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Der trojanische Götze

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Geisterfänger Band 20

Der trojanische Götze von A. F. Morland

Ein Paradies wird zum Höllentor.

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»Sam ist ein Glückspilz«, sagte Ray Elliot. »Ich beneide ihn.« »Weswegen?«, fragte Joan Vance. Sie lehnte an ihm. Dumpf

brummten die Zwillingsmotoren des Bootes, das sie auf Key West ge­mietet hatten.

Elliott wies nach vorn. »Sieh dir diese Trauminsel an. Ist sie nicht prachtvoll?«

Der bewaldete Buckel ragte aus den dunklen Fluten des Meeres: Umbrandet von den Wellen, die durch die Straße von Florida rollten, umgeben von Felsenriffen, umrankt von Sagen und Legenden.

Hier hatte sich der erfolgreiche Filmschauspieler Sam Willard nie­dergelassen. Er hatte die Insel gekauft und sich ein Haus darauf ge­baut, das einem Palast glich.

In Ruhe und Zurückgezogenheit lebte Willard zwischen den hekti­schen Terminen auf seiner Insel. Er teilte es sich so ein, dass er etwa ein halbes Jahr intensiv arbeitete und die zweite Hälfte des Jahres auf seiner Insel dem süßen Nichtstun frönte.

In dieser Zeit konnten ihn nur Spitzenangebote fortlocken. Joan schauderte. Sie war rothaarig und hatte meergrüne Augen,

eine makellose Figur und formvollendete Brüste. Auch sie war Schau­spielerin. Genau wie Ray Elliott, in den sie sich, während der letzten Dreharbeiten zu einem Agentenreißer, verliebt hatte.

Ray sah hinreißend aus. Die Frauen von sieben bis siebzig liebten ihn. Wo er auftauchte, bekamen die Mädchen Weinkrämpfe und fielen scharenweise in Ohnmacht. Er hatte weiße regelmäßige Zähne, einen gesunden Teint, war durchtrainiert und muskulös und sein röt­lichblondes Haar war seit Jahren sein Markenzeichen.

»Mir wäre, wenn ich auf dieser Insel ständig leben müsste, un­heimlich zumute«, sagte Joan.

Darüber lachte Ray. »Hör mal, die Insel ist ein wahres Paradies. So etwas findest du kaum noch.«

»Ich bin nicht gern allein. Seit meine Mutter nicht mehr lebt, habe ich panische Angst vor dem Alleinsein.«

Ray legte lächelnd seinen Arm um sie. »Du wirst nicht allein sein, Darling. Ich bin ja bei dir.«

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Überraschend schnell ging die Sonne im Westen unter. Eine un­wirkliche Dämmerung legte sich auf das Meer. Es war nicht mehr weit bis zur Insel. Als das Boot das Eiland erreichte, ging die Dämmerung bereits in einen milden Abend über.

Der Bootseigner steuerte sein Schiff in eine idyllische Bucht. Dort gab es einen hölzernen Landesteg. Ihn visierte der schweigsame Mann an. Während er das Boot beidrehte, ließ Joan Vance das Panorama auf sich einwirken.

Für sie hatte das Eiland nichts Faszinierendes an sich. Sie fühlte sich davon auf eine unerklärliche Weise abgestoßen, nicht angezogen. Leben? Nein, leben hätte sie darauf niemals wollen. Nicht einmal be­graben hätte sie auf dieser Insel sein wollen.

Sie erschrak. Was für ein Gedanke. Wie kam sie aufs Begraben? Weil ihre Mutter erst vor neun Mona­

ten beerdigt worden war? Sie war nicht leicht darüber hinweggekom­men, denn die Bindung zu ihrer Mutter war sehr stark gewesen. Der Tod war ein schlimmer Schock für sie gewesen.

Sie hatte gedacht, darüber hinwegkommen zu können, wenn sie recht viel arbeitete. Doch das Gegenteil war der Fall und sie handelte sich auch noch einen Nervenzusammenbruch ein, der sie zwang, zwei Monate zu pausieren und sich in eine Klinik zurückzuziehen.

Der Film, den sie mit Ray zusammen gedreht hatte, war der erste nach dieser Zwangspause gewesen und Ray war so rührend besorgt um sie gewesen, dass sie sich in ihn einfach verlieben musste. Selt­sam, bei anderen Männern hatte sie niemals Angst gehabt, sie wieder zu verlieren. Aber bei Ray erging es ihr so. Ray war ihre erste große Liebe.

Das Boot legte an. Joan ging von Bord. Ray war ihr dabei behilf­lich. Der Bootsbesitzer brachte ihre beiden Reisetaschen nach und stellte sie auf die Planken.

»Viel Spaß«, sagte der Mann. »Einen vergnüglichen Aufenthalt wünsche ich.«

»Danke«, erwiderte Ray Elliott. Der Bootseigner sprang wieder auf sein Schiff, winkte und fuhr ab.

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Mit zunehmender Geschwindigkeit brauste er aus der kleinen Bucht hinaus. Wenig später verschwand das Schiff hinter einer schar­fen Klippennase.

»Wie oft warst du schon auf dieser Insel, Ray?«, fragte Joan. »Zweimal.« »Ich bin zum ersten Mal hier.« »Ich weiß und es gefällt dir nicht sonderlich, das sehe ich dir an.« »Ich fürchte mich vor dieser Insel«, sagte Joan Vance leise. »Sie

ist mir unheimlich.« »Unsinn. Das bildest du dir bloß ein.« »Kein einziger Vogel singt.« »Sobald es dunkel wird, verstummen anderswo auch die Vögel.

Das hat nichts zu bedeuten.« Ray Elliot griff nach den beiden Reisetaschen. »Komm«, sagte er

und schritt den Holzsteg entlang. Süße schwere Düfte lagen in der Luft. Eine üppige Vegetation präsentierte sich den beiden in un­berührter Wildheit. »Sams Reich«, sagte Ray. »Ich beneide ihn darum. Er wird gleich mit seinem Jeep angebraust kommen. Sicher hat er uns von seinem Haus aus kommen gesehen.«

Jedes Jahr lud Sam Willard gute Freunde zu sich auf die Insel ein. Freunde, die mit ihm seinen Geburtstag feiern sollten. Er legte Wert darauf, dass sie ihm keine Geschenke mitbrachten. Sie sollten ihn le­diglich mit ihrer Anwesenheit erfreuen. Er war gern oft und viel allein. Aber an seinem Geburtstag wollte er Jubel, Trubel und Heiterkeit um sich haben.

Joans misstrauischer Blick streifte die Umgebung. »Ist es weit bis zu Sams Haus?«, fragte sie. »Ich kenne es nur von Fotos.«

»Zu Fuß würden wir schätzungsweise zehn Minuten gehen.« »Wollen wir's tun?« Ray Elliott lächelte. »Ich bin dafür, wir warten auf Sam und ge­

nießen den paradiesischen Rahmen. Weckt diese idyllische Bucht nicht romantische Gefühle in dir?«

»Nein. Eigentlich nicht.«

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»Was für ein nüchterner Mensch du bist. Schäme dich.« Schmun­zelnd nahm Ray das rothaarige Mädchen in die Arme. Er drückte es fest an sich und als er es küsste, schloss Joan automatisch die Augen.

Sie riss sie aber gleich wieder auf, denn irgendwo im nahen Di­ckicht hatte ein morscher Ast gekracht. Beobachtete sie jemand? Jo­ans Augen suchten die Person.

Ihr war, als würde sich zwischen Farnen und Büschen etwas be­wegen. Eine Gestalt. Geduckt schien sie heranzuschleichen. Zweige und Blätter teilten sich und im selben Augenblick vermeinte Joan Van­ce eine entsetzliche Fratze zu sehen, die an ihren Konturen mit der Dunkelheit verschwamm.

Der gellende Schrei, den sie ausstieß, war eine logische Folge... Ray erschrak. Er trat einen Schritt zurück. Seine Hände hielten die

Schultern des Mädchens. Joan schaute ihn nicht an. Sie blickte an ihm vorbei. Ihre Augen waren weit aufgerissen.

»Mein Gott, Joan, was hast du denn?« Das Mädchen bekam eine Gänsehaut. »Da!«, presste sie mühsam

hervor. »Hinter dir, Ray!« Er wirbelte herum. Zweige und Blätter schnellten zusammen. Ra­

scher, als Ray Elliott sich umdrehen konnte. Er sah nichts. Nur eine dunkle Naturwand.

»Es ist doch nichts«, sagte Ray. »Doch. Hinter den Zweigen und Blättern«, flüsterte Joan Vance.

Sie zitterte vor Aufregung. »Was hast du gesehen?« »Ich kann es nicht genau beschreiben. Aber es war ein Gesicht in

der Dunkelheit, Ray. Eine abstoßende Fratze. Möglicherweise mit Haa­ren bedeckt. Und ein Augenpaar hat mich angestarrt. So grausam und feindselig, wie ich es nie zuvor erlebt habe.« Sie schluckte trocken. »Du glaubst mir doch, Ray, oder? Du musst mir glauben. Es war kein Hirngespinst.«

»Warte«, sagte Ray Elliott energisch. »Ich seh mal nach.« »Nein!«, schrie Joan erschrocken auf. »Bleib hier! Bleib bei mir!

Du darfst mich jetzt nicht allein lassen! Ich würde vor Angst den Verstand verlieren!«

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»Unsinn. Du wirst dich zusammenreißen und dich nicht von der Stelle rühren«, sägte Ray Elliott und lief davon.

Joan presste die Fäuste an ihre blassen Wangen. Furchtvoll waren ihre Augen aufgerissen. Es schien, als würde sie mit Sicherheit wissen, dass sie Ray nicht lebend wieder sehen würde.

»Ray«, hauchte sie. »Ray, bleib doch hier.« Aber Ray hörte sie nicht. Wenn es wirklich einen Kerl gab, der sich

im Unterholz herumtrieb, wollte Ray ihn sich schnappen und ihn we­gen des Schreckens, den er Joan Vance eingejagt hatte, zurechtwei­sen.

Unerschrocken stürmte er in das wilde Dickicht. Er schlug Zweige beiseite, stampfte Gräser nieder, bahnte sich aggressiv seinen Weg. Es war so dunkel, dass kaum etwas zu erkennen war.

Ray hatte plötzlich den Eindruck, zwischen zwei Baumstämmen würde eine Gestalt hindurch huschen. Es konnte aber auch nur Einbil­dung sein. War er schon angesteckt von Joans Nervosität?

Er hastete auf die beiden Bäume zu. Eine Wurzel, die sich aus dem Erdreich krümmte, ließ ihn stolpern. Er kippte nach vorn, streckte die Arme aus und fing sich auf dem weichen Boden mit den Händen ab.

Da! Das leise Atmen eines Menschen war zu hören. Ray Elliott federte

sogleich wieder hoch. Schleifende Geräusche stahlen sich davon. Ray wollte das nicht zulassen. Er rannte hinter den geisterhaften Geräu­schen her.

»Halt!«, knurrte er. »Hier geblieben!« Schemenhaft wischte die Gestalt durch die Dunkelheit. Ray haste­

te hinter ihr her. Er holte auf. Zweige klatschten ihm ins Gesicht. Dor­nen ritzten seine Haut. Er achtete nicht darauf. Jetzt wollte er es wis­sen.

»Stopp!«, rief er. Und im selben Moment traf etwas Hartes seine Stirn. Er wusste

nicht, ob er einen Schlag erhalten hatte oder gegen einen Ast gerannt war. Er hatte auch keine Gelegenheit, darüber nachzudenken.

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Als er merkte, dass er fiel, spreizte er instinktiv die Arme ab und es war ihm, als würden seine Finger ein zotteliges Fell berühren. Die­sen Eindruck nahm er mit in die Ohnmacht.

Joan Vance stand neben den beiden Reisetaschen und kam beina­he um vor Angst. Sie versuchte sich einzureden, dass das töricht war, doch es gelang ihr nicht, sich zu beherrschen. Immer wieder rieselte es ihr eiskalt über den Rücken und sie bereute, Sam Willards Einla­dung angenommen zu haben.

Sie mochte Sam zwar sehr. Sie achtete und verehrte ihn, denn er war ein begnadeter Schauspieler, wie es sie nicht häufig gibt. Sie hatte viel von ihm gelernt, als sie mit ihm zusammenarbeitete und sie schät­ze ihn. Trotzdem wäre es besser gewesen, wenn sie nicht auf seine Insel gekommen wäre.

Etwas Schreckliches würde hier passieren, das sagte sich Joan im­mer wieder vor. Mysteriöse Dinge würden sich ereignen auf dieser pa­radiesischen Insel. Sie hatten bereits ihren Anfang genommen. Joan fühlte die Gefahr mit jeder Faser ihres Körpers.

Es war allgemein bekannt, dass Sam Willard sehr viel für okkulte Dinge übrig hatte. Er liebte das Makabre und nannte eine Sammlung von alten Folterwerkzeugen und Waffen, mit denen angeblich Unge­heuer getötet worden waren, sein eigen.

In seiner Freizeit befasste sich Sam mit den Grenzwissenschaften der Parapsychologie und er war bestrebt, Geheimnisse zu lüften, die vor ihm noch kein anderer aufgedeckt hatte. War das ein Frevel, der sich nun rächte?

Joan presste nach wie vor ihre Fäuste an die Wangen. Sie hörte Ray Elliott durch das Unterholz stürmen. Sie hörte ihn rufen. Er schien tatsächlich hinter jemandem her zu sein.

