgerechnet in diesem Augenblick fiel ihr ein, daß sie Atlan gegenüber zwei wichti­ge Dinge zu erwähnen vergessen hatte. Da war als erstes die Begegnung mit der Horde von Dellos, die von dem Steuermann ge­sprochen hatten. Atlan war auf der Suche nach dem Mechanismus, der den Kurs der Insel Pthor bestimmte. Es lag auf der Hand, daß es für ihn interessant gewesen wäre, von dem Steuermann zu hören.

Zweitens hätte sie Atlan mitteilen müssen, daß sein kleiner Gefährte ihn verlassen hat­te. Koy, der Trommler, war ein zuverlässi­ger Freund gewesen, der sich selbst und sei­ne Begleiter mehr als einmal mit Hilfe sei­ner Broins aus gefährlichen Lagen befreit hatte. Atlan war von der Aussicht, daß er einen Kampf mit den Odinskindern zu beste­hen haben würde, nicht sonderlich beein­druckt gewesen. Hatte er auf die Hilfe des Trommlers gerechnet? Rührte seine Selbstsi­cherheit von der Überzeugung her, daß er unüberwindlich sei, solange sich Koy an sei­ner Seite befand?

Um ein Haar wäre Thalia umgekehrt, um das Versäumnis wiedergutzumachen. Dann aber kam ihr plötzlich zu Bewußtsein, daß sie selbst inzwischen die Seite gewechselt hatte. Sie war von Atlan verstoßen worden. Sie kehrte zu ihren Brüdern zurück. Sie wür­de zu denen gehören, gegen die Atlan zu kämpfen hatte.

Auf einmal fand sie die Sache erheiternd. »Geschieht dem hochnäsigen Fremden

recht!« sagte sie zu sich selbst. »Er hat Od-ins Tochter von sich gewiesen – er soll se­hen, wo er bleibt!«

Unversehens tauchten Gestalten aus dem Halbdunkel vor ihr auf. Sie erkannte ihre Brüder, und sie sah die Teile ihrer Rüstung, die noch so auf dem Boden lagen, wie sie sie von sich geworfen hatte.

Sie war überrascht, daß sie keinerlei Schuldgefühl empfand. Sie hatte gehofft, den Ort verlassen zu finden und die Rüstung wieder anlegen zu können, ohne daß jemand erfuhr, daß sie sie hatte loswerden wollen. Die Anwesenheit der Brüder hätte sie in Verlegenheit bringen sollen. Aber sie tat es nicht.

Furchtlos trat Thalia Balduur, Heimdall und Sigurd entgegen. Fenrir saß abseits und musterte sie aus wachen Augen.

»Schande ist über dich gekommen!« rief Sigurd düster. »Wer Odins Waffen von sich wirft, bricht die Bande des Blutes!«

Heimdall machte eine ärgerliche Geste. »Schweig du!« fuhr er den jüngsten Bru­

der an. »Warum kehrst du zurück, Honir?« »Ich bin nicht Honir, ich bin Thalia«, er­

klärte Odins Tochter mit Entschlossenheit. »Ich kehre zurück, weil das andere Leben, das ich mir suchen wollte, nichts für mich taugt. Ich kehre zurück, um die Rüstung wieder anzulegen. Ich kehre zurück, weil uns ein Kampf um die Macht bevorsteht und wir eins sein müssen, wenn wir ihn bestehen wollen.«

Da wetterleuchtete es über Heimdalls fin­steres Gesicht.

»Wohl dir, Thalia«, antwortete er fast zärtlich. »Auf dir ruht keine Schande! Du hast aus eigener Erkenntnis den richtigen Weg gefunden!«

Da nickte Balduur zum Zeichen seines Einverständnisses, und der hitzige Sigurd machte die Geste der Zustimmung. Thalia aber bückte sich, um die Einzelteile ihrer Rüstung aufzusammeln.

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*

Die vier neuen Herren von Pthor schritten auf die große Pyramide zu. Ihr Anblick war achtungsgebietend. Allein die Schwere ihrer Waffen erfüllte jeden mit Furcht. Und an der Seite der vier Herren schritt Fenrir, der Graue, ein mächtiges Tier, das zu jeder Se­kunde bereit war, ihrem Gebot zu folgen.

Vor der FESTUNG hatte sich eine Grup­pe von Dellos zusammengerottet. Sie hatten die Pyramide verlassen, weil es ihnen dort unheimlich geworden war. Sie wußten nicht, was sie mit sich anfangen sollten. Denn sie waren dazu geschaffen, den Befehlen ihrer Herren zu gehorchen, und da es keine Be­fehle mehr gab, waren die Dellos ratlos.

Unter ihnen befanden sich alle möglichen Gestalten: solche, die wie Menschen wirk­ten, aber auch andere, die fast nichts Men­schenähnliches mehr an sich hatten, und alle denkbaren Schattierungen zwischen den bei­den Extremen. Denn die Herren der FE­STUNG hatten ihre Geschöpfe nach den Aufgaben geschaffen, für die sie gedacht waren.

Die Dellos erschauerten, als sie die vier mächtigen Gestalten und den riesigen Wolf aus der Düsternis auftauchen sahen. Sie drängten sich enger zusammen und suchten beieinander Schutz.

Balduur, Sigurd, Thalia und der Wolf blieben stehen, während Heimdall ein paar Schritte weiter vorwärts trat.

»Hört her, ihr Armseligen!« donnerte sei­ne mächtige Stimme durch das Halbdunkel. »Ragnarök, die Götterdämmerung, hat statt­gefunden. Die Tyrannen der FESTUNG sind tot. Niemals mehr werden sie Stimme oder Hand erheben, um Leid und Elend über die­ses Land zu bringen. An ihrer Stelle werden neue Herren über Pthor herrschen – streng, aber gerecht, mit Macht und dennoch voller Wohlwollen, die Gesetzesfürchtigen beloh­nend und die Verbrecher zerschmetternd. Denn das ist die Bedeutung von Ragnarök: Die Herrschaft der Götter wird wieder her-

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gestellt. Wir aber sind die Kinder Odins, dem alle Macht gehört. Wir sind die neuen Herren von Pthor, und ihr werdet uns dienen und gehorchen!«

Unter den Dellos machte sich Erleichte­rung breit. Sie hatten Schlimmeres erwartet. Wenn es nur darum ging, daß sie eine neue Herrschaft anerkennen sollten, dann war ih­nen das eben recht. Ohne daß ihnen jemand Befehle erteilte, waren sie ohnehin unglück­lich und hilflos. Bewegung entstand unter ihnen, als sie erkannten, daß es besser sei, einen unter sich als Sprecher zu bestimmen, damit er die Weisungen der neuen Herren entgegennehmen könne. Da sich aber jeder vor der Aufgabe scheute, schoben sie einan­der eine Zeitlang hin und her, bis sich schließlich einer gefunden hatte, der die große Aufgabe auf sich nehmen wollte. Er war ein Hüne, der fast sieben Fuß hoch stand und unglaublich breite Schultern, da­für aber kaum einen Hals hatte. Über seinen Rücken spannte sich ein muskulöser Wulst, denn dieser Dello war dafür geschaffen, schwere Lasten in die Höhe zu stemmen. Er hatte eine niedrige, fliehende Stirn. Sein Blick wirkte ausdruckslos.