Joan hatte das Gefühl, unter Strom zu stehen. Eine Rückkehr nach Key West war nicht mehr möglich. Das Schiff, das sie hergebracht hat­te, hatte die Insel längst verlassen.

Sie würde gezwungen sein, zu bleiben und das stachelte ihre Un­ruhe noch mehr an. Sie hasste jede Art von Zwang. Gott, warum hatte sie sich über Sam Willards Einladung gefreut?

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Ray Elliott lief noch durch das Dickicht. Doch in der nächsten Se­kunde war es damit vorbei. Keine Schrittgeräusche mehr. Joan regi­strierte dies schaudernd.

Ihr Herz klopfte sofort schneller. Ihr Blick versuchte die Dunkelheit zu durchdringen, die im Unterholz herrschte. Was war mit Ray pas­siert? Wieso lief er nicht mehr? Wieso verursachte er keine Geräusche mehr?

»Ray!«, rief sie zaghaft. »O Jesus, Ray, was ist geschehen? So antworte doch, Ray!«

Nichts. Stille. Aber nur für wenige Augenblicke. Dann vernahm Joan plötzlich schleifende Schritte, die sich ihr näherten. Ihre Kopfhaut spannte sich. »Ray«, rief sie mit belegter Stimme. »Bist du das, Ray?«

Keine Antwort. Joan biss sich auf die Lippe. Eine hoch gewachse-ne Gestalt huschte durch das Unterholz, Sie kam immer näher. Joan bebte vor Angst. Nervös blickte sie sich um. Wohin sollte sie fliehen?

Viele Möglichkeiten gab es nicht. Wenn sie den hölzernen Lande­steg entlang rannte und dessen Ende erreichte, gab es kein Weiter mehr für sie. Auf dem Steg würde sie gefangen sein.

Diese Richtung kam also nicht in Frage. Und eine andere Richtung bot sich nicht an, deshalb stand Joan wie fest geleimt da. Wieder knackte ein Ast. Joans Erregung strebte dem Höhepunkt zu.

Sie war nahe daran, die Beherrschung zu verlieren und ihre Angst schrill herauszuschreien. Zweige bewegten sich. Nein, das war keine Einbildung. Dort schritt jemand durch das Unterholz und er hatte be­stimmt nichts Gutes im Sinn. Jetzt teilten sich die Blätter.

Joan wollte diese grauenerregende Fratze nicht noch einmal se­hen. Wild kehrte sie sich davon ab. Und dann fing sie zu laufen an, ohne zu wissen, wohin. Unter ihren Füßen wechselte Sand mit festem Boden ab.

In ihrer Panik sah sie nichts mehr von ihrer Umgebung. Sie lief, lief, lief. Vor ihr tauchten mit einem Mal zwei grelle Sonnen auf. Darauf rannte sie zu. Scheinwerfer waren es. Die tanzenden Lichtkegel erfass­ten das verstörte Mädchen. Der Mann am Steuer stoppte den Jeep. Er sprang aus dem Fahrzeug.

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Joan hetzte auf ihn zu. Es war Sam Willard, trotz seiner fünfzig Jahre weißhaarig und übergewichtig, doch das tat seiner Zugkraft kei­nen Abbruch. Sein Name auf den Filmplakaten war ein Garant dafür, dass die Produktionskosten mehrfach eingespielt wurden.

Joan sah ihn nicht. Sie hätte ihn umgerannt, wenn er sich nicht gegen sie gestemmt und sie mit beiden Armen abgefangen hätte. In ihrem ersten Schock schrie sie gellend auf.

»Liebe Güte, Joan, was hast du denn?«, fragte Sam Willard beun­ruhigt.

Jetzt erkannte sie ihn. »O Sam, ich habe solche Angst...« »Angst? Auf meiner Insel braucht niemand Angst zu haben, Kind­

chen. Wovor fürchtest du dich?« »Da schleicht jemand durchs Dickicht. Er wollte mir etwas antun.« »Das gibt's doch nicht.« »Ein Kerl mit einer grauenerregenden Fratze ist es.« »So einen Burschen gibt es hier nicht.« »Aber ich habe ihn doch mit eigenen Augen gesehen!«, rief Joan

Vance. Er klopfte mit der flachen Hand auf ihren Rücken. »Okay. Ist ja

gut. Beruhige dich erstmal. Du zitterst ja wie Espenlaub, Kleines. Komm, wir wollen mal nachsehen, was dich so sehr erschreckt hat. Wo ist Ray?«

»Er wollte sich den Kerl schnappen, kam aber nicht wieder. Statt­dessen kam der andere und wollte mich...«

»Auf meiner Insel wird niemandem etwas zuleide getan«, behaup­tete Willard. Er drängte Joan zum Jeep und hieß sie einzusteigen. Dann fuhr er mit ihr das kurze Stück zurück, das sie in wilder Panik zurückgelegt hatte. »Ich muss mich entschuldigen, dass ich euch in der Bucht warten ließ«, sagte er. »Aber ich konnte den Startschlüssel des Jeeps nicht finden. Die Dunkelheit, die fremde Umgebung haben dich erschreckt.«

»Nein, Sam, da war jemand im Unterholz«, beharrte Joan Vance. »Na schön, ich werde der Sache sofort auf den Grund gehen, o­

kay? Du hast mir noch nicht einmal hallo gesagt.«

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Joan schwieg. Sie presste die Lippen fest zusammen und blickte starr durch die Frontscheibe. Sam hielt den Jeep bei den Reisetaschen an. Grell stach das Licht der Scheinwerfer in das Dickicht.

»Da drinnen soll sich jemand aufhalten, der nichts auf meiner In­sel zu suchen hat? Ehrlich gesagt, ich kann es mir nicht vorstellen«, brummte Willard. »Sieh mal, ich überblicke von meinem Haus aus die gesamte Insel. Wenn sich ihr ein Schiff nähert, kriege ich das mit. Un­bemerkt kann niemand die Insel erreichen.«

»Auch nachts nicht?«, fragte Joan schnell. »Nachts. Ich bitte dich, wer sollte nachts schon auf meine Insel

wollen? Hätte ich da nicht anderntags das Boot entdecken müssen, mit dem er gekommen ist?«

Sam Willard stieg aus. Er entnahm dem Handschuhfach eine Stab­lampe. »Ray!«, rief er mit lauter Stimme. »Ray, hörst du mich?«

Es blieb still. »Siehst du«, sagte Joan heiser. »Er antwortet nicht. Das muss doch etwas zu bedeuten haben.«

»Wo willst du den Kerl durch das Unterholz schleichen gesehen haben?«, fragte Willard.

Joan Vance zeigte es ihm, ohne das Fahrzeug zu verlassen. Wil­lard stellte die beiden Reisetaschen in den Wagen und sagte: »Dann will ich mal nachsehen, wo sich unser guter Freund Ray verlaufen hat.«

»Sei vorsichtig«, sagte Joan leise. »Ich fürchte mich auf meiner Insel nicht«, erwiderte Willard und

machte sich auf die Suche. Schon nach wenigen Schritten verschluckte ihn das Unterholz. Joan sah seine Stablampe durch das Dickicht geis­tern und sie hörte Willard hin und wieder Rays Namen rufen.

Verkrampft saß sie im Jeep und sie fürchtete, dass auch Sam nicht mehr zurückkehren würde. Was dann? Was sollte sie dann tun?

Willard stapfte unerschrocken durch die unberührte Wildnis, zu der er eine völlig andere Beziehung als Joan hatte. Er lebte in ihr. Sie war ihm vertraut. Er wusste, dass sie nichts in sich barg, wovor er sich fürchten musste. Es gab keine Gefahren auf dieser Insel. Das war mit ein Grund, weshalb sich Sam Willard hier so wohl fühlte.

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Der Lichtfinger der Stablampe tastete über den Boden. Willard konzentrierte sich auf sein Gehör, doch er vernahm nur die Geräusche, die er selbst verursachte.

Augenblicke später erfasste der Lichtkegel zwei Beine. Sie ragten unter einem dicht belaubten Busch hervor. Willard eilte darauf zu. Er sank neben Ray Elliott auf die Knie und fühlte hastig nach dessen Hals­schlagader.

Der Puls war gut zu fühlen. Ray war nur ohnmächtig. Willard at­mete erleichtert auf. Er tätschelte so lange Rays Wangen, bis der Freund verwirrt die Augen aufschlug.

»Hör mal, bist du noch zu retten?«, fragte Willard mit gespieltem Vorwurf. »Wie kannst du mir einen solchen Schrecken einjagen? Wieso liegst du hier herum wie altes Strandgut?«

Ray tastete nach seiner Stirn. Er hatte eine Beule. »Wo ist Joan?«, fragte er. »Die hat vorhin verrückt gespielt. Angeblich hat sie jemanden mit

einer entsetzlichen Fratze gesehen. Du wolltest ihn dir greifen, nicht wahr? Sei ehrlich, war da wirklich jemand?«

»Ich kann es nicht beschwören, aber ich glaube, eine schemen­hafte Gestalt gesehen zu haben.«

Willard schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Außer meinem Haus­faktotum und mir befindet sich niemand auf der Insel.«

»Bist du sicher?« »Absolut.« »Und wer hat mich niedergeschlagen?« »Der da«, sagte Sam Willard und wies mit dem Lampenstrahl auf

einen dicken Ast, der in Kopfhöhe waagerecht über Büsche und Farne ragte. »Du musst voll dagegen gedonnert sein.«

Auch das war möglich. Ray Elliott stand ächzend auf. »Ich bitte dich, sag Joan, dass du niemanden gesehen hast, Ray«,

verlangte Sam Willard. »Sonst schwimmt sie noch in dieser Nacht nach Key West zurück.«

Sie begaben sich zum Jeep. Joan blickte Ray starr an. »Was ist passiert, Ray?«

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»Nichts«, antwortete Sam. »Er ist in vollem Lauf gegen einen Baum gerannt. Das hat sein Dickschädel nicht ausgehalten. Er war für eine Weile im Aus.«

»Hast du ihn gesehen, Ray?« Elliott warf Willard einen raschen Blick zu. Dieser schüttelte kaum

merklich den Kopf und er antwortete: »Nein, Joan. Da war niemand. Du musst dir das nur eingebildet haben.«

»Wir wollen diesen dummen Zwischenfall vergessen, Freunde«, tönte Sam Willard. »Ich heiße euch herzlich willkommen auf meiner kleinen Insel. Verbringt ein paar unbeschwerte Tage mit mir und fühlt euch wohl. Mehr verlange ich nicht von euch. Die andern treffen mor­gen ein. Ihr seid die ersten und ich freue mich über euren Besuch rie­sig.«

Willard wendete den Jeep und fuhr in die Richtung davon, aus der er gekommen war. Es war nicht weit bis zu seinem Haus. Der Jeep kletterte hinter den Klippen einige Wegwindungen hinauf und dann ragte plötzlich das große Haus des Filmstars vor ihnen auf.

Fast in allen Räumen brannte Licht. »Die Festbeleuchtung euch zu Ehren.«

Er ließ den Jeep ausrollen. Ray und Joan verließen mit ihm den Wagen. Plötzlich krampfte sich Joans Magen zusammen. Sie hatte das untrügliche Gefühl, beobachtet zu werden.

Nervös blickte sie sich um, doch hinter ihr war niemand. Als sie sich wieder zurückdrehte, übersprang ihr Herz einen Schlag, denn aus einer schattigen Nische des Hauses löste sich eine furchterregende Er­scheinung.

Ein großer alter Mann war es, mit blutunterlaufenen Augen, fahlen Wangen und dünnen Lippen. Seine schwarzen Augen blickten ste­chend. Das Gesicht wies unzählige Runzeln auf.

Als Willard bemerkte, wie Joan Vance auf das Erscheinen des Mannes reagierte, brach er in schallendes Gelächter aus. »Gott, was bist du schreckhaft, Joan, Vielleicht hätte ich dich warnen sollen. George Roarke, mein Hausfaktotum, ist keine umwerfende Schönheit. Er ist auch nicht mehr der Jüngste, aber er ist eine unbezahlbare Per­le. Ich wüsste nicht, wie ich ohne ihn zurechtkommen würde.«

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Joan atmete hörbar aus. »George«, sagte Willard, »das ist Miss Joan Vance, eine bezau­

bernde Kollegin. Ray Elliott kennen Sie ja schon.« George Roarke nickte dem Mädchen zu. »Freut mich, Sie kennen

zu lernen, Miss Vance. Herzlich willkommen, Mister Elliott.« »Danke, George«, erwiderte Ray. »Gehen wir ins Haus«, schlug Willard vor. »George, Sie kümmern

sich um das Gepäck.« Der alte Mann nickte stumm. In der Halle des Prachthauses mixte Sam Willard drei Be­

grüßungsdrinks. »Wir werden einander eine Menge zu erzählen haben, Freunde.« Er gab jedem sein Glas. »Lasst uns auf das trinken, was wir lieben.«

Joan nippte an ihrem Drink. Sie vergewisserte sich zuerst, ob George Roarke nicht in der Nähe war. Dann fragte sie: »Vertraust du diesem alten Mann?«

»Wie mir selbst«, erwiderte Willard. »Lasse dich von seinem ab­stoßenden Äußeren nicht abschrecken. Er ist ein herzensguter, hilfsbe­reiter Mensch. Es gibt nichts, was er für mich und meine Freunde nicht tun würde.«

George Roarke erschien. Er fragte, ob er sonst noch etwas tun könne.

Willard sagte nein und Roarke ging wieder. Und Joan Vance war der Meinung, dass der Blick, mit dem das Hausfaktotum sie streifte, an Feindseligkeit nicht zu überbieten war. Dieser Mann hasste sie. Aber warum?

»In letzter Zeit ist er manchmal ein bisschen sonderbar«, sagte Willard. »Aber das schreibe ich seinem Alter zu. Es stört mich nicht weiter.«

Sonderbar?, dachte Joan. Ist George Roarke nicht mehr als das? Willard führte ihr voller Stolz sein Haus vor. Vom Keller bis zum

Obergeschoß zeigte ihr Sam Willard alles. Ray Elliott ging mit, obwohl er das Haus bereits kannte.

Die Sammlung alter Waffen und Folterinstrumente war seit Rays letztem Besuch umfangreicher geworden. Auch die Bibliothek war aus­

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gebaut worden. Obwohl es ein Prachthaus war, ein Traum, den sich nur wenige erfüllen konnten, fühlte sich Joan Vance nicht wohl darin.

Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie in großer Gefahr schwebte. Und nicht nur sie. Auch alle andern. Sie behielt es nur deshalb für sich, weil sie befürchtete, von Ray und Sam aufgezogen zu werden.

Vielleicht hätte auch einer der beiden von ihrem zweimonatigen Klinikaufenthalt gesprochen und das war ihr wunder Punkt. Sie wollte nicht an ihre Nervenkrise erinnert werden und sie konnte es nicht er­tragen, wenn jemand sie damit auf den Arm nahm.

Zum Abendessen gab es gekochten Hummer mit feinem Gemüse. Dazu schenkte George Roarke Weißwein ein. Nach dem Essen befiel Joan eine bleierne Müdigkeit.

Sie zog sich auf das Zimmer zurück, das ihr und Ray zur Verfü­gung stand. Sam wünschte ihr eine gute, erholsame Nacht. Und Ray sagte: »Schließ dich nicht ein, sonst bin ich gezwungen, vor der Tür zu schlafen.«

»Kommst du bald?« »Ja. Nur noch einen Drink«, sagte Ray. »Oho«, sagte Sam, nachdem Joan gegangen war. »Die große Lie­

be? Hat es dich endlich erwischt, du alter Halunke?« »Ich glaube, ja.« »Joan ist ein Prachtmädchen. Und eine hervorragende Schau­

spielerin. Geht es ihr nervlich wieder gut? Ich wollte das nicht in ihrer Gegenwart fragen.«

»Es geht ihr ausgezeichnet. Sie ist völlig wiederhergestellt.« »Und der schwarze Mann unten in der Bucht?« »Ich bin nicht sicher, ob sie sich den nur eingebildet hat, Sam.« Willard lächelte. »Weißt du, was man von dieser Insel erzählt?

Früher sollen Geister und Dämonen auf ihr gehaust haben. Kein Schiff, das hier vorbeifuhr, war vor ihnen sicher und diejenigen, die in ihrer Unkenntnis hier anlegten, waren rettungslos verloren. Schreckliche Dinge sollen die Dämonen mit ihren Opfern angestellt haben.«

»Warum erzählst du mir das?«, fragte Ray. »Vielleicht ist einer von diesen Dämonen auf die Insel zurückge­

kehrt.«

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»Willst du dich über mich lustig machen?« »Nein. Ich nehme solche Dinge ernst. Wenn ihr beide wirklich je­

manden gesehen habt, der auf meiner Insel nichts zu suchen hat, wer­de ich ihn früher oder später finden und ins Meer jagen.«

Sie tranken nicht ein Glas, sondern zwei. »Wen hast du noch eingeladen?«, wollte Ray Elliott wissen. »Adam Pace, Dan Dozzie, Robert Tanna und Lynne McGowan«,

sagte Sam feixend. »Ich weiß, Joan und Lynne sind sich nicht beson­ders grün, aber ich werde schon darauf achten, dass die beiden sich nicht in die Haare geraten. Wenn man Lynne beizeiten den Giftzahn zieht, kann sie recht amüsant sein. Der Jammer ist bloß, dass ihr die­ser Giftzahn immer wieder nachwächst.«

»Sie ist aufgeblasen und arrogant.« »Magst du sie auch nicht?« »Ich kann mich bei ihr beherrschen.« »Obwohl sie eine Superfrau ist? Hollywood ist gerade dabei, sie

als neuen Vamp aufzubauen. Man hat ihr bereits ein männermorden­des Image auf den prachtvollen Leib geschneidert. Sie wird ihrer Rolle verdammt gerecht.«

»Ich habe gehört, sie ist nicht mehr mit Dan Dozzie zusammen.« »Stimmt«, sagte Sam. »Jetzt ist sie mit Adam Pace liiert.« Ray blickte den Freund erstaunt an. »Und du scheust dich nicht,

das Trio in dein Haus einzuladen?« Willard grinste. »Dadurch ist eines garantiert: langweilig wird mein

fünfzigster Geburtstag nicht sein.« Ray leerte sein Glas und verabschiedete sich von Sam. »Schlaf gut«, sagte Willard. »Und sei so nett wie irgend möglich

zu Joan. Ich möchte, dass sie lange an den Aufenthalt auf meiner In­sel zurückdenkt.«

Ray lachte. »Das wird sie bestimmt«, versprach er. »Lass mich nur machen.«

Sie las noch in einem Taschenbuch als er das Gästezimmer betrat. Im angrenzenden Bad entkleidete er sich. Sie hörte, wie er duschte und löschte das Licht ihrer Nachttischlampe.

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Als er kurz darauf zu ihr unter die Decke kriechen wollte, sagte sie leise: »Heute nicht, Ray. Bitte, sei mir nicht böse. Ich bin müde und abgespannt. All die Aufregungen...«

»Ist schon in Ordnung, Darling«, sagte er, küsste sie auf die Wan­ge, drehte sich auf die Seite, löschte auch sein Licht und eine halbe Stunde später hörte sie ihn tief und regelmäßig atmen.

Er schlief und sie beneidete ihn darum, denn ihr war es nicht ge­gönnt, einzuschlafen. Zuerst versuchte sie es mit Schäfchenzählen. Dann mit autogenem Training. Und das half. Sanft dämmerte auch sie hinüber.

Doch sie schlief nicht durch. Irgendwann in der Nacht schreckte sie hoch. Sie war in Schweiß gebadet, hatte einen schrecklichen Alp­traum gehabt, so realistisch, dass sie Todesängste ausstand.

Aufgepeitscht richtete sie sich auf. Ray schlief nach wie vor tief und fest. Joan war mit ihrer Angst, die sie vom Träumen zum Wachen mit herüber genommen hatte, allein.

Sie überlegte, ob sie Ray wecken sollte, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Sie hätte ihm keinen Grund nennen können, wes­halb sie Angst hatte. Er wäre mit Recht ungehalten gewesen, wenn sie ihn deshalb geweckt hätte, wo er doch so tief schlief.

Joan biss sich fest auf die Unterlippe. Was sollte sie tun? Weiterzuschlafen, wagte sie nicht, denn dann

fand der Alptraum vielleicht eine Fortsetzung. Dazusitzen und in die Dunkelheit zu starren gefiel ihr aber auch nicht.

Sie fragte sich, was sie so urplötzlich aus dem Schlaf gerissen hat­te. Befand sich außer Ray und ihr etwa noch jemand im Raum? Sogleich war Joans Kehle wie zugeschnürt.

Beunruhigt blickte sie sich um. Mondlicht, silbrighell, schien zum Fenster herein und plötzlich sah Joan unter der Tür einen trüben Lichtbalken. Sie schauderte.

Jemand war vor der Tür. Joan hielt unwillkürlich den Atem an. Sie strengte ihre Augen an und starrte auf den Türknauf. Drehte er sich? Sie konnte es nicht genau sehen, aber sie bildete sich ein, er würde sich bewegen.

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Himmel noch mal, was bildete sie sich denn noch alles ein? Sollte sie jetzt Ray wecken? War das ein Grund? Der trübe Lichtbalken blieb eine Weile unter der Tür.

Joan vermeinte, ein Wispern zu hören und dann kratzte jemand über das Holz der Tür. Ganz deutlich war es zu hören. Das Mädchen fasste sich ans Herz. Von diesem trüben Licht ging eine hypnotische Kraft aus. Ein fortwährendes Locken. Joan fühlte sich davon auf eine unerklärbare Weise angezogen.

Obwohl sie große Angst hatte, schlug sie die Decke zurück und verließ das Bett. Sie musste das einfach tun. Es war wie ein starker in­nerer Zwang. Ihre Füße machten Schritte, ohne dass sie es wollte. Sie musste auf die Tür zugehen, musste sich diesem trüben Licht und dem unheimlichen Wispern nähern.

Im Vorbeigehen nahm sie ihren Schlafrock an sich und zog ihn an. Eine seltsam unwirkliche Situation war das. Joan konnte zwar denken und fühlen, aber jemand anders handelte für sie.

Sie war zur Befehlsempfängerin geworden. Eine innere Stimme kommandierte: »Lass Ray schlafen. Es geht ihn nichts an, was du tust. Folge dem Ruf des Blutes. Öffne die Tür und...«

Ihre Hand legte sich auf den kalten Türknauf. Sie zuckte zurück. Aber dann öffnete sie die Tür und sah den trüben Schein, der in die­sem Augenblick die Treppe hinunterhuschte.

»Folge dem Licht«, raunte ihr die innere Stimme zu. »Du wirst ei­ne große Überraschung erleben.«

Sie wollte dem Licht nicht nachgehen, aber sie musste es tun. Lautlos wie eine Einschleichdiebin schloss sie die Tür hinter sich und stahl sich davon, denn die unheimliche Stimme in ihr verlangte es so.

Sie erreichte die Treppe. Ihre Hand rutschte über den Handlauf. Stufe um Stufe legte sie zurück. Ihr Herz schien hoch oben im Hals zu schlagen. Vielleicht bist du nicht mehr richtig im Kopf, sagte sie sich im Geist. Du warst in einem Nervensanatorium. Dein Geisteszustand ließ damals zu wünschen übrig. Die Ärzte stellten dich zwar wieder her, aber können sie einen Rückfall ausschließen?

Sie hatte das furchtbare Gefühl, sich zwischen Wachen und Träu­men zu befinden. Sie konnte die Realität nicht mehr klar erkennen und

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das erschreckte sie. Das Licht, dem sie folgte, geisterte weiter durch das große Haus.

Es verschwand kurz aus Joans Blickfeld. Sie beeilte sich, um auf­zuholen und erreichte eine offen stehende Tür, die in den Keller führ­te.

»Geh weiter!«, flüsterte die innere Stimme. »Bleib nicht stehen. Setz deinen Weg fort.«

Langsam tappte Joan mit nackten Füßen die kalten Kellerstufen hinunter. Das trübe Licht erhellte unten einen rechteckigen Raum, den Joan Vance betrat und im selben Moment traf das Mädchen ein Schock mit der Wucht eines Keulenschlages, denn vor ihr, auf dem Boden, stand ein schwarzer Holzsarg.

Und auf dem Metallplättchen, das am Fußende des Sarges glänz­te, stand ihr Name!

JOAN VANCE. Das rothaarige Mädchen prallte zurück. Joan wollte sich umdrehen

und die Flucht ergreifen, doch sie hatte keine Gewalt über ihren Kör­per. Sie war gezwungen, zu bleiben.

Ihr Atem ging schnell. Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn. Sie glaubte zu wissen, dass sie sterben musste, dass sie dem Tod geweiht war. Aber wer, wer war es, der ihr nach dem Leben trachtete? Und warum? Aus welchem Grund sollte sie sterben? Warum ausgerechnet sie?

Fassungslos starrte sie auf den schwarzen Sarg. Außer ihm befand sich nichts im Raum. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihre Zäh­ne schlugen vor Angst aufeinander.

Auf den ersten Schock folgte sofort der nächste. Der Sargdeckel bewegte sich plötzlich. Ein unheimliches, knar­

rendes Geräusch war zu hören. Zoll um Zoll hob sich der Deckel auf ei­ner Seite. Dünne bleiche Finger schoben sich heraus und krampften sich um die Deckelkante.

Eine zweite Hand tauchte auf. Joan traute ihren Augen nicht. Sie wich einen Schritt zurück. Mehr war ihr nicht gestattet. Mehr und mehr ging der Deckel in die Höhe.

Joan sah die Ärmel eines Totenhemds.

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Plötzlich versetzten die Hände dem Sargdeckel einen harten Stoß. Er fiel polternd auf den Boden und das rothaarige Mädchen konnte in das Innere des Sarges blicken.

Dort lag eine Frau. Leichenblass, mit blutleeren Lippen und einge­fallenen Wangen. Die offenen brennenden Augen lagen in tiefen schat­tigen Höhlen. Joan krampfte es das Herz zusammen, denn die lebende Leiche, der sie gegenüberstand, war niemand anders als Joan Vance, ihre Mutter, die genauso geheißen hatte wie sie.