»Bist du der Sprecher deiner Leute?« hall­te Heimdalls Stimme.

»Ich bin es, Herr!« rief der Dello. »Wie ist dein Name?«

»Man nennt mich Nikkal, Herr!« »Gut, Nikkal. Wenn du uns ein getreuer

Diener bist, werden wir dich erhöhen. Bist du es nicht, werden wir dich vernichten. Nun höre meine Befehle: Treibt alle Leute eures Volkes, das sich die Dellos nennt, zu­sammen und erzählt ihnen von den neuen Herren von Pthor. Setzt ihnen auseinander, daß sie alle uns zu gehorchen haben und daß keiner das Gebiet der FESTUNG verlassen darf, es sei denn, wir befehlen es ihm. Und dann, wenn ihr alle zusammengetrieben habt, verschafft euch Waffen. Schneidet euch Knüttel. Macht Schlingen. Sucht Äxte, Wurfbeile, Speere und Schilde. Besetzt die Grenzen dieses Gebietes und laßt niemand herein noch hinaus. Jedem, der von draußen

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kommt, sagt ihr, daß Odins Kinder die neu-en Herren sind, und jedem, der hinaus will, ohne zu wissen, was inzwischen hier vorge­fallen ist, sagt ihr dasselbe. So sich aber ei­ner findet, der unsere Herrschaft nicht aner­kennen will oder sie gar mit Worten schmäht, so bringt ihr ihn zu uns, damit wir über ihn richten. Hast du verstanden, Nik­kal?«

»Ich habe verstanden, Herr, und es wird genauso geschehen, wie du befiehlst. Wohin aber soll ich denjenigen bringen, der eure Herrschaft nicht anerkennt oder sie gar schmäht?«

»Du findest uns in der FESTUNG!« ant­wortete Heimdall. »Dort werden wir sein. Denn die FESTUNG ist der Ort, von dem al­le Macht ausgeht, und wir sind die neuen Herren.«

*

Wir näherten uns der nördlichen Pyrami­de mit großer Zuversicht. Mittlerweile glaubten wir uns auszukennen und waren si­cher, daß es uns nicht schwerfallen würde, Zugang zum Innern des zweiten Beiboots zu gewinnen.

Als wir aber näher kamen, sahen wir, daß hier alles ein wenig anders war als dort, wo­her wir kamen. Die stählernen Wände der Pyramide waren besser erhalten. Es gab kaum Spuren von Moosbewuchs. Wir such­ten über eine Stunde lang die Basis des me­tallenen Gebildes ab, ohne auch nur den ge­ringsten Anhaltspunkt zu finden, daß es hier überhaupt einen Zugang gab. Razamon war unaufhörlich am Schnüffeln. Er hoffte im­mer noch, daß es ihm ein zweites Mal gelin­gen werde, die entscheidende Spur mit Hilfe seiner Nase zu finden. Ich dagegen war der Ansicht, daß es den Geruch, den wir an der anderen Pyramide wahrgenommen hatten, entweder nicht gab oder daß unsere Nasen inzwischen daran gewöhnt waren.

Ich blickte die schräge Wand des ehemali­gen Beiboots hinauf und versuchte, dort eine Unebenheit zu entdecken. Aber auch das

führte zu nichts. Es war, als hätte es zu die­sem Fahrzeug niemals einen Zugang gege­ben.

»Oh …!« hörte ich in diesem Augenblick jemand sagen.

Es war ein Ausruf der Überraschung. Et­wa so würde sich jemand ausdrücken, dem plötzlich einfiel, daß er etwas Wichtiges ver­gessen hatte. Ich wandte mich um.

»Warst du das?« fragte ich Razamon. »War ich was?« entgegnete er. Ich winkte

ab. »Komm mit!« trug ich ihm auf. »Wohin?« »Weiß ich nicht. Wir werden es sehen. Es

hat sich etwas Wichtiges getan!« Er kam hinter mir hergeeilt. »Was?« Ich wollte antworten, kam aber nicht

mehr dazu. Ich bog um die südöstliche Kan­te der Pyramide – dieselbe Ecke, die ich we­nigstens schon ein dutzendmal umrundet hatte. Diesmal aber bot sich mir ein neuer Anblick. Nicht die stumpfe, graue Metall­wand, sondern unmittelbar vor mir, wo ich es niemals übersehen hätte, wenn es zuvor schon dagewesen wäre, eine annähernd mannshohe, viereckige Öffnung. Ich blickte hindurch. Drinnen brannte Licht, wie in der anderen Pyramide.

»Woher wußtest du das?« fragte Razamon atemlos.

»Ich hörte jemand Oh sagen.« Er starrte mich verständnislos an. »Oh?« »Ja.« »Und da wußtest du …« »Es war der Unsichtbare«, schnitt ich ihm

das Wort ab. »Er reagierte so, als hätte er schon lange auf unseren Besuch gewartet, aber eben erst gemerkt, daß wir vor der Tür stehen. Da wußte ich, daß es jetzt einen Ein­gang gab.«

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Du meinst, er erwartet uns?« »Ich vermute es.« »Dann laß uns seine Geduld nicht auf eine

allzu harte Probe stellen!« rief der Pthorer. Wir stiegen durch die Öffnung.

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38

*

Drinnen sah es, was die Anordnung an­ging, ebenso aus wie in der ersten Pyramide, die wir untersucht hatten. Nur war hier der Zerfall weniger weit fortgeschritten. Es gab nirgendwo eine Öffnung, durch die die Moossporen hatten eindringen können. Die Luft war wesentlich trockner als im anderen Beiboot. Der Triebwerksraum wies auch hier untrügliche Spuren hohen Alters auf. Aber die Gehäuse der Geräte waren nicht zerfressen, und die metallene Verkleidung des Leiterschachts hätte Razamons Fußtritt wahrscheinlich viel besser überstanden als die in der nordwestlichen Pyramide.

Glücklicherweise hatte Razamon keine Veranlassung, seine Kräfte auszuprobieren. Der Schacht war offen. Ich kletterte als er­ster in die Höhe. Die Schachtverkleidung führte nur bis zum nächst höheren Deck. Ich hielt mich dort nicht auf, sondern stieg bis zum dritten Deck hinauf. Dort befand sich der Kontrollraum des Fahrzeugs. Wenn der Unsichtbare sich uns zu erkennen geben wollte, dann sicherlich dort.

Als ich den Kopf durch die Bodenöffnung des Kontrollraums steckte, hielt ich unwill­kürlich an. Ich hatte eine bestimmte Vorstel­lung gehabt, was mich in diesem Raum er­wartete. Die Vorstellung war geprägt von dem, was ich auf den tiefer gelegenen Decks gesehen hatte: Anzeichen von Alter, aber kein Zerfall. Was ich statt dessen zu sehen bekam, war wie ein Alptraum.

Von der ursprünglichen Einrichtung des Kontrollraumes war, bis auf ein paar Ab­schnitte der gewölbten Decke mit ihren Leuchtkörpern, nichts mehr zu sehen. Den ganzen Raum erfüllte ein verfilztes, allge­genwärtiges Gespinst jener schmutzigwei­ßen Fäden, deren geheimnisvolle Funktion wir noch immer nicht erkannt hatten. Es war ein Anblick, der mir eine Gänsehaut verur­sachte. Stärker noch als zuvor hatte ich den Eindruck, bei dem Gespinst handele es sich um eine Wucherung, ähnlich wie Schimmel

Kurt Mahr

oder Krebs, die, wenn sie einmal Fuß gefaßt hatte, sich unaufhaltsam ausbreitete, bis sie alles ringsum zerstört hatte.

Von unten drängte Razamon. »Heh, was ist los?« rief er ungeduldig.

»Du wirst es nicht glauben«, antwortete ich.

»Dann geh endlich weiter!« Ich sah mich um. Die Sache war mir nicht

geheuer. In der Nähe des Schachtes gab es kaum genug Platz, wo ich hätte stehen kön­nen, ohne mit dem Gespinst in Berührung zu geraten. Es schien nicht geraten, den Fäden so ohne weiteres zu trauen. Womöglich be­saßen sie eine menschenfresserische Nei­gung. Andererseits trug ich das Goldene Vlies, dem ich eine ganze Menge Schutzwir­kung zutraute. Diese Überlegung gab schließlich den Ausschlag. Ich stieg zwei Sprossen weiter und zwängte mich auf die paar Zentimeter Raum, die das Gespinst in der unmittelbaren Umgebung des Leiter­schachts freigelassen hatte.

Razamon folgte mir auf dem Fuß. Er streckte den Kopf durch die Öffnung, sah sich um und murmelte entsetzt:

»Alle guten Geister!« Als wäre sein Ausruf ein Stichwort gewe­

sen, geriet das Gespinst plötzlich in Bewe­gung. Die Fäden fuhren auf und ab, als sei der Wind in das Gewirr geraten. Dabei machten sie ein leises, knisterndes Ge­räusch, das den Eindruck des Unheimlichen noch verstärkte.

Ich sah, wie sich inmitten des Gespinstes ein Gang bildete. Er war so hoch wie ein Mann und hatte eine Breite von knapp ei­nem Meter. Er schien eine Einladung für uns darzustellen. Aber vorläufig war ich weit da­von entfernt, mich dem fremdartigen Gebil­de so ohne weiteres anzuvertrauen.

»Sieh doch!« rief da Razamon plötzlich. Sein ausgestreckter Arm zeigte in den

Gang hinein. An seinem Ende – etwa dort, wo in der anderen Pyramide die Konsole stand, deren Verkleidung wir entfernt hatten – schwebte mitten in dem Gewirr der blas­sen Fäden ein unwirkliches Gebilde, ein run­

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39 Der Steuermann von Pthor

des Ding von etwa einem Meter Durchmes­ser, das auf den ersten Blick so aussah, als hätte jemand ungeheuer viele Gespinstfäden zu einem riesigen Knäuel gewickelt.

Das Knäuel, der Knoten, wie immer man das Ding auch nennen wollte – es hing ein­fach da, der Schwerkraft spottend, gehalten nur von den unzähligen, feinen Fäden des riesigen Gespinsts, die entweder alle von ihm ausgingen oder alle in ihm mündeten.

»Ist das … der Unsichtbare?« fragte Raz­amon stockend.

8.

Die Halle war groß, aber bei weitem nicht so mächtig wie jene, in der die Behälter der Herren der FESTUNG standen. Heimdall hatte vorgeschlagen, diesen Raum, der nur wenige Stockwerke über dem Erdgeschoß der großen Pyramide lag, als vorläufiges Hauptquartier zu benützen. Sein Vorschlag war angenommen worden. Niemand sprach darüber, aber vorerst noch empfanden die Kinder Odins tiefe Scheu vor der Großen Halle mit den fünf Behältern, in denen die Leichen der Enkel des Großen Oheims schwammen. Eines Tages würden die Behäl­ter samt Inhalt weggeräumt werden müssen. Aber bislang hatte noch niemand die Spra­che darauf gebracht.

Die Halle, in die die Odinskinder einzo­gen, enthielt nur spärliches Mobiliar. Es schien für Giganten gefertigt, was die neuen Bewohner nicht sonderlich störte, da ihr Be­wußtsein ohnehin unter dem Eindruck eines gigantomanischen Komplexes stand. In der hohen Decke brannten düstere Lichter, von denen niemand wußte, woher sie ihre Ener­gie bezogen. Die Szene hatte etwas Unwirk­liches. Odins Kinder rückten mehrere Sessel zusammen, so daß sie in der Mitte des großen Raumes einen Kreis bildeten. Fenrir lagerte sich neben Balduurs Sitz. Seine Au­gen waren wach, und von Zeit zu Zeit rich­tete er die Ohren steil auf – ein Zeichen, daß auch ihm nicht eben behaglich zumute war.

»Wir haben den ersten Schritt getan«, ver­

kündete Heimdall. »Die Dellos bewachen die Grenzen der FESTUNG und sorgen da­für, daß uns niemand überraschen kann. Es geht jetzt fürs erste darum, daß wir unsere Macht sichern. Je stärker wir unsere Position machen, bevor der Rest von Pthor davon er­fährt, daß es die Herren der FESTUNG nicht mehr gibt, desto besser sind wir dran. Ich frage euch: Was soll als nächstes gesche­hen?«

Sie bedachten sich nicht lange. Anschei­nend hatte jeder sich seine eigenen Gedan­ken über die Prioritäten der Lage gemacht. Balduur sprach als erster.

»Die größte Gefahr geht von den Magiern der Großen Barriere von Oth aus«, erklärte er. »Sie haben den Herren der FESTUNG treu gedient. Ein großer Teil der Macht, die die Herren der FESTUNG besaßen, beruhte auf der Magie derer von Oth. Jetzt, da es die Herren nicht mehr gibt, werden es die Ma­gier für an der Zeit halten, selbst die Herr­schaft zu übernehmen.«

Heimdall nickte seine Zustimmung. »Du hast recht, Bruder«, antwortete er.