»Mutter«, stöhnte Joan überwältigt. Die bleiche Frau setzte sich auf. Ruckartig geschah es. Die bren­

nenden Augen der Toten starrten Joan durchdringend an. »Mutter!«, ächzte Joan. »Wieso bist du hier? Wie kommst du hier­

her? Wieso lebst du? Du bist doch tot!« Die bleiche Frau sagte nichts. Langsam stieg sie aus dem Sarg. Sie

war etwas kleiner als ihre Tochter. Und ihr Gesicht hatte sich stark verändert. Auf ihrem Antlitz lag nicht mehr der gütige Ausdruck von früher.

Böse und gemein sah die Frau jetzt aus und sie schien nach Leben zu gieren und nach Blut zu lechzen. Ihre fahlen Lippen hoben sich und Joan bemerkte zwei lange Augenzähne.

»Das - das gibt es doch nicht!«, presste sie verzweifelt hervor. »Das ist doch nicht möglich!«

Ihre Mutter war eine Vampirin! »Mutter, wieso...« »Hab' keine Angst, mein Kind«, zischelte die Vampirin. »Aber wieso bist du hier?« »Den Mächten der Finsternis ist nichts unmöglich«, sagte der

weibliche Blutsauger leise. »Sie haben es mir ermöglicht, dir zu er­scheinen.«

»Wozu?« »Damit ich dich zu mir holen kann, mein Kind. Zu mir ins Schat­

tenreich. Es wird dir da gefallen. Du wirst ewig leben, wirst eine große Aufgabe erhalten, bekommst Gelegenheit, dich um das Böse verdient zu machen. Komm Joan, gib mir deine Hand.«

Das rothaarige Mädchen schüttelte verzweifelt den Kopf. »Nein.«

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»Du musst nun mal gehorchen. Du musst!« »Nein!«, rief Joan. »Ich will nicht sterben. Ich bitte dich, lass mir

mein Leben.« »Das werde ich nicht tun!«, sagte der weibliche Vampir scharf. »Aber du bist meine Mutter...« »Das war ich. Beziehungen, die zwischen Lebenden bestehen, zer­

reißen, wenn der Tod dazwischentritt. Solche Bande reichen nicht ins Jenseits. Du bist für mich nichts weiter mehr als ein Opfer, in dessen Adern süßes warmes Blut fließt und das will ich haben!«

Die bleiche Frau machte zwei schnelle Schritte vorwärts. Der Ner­venstress war einfach zuviel für Joan Vance. Sie verlor vor lauter Angst das Bewusstsein und brach zusammen.

*

Ray Elliott erwachte aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Er war aus­geruht und fühlte sich großartig. An die Ereignisse vom vergangenen Abend dachte er nicht mehr. Wohl fiel ihm ein, dass er vermeinte, ein zotteliges Fell berührt zu haben, während er im Dickicht zu Boden ging, aber das konnte ebenso gut ein weiches Blatt gewesen sein. Er verdrängte jeden damit zusammenhängenden Gedanken, rollte im Bett langsam herum und stellte verwundert fest, dass Joan nicht mehr ne­ben ihm lag.

»Joan?«, rief er. Er wähnte sie im Bad. »Schon auf?« Sie antwortete nicht. »Joan!« Er verließ das Bett und eilte zum Bad. Die Tür war ge­

schlossen. Er öffnete sie. Das Bad war leer. Ray blickte auf seine Digi­taluhr. Es war fast halb zehn.

»Sehr rücksichtsvoll von allen, mich so lange schlafen zu lassen«, brummte er. Rasch zog er seinen Pyjama aus und stellte sich unter die Dusche. Zuerst ließ er warmes Wasser über seinen muskulösen Körper strömen, dann stellte er auf Kalt und er blieb so lange unter der Brau­se, bis er mit den Zähnen klapperte.

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Danach putzte er sich gewissenhaft die Zähne, rasierte und wusch sich und kurz vor zehn trat er auf die Terrasse hinaus, wo für das Frühstück gedeckt war.

Sam Willard saß allein in einem bequemen Korbsessel. Er hatte mit dem Frühstück noch nicht angefangen, wartete damit auf seine Gäste. »Guten Morgen, Ray. Gut geschlafen?«

»Ausgezeichnet. Und du?« »Wunderbar wie immer. Auf dieser Insel bin ich ein anderer

Mensch. Überall sonst leide ich an Schlafstörungen, habe Schwierig­keiten mit der Verdauung, leide unter Migräne und weiß der Teufel, was noch alles. Ich brauche Kamillentee für den Magen und Tabletten für einen stabilen Kreislauf. Doch wenn ich hier bin, kann ich das alles vergessen. Es geht mir großartig und ich bin stets bester Laune. Wie geht es Joan?«

Ray Elliott zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich wollte dich eigentlich gerade fragen, ob du sie heute Morgen schon gesehen hast.«

»Nein, mir ist sie noch nicht begegnet. Ist sie denn schon so früh aufgestanden?«

»Scheint so.« »Vielleicht wollte sie den Sonnenaufgang beobachten. Er ist auf

dieser Insel ein einmaliges Erlebnis. Kann auch sein, dass sie sich zu einer der Buchten begeben hat, um ein erfrischendes morgendliches Bad zu nehmen.«

Ray nickte geistesabwesend. Willard schmunzelte. »Mach dir keine Sorgen. Auf der Insel kann

nichts und niemand verloren gehen. Wollen wir mit dem Frühstück noch auf Joan warten, oder soll ich George sagen...«

»Ich habe einen Mordshunger«, fiel Ray dem Freund ins Wort. »Joan wird dafür sicherlich Verständnis aufbringen, dass wir nicht auf sie gewartet haben.«

»In Ordnung«, sagte Sam Willard. Er rief George Roarke. Fast au­genblicklich war der hässliche Mann zur Stelle. Bei Tageslicht war er noch viel unansehnlicher als am Abend.

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Er hatte eine Haut, die wie Pergament aussah und in seinen schwarzen Augen schien ein seltsamer Triumph zu leuchten.

»Haben Sie Miss Vance gesehen, George?«, fragte Ray. »Nein, Mister Elliott. Ich bin seit sechs Uhr früh auf, aber Miss

Vance habe ich nicht gesehen.« »Sie können das Frühstück servieren«, sagte Sam. »Und Miss Vance?«, fragte das Hausfaktotum. »Die scheint das Frühstück heute aus Gewichtsgründen sausen

lassen zu wollen«, sagte Sam Willard und klopfte sich mit beiden Hän­den auf den Bauch. »Diese Sorgen habe ich nicht. Ich kann essen, was mir schmeckt. Mein Speck stört die Leute nicht. Meine Filme verkaufen sich deshalb nicht um die Spur schlechter.«

»Du bist ein Phänomen in der Branche«, sagte Ray ehrlich. »Mehrmals schon totgesagt, hast du's immer wieder geschafft, ein glänzendes Comeback zu feiern und heute bist du erfolgreicher als je zuvor. Wenn du nicht so faul wärst, könntest du in deinem Geld ersti­cken.«

Die Freunde lachten. »Ich finde, Geld ist nicht alles«, sagte Sam. »Man darf darüber nicht zu leben vergessen. Wer immer nur hinter dem Dollar her rennt, ist eines Tages alt und schäbig und von den Freuden des Lebens hat er nichts mitgekriegt.«

Nach dem Frühstück meinte Ray Elliott: »Allmählich werde ich un­ruhig.«

»Wegen Joan?« »Ja. Findest du es nicht eigenartig, dass sie so lange wegbleibt?« »Ganz und gar nicht.« »Wo sie gestern doch bis in die Haarspitzen voller Angst war«,

gab Ray zu bedenken. »Bei Tag sieht alles anders aus«, erwiderte Sam Willard. »Ich

könnte mir durchaus vorstellen, dass sie sich heute Morgen in meine Insel verliebt hat. Aber wenn du möchtest, können wir sie suchen.«

»Ja, das würde ich gern tun.« »Schön, ich ziehe mich nur schnell um. Sollte Joan bis dahin noch

nicht zurückgekehrt sein, suchen wir sie. Ich kenne einige traumhafte

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Plätze. An denen vergisst du garantiert die Zeit. Vielleicht ist es Joan ebenso ergangen.«

»Wir werden sehen«, sagte Ray. »Hoffentlich ist das der Grund...« »Bestimmt. Einen anderen gibt es nicht.« Sam Willard begab sich ins Haus. George Roarke räumte den

Frühstückstisch ab. Er musterte Ray heimlich und es hatte den An­schein, als würde er ihn nicht gern auf der Insel haben.

Willard kehrte nach zehn Minuten zurück. Er trug weiße Jeans und ein kurzärmeliges Hemd.

»Hat Joan sich noch nicht blicken lassen?«, fragte er. Er machte sich keine Sorgen wegen des Mädchens.

»Nein«, antwortete Ray. »Gut, dann begeben wir uns auf die Suche...« »Mister Willard! Mister Willard!«, rief in diesem Augenblick George

Roarke. »Ein Boot aus nördlicher Richtung.« »Bringen Sie mir das Fernglas, George!«, verlangte Sam Willard. »Sofort, Sir.« Roarke kam mit dem Feldstecher. Sam Willard setz­

te ihn vor die Augen. »Da kommen die andern«, stellte er lächelnd fest. »Man kann sie

ganz genau erkennen. Robert Tanna, Dan Dozzie, Adam Pace und Lynne McGowan. Willst du auch mal gucken?«, fragte er Ray.

Der nahm das Fernglas in die Hand und schaute zum Meer hin­unter. Die azurblauen Fluten wurden vom scharfen Bug eines weißen Motorbootes zerschnitten. In spitzem Winkel zogen weiß gekrönte Bugwellen davon.

Ray nahm die Gelegenheit wahr, mit dem Feldstecher auch gleich einen Rundblick über die Insel zu machen. Von Joan keine Spur. Ray konnte sie nirgendwo entdecken.

Sam nahm ihm das Glas aus der Hand. »Hör mal, können wir die Suche nach Joan nicht ein klein wenig verschieben, Ray? Ich muss jetzt meine Gäste empfangen. Glaub mir, du brauchst dich nicht um Joan zu sorgen. Es kann ihr auf meiner Insel nichts geschehen. Hier ist sie so sicher wie in Abrahams Schoß. Ich würde das nicht behaupten, wenn ich davon nicht felsenfest überzeugt wäre.«

»Okay«, sagte Ray.

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»Kommst du mit?« »Wird es dann nicht ein bisschen zu eng im Jeep?« »Aber nein.« George fuhr den Wagen aus der Garage. Sam und Ray stiegen

ein. Willard kurvte die wenigen Serpentinen im Höllentempo hinunter und diesmal schaffte er es, die Bucht vor dem Eintreffen des Mo­torbootes zu erreichen.

Sie begaben sich auf den Landesteg. Rays Blick streifte das Un­terholz da, wo er am vergangenen Abend hinter jemandem her zu sein glaubte, aber er musste sich wohl geirrt haben. Und das zottelige Fell? Bloß Einbildung? Oder wirklich ein pelziges Blatt, von denen es in die­ser üppigen Vegetation sicherlich unzählige gab.

Ray war im Zweifel. »He«, sagte Sam lachend. Er stieß ihn mit dem Ellenbogen an.

»Mach' ein freundliches Gesicht, Junge, sonst denken meine Gäste, sie wären nicht willkommen.« Er winkte und Ray winkte lustlos mit. Er fragte sich, was auf dieser Insel passierte. Geschah es ohne Sams Wissen? War der Inselbesitzer deshalb so unbekümmert? Oder ahnte Sam etwas und sagte bloß nichts, damit seine Geburtstagsfeier nicht gefährdet wurde? Sam war ein hervorragender Schauspieler...

Das Boot legte an. Adam Pace ging als erster von Bord. Er war ei­ner der bedeutendsten Regisseure in Hollywood. Nicht sehr groß von Wuchs, mit Halbglatze, Tränensäcken und Knollennase. Dennoch wusste Sam Willard, dass sein Erfolg bei Frauen sagenhaft war. Das hing mit dem Job zusammen, den er ausübte.

Lynne McGowan hätte es nicht nötig gehabt, sich mit ihm zusam­menzutun. Sie war ein Star. Mochte der Teufel wissen, wieso sie es dennoch getan hatte. Vielleicht, so vermutete Sam, hatte Adam Pace doch Qualitäten, von denen andere keine Ahnung hatten.

Irgendetwas musste Lynne schließlich veranlasst haben, Dan Doz­zie, der wesentlich besser aussah, zugunsten von Adam Pace sitzen zu lassen. Sie war die nächste, die von Bord ging.

Blond, braunäugig, sexy. Sie war überspannt, hatte Allüren und es war nicht immer leicht, mit ihr auszukommen. Am besten fuhr man mit ihr noch, wenn man ihr ihren Willen ließ.

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Im Moment stand ihr persönliches Barometer auf Schönwetter. »Sam! Liebling!«, rief sie schon von weitem. »Gott, bin ich froh, dich nach so langer Zeit wieder zu sehen. Du hast ja eine Ewigkeit nichts mehr von dir hören lassen, du Schlimmer.«

Mit wiegenden Hüften ging sie auf ihn zu. Jeder Schritt war ge­konnt und auf Wirkung abzielend. Ihr ganzes Leben war eine einzige Show.

Sam Willard breitete die Arme aus und küsste sie, nachdem er sie kräftig an sein Herz gedrückt hatte.