»Nur weiß man nicht recht, was man gegen die Magier von Oth unternehmen soll, da man seit Wochen nichts mehr von ihnen ge­hört hat und es sogar Gerüchte gibt, wonach die Große Barriere ganz und gar verschwun­den sein soll.«

Er wandte sich an Sigurd. »Was ist deine Ansicht?« »Die Gordys sind die große Gefahr«, ant­

wortete der jüngste der Odinssöhne. »Sie wurden von den Herren der FESTUNG be­vorzugt. Sie müssen sich für die rechtmäßi­gen Erben der Macht halten.«

»Auch das ist ein wichtiger Gesichts­punkt«, stimmte Heimdall zu. »Aber die Möglichkeiten der Gordys scheinen mir be­schränkt. Ich glaube nicht, daß sie den offe­nen Kampf gegen uns wagen würden. Und eines offenen Kampfes bedürfte es unbe­dingt, um uns die Macht abzunehmen. Tha­lia, was ist deine Meinung?«

»Ich sehe die größte Gefahr in den Robot­bürgern von Wolterhaven«, antwortete Od­

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ins einzige Tochter. »Nicht, weil ich sie für machtgierig halte. Sondern weil sie Roboter sind. Sie brauchen sich nur in den Kopf ge­setzt zu haben, daß die Herren der FE­STUNG die einzig tragbare Macht auf Pthor darstellen. Dann werden sie, sobald sie vom Tod der Herren erfahren, die Herrschaft über Pthor an sich nehmen wollen, weil sie davon überzeugt sind, daß jeder andere Machthaber schlecht für das Land wäre. Als Roboter aber sind sie ebenso davon überzeugt, daß sie selbst niemals einen Fehler machen kön­nen. Infolgedessen erscheint ihnen eine Ro­botherrschaft als der einzige logische Aus­weg aus der gegenwärtigen Lage, und nie­mand kann sie zu etwas anderem überreden. Deswegen sind sie gefährlich.«

Heimdall nickte abermals. »Ich stimme deinen Gedanken zu, Thalia.

In der Tat halte ich die Bürger von Wolter­haven für gefährlicher als die Gordys und selbst die Magier aus der Großen Barriere von Oth. Aber einen Feind habt ihr alle übersehen, obwohl er in Wirklichkeit der ge­fährlichste ist. Weil er Macht besitzt, aber auch, weil er sich in unmittelbarer Nähe be­findet.«

Thalia stockte der Atem. Sie hatte sich al­le Mühe gegeben, jedermanns Mißtrauen ge­gen die Roboter von Wolterhaven zu lenken. Einen Augenblick sah es so aus, als hätte sie Erfolg. Aber Heimdall, der Listige, hatte sich nicht übertölpeln lassen.

»Die Fremden«, sagte er mit dröhnender Stimme, »sind unsere gefährlichsten Wider­sacher! Sie beherrschen eine Magie, die nie­mand auf Pthor kennt. Und sie befinden sich unmittelbar im Gebiet der FESTUNG. Die Fremden sind es, Brüder, um die wir uns zu­erst kümmern müssen. Können wir sie nicht botmäßig machen, dann haben wir den Kampf um die Herrschaft von Pthor bereits verloren.«

Er stand auf, und auch die andern erhoben sich. Es bedurfte keiner weiteren Diskussi­on. Balduur und Sigurd erkannten Heimdalls Weisheit an. Und Thalia begann zu zittern.

Kurt Mahr

*

Der Knoten war in zitternder, hüpfender Bewegung. Wäre er ein lebendes Wesen, ich hätte ihn als aufgeregt bezeichnet.

»Geh hin!« drängte Razamon. »Er will was von dir!«

»Ja, mich auffressen«, spottete ich. »Warum gehst du nicht?«

»Trage ich den Anzug der Vernichtung?« fragte er.

Das gab den Ausschlag. Ich trat vorsichtig in den Gang, den das Gespinst gebildet hat­te. Ich tat ein paar Schritte und blieb stehen. Ich versuchte, zu fühlen, ob mir irgendeine Gefahr drohe. Ich musterte die Gespinstfä­den, die zu beiden Seiten eine ziemlich dich­te Mauer gebildet hatten, und versuchte zu erkennen, ob sie sich bewegt hatten. Ich drehte mich um und sah, daß der Gang hin­ter mir noch immer offen war.

Das beruhigte mich. Es beruhigte mich auch, daß mein Extrasinn sich nicht meldete, obwohl das ebenso gut bedeuten mochte, daß er ebenso im dunkeln tappte wie ich.

Ich schritt weiter auf den hüpfenden Kno­ten zu. Er gab ein aufgeregt sirrendes Ge­räusch von sich, und die Fäden in seiner un­mittelbaren Umgebung, die von seinem Auf-und Abhüpfen bewegt wurden, knisterten unaufhörlich.

Zwei Meter vor dem Knoten blieb ich ste­hen – und plötzlich nahm ich ihn wieder wahr, jenen eigentümlichen Geruch, den wir zum ersten Mal bemerkt hatten, als wir an der nordwestlichen Pyramide nach einem Eingang suchten. Er ging unzweifelhaft von dem Knoten aus. Wahrscheinlich war er hier besonders intensiv.

Einigermaßen hilflos stand ich vor dem hüpfenden Gebilde. Was sollte ich jetzt tun? Was wurde von mir erwartet? Ich begann zu sprechen.

»Ich bin Atlan. Ich komme von Terra. Wer bist du?«

Für wen meine Worte bestimmt waren, wußte ich selbst nicht. Es konnte doch un­

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möglich der Knoten sein. Da ich keine Ant­wort bekam, erwies sich meine Frage schließlich als unerheblich. Dann überlegte ich mir, ob die Schwingungen des Knotens womöglich irgendeine Art von Information enthielten. Ich beobachtete genau, wie das bleiche Gebilde auf- und abhüpfte. Es tat es mit stets der gleichen Geschwindigkeit und denselben Ausschlägen nach oben und nach unten. Nur …

Die Schwingungsrichtung schien sich ge­ändert zu haben. Ich bemerkte es, weil die Fäden plötzlich lauter knisterten als zuvor und sich an manchen Stellen ineinander zu verfangen schienen. Ich folgte den Bewe­gungen des Knotens mit gespannter Auf­merksamkeit und versuchte, entlang des Schwingungspfades etwas Ungewöhnliches zu finden, das er womöglich zu meiner Kenntnis bringen wollte.

Diese Vorgehensweise hatte schließlich Erfolg. In der Tiefe des Gespinsts, also dort, wo der schwingende Knoten umkehrte, wenn er seinen tiefsten Punkt erreicht hatte, entdeckte ich schattenhafte Umrisse, die ver­mutlich die Überreste der Konsole darstell­ten, die sich früher hier befunden hatte. Ich beugte mich nach vorne, um besser sehen zu können. Da geschah etwas Erstaunliches.

Der Knoten hörte plötzlich auf zu schwin­gen. Statt dessen wurde das Geknister der Fäden noch intensiver. Sie wichen abermals beiseite – diesmal jedoch nicht, um einen Gang für mich freizumachen, sondern um mir einen unbehinderten Blick auf das Ge­bilde zu ermöglichen, das ich bislang nur in Umrissen hatte sehen können.

Ich erwartete die Enthüllung eines gewal­tigen Geheimnisses und war zutiefst ent­täuscht, als ich nur einen länglichen Kasten sah, dessen Funktion mir ebenso rätselhaft war wie die aller anderen Geräte an Bord der uralten Beiboote.

Diese Sache konnte ich nicht mehr alleine handhaben. Ich rief Razamon zu mir. Er kam ohne Zögern.

»Was ist das dort?« fragte ich und deutete auf den Kasten.

Er bückte sich, um besser sehen zu kön­nen.

»Weiß ich nicht«, knurrte er. »Kann ich es heranholen?«

»Laß mich das lieber machen«, riet ich. »Und sei bereit, falls der Unsichtbare wieder elektrische Schläge austeilt!«

Ich ging in die Knie. Mit großer Sorgfalt faßte ich das kastenförmige Gerät und zog es in den freien Raum, den das Gespinst für uns ausgespart hatte. Ich fand, daß die Ver­kleidung locker war. Ein Deckel ließ sich einfach abheben. Unter ihm kam das Innen­leben des Kastens zum Vorschein, das für mich genauso verwirrend war, wie ich er­wartet hatte. Dagegen schien Razamon plötzlich einen Einfall zu haben.

»Gib mir das Ding!« verlangte er. Ich hob es auf und reichte es ihm. Er stu­

dierte es sorgfältig und stocherte mit ausge­strecktem Zeigefinger in der verwirrenden Vielfalt von Drähten, Kontakten, Plättchen und Relais umher.

»Das hier ist eine Membrane«, erklärte er. Zwischen zwei Fingerspitzen faßte er ein

zerbrechlich wirkendes Gebilde und zog es hervor.

»Eine Membrane erfüllt vielerlei Funktio­nen«, fuhr Razamon zu dozieren fort, »aber wenn man sie in einem elektronischen Gerät findet, denkt man zuerst an einen Lautspre­cher. Diese Membrane hier hat sich selb­ständig gemacht. Der Fuß der Halterung ist abgebrochen, so daß das Membranmaterial durch die angelegte Wechselspannung nicht mehr zum Schwingen gebracht werden kann. Das läßt sich einfach beheben. Man muß nur das abgebrochene Stück wieder …«

Er schob das zerbrechliche Ding wieder in den Kasten zurück. Gleich darauf ereignete sich eine Fülle verwirrender Dinge. Aus dem Kasten drang eine kräftige Stimme, die uns zu verstehen gab:

»Ich bin der Steuermann!« Andererseits war Razamon über den völ­

lig unerwarteten Effekt seiner Betriebsam­keit dermaßen verblüfft, daß er zusammen­zuckte und den Kasten vor Schreck zu Bo­

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den geworfen hätte, wenn ich nicht blitz­schnell zur Seite gewesen wäre, um das Ge­rät aufzufangen. Ich fühlte den Kasten vi­brieren, als die fremde Stimme von neuem zu sprechen begann:

»Ich habe euch beobachtet. Es scheint mir, ihr seid Fremde auf Pthor. Ihr wollt die Geheimnisse dieser Welt erforschen. Ich will euch von den Geheimnissen berichten, soviel euch zu wissen erlaubt ist.«

*

Unter dem Vorwand, sie wolle die Lage erkunden, hatte Thalia sich von ihren Brü­dern entfernt. Vor kurzem hatte man zum er­sten Mal seit vielen Stunden wieder den gräßlichen Schrei eines der Ungeheuer der Nacht aus der Ferne gehört. Balduur hatte infolgedessen darauf bestanden, daß Fenrir Thalia begleite – als Beschützer.

Thalia brach auf, nachdem sie mit den Brüdern einen Treffpunkt vereinbart hatte. Als erstes suchte sie den alten Lagerplatz auf. Dort befand sich nur Kolphyr. Er wußte nichts über den Verbleib Razamons und At­lans und war der Ansicht, sie befänden sich noch immer in der nordwestlichen Pyrami­de.

Thalia schilderte ihm kurz, was sie dort vorgefunden hatte. Dann erklärte sie:

»Meine Brüder sind unterwegs, um euch zur Anerkennung ihrer Herrschaft zu zwin­gen. Es kann zum Kampf kommen. Atlan hat mich angewiesen, zu den Brüdern zu halten. Ich gehorche ihm. Aber trotzdem will ich ihn warnen.«

Da richtete sich der Bera zu seiner vollen Größe auf. Der Velst-Schleier leuchtete ge­heimnisvoll, und darunter wirkte die Haut wie ein Mantel aus gebrochenem Glas.

»Wollen sie uns ihre Herrschaft aufzwin­gen?« fragte er mit schneidender, heller Stimme. »Dann werden wir ihnen zeigen, daß wir uns nichts aufzwingen lassen! Lauf zu, Mädchen! Atlan wird sich bedanken, von dir gewarnt zu sein! Aber fürchte dich nicht! Wir haben mehr Macht als deine Brüder!«

Kurt Mahr

Thalia eilte weiter. Kolphyr blickte ihr nach, bis sie mit dem Wolf im Halbdunkel verschwand.

»Tapferes Mädchen«, murmelte er auf Pthora. »Ich glaube, sie hat ein Herz für At­lan.«

Inzwischen hatte Thalia die nordwestliche Pyramide erreicht. Wenn sie ihre Brüder nicht mißtrauisch machen wollte, mußte sie sich beeilen. Sie rief Atlans und Razamons Namen, aber niemand antwortete. Sie war verzweifelt. Da fiel ihr die Horde Dellos ein, die ihr bei ihrem ersten Besuch begegnet war. Die Dellos kamen von der nördlichsten Pyramide, von wo sie der Steuermann ver­trieben hatte. Ob Atlan sich dorthin gewandt hatte? Thalia entschloß sich, einen letzten Versuch zu machen. Wenn sie auch diesmal keinen Erfolg hatte, mußte sie zu den Brü­dern zurückkehren, ohne den Fremden ge­warnt zu haben.

Als sie die offene Tür an der Flanke der Pyramide fand, wußte sie, daß sie auf dem rechten Weg war. Sie drang ein. Sie wollte rufen, aber noch bevor ihr der erste Laut über die Lippen kam, hörte sie von oben lau­te Stimmen. Sie hörte Atlan sprechen und die Stimme eines Unbekannten ihm antwor­ten.