»Herzlich willkommen auf meiner Insel«, sagte er. »Du lebst paradiesisch. Warum trägst du keinen Schurz aus bun­

ten Blüten?« »Ich hätte Angst, dass sie zu rasch welken«, erwiderte Sam Wil­

lard grinsend. Lynne lachte übertrieben laut. »Er ist immer noch der alte, nicht

wahr, Ray? Ray, Liebling! Wie geht es dir?« Das Theater ging von vorn los. Auch Ray Elliott küsste Lynne und

nahm sie in seine Arme. »Es geht mir wunderbar. Und dir?«, fragte er. »Prächtig. Meine letzte Show hat wie eine Bombe eingeschlagen.« »Ich hab's gelesen. Herzliche Gratulation dazu.« »Die Kritiker überschlugen sich mit ihren Lobeshymnen.« »Der Broadway von New York gehört nun dir«, sagte Ray. »Ja, aber wir wollen jetzt nicht über unsere Arbeit sprechen. Seit

wann bist du hier?« Seit gestern Abend.« »Und Joan? Ich dachte, sie würde nicht mehr von deiner Seite

weichen. Wo ist die Gute denn? Ist sie etwa nicht mitgekommen?« »Doch, doch. Sie hat sich eine der schönsten Buchten ausgesucht

und schwimmt da«, sagte Ray. Hoffentlich, dachte er. »Ich brenne darauf, sie wieder zu sehen. Die Ärmste hat einiges

mitgemacht. Geht es ihr wieder gut, oder muss sie sich nach ihrem langen Sanatoriumsaufenthalt noch Schonung auferlegen?«

»Es geht ihr prächtig. Du wirst es sehen.«

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»Das freut mich. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mit ihr ge­litten habe, als ich von ihrem Nervenzusammenbruch erfuhr.«

Falsche Schlange, dachte Ray, aber er machte gute Miene zum bösen Spiel. So war die Filmbranche eben. Ein ehrliches Wort hörte man da nur ganz selten. Ray drückte Adam Pace die Hand. Er begrüß­te auch Dan Dozzie, der als Filmkomponist tätig war und für seine Werke bereits zwei Oscars erhalten hatte.

Er sah aus wie Jim Rockford. Groß, kräftig, schwarzhaarig. Trotz­dem hatte ihm Lynne den Laufpass gegeben und Ray Elliott hätte gern gewusst, weswegen.

Als letzten begrüßte Ray Robert Tanna. Er leitete eines der größ­ten Besetzungsbüros in Hollywood.

Tanna war ein Bär von einem Mann, breit in den Schultern, mit männlichen Falten an den Wangen und brünettem Haar, das ihm ge­lockt in die Stirn fiel. Die Begrüßungszeremonie dauerte endlos lange.

Das Schiff legte ab, sobald die Gepäckstücke von Bord geschafft waren. Sam Willard redete ununterbrochen. Da die ändern auch durcheinander plapperten, gab das ein Geschnatter, als wäre ein Gän­sewagen umgefallen.

»He, Sam!«, rief Robert Tanna. »Gibt's Neuigkeiten, in deiner Fol­terwerkzeug- und Waffensammlung?«

Willard hob die Brauen. Er wusste, dass Tanna sich dafür ehrlich interessierte. »Einige Raritäten habe ich mir zugelegt. Ich werde sie dir später vorführen. Sagt mal, Leute, wie lange wollen wir denn noch hier herumstehen? Warum brechen wir nicht endlich auf?«

Jeder nahm sein Gepäck auf, nur Lynne nicht. Ihren Koffer trug Sam Willard. Auf Anhieb gelang es ihm, die Ankömmlinge samt ihren Siebensachen im Jeep zu verstauen.

Mit Gejohle brauste er mit ihnen zu seinem Haus hinauf. Er war übermütig wie ein kleiner Junge. Kurz vor seinem Palast schwenkte er links ab. Der schmale Weg führte zu den Klippen.

»Sag mal, hast du die Orientierung verloren?«, fragte Dan Dozzie. »Wohin fährst du?«, fragte Ray Elliott.

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»Eine Überraschung wartet auf euch«, tönte Sam Willard. »Ges­tern Abend war es schon zu dunkel, um sie euch zu präsentieren«, sagte er zu Ray.

Kurz vor den Klippen hörte die Vegetation auf. Sam stoppte das Fahrzeug auf felsigem Boden. Ray beschlich ein eigenartiges Gefühl. Er war hier noch nie gewesen, obwohl er sich bereits zum dritten Mal auf der Insel aufhielt und geglaubt hatte, bereits alles an ihr zu kennen.

Sam stieg aus. »Wir befinden uns hier auf einem unheimlichen Platz, Freunde. Schwarze Magien wurden in früheren Zeiten hier frei­gesetzt. Geister und Dämonen hatten diesen Ort zu ihrer Kultstätte gewählt. Hier wurde der Teufel verehrt. Hier wurden Menschen grau­sam gequält und getötet. Man sagt, dass dies immer noch ein Hort des Bösen ist.«

Lynne McGowan zuckte erschrocken zusammen. »Was hast du vor, Sam? Du weißt, dass ich abergläubisch bin. Möchtest du mir Angst machen?«

»Du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich bin ein lebendes Beispiel dafür, dass mit diesem Hort des Bösen nicht mehr allzu viel los ist. Dutzende Male habe ich ihn schon betreten, ohne dass mir jemand etwas angetan hätte.«

»Vielleicht wollen dich die Mächte der Finsternis in Sicherheit wie­gen«, sagte Lynne.

»Keine Sorge. Sollte dieser Platz jemals wirklich gefährlich gewe­sen sein, dann habe ich ihn vor wenigen Tagen entschärft.«

»Womit?«, wollte Lynne wissen. »Das ist meine Überraschung«, sagte Sam Willard lächelnd. Er bat

seine Freunde, mitzukommen. Sie gingen auf den Klippenrand zu. Es gab davor eine mannshohe Senke und in ihr stand eine Figur aus schwarzem Stein. Sie blickte auf das Meer hinaus.

Kein Meisterwerk. Primitiv aus dem schwärzen Stein herausgehau­en, stellte sie ein Wesen dar, das kein Mensch, aber auch kein Tier war. Es hatte von jedem etwas. Arme und Beine eines Menschen. Der Kopf ähnelte dem einer Kröte und vorn ragte das Horn eines Nashorns in die Höhe.

Sam Willard warf sich stolz in die Brust. »Was sagt ihr dazu?«

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Lynne schauderte. »Scheußlich.« Sam lachte. »Das ist jahrtausende alte Kunst, meine Liebe.« »Woher hast du das Meisterwerk vergangener Tage?«, fragte Ro­

bert Tanna echt interessiert. »Von einem unbekannten Fan. Er machte mir diesen Götzen zum

Geburtstagsgeschenk«, sagte Sam Willard. »Die Statue muss ein Vermögen wert sein«, meinte Tanna. »Daran siehst du, wie beliebt ich bin. Vor ein paar Tagen legte ein

Schiff hier an. Die Besatzung lieferte ein Geschenk bei mir ab. Es war sorgfältig in eine Holzkiste, die mit Holzwolle ausgestopft war, ver­packt. Niemand konnte mir sagen, wer der edle Spender war.«

»Gab es denn keinen Begleitbrief?«, fragte Tanna. »Doch.« »Was stand darin?« »Nur, dass dieser Götze, in dem nachweisbar Zauberkräfte woh­

nen sollen, fortan mich und meine Insel beschützen und vor allen Ein­flüssen des Bösen bewahren solle. Unterschrieben war der Brief nicht. Ich ließ den Schutzgötzen an dieser Stelle aufstellen, um den Hort des Bösen für immer unschädlich zu machen. Da die meisten Unwetter aus dieser Richtung über die Insel brausen, ließ ich ihn aufs Meer hin­aussehen. Ich werde es erleben, ob er wirklich Unheil abwenden kann oder nicht.«

»Ich bin sicher, du hast ihn sogleich auf Herz und Nieren unter­sucht«, sagte Tanna.

»Ja, das habe ich.« »Konntest du irgendwelche Zauberkräfte feststellen?« »Bisher noch nicht«, erwiderte Sam Willard. Aber Ray Elliott spürte, dass von dieser schwarzen Steinfigur eine

unheimliche Strahlung ausging. Hatte der Götze mit Joans Ver­schwinden zu tun? Verrückt, was er sich schon alles zusammenreimte.

»Solltest du die Absicht haben, ihn weiter zu untersuchen«, sagte Tanna, »dann stelle ich mich dir gern als Assistent zur Verfügung.«

»Ich komme auf dein Angebot zurück«, sagte Sam Willard. »Es gefällt mir hier nicht«, warf Lynne McGowan ein. »Ich kriege

an diesem Ort Gänsehaut. Können wir ihn nicht wieder verlassen?«

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Sam und die andern kehrten zum Jeep zurück. »Grauenvoll diese Figur«, raunte Lynne Ray Elliott zu. »Und grau­

enerregend ist dieser Ort. Eines kann ich dir schwören: Hier findest du mich garantiert kein zweites Mal.«

Sie fuhren zum Haus. In Rays Kopf spukte fortwährend dieser schwarze Götze herum. Das Gute sollte er verkörpern. Vor Bösem soll­te er Sam und die Insel bewahren. Aber wurde er seiner Aufgabe auch gerecht?

Gleich nach ihrer Ankunft fragte Ray das Hausfaktotum wieder nach Joan. Sie war immer noch nicht aufgetaucht. Da Sam im Augen­blick keine Zeit hatte, wollte Ray seine Freundin allein suchen.

Lynne McGowan hielt ihn jedoch auf und bat ihn, einen Begrü­ßungsdrink mit ihr zu nehmen. Er wollte nicht unhöflich sein, außer­dem war ihm nach einem starken Getränk, deshalb lehnte er nicht ab.

Adam Pace und Dan Dozzie gingen einander tunlichst aus dem Weg, das fiel Ray auf. Aber wenn sie beisammen waren, fiel kein bö­ses Wort. Sie sprachen jedoch immer kühl und distanziert miteinander. Eine gewisse Spannung lag zwischen ihnen und Lynne McGowan ge­noss das sichtlich.

Dozzie schien das blonde Mädchen gern zurückgewinnen zu wol­len und Pace schien Angst davor zu haben, dass ihm das gelingen könnte.

Sam zog sich mit Robert Tanna in jenen Raum zurück, in dem sei­ne außergewöhnliche Sammlung untergebracht war. Als Neuigkeiten gab es da silberne Fangeisen, mit denen Werwölfe gefangen worden waren. Ein silbernes Krummschwert, mit dem viele Werwölfe getötet worden waren. Einen magischen Flammenwerfer, mit dessen Hilfe einigen Dämonen der Garaus gemacht worden war. Und der Stolz Sam Willards war ein Eichenpfahl, der direkt aus Transsylvanien stammte. Möglicherweise war damit sogar Graf Dracula persönlich gepfählt wor­den.

Tanna war beeindruckt. Er kehrte mit Sam in die geräumige Halle zurück. »Joan bereitet ihren Auftritt hervorragend vor«, sagte Lynne Mc-

Gowan gerade. »Alles wartet voller Spannung auf sie...«

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Plötzlich gellte ein Schrei auf. Der Schrei eines Mädchens. Schrill hallte er durch das Haus. Er

ging allen durch Mark und Bein. Rays Augen weiteten sich. »Das war Joan!«, stieß er erschrocken hervor. Ray stellte sein Glas weg und rannte zur Treppe. Sam Willard eilte

mit ihm die Stufen hoch. Dan Dozzie und Robert Tanna liefen hinter­her. Nur Lynne McGowan und Adam Pace blieben in der Halle.

Lynne zog die Mundwinkel verächtlich nach unten. »Diese Ver­rückte«, sagte sie. »Sie sollte sich einen anderen Job suchen, wenn sie dem Filmen nicht gewachsen ist, sonst schnappt sie noch einmal vol­lends über.«

»Sei fair«, sagte Pace. »Sie ist keine Gefahr für dich.« »Sag bloß, sie tut dir leid.« »Natürlich tut sie mir leid.« »Schwächling.« »Wie kann ein so hübsches Mädchen wie du nur so schrecklich

herzlos sein?« »Niemand ist perfekt«, antwortete Lynne schnippisch. »Ich kann

nicht alle Vorzüge in mir vereinigen. Hast du sonst noch etwas an mir auszusetzen? Sag's ruhig. Ich bin nicht kleinlich.«

Er merkte, dass sie auf Streit aus war. Doch er wollte ihr nicht die Gelegenheit bieten, böse auf ihn zu sein. Sie hätte sich danach garan­tiert Dan Dozzie zugewandt, um ihn, Pace, eifersüchtig zu machen. Und das wäre ihr auch gelungen.

Ray erreichte als erster das Obergeschoß. Mit langen Sätzen rann­te er auf das Zimmer zu, das er mit Joan Vance bezogen hatte. Er stieß die Tür auf und stürmte in den Raum.

Nach vier Schritten stoppte er. Hinter ihm gelangten Willard, Doz­zie und Tanna ins Zimmer.

»Meine Güte, sieht's hier aus«, sagte Dozzie atemlos. Er hatte Recht. Ein Orkan schien hier gewütet zu haben. Und nicht

nur das. Ein reißender Tiger schien aufs Bett gesprungen zu sein, um alles zu zerfetzen. Jetzt noch tanzten Daunen wie weiße Schneeflocken in der Luft. Die Unordnung war so perfekt, dass sie schon als Chaos angesehen werden konnte.

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»Heiliger Strohsack, das kann doch nicht Joan getan haben«, sag­te Tanna.

Ray blickte sich nervös im Zimmer um. »Joan!«, rief er. Er konnte das rothaarige Mädchen nirgendwo se­

hen. Er blickte in den Schrank, dahinter, legte sich auf den Boden und schaute unter das Bett. Er sprang wieder auf und eilte zu den Vorhän­gen. Wild riss er sie zur Seite, aber auch hinter den Übergardinen war das Mädchen nicht. Und doch hatte sie diesen furchtbaren Schrei hier drinnen ausgestoßen.

Wenn Ray allein ihn gehört hätte, hätte er nun daran gezweifelt. Aber auch alle andern hatten ihn vernommen.

Wo war Joan? »Sie scheint durchgedreht zu sein«, sagte Sam Willard. Ray Elliott schüttelte heftig den Kopf. »Das glaube ich nicht, Sam.

Man hat sie im Sanatorium völlig wiederhergestellt. Sie ist nicht ver­rückt!«

»Das habe ich ja nicht behauptest, Ray. Aber denk an ihre pani­sche Angst, als ihr gestern auf die Insel kamt.« Sam erzählte den än­dern davon. »Und nun dieser gellende Schrei. Das ist doch nicht nor­mal.«

»Sie wird nicht ohne Grund geschrieen haben«, verteidigte Ray seine Freundin.

»Das möchte ich ja gern glauben, aber kannst du mir erklären, wovor sie hier drinnen Angst haben sollte?«

Ray blickte sich misstrauisch um. »Irgendetwas geht hier vor, Sam. Wenn ich nur wüsste, was.«

»Fang du nicht auch noch damit an, Ray«, sagte Willard unwillig. »Es ist alles in Ordnung.«

Er machte eine Handbewegung, die das Chaos einschloss, das im Raum herrschte. »George wird sich darum kümmern. In einer Stunde wirst du davon nichts mehr sehen. Inzwischen versuchen wir, Joan zu finden. Einverstanden?«

Sie stellten das Haus auf den Kopf.

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Vom Dach bis zum Keller durchsuchten sie es nach Joan Vance, aber das rothaarige Mädchen war nicht zu finden. Daraufhin ver­größerten sie den Suchradius.

Auch Adam Pace und Lynne McGowan beteiligten sich an der Su­che, nachdem sie sich umgezogen hatten. Sie kämmten die kleine In­sel nach und nach durch, doch Joan Vance war und blieb unauffindbar.

Am späten Nachmittag kehrten sie zum Haus zurück. »Das verste­he ich nicht«, sagte Sam Willard. »Ich war sicher, wir würden sie fin­den.«

»Sie treibt ihr Spielchen ein bisschen zu weit, findet ihr nicht?«, sagte Lynne McGowan hochnäsig. »Bei einem kleinen Scherz macht man sich ja ganz gern mal zum Narren, aber was sich Joan leistet, sprengt bereits den Rahmen des guten Geschmacks.«

»Irgend etwas ist ihr zugestoßen«, sagte Ray. »Vielleicht hat der schwarze Götze sie gefressen«, sagte Lynne

belustigt. »Sei still!«, fuhr Ray sie an. »Damit spaßt man nicht.« Sam Willard schüttelte den Kopf. »Wenn ihr etwas passiert wäre,

hätten wir sie gefunden.« »Sie ist uns absichtlich aus dem Weg gegangen«, sagte Lynne.

»Um uns an der Nase herumzuführen. Ehrlich gesagt, in ihrem Alter ist das reichlich albern.«

»Sie ist jünger als du!«, erwiderte Ray aggressiv. Lynne warf Willard einen entrüsteten Blick zu. »Sam, muss ich mir

das gefallen lassen? Ich bin nicht hergekommen, um mich beleidigen zu lassen.«

»Du musst ihn verstehen. Er sorgt sich um Joan.« »Wenn er so sehr an ihr hängt, hätte er besser auf sie aufpassen

sollen, dann wäre sie ihm nicht abhanden gekommen.« »Wir werden noch einmal die Insel abgehen«, sagte Willard. »Ohne mich«, sagte Lynne und hob abwehrend beide Hände. »So

traumhaft kann dein Eiland gar nicht sein, dass ich das noch einmal auf mich nehme. Ich bin hier, um mich zu erholen.«

»Okay, wer kommt freiwillig mit?«, fragte Sam Willard.

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Außer Ray meldete sich nur noch Robert Tanna. Die andern waren der Ansicht, dass eine zweite Suche nichts einbringen würde und sie behielten damit recht. Auch beim zweiten Rundgang entdeckten sie Joan nicht.

Allmählich musste sich auch Sam Willard zu der Befürchtung durchringen, dass dem Mädchen etwas zugestoßen war. Aber was? Sie suchten die Klippen und die Buchten ab. Sie riefen immer wieder Joans Namen. Aber sie erhielten keine Antwort. Und sie fanden Joan Vance nicht.

Beim Abendessen war die Stimmung dann nicht so, wie Sam Wil­lard sie sich gewünscht hätte. Der leere Stuhl am Tisch schien alle zu stören. Sam ließ ihn von George wegschaffen.

Er versuchte mehrmals, ein Gespräch in Gang zu bringen, doch es klappte nicht. Jeder aß nur und schwieg. Nach dem Abendessen zerfiel die Runde sehr rasch. Tanna rauchte mit Sam noch eine Zigarre auf der Terrasse.

Lynne redete sich darauf aus, dass der Tag sie angestrengt hätte. Sie begab sich auf ihr Zimmer und Adam Pace folgte ihr sehr bald, da­mit sie nicht zu lange allein - und ohne Aufsicht - war.

Auch Ray Elliott ging früh zu Bett. Aber er konnte nicht einschla­fen. Von dem Chaos, das irgendjemand angerichtet hatte, war tatsäch­lich nichts mehr zu sehen. George Roarke hatte gewissenhaft Ordnung gemacht.

Ray zündete sich eine Zigarette an. Er rauchte nachdenklich. Im­mer wieder musste er an Joan denken und an den schwarzen Stein­götzen, der ihm irgendwie unheimlich vorgekommen war.

Gab es zwischen Joans Verschwinden und diesem Götzen einen Zusammenhang?

Es war dunkel im Zimmer. Nur wenn Ray an der Zigarette zog, leuchtete die Glut hell auf und ein rötlicher Schein legte sich auf seine Züge. Er hörte Sam und Tanna unten sprechen. Er hörte Dan Doozie die Treppe hochsteigen und auf sein Zimmer gehen.

Vor seinem geistigen Auge erschien der hässliche Götze. Es war verblüffend, was für einen nachhaltigen Eindruck die Steinfigur auf ihn

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gemacht hatte, obwohl er sie nicht einmal fünf Minuten lang be­trachtet hatte. Wohnten tatsächlich Zauberkräfte in ihr?

Er drückte die Kippe in den Aschenbecher, der auf dem Nachttisch stand. Kurz darauf gingen Sam Willard und Robert Tanna zu Bett. Stille kehrte in das große Haus ein. Totenstille.

Und plötzlich vernahm Ray Elliott den dünnen Gesang eines Mäd­chens.

Er kannte die Stimme. Sie gehörte Joan! Er schnellte aus dem Bett. Woher kam ihre Stimme? Von draußen?

Er eilte zum Fenster und da sah er sie. In ihrem hellen Schlafrock sah sie aus wie ein Gespenst. Sie blickte nur einmal kurz zu ihm hoch, dann entfernte sie sich vom Haus.

Ray riss das Fenster auf. Im selben Moment verschluckte die Nacht das Mädchen. Sie muss wirklich den Verstand verloren haben, dachte Ray. Er fragte sich, wo sie sich so gut versteckt hatte, dass sie sie nicht finden konnten.

Er wollte sie zurückrufen, wusste aber gleichzeitig, dass sie nicht umkehren würde. Er musste sie zurückholen. Hastig drehte er sich um. Er fetzte sich den Pyjama vom Leib und zog sich in großer Eile an.

Wenige Augenblicke später verließ er sein Zimmer. Er eilte die Treppe hinunter. Nur einen Moment überlegte er, ob er Sam infor­mieren sollte. Aber er verwarf den Gedanken gleich wieder.

Bis Sam fertig war, um ihn zu begleiten, würde Joan schon längst über alle Berge sein. Deshalb verzichtete Ray darauf, Sam aufzusu­chen. Was zu tun war, wollte er lieber selbst in die Hand nehmen.

Joan - verrückt. Sein Herz krampfte sich unwillkürlich zusammen. Würde sie abermals für längere Zeit ins Sanatorium müssen? Egal, wie lange sie drinnen bleiben würde, er würde auf sie warten, denn er hatte in ihr endlich - nach langer Suche - den richtigen Partner fürs Leben gefunden. Er war entschlossen, bei ihr zu bleiben. In Freud und Leid. Täglich würde er ihr Blumen schicken. Und Schokolade. Und al­les, was sie haben wollte. Es würde ihr an nichts fehlen. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als wieder gesund zu werden...

Joan, meine liebe Joan, dachte Ray, während er aus dem Haus stürmte. Gebe Gott, dass du wieder ganz gesund wirst. Ich möchte 36

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dich heiraten. Ich möchte eine Familie mit dir gründen. Wir müssen Kinder haben. Zwei, drei...

Er lief um die Gebäudeecke herum und entdeckte in der Dunkel­heit einen hellen Fleck. Das konnte Joan sein. Wartete sie auf ihn? Er forcierte sein Tempo.

Joan zog sich zurück. Warum tat sie das? Fürchtete sie sich nun auch schon vor ihm? Du Dummkopf, dachte Ray. Ich will dir nichts Bö­ses. Niemals. Ich werde dir immer nur Gutes tun, werde dir jeden Wunsch von den Augen ablesen...

Büsche. Tropenbäume. Lange Palmenwedel rauschten in der mil­den Brise, die über die Insel strich. Dazwischen, irgendwo, befand sich Joan. Ray konnte sie nicht mehr sehen.

Seine Augen suchten sie. Er versuchte mit seinen Blicken die Dun­kelheit zu durchdringen. Joan war hell gekleidet. Eigentlich hätte er sie entdecken müssen. Da - ihr Schlafrock blitzte zwischen dunklen großen Blättern. »Joan!«, rief er. Seine Stimme klang heiser. Er war mächtig aufgeregt. »Joan, lauf nicht weg! Ich bin es: Ray. Du brauchst keine Angst zu haben!«

Er erreichte die Büsche und warf sich in das Gewirr aus Zweigen. Keine Sekunde dachte er daran, dass sein Leben in Gefahr sein könn­te. Er hatte nur einen einzigen Gedanken: Joan Vance.

»Joan, bleib stehen!«, rief er. Aber sie ging noch ein Stück weiter. »Joan!« Auf einer kleinen Lichtung blieb sie stehen. Ihre schlanke Gestalt

war vom Mondlicht überflutet. Sie wandte sich langsam um, als Ray die Lichtung erreichte. »Joan. Mein Gott, Joan.«

Er ging auf sie zu. Sie schien ihn nicht ganz an sich herankommen lassen zu wollen. Ihr Blick signalisierte ihm Abwehr. Deshalb, blieb er drei Schritte vor ihr stehen.

»Du kannst dir nicht vorstellen, was ich mir für Sorgen um dich gemacht habe«, sagte er mit leichtem Vorwurf.

Sie antwortete nicht, stand reglos da und starrte ihn feindselig an. »Warum bist du aus dem Haus gegangen, Joan?« Sie antwortete auch darauf nicht.

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»Wo warst du? Wir haben dich alle gesucht. Das Haus und die In­sel haben wir umgekrempelt. Wieso konnten wir dich nicht finden?«

»Ich war versteckt«, flüsterte Joan. »Wir haben dich gerufen. Warum hast du nicht geantwortet?« »Ich wollte nicht antworten.« »Aber warum denn nicht?« »Ich hatte meine Gründe.« »Wo hast du dich versteckt, Joan?« »Wenn du möchtest, zeige ich es dir.« »Morgen, okay? Morgen sehe ich mir dein Versteck an.« »Warum nicht gleich? Es wird dir gefallen.« »Komm lieber mit mir ins Haus«, sagte Ray fürsorglich. »Wieso

hast du plötzlich keine Angst mehr vor der Insel? Was hat sich denn geändert?«

»Ich habe mich geändert, Ray.« »Inwiefern?« »Das erfährst du alles noch heute Nacht. Komm jetzt. Komm mit

mir. Ich habe eine große Entdeckung gemacht. Das muss ich dir unbe­dingt zeigen. Frag mich nicht, ob das bis morgen Zeit hat, denn die Sache duldet keinen Aufschub.«

Ray erschrak. Er hatte das wirklich fragen wollen. Sonderbar. Konnte Joan auf einmal Gedanken lesen? Sie machte keinen verrück­ten Eindruck auf ihn, aber sie hatte sich verändert. Ihrer Stimme fehlte der weiche, warme Schmelz, den er so sehr an ihr liebte. Wenn sie jetzt sprach, klang es kalt und spröde. Ihr Gesicht, sofern es in der Dunkelheit zu erkennen war, schien blasser geworden zu sein und ihre Lippen wirkten seltsam blutleer, Krank sah sie aus, leidend. Es wäre vernünftiger gewesen, sie zu überreden, mit ins Haus zu kommen, statt mit ihr zu gehen, aber sie ließ einen solchen Versuch erst gar nicht zu, sondern wandte sich um und verließ die Lichtung.