Sie kletterte die Leiter hinauf, während Fenrir zurückblieb. Sie gab sich keine Mühe, die Geräusche zu dämpfen, die ihre Rüstung und besonders die Vars-Kugel verursachten. Sie machte, um genau zu sein, im Gegenteil soviel Krach, daß es sie wunderte, warum man dort oben die Unterhaltung nicht unter­brach und nach der Ursache des Geräusches Ausschau hielt.

Schließlich schob sie den behelmten Kopf durch die Bodenöffnung des dritten Decks. Was sie sah, ließ ihr einen Atemzug lang das Blut in den Adern stocken. Sie erblickte At­lan und Razamon, umgeben von einem un­durchdringlichen, widerlichen Gespinst. In diesem Augenblick sprach die fremde Stim­me, die irgendwo aus dem Zentrum des gro­tesken Gebildes kam, und erklärte:

»Niemand aber darf das wahre Geheimnis

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43 Der Steuermann von Pthor

von Pthor erfahren. Ich, der Steuermann, bin zum Wächter darüber gesetzt, daß das Ver­mächtnis der Schwarzen Galaxis unangeta­stet bleibt!«

Da glaubte Thalia zu wissen, woran sie war. Mit grimmigem Mut stürzte sie sich aus dem Schacht hervor. Klirrend straffte sich die Kette der Vars-Kugel, als die fürchterli­che Waffe sich in wildem Schwung erhob.

Den entsetzten Schrei, der ihr entgegen­gellte, beachtete Thalia nicht.

*

Die Stimme sprach altmodisches Pthora. Ich setzte den Lautsprecherkasten behutsam auf den Boden. Der Unsichtbare hatte eine Pause gemacht. Ich benutzte sie, um ihn zu fragen:

»Kannst du nur sprechen, oder kannst du uns auch hören?«

»Ich höre dich«, lautete die Antwort. »Ich hätte von allem Anfang an zu euch sprechen können. Aber eine Horde von Dellos hatte sich hier eingenistet. Ich mußte sie vertrei­ben. Die Burschen waren hartnäckig. Ein paar von ihnen starben. Der letzte, der das Boot verlassen wollte, brach an der Stelle zusammen, an der du stehst. Er fiel auf das Sprechgerät und machte es unbrauchbar. Ich bin froh, daß ihr meine Geste verstanden habt.«

Ich sah unsicher zu dem bleichen Knoten auf.

»Bist du derjenige, der zu uns spricht?« »Zu dir spricht der Steuermann. Alles,

was du siehst, gehört zum Steuermann. Aber der Steuermann ist weitaus größer als die Summe dessen, was du vor Augen hast.«

»Bist du ein lebendes Wesen?« »Was ist die Alternative?« »Du könntest eine Maschine sein. Wie die

Robotbürger von Wolterhaven.« »Ich bin ein lebendes Wesen. Meine Hei­

mat ist die Schwarze Galaxis. Auf Geheiß des Großen Oheims habe ich mich auf Pthor angesiedelt, um seinen Enkeln beim Steuern dieses Eilends behilflich zu sein. Durch mei­

ne Adern fließen die Kontrollströme, die den Einheiten des Antriebs sagen, was sie zu tun haben. Die Ströme sind gleichzeitig mein Leben. Wenn sie zu fließen aufhören, sinke ich in Schlaf. Nur wenn die Ströme fließen, bin ich glücklich.«

»Bist du ein Telepath?« fragte ich, denn nun könnte ich mir den Ausruf des Wohlbe­findens erklären, den ich gehört hatte, als ich mich das letzte Mal zur Ruhe bettete.

Der Steuermann wußte nicht, was ein Te­lepath war. Ich mußte ihm den Begriff um­schreiben.

»Es gibt Wesen, die meine Gedanken empfangen können, ohne Augen oder Ohren dabei zu gebrauchen«, antwortete er. »Die Enkel des Großen Oheims gehörten dazu. Auch die, die sich die Kinder Odins nennen, sind von dieser Art. Es gibt wieder andere, die nur gewisse Regungen meines Bewußt­seins wahrnehmen können. Zu diesen scheinst du zu gehören. Und schließlich gibt es die große Menge derer, die meine Bot­schaft nur mit Ohren oder Augen erfassen können. Zu diesen gehört dein Freund.«

Damit war vieles geklärt – nur dieses eine nicht: Wodurch unterschieden sich die ver­schiedenen Kategorien von Lebewesen, die den Steuermann auf telepathischem Wege deutlich, nur zum Teil oder überhaupt nicht empfangen konnten?

Doch das war nicht meine vordringlichste Sorge. Es gab andere Dinge, die der Klärung weitaus dringender bedurften.

»Wohin führt Pthors derzeitiger Kurs?« wollte ich wissen.

»In die Heimat«, lautete die Antwort. »In die Schwarze Galaxis, zu den Hallen des Großen Oheims.«

»Wo liegt der Antrieb, der Pthor be­wegt?«

»In den tiefen des Eilands«, erklärte der Steuermann. »Von den sieben Pyramiden aus führen Schächte hinab bis zu den mäch­tigen Maschinen, die Pthor bewegen.«

»Wirst du uns erlauben, dort hinabzustei­gen?« lautete meine nächste Frage.

Irgend etwas im Hintergrund begann,

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mich abzulenken – ausgerechnet in diesem wichtigen Augenblick. Ich hörte Lärm und metallisches Geklirr. Ein dritter mußte die Pyramide betreten haben. Das Klirren wurde lauter. Ich machte eine Kopfbewegung in Razamons Richtung, er solle nachsehen, was das Geräusch zu bedeuten hatte. Aber der Pthorer war von der seltsamen Unterhaltung in demselben Maße gefesselt wie ich. Er rührte sich nicht vom Fleck.

»Ich erlaube es euch«, antwortete der Steuermann. »Dort unten liegt auch das Ge­heimnis von Pthor. Aber es ist geschützt, so daß ihr euch ihm nicht werdet nähern kön­nen.«

»Der Antrieb gehört nicht mit zum Ge­heimnis von Pthor?« erkundigte ich mich.

»Nicht unmittelbar. Der Antrieb sorgt da­für, daß Pthor den Auftrag erfüllen kann, der sich aus dem Geheimnis ergibt. Jeder kann gehen und die Maschinen ansehen, die den Antrieb des Eilands bewirken. Niemand aber darf das wahre Geheimnis von Pthor erfah­ren. Ich, der Steuermann, bin zum Wächter darüber gesetzt, daß das Vermächtnis der Schwarzen Galaxis unangetastet bleibt!«

In diesem Augenblick ertönte ein zorniger Schrei. Ich fuhr herum und erblickte eine in Eisen gekleidete, behelmte Gestalt, die sich aus dem Leiterschacht schwang. Ich sah die fürchterliche Vars-Kugel emporschwingen und an der Kette zerren. Ich sprang auf und wollte mich Thalia in den Weg werfen. Aber die gepanzerte Gestalt fegte mich einfach zur Seite. Razamon schrie entsetzt auf, und eine gellende Mahnung auf mentaler Ebene ließ mein Gehirn erzittern.