»Warte!«, rief Ray. »So warte doch!« Sie ging weiter. »Warst du heute Nachmittag im Haus?«, fragte er. »Nein. Warum?« »Ich hörte dich schreien.«

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»Ich war nicht da.« »Jemand hat das Zimmer auf den Kopf gestellt.« »Ich war das nicht«, behauptete Joan Vance. »Kannst du mir sagen, wer es gewesen ist?« Vielleicht war ihr diese Frage unangenehm. Jedenfalls beantworte­

te sie sie nicht. Und sie gab auch auf Rays weitere Fragen keine Ant­worten mehr. Schweigend schritt sie durch das verfilzte Dickicht. Sie bewegte sich so geschmeidig und rasch vorwärts, als wäre sie hier aufgewachsen. Anhand des Mooses, das an den Bäumen wuchs, stellte Ray fest, dass Joan einen Bogen beschrieb und auf die Klippen zuhielt.

Führte sie ihn etwa zu diesem schwarzen Götzen? Ihm wurde so­fort mulmig zumute. Obwohl Sam gesagt hatte, der steinerne Götze wäre ein Bekämpfer des Bösen, hatte Ray unterschwellig Angst davor.

Die üppige Vegetation trat zurück. Joan blieb stehen. Ray er­kannte den Hort des Bösen sofort wieder. Hierher hatte Sam seine Freunde geführt, um ihnen die schwarze Steinfigur zu zeigen.

Es rieselte kalt über Ray Elliotts Rücken. »Was soll ich hier, Joan? Weshalb hast du mich hierher geführt?«

Von seiner Warte aus konnte er noch nicht in die Senke sehen, in der der schwarze Götze stand und er war entschlossen, nicht dorthin zu gehen. Auch dann nicht, wenn Joan ihn darum bat und selbst die­sen Weg einschlug.

Alles hat seine Grenzen, dachte er. Mein Mut auch. »Lass uns umkehren, Joan«, sagte er drängend. »Gefällt es dir hier nicht?« »Nein, bei Gott nicht. Weißt du, wo wir uns befinden? Dies ist ein

Hort des Bösen. Er wird in Sagen und Legenden erwähnt. Geister und Dämonen sollen hier mit Menschen schreckliche Dinge angestellt ha­ben.«

»Ich wollte dir doch etwas zeigen.« »Wenn du den Götzen meinst, den habe ich schon gesehen und

ich bin nicht erpicht darauf, mir dieses hässliche Monstrum noch ein­mal anzusehen. Einmal ist genug. Ich bitte dich, Joan, komm jetzt mit mir.«

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Das Mädchen lächelte hintergründig. »Du wirst diesen Ort nicht mehr verlassen, Ray.«

Seine Augen wurden schmal. »Wieso nicht?« »Weil du hier sterben wirst«, flüsterte Joan und während sie grau­

sam lächelte, entblößten ihre Lippen zwei dolchartige Augenzähne. Aber damit war der Schock für Ray Elliott noch nicht vollständig.

Aus der Senke tauchte auch noch ein weiteres Monster auf, halb Mensch, halb Wolf. Ein Werwolf.

Ray Elliott war schwer geschockt. Joan, das Mädchen, das er lieb­te, war zum Vampir geworden und sie hatte sich darüber hinaus mit einem gefährlichen Werwolf zusammengetan.

Hatte Sam Willard nicht gesagt, der steinerne Götze würde ihn und die Insel vor Bösem bewahren? Wieso konnten sich dann aber diese beiden Höllenkreaturen darauf herumtreiben?

»Joan!«, stöhnte Ray. »Joan, wieso bist du... Wer hat das aus dir gemacht?«

»Die Mächte der Finsternis können alles. Sie haben auch den Schrei heute Nachmittag in Sams Haus entstehen lassen.«

»Aber wozu denn?« »Um euch aufzurütteln.« »Sag mir, wie ich dich retten kann, Joan.« Das rothaarige Mädchen schüttelte den Kopf. »Wieso glaubst du

denn, dass ich gerettet werden will? Es ist unmöglich. Aber selbst wenn es möglich wäre, würde ich es nicht wollen. Es ist gut so, wie es gekommen ist. Ich begrüße es.«

Der Werwolf trat neben sie. In seinen bernsteinfarbenen Augen glomm ein mordlüsternes Feuer.

»Er hätte dich gestern schon töten können«, sagte Joan. »Aber er ließ dich noch einmal mit dem Leben davonkommen, weil er wusste, dass du ihm auf dieser Insel nicht entkommen kannst.«

Ray Elliotts Herz klopfte aufgeregt gegen die Rippen. Er schluckte heftig, wurde dadurch aber das lästige Würgen in seinem Hals nicht los. Fassungslosigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen.

Es wollte nicht in seinen Kopf, dass er Joan Vance verloren hatte. Aber das war eine Tatsache. Sie war kein Mensch mehr, war zum

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grausamen Blutsauger geworden, von dem er kein Mitleid erwarten durfte. Joan war nur noch eine Hülle, in der das Böse steckte. Sie wurde von einem ungeheuren Mordtrieb geleitet.

Der Werwolf öffnete sein Maul. Er hechelte. »Wir werden dich töten, Ray«, kündigte Joan Vance an und Ray

Elliott wusste, dass es dazu wirklich kommen würde, wenn er nicht schleunigst das Weite suchte.

Fauchend griff Joan ihn an. Sie hob die Arme und spreizte sie ab. Die Geister und Dämonen schienen ihre Insel zurückhaben zu wollen und Joan hatte sich bereitwillig zu ihrem Werkzeug gemacht.

Ray sprang zur Seite. Das verzerrte Gesicht der Vampirin kam ihm ganz nahe. Er schlug mit dem Handrücken danach, obwohl es ihm widerstrebte. Das Mädchen taumelte zur Seite.

Sofort griff der Werwolf an. Mit seiner Pranke schlug er zu. Ray tauchte unter dem Hieb weg. Die Krallen des Werwolfs erwischten seine Schulter.

Er presste die Kiefer zusammen und unterdrückte den Schmerz. Aber er konnte nicht verhindern, dass ihn die Wucht des Schlages nie­derwarf. Hart schlug er auf dem felsigen Boden auf.

Aber er blieb nicht liegen, sondern rollte nach rechts weg. Das war sein Glück, denn im nächsten Augenblick ließen sich der weibliche Vampir und der Werwolf fallen.

Sie verfehlten ihn. Doch Joan gelang es, sein Bein mit beiden Hän­den zu umklammern. Sie zog ihn zu sich. Er spürte, wie er über den Boden rutschte. Joans Griff war so hart, als würden Stahlklammern um Rays Fußgelenke liegen. Sie war unglaublich kräftig. Man sah es ihr nicht an.

Ray geriet in Panik. Das Mädchen bekam ihn immer fester in den Griff. Der Wolf richtete sich auf und duckte sich zum Sprung. Da schaffte Ray sich mit dem Schuhabsatz Luft.

Sie heulte wütend auf. Ihre Hände ließen ihn los. Der Werwolf wuchtete sich im selben Augenblick vorwärts. Ray drehte sich auf den Rücken, so dass dem Monster seine Beine entgegenragten.

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Damit fing er das Ungeheuer ab. Er zog die Beine an und schnellte sie gleich wieder zurück. Die Bestie wurde zurückgeschleudert. Ray kam atemlos hoch.

Weg! Nur weg!, schrie es in ihm. Er verließ den Hort des Bösen. Mit langen Sätzen preschte er durch das verfilzte Dickicht. Die Vamp­irin und der Werwolf verfolgten ihn. Er wusste, dass er um sein Leben rannte und das verlieh ihm zusätzliche Kräfte.

Wie von Furien gehetzt stürmte er durch die üppige Vegetation. Hinter ihm pfiffen zurückschnellende Zweige, brachen Äste. Die Verfol­ger holten auf. Ray stand Todesängste aus.

Dicke Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Sein Gesicht war von der unmenschlichen Anstrengung verzerrt. Würde er es schaffen, den beiden Monstern zu entkommen? Würde es ihm gelingen, unver­sehrt Sam Willards Haus zu erreichen? Die mordlüsternen Biester fä­cherten auseinander.

Rays rechtes Bein verhedderte sich in einer Schlingpflanze. Er ver­lor das Gleichgewicht und fiel. Sofort war der Werwolf da. Ein tödliches Feuer brannte in seinen Augen.

Er sprang Ray an. Dieser konnte sein Bein nicht rasch genug von dem Schlinggewächs losreißen. Er schrie auf. Die Schnauze des Mon­sters suchte seine Kehle, doch Ray kämpfte verzweifelt um sein Leben.

Er gab nicht auf. Mit ganzer Kraft stieß er das Ungeheuer von sich. Ein Ruck. Sein Bein war wieder frei. Er schnellte hoch und setzte die Flucht fort. Joan war inzwischen vorausgeeilt und als er nun aus dem Unterholz hetzte, stellte sie sich zwischen ihn und das Haus. Ray hob einen morschen Ast auf. Schwer atmend drang er damit auf die Vamp­irin ein. Sie fauchte wütend und versuchte den Ast abzufangen.

Als er das nächste Mal zuschlug, erwischte sie mit beiden Händen das Holz. Sie ließ es nicht mehr los. Ray klammerte seine Hände auch fest um den dicken Ast.

Er drehte sich mit dem weiblichen Blutsauger mehrmals und dann ließ er urplötzlich los. Zuerst hatte es ausgesehen, als würde er mit Joan tanzen. Dann flog sie wie vom Katapult geschleudert in die Bü­sche.

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Ehe sie wieder auftauchte, setzte Ray Elliott seine Flucht fort: Schreiend hetzte er auf das Haus seines Freundes zu. Er weckte alle auf. An verschiedenen Fenster flammte das Licht auf.

Joan und der Werwolf - beide waren knapp hinter Ray - stoppten jäh. Als Robert Tanna den Kopf zum Fenster herausstreckte, ver­schwanden die beiden in der Dunkelheit.

Schreiend wankte Ray Elliott in die Halle. Die Tür flog hinter ihm mit einem lauten Knall zu. Sam Willard stürmte die Treppe herunter.

»Ray! Um Himmels willen, was ist los?« Er wollte ihn aufhalten, doch Ray stieß ihn zur Seite und ließ sich

schwer auf das Sofa fallen. Nach und nach erschienen auch die an­dern. Alle wirkten blass und nervös.

»Er blutet«, stellte Tanna fest. Die Jahre, die er in Vietnam als Sa­nitätsgehilfe verbracht hatte, waren nicht spurlos an ihm vorüberge­gangen. Auf Reisen hatte er stets ein kleines Köfferchen bei sich, in dem so ziemlich alles war, was einen Menschen wieder auf die Beine bringen konnte.

Dieses Köfferchen holte er. Inzwischen zogen Dan Dozzie und Sam Willard den Verletzten aus.

»Die Wunden sind nicht so schlimm«, sagte Willard beruhigend. »Woher hast du sie? Was ist passiert, Ray?«

Elliott blickte ihn verstört an. Seine Lider flatterten. »Du glaubst mir kein Wort...«

»Versuch's trotzdem. Erzähle uns, was geschehen ist«, verlangte Sam.

Lynne McGowan nahm sich einen Drink. Tanna kehrte mit seinem Köfferchen zurück. Während er sich um die Wunden des Verletzten kümmerte, sagte Ray Elliott leise: »Ich habe Joan gesehen.«

»Wo? Draußen?«, fragte Sam. »Bist du vor ihr weggerannt? Was hat sie getan? Sind das viel­

leicht Verletzungen, die dir Joan mit einem Messer an...« »Sie hat den Verstand verloren«, sagte Lynne. »Ich hab's befürch­

tet, dass sie nicht lange dicht bleiben würde.« »Sie hat mich fortgelockt«, erzählte Ray Elliott. »Wo war sie denn?«, wollte Willard wissen.

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»Vor dem Haus. Sie hat gesungen. Habt ihr sie nicht gehört?« »Nein. Habt ihr was gehört?«, fragte Sam Willard die andern. Alle schüttelten den Kopf. »Okay«, sagte Sam. »Sie hat dich fortgelockt. Und dann?« »Dann ist sie über mich hergefallen.« »Ich sag's ja, sie hat nicht alle Latten am Zaun«, rief Lynne Mc-

Gowan dazwischen. »Und mit so etwas muss ich ein paar Tage auf dieser Insel verbringen. Seht euch Ray an. Dieses Weib ist gemeinge­fährlich.«

»Sei bitte ruhig, Lynne«, verlangte Sam. »Lass Ray weitererzäh­len.«

»Sie war nicht allein«, keuchte Ray. »Es war noch jemand bei ihr.«

»Unmöglich«, sagte Sam. Er blickte sich um. George Roarke, das Hausfaktotum, stand neben der Tür. Er war nur schnell in seinen Schlafrock geschlüpft und in die Halle gekommen, um zu sehen, ob er gebraucht wurde. »Hat einer von euch das Haus verlassen?«

Wieder schüttelten alle den Kopf. »Wer sollte also bei Joan gewesen sein, Ray? Alle waren im Haus.

Keiner von uns ist ein Lügner.« »Der Kerl, der Joan helfen wollte, mich zu töten, war ein...« »Ja? Was war er? Was? Sag es, Ray. Spann uns nicht auf die Fol­

ter.« »Ein Werwolf.« »Der will uns auf den Arm nehmen«, sagte Dan Dozzie mürrisch

und strich sich mit der flachen Hand über das schwarze Haar. »Jetzt hat Joan ihn mit ihrem Irrsinn schon angesteckt«, stellte

Lynne McGowan belustigt fest. »Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, der Kerl war ein Wer­

wolf«, sagte Ray. »Er kam aus der Senke. Da, wo die Statue, der schwarze Götze, steht!«

»George!«, rief Robert Tanna. »Ja, Sir?« »Bringen Sie ein Glas Wasser.«

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George Roarke schlurfte in Pantoffeln davon. Er brachte das Ge­wünschte. Tanna gab dem Freund zwei Tabletten und forderte ihn auf sie einzunehmen.

»Trink ordentlich nach«, verlangte er und Ray Elliott gehorchte. »Das ist leider noch nicht alles«, sagte Ray danach leise. »Was kommt denn noch?«, stöhnte Sam Willard. »Joan ist kein Mensch mehr. Die Mächte der Finsternis, die deine

Insel niemals ganz verlassen zu haben scheinen, haben sie zum Vam­pir gemacht.«

»Jetzt mach aber einen Punkt, Ray!«, rief Adam Pace ärgerlich. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir dir das abkaufen. Sam, sag ihm, er soll damit aufhören und uns erzählen, was wirklich vorgefallen ist. Ein Werwolf - eine Vampirin, das ist doch Käse.«

Sam Willard schluckte. Er wusste nicht, was er von Rays Bericht halten sollte. Konnte es stimmen, was der Freund erzählt hatte? Die Insel wurde doch vom schwarzen Götzen beschützt. Böse Mächte hat­ten hier keine Chance mehr. Oder waren sie stärker als die Zauber­kraft, die in der Steinfigur steckte?

»Ich wusste gleich, dass ihr mir nicht glauben würdet«, sagte Ray ernst. »Aber jedes Wort, das ich gesagt habe, ist wahr.«

»Schluss damit!«, schrie Pace. »Es reicht!« »Wenn du an meinen Worten zweifelst, dann geh hinaus!«, ver­

langte Ray Elliott beißend. »Beweise, dass du Mut hast. Du wirst dort draußen irgendwo in der Nacht einem weiblichen Blutsauger und ei­nem reißenden Werwolf begegnen und ich bin sicher, dass wir dich le­bend nicht wieder sehen werden.«

Adam Paces Brauen zogen sich nun wütend zusammen. »Komm, Lynne, wir begeben uns nach oben. Vielleicht kann man morgen wie­der vernünftig mit ihm reden. Heute wird er kaum wieder normal wer­den.«

Lynne verließ mit Adam Pace die Halle. Ray spürte, wie eine blei­erne Müdigkeit in seine Glieder kroch. Er konnte die Augen nur noch mit Mühe offen halten.

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»Bringt ihn zu Bett«, sagte Sam Willard zu Dan Dozzie und Robert Tanna. Die beiden hievten Ray hoch, hakten sich bei ihm unter und führten ihn die Treppe hinauf.

Ray ließ es apathisch geschehen. Tränen rannen über seine Wan­gen. Er weinte um Joan, das Mädchen, das er zur Frau nehmen wollte und das er verloren hatte und nie wieder zurückholen konnte. Nach­dem Tanna und Dozzie ihn ins Bett gelegt hatten, sagte Robert Tanna: »Schlaf erstmal. Und morgen erzählst du uns, was sich draußen wirk­lich abgespielt hat.«

»Du glaubst mir auch nicht?«, fragte Ray mit schwerer Zunge. »Tut mir leid«, erwiderte Tanna und verließ mit Dan Dozzie das

Zimmer. Während Dozzie anschließend sein Zimmer aufsuchte, begab sich

Robert Tanna noch einmal ins Erdgeschoß. Er begegnete George Roarke und erhielt von diesem einen unfreundlichen Blick, den er je­doch mit einem Schulterzucken abtat. In der Halle stand Sam Willard mit einem Glas in der Hand am Fenster.

Als er Tannas Schritte hörte, drehte er sich langsam um. »Nimm dir auch etwas zu trinken«, sagte er. Tanna nahm sich einen Bourbon. Er trat mit dem gefüllten Glas zu

Sam. »Was hältst du davon?«, fragte Sam. »Spuken dort draußen wirk­

lich ein weiblicher Vampir und ein Werwolf herum? Wenn ja, woher kommt der Wolf? Wo verstecken sie sich bei Tag?«

»Ich kann nicht glauben, was Ray erzählt hat, obwohl ich ihn normalerweise für seriös halte«, sagte Tanna.

»Aber die Verletzungen...« »Er kann sich bei einem Sturz aufgeschrammt haben. Es können

sich Dornen in sein Fleisch gewühlt haben. Irgendetwas hat ihn so sehr erschreckt, dass er vorübergehend nicht mehr weiß, was er gese­hen hat. Aber ich bin sicher, dass er morgen wieder soweit klar ist, um uns berichten zu können, was wirklich geschehen ist.«

Sam Willards Miene verfinsterte sich. »Irgendetwas stimmt mit meiner Insel nicht mehr. Ich fühle es. Veränderungen sind eingetre­ten.«

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»Es kommt bestimmt wieder alles in Ordnung«, sagte Tanna. Er leerte sein Glas. »Möchtest du, dass ich dir noch Gesellschaft leiste?«

»Ist nicht nötig. Wenn du schlafen gehen möchtest, dann tu's ru­hig.«

»Dann gute Nacht, Sam.« »Gute Nacht, Robert.« »Morgen wird sich alles aufklären.« »Das hoffe ich«, sagte Sam und Robert Tanna begab sich nach

oben. Willard fing an zu grübeln. Jetzt, wo er allein war, konnte er eingehender nachdenken. Keiner störte ihn.

Er versuchte darauf zu kommen, wann sich seine paradiesische Insel zu verändern begonnen hatte. War es erst heute passiert? Oder gestern, als Ray und Joan angekommen waren? Oder an dem Tag, als ein Unbekannter diesen steinernen Götzen auf die Insel geschickt hat­te?

Sam fröstelte leicht. Er dachte an Rays Worte. Joan sollte zum Vampir geworden sein. Sie sollte Ray zu jener Senke auf den Klippen gelockt haben. Und aus dieser Senke sollte ein Werwolf gestiegen sein.

Stimmte das alles? War es kein Hirngespinst, sondern besorgniser­regende Realität? Was hatte das in der weiteren Folge zu bedeuten? Dass der Götze zu schwach war, um das Böse von der Insel fernzuhal­ten?

Oder dass er es im Gegenteil sogar anzog? Bei diesem Gedanken rieselte es Sam Willard eiskalt über den Rü­

cken. Es drängte ihn plötzlich hinaus. Er hielt es nicht länger im Haus aus. Er wollte zum schwarzen Götzen und ihn sich genau ansehen.

Rasch begab er sich auf sein Zimmer und kleidete sich an. Dann verließ er sein Traumhaus, als befände er sich auf der Flucht. Er eilte einen schmalen Pfad entlang.

Die Nacht schien tausend Augen zu haben. Er fühlte sich beobach­tet und belauert. Vielleicht schlichen Joan und dieser Werwolf hinter ihm her. Sie hatten Ray Elliott nicht erwischt und hätten gewiss auch mit ihm vorlieb genommen. Nervös blieb er stehen.

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Misstrauisch blickte er sich um. Tintige Dunkelheit umgab ihn. Un­heilbeladen. Er fühlte es und er sagte sich, dass es ein Fehler gewesen war, das Haus ohne Waffe zu verlassen.

Sollte er umkehren? Kommt nicht in Frage, dachte er. Weiter! Geh zu dem Götzen! Immer mehr verdichtete sich Sams Verdacht, dass all die unheim­

lichen Dinge, die passierten, von diesem schwarzen Götzen ausgingen. Wer hatte die Steinfigur auf die Insel geschickt? War das wirklich ein Freund? Ein Verehrer? Oder ein Feind?

Sam Willard setzte seinen Weg fort. Er lief am Klippengrat entlang und erreichte wenig später den Hort des Bösen, den er entschärft zu haben glaubte, nachdem er den Götzen hier aufstellen ließ.

Die Magie hing wie eine unsichtbare Glocke über dem Ort. Mit je­der Faser seines Körpers spürte Sam die Bedrohung, die vom Zentrum dieses Platzes ausging und im Zentrum stand - der schwarze Götze.

Sams Schritte verlangsamten sich. Sein Mund war trocken, die Kehle ebenfalls. Der Wind zerzauste sein dichtes weißes Haar, das seit ein paar Jahren zu seinem Markenzeichen geworden war.

Wieder ließ er misstrauisch den Blick schweifen. Es herrschte Stil­le, doch Sam traute dem Frieden nicht. Er wollte in keine Falle laufen. Waren Joan und der Wolf in der Nähe? Würden sie über ihn herfallen, wie es schon Ray erleben musste?

Eigenartig, jetzt zweifelte Sam Willard nicht mehr an den Worten seines Freundes. Er glaubte plötzlich mit Sicherheit zu wissen, dass jedes Wort, das Ray gesagt hatte, wahr gewesen war.

Joan war tatsächlich zur gefährlichen Blutsaugerin geworden und sie war in Begleitung eines hungrigen Werwolfs. Sam ging auf die Senke zu. Sein Herz klopfte schneller, je näher er dem schwarzen Göt­zen kam.

Noch konnte er die klotzige Steinfigur nicht sehen, aber lange konnte es nicht mehr dauern, bis er ihren hässlichen Kopf erblicken würde. Da tauchte der Schädel schon auf.

Mit dem nächsten Schritt gelangten die Schultern des Götzen in Sam Willards Blickfeld. Mit jedem weiteren Schritt bekam Sam mehr von der Steinfigur zu sehen.

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Was steckte in diesem Gebilde? Das Gute? Das Böse? Am Senkenrand blieb Sam aufgeregt stehen. Seine Augen wurden

schmal. »Wer hat dich geschickt?«, fragte er leise. »Welchen Zweck verfolgt er damit? Sollst du mich beschützen - oder vernichten?«

Ein magisches Kraftband entstand zwischen Sam Willard und dem unheimlichen Götzen. Der weißhaarige Schauspieler wurde von der Steinfigur unwiderstehlich angezogen.

Er war gezwungen, in die Senke hinab zu steigen. Beunruhigt ging er seitlich an der Figur, die so groß wie er war, vorbei. Etwas befahl ihm, den schwarzen Götzen anzusehen.

»Gott, wie hässlich du bist«, stieß Sam Willard angewidert hervor. Ihm war das bisher noch nicht bewusst geworden. Das abstoßende Krötengesicht schien ihn verzerrt anzugrinsen. Hohn schien die Miene auszudrücken. Die weit auseinander stehenden Augen verfügten über eine hypnotische Kraft.

Plötzlich entstand so etwas wie eine Luftspiegelung zwischen Sam Willard und dem schwarzen Götzen. Der Filmschauspieler sah sein Haus und er bemerkte eine Gestalt, die geduckt darauf zu schlich.

Langsam bewegte sich das dunkle Wesen. Es hatte eine unförmi­ge, massige Gestalt. Sein Kopf war haarlos und glänzte schleimig und das Gesicht war an Widerlichkeit nicht zu überbieten.

Glutaugen lagen in tiefen Höhlen. Das Maul sprang weit nach vorn. Schorfige Lippen entblößten spitze, dreieckige Zähne. Sam Wil­lard erschrak.

Er wusste, was das war. Ein Ghoul! Und der näherte sich seinem Haus! Gebannt beobachtete Sam Willard, was passierte. Der Götze zeig­

te es ihm. Vermutlich wollte er ihn damit quälen. Sam wischte sich mit einer fahrigen Handbewegung über die Augen.

Großer Gott, wie sollte er verhindern, dass dieser ekelerregende Leichenfresser sein Haus betrat? Er wollte sich umdrehen und fortlau­fen, doch der schwarze Götze ließ es nicht zu. Wie festgenagelt stand Sam da und er musste sich ansehen, was der grausame Götze ihm

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vorführte, wobei ihm die unheimliche Steinfigur das Wissen verlieh, dass das, was er sah, zur selben Zeit tatsächlich passierte.

Der Ghoul erreichte den Hauseingang. Er warf einen Blick zurück. Seine grässliche Fratze drückte unverhohlene Gier aus. Seine schleimi­ge Hand legte sich auf die Klinke. Er drückte sie nach unten. Die Tür schwang zur Seite. Der Ghoul verschwand im Gebäude.

Aber er verschwand nicht aus Sam Willards Blickfeld. Es hatte den Anschein, dem Ghoul würde eine unsichtbare Kamera

folgen, die alles, was sie aufnahm, hierher, auf diesen flimmernden Schirm, übertrug. Sams Herz klopfte aufgeregt gegen die Rippen.

Ein Ghoul befand sich in seinem Haus. Das Scheusal - der wider­lichste Dämon von allen, oft sogar von anderen Dämonen gemieden - würde sich ein Opfer holen, das stand für Sam Willard fest.

Und er konnte es nicht verhindern. Er konnte seine Freunde, die sich in Lebensgefahr befanden, ohne es zu ahnen, nicht warnen. Ver­zweifelt versuchte sich Sam von dieser grauenerregenden Luftspie­gelung