Aber der Angreifer war nicht mehr aufzu­halten. Mit mörderischer Wucht fuhr die Vars-Kugel in das Fadengewirr des Ge­spinsts und prallte auf den bleichen Knoten.

9.

Ich handelte mechanisch. Ich sprang vor­wärts, duckte mich unter der Vars-Kugel hindurch und bekam die eiserne Gestalt bei den Schultern zu fassen.

Kurt Mahr

»Hör auf, du Närrin!« schrie ich aus vol­ler Kraft.

Ich begann zu zerren. Ich wollte die Ge­panzerte rückwärts reißen, so daß sie keinen weiteren Schaden anrichten konnte. Aber ich bin nicht sicher, ob ich Erfolg gehabt hätte, wenn mir nicht eine unerwartete Entwick­lung zu Hilfe gekommen wäre.

Der Boden begann zu schwanken. Ein tie­fes, drohendes Knirschen war zu hören. Tha­lia und ich verloren das Gleichgewicht. Wir stürzten. Die Vars-Kugel entglitt Thalias Hand und rollte in Richtung des Leiter­schachts. Ich war sofort wieder auf den Bei­nen. Das Gespinst war abermals in Bewe­gung geraten. Aber diesmal zuckte es und wand sich wie in heftigem Schmerz. Das Knistern war lauter geworden und klang wie das Schreien Tausender winziger Wesen, die sich in dem Gewirr der Fäden verborgen hielten. Gleichzeitig veränderten die Fäden ihre Farbe. Sie wurden grün, dann gelblich, und der Knoten in der Mitte des Gespinsts zitterte, als hinge er an einer straff gespann­ten Saite, die soeben angeschlagen worden war.

Ich kniete nieder, um dem Lautsprecher näher zu sein. Der Lärm ringsum war so oh­renbetäubend, daß es fast unmöglich sein würde, sich verständlich zu machen.

»Es war ein Versehen!« schrie ich. »Thalia glaubte, ich sei in Gefahr!«

»Unglück …!« drang es aus dem Empfän­ger. »Pthor … große Gefahr!«

Die Stimme des Steuermanns war schwä­cher geworden. Der Treffer der Vars-Kugel hatte ihn anscheinend halb bewußtlos ge­macht.

»Kurs verloren …!« stieß er hervor. »Ungewiß, auf welchem Kurs … wir uns jetzt … befinden.«

Damit erstarb die Stimme. Aber die Fä­den, grotesk verfärbt, waren immer noch in zuckender Bewegung, und der mächtige Knoten fuhr fort zu zittern. Ich glaubte nicht, daß der Steuermann ernsthaften Scha­den erlitten hatte. Er war nicht tot, nur für den Augenblick in der Ausübung seiner

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Funktion behindert. Pthor war vom Kurs abgekommen! Unser

Ziel war nicht mehr die Schwarze Galaxis! Das war es, was Thalias Eingreifen bewirkt hatte, und dafür war ich ihr eigentlich zu Dank verpflichtet.

Ich half ihr auf. Durch die Sehschlitze des Helms sah sie mich verwundert an.

»Was ist geschehen? Hat er dich freigege­ben?«

»Er hat mich niemals gefangengenom­men«, antwortete ich. »Ich war nicht in Ge­fahr. Dennoch danke ich dir. Du hast wahr­scheinlich nicht nur mich, sondern uns alle gerettet.«

Ich schob sie in Richtung der Leiter. Der Boden war immer noch in Bewegung, als würde Pthor von einem fürchterlichen Erd­beben heimgesucht. Wir mußten hinaus ins Freie!

In aller Hast kletterten wir die Leiter hin­ab. Fenrir begrüßte uns mit einem knurren­den Laut. Wir eilten hinaus ins Freie. Das Halbdunkel schien düsterer als je zuvor; aber das mochte daran liegen, daß wir uns an den Mangel an Licht erst wieder gewöh­nen mußten. Ein Wind war aufgekommen. Der Boden zitterte unaufhörlich, und das stete Rauschen, das die Ohren infolge seiner Eintönigkeit schon längst aufgehört hatten wahrzunehmen, war mit einemmal von einer ganz neuen Beschaffenheit: Es schwoll an und nahm wieder ab. Man konnte es sich als das Geräusch des Fahrtwinds vorstellen, das Pthor bei seiner Reise durch die Dimensio­nen begleitete. Es bestand kein Zweifel: Der Dimensionenfahrstuhl war vom geraden Weg abgekommen. Er taumelte durch den Raum zwischen den Universen, und nie­mand wußte, an welchem Ziel er schließlich materialisieren würde.

Die Vorstellung war haarsträubend. Aber ich kam nicht dazu, mich mit ihr zu befas­sen. Näherliegende Dinge drängten. Drei Gestalten tauchten aus dem Dunkel vor uns auf: Balduur, Heimdall und Sigurd. Die Art und Weise, wie sich die Fäuste um die Grif­fe ihrer Waffen schlossen, bewies, daß sie

nicht in freundlicher Absicht hier waren. Ich atmete unwillkürlich auf, als schließ­

lich eine vierte Gestalt auftauchte – abseits der Odinssöhne und von diesen unbemerkt. Kolphyrs Velst-Schleier schimmerte ge­heimnisvoll.

*

Heimdall sprach als erster. »Was sucht Honir auf der Seite der Frem­

den?« dröhnte seine Stimme. Thalia hatte sich abseits postiert, weder auf unsere Seite, noch auf die ihrer Brüder. Wahrscheinlich aber hatten die drei Brüder gesehen, wie sie mit uns aus der Pyramide gekommen war. Ich hatte keine Lust, mich auf eine lange Debatte einzulassen. Dem Hochmut der Od-inssöhne mußte von Anfang an die Spitze abgebrochen werden.

»Honir, der in Wirklichkeit Thalia ist, hat Pthor vor einer großen Gefahr gerettet!« ant­wortete ich. »Was weder ihr, noch wir haben bewerkstelligen können, das hat Thalia mit beispiellosem Mut und einem einzigen Schlag der Vars-Kugel bewirkt: Pthor ist nicht mehr auf dem verderblichen Kurs in die Schwarze Galaxis.«

Während ich sprach, war Thalia zu ihren Brüdern hinübergewechselt. Niemand hin­derte sie daran. Meine Worte machten Ein­druck.

»Honir ist in Wahrheit ein Kind Odins!« ertönte Heimdall. »Und damit einer der vier Herrscher von Pthor.«

Ich spürte, worauf er hinaus wollte. »Ich selbst habe Thalia erklärt, daß es für

Pthor in dieser Lage keine bessere Herr­schaft gibt als die der Odinskinder.«

Das brachte ihn ein wenig aus dem Gleichgewicht.

»Du meinst, ihr erkennt unsere Herrschaft an?«

»Wir? Was haben wir mit euch zu schaf­fen? Wir sind unsere eigenen Herren!«

Er reckte den behelmten Schädel. »Es kann auf Pthor kein Geschöpf geben,

das unsere Herrschaft nicht anerkennt!«

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donnerte er. »Wenn ihr uns nicht freiwillig eure Ergebenheit schenkt, dann werden wir sie uns mit dem Schwert holen.«

Ich lachte. »Heimdall, du bist ein Narr!« verhöhnte

ich ihn. »Ihr und eure Schwerter – was kön­nen sie schon gegen uns ausrichten? Sieh mich an! Ich trage das Goldene Vlies, an dem jede Waffe stumpf wird. Dann sieh dir Razamon, meinen Gefährten, an. Er stammt aus der Familie Knyr, und seine Kampfes­wut ist unbezähmbar. Schließlich aber sieh den Mächtigsten in unserer Runde, Kolphyr, den Helden von Bera. Hast du gehört, wie er sich aus dem Eis des Flusses befreite, als wir uns der FESTUNG näherten?«

Ich spielte auf das Ereignis an, das Kol­phyr und uns um ein Haar zum Verhängnis geworden wäre. Wir hatten uns in einer der zahllosen Fallen der Herren der FESTUNG gefangen, einem rapide vereisenden Fluß. Schließlich hatte er sich und uns befreit, in­dem er den Velst-Schleier an einem seiner Finger ein winziges Stück weit öffnete und seine Körpersubstanz, die aus Antimaterie bestand, mit dem Eis des Flusses reagieren ließ. Das Ergebnis war eine spektakuläre Explosion gewesen.

»Ich habe davon erfahren«, antwortete Heimdall düster. »Es geht das Gerücht, daß dein Gefährte ein mächtigerer Zauberer ist als selbst Copasallior, der Weltenmagier.«

»Das Gerücht sagt die Wahrheit«, antwor­tete ich. »Nun mögt ihr euch überlegen, ob ihr gegen eine Gruppe von Leuten kämpfen wollt, die über solche Kräfte verfügen.«

Ich sah ihm an, daß er sich gerne mit sei­nen Brüdern beraten hätte. Das aber wäre ein Eingeständnis seiner Schwäche gewesen, und ein solches Eingeständnis durfte er nicht machen. Er war gezwungen, seine eigene Entscheidung zu treffen. Sie fiel so aus, wie man es von einem Sohn Odins erwartete.

»Wir brauchen euren Treueid nicht!« er­klärte er. »Wir wissen, daß wir die Herren sind, auch ohne daß ihr uns eurer Ergeben­heit versichert habt. Aber wir können nicht dulden, daß ihr Dinge tut, die im Wider-

Kurt Mahr

spruch zu den Anordnungen stehen, die wir dem Volk von Pthor erteilen. Ihr mögt selb­ständig sein – aber selbständig nur bis dort­hin, wo ihr an die Grenze der Machtfülle der Herrscher von Pthor rührt. Überschreitet ihr diese Grenze, dann werden wir mit euch kämpfen. Und wenn wir auch die Niederlage deutlich vor Augen sähen, müßten wir den­noch zur Waffe greifen. Besiegt ihr uns, dann werdet womöglich ihr die nächsten Herren von Pthor.«

Seine Worte beeindruckten mich. »Wir werden nicht gegen euch arbeiten«,

versprach ich. »Ihr und wir haben gemein­sam das Wohl dieses Landes im Sinn. Wenn es Meinungsverschiedenheiten zwischen uns gibt, werden wir darüber sprechen, wie es sich unter Männern geziemt.«

Er war damit einverstanden. Wir wieder­um hatten nichts gegen seinen Vorschlag einzuwenden, ihn und seine Brüder zur FE­STUNG zu begleiten.

*

Im Grunde genommen hatten wir nicht schlecht abgeschnitten.

Die Herren der FESTUNG waren besei­tigt, Pthor hatte die Erde verlassen und be­fand sich nicht mehr auf dem Kurs zur Schwarzen Galaxis. Im Lauf der nächsten Stunden wurden die Erschütterungen, die den kosmischen Materiebrocken durchlie­fen, allmählich geringer, und das Rauschen des fernen Wasserfalls näherte sich wieder der früheren Eintönigkeit.

Wir hatten Balduur, Heimdall und Sigurd von dem Steuermann berichtet und davon, daß von der Basis einer jeden Pyramide aus Schächte in die Tiefe führten, in der sich das komplizierte Antriebssystem des Dimensio­nenfahrstuhls befand. Ich hatte mein Interes­se geäußert, sobald wie möglich in die Tiefe vorzustoßen. Dagegen hatten die Odinssöh­ne jedoch ernsteste Einwände geltend ge­macht. Sie redeten mit gewaltigen Worten gegen meinen Vorschlag, aber es war un­schwer zu erkennen, daß sie ganz einfach

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Angst hatten, ich könne durch eine unbe­dachte Manipulation der Triebwerksmaschi­nen Pthor in ernste Gefahr bringen.

Ich gab schließlich nach. Die Expedition in die Tiefe war jetzt, da Pthor sich ohnehin nicht mehr auf die Schwarze Galaxis zube­wegte, von geringerer Wichtigkeit als zuvor. Eines Tages, das wüßte ich, würde ich mit meinen Gefährten durch einen der Schächte in die Unterwelt von Pthor vorstoßen – ob mit oder ohne Zustimmung der neuen Herr­scher, das war mir dann gleichgültig. Aber vorerst war es wichtiger, das Einvernehmen zu wahren.

Vom Steuermann hörten wir vorläufig nichts mehr. Ich war überzeugt, daß er sich von Thalias mörderischem Schlag längst er­holt hatte. Er schien mir im Grunde genom­men ein harmloser, wenn auch pompöser Geselle zu sein, der seinen Lebensinhalt dar­in sah, die Aufgaben zu verrichten, die der Große Oheim ihm aufgetragen hatte.

Von Kolphyr erfuhr ich, daß Koy uns ver­

lassen hatte. Das tat mir leid. Koy war ein angenehmer Gefährte gewesen. Aber ich verstand ihn. Er war ein Kind dieses Landes. Der Kampf um die FESTUNG und die nach­folgenden Ereignisse hatten ihn weitaus mehr aufgewühlt als einen von uns. Ich wünschte ihm, daß er Aghmonth heil errei­che.

Inzwischen hatten die Odinssöhne be­schlossen, ein paar hundert Dellos auszu­schicken, damit sie der Welt den Tod der Herren der FESTUNG und den Machtantritt der neuen Herren verkündeten. Es war damit zu rechnen, daß dann der eigentliche Macht­kampf begann.

Wir gingen, dessen war ich sicher, aufre­genden Zeiten entgegen.

ENDE

E N D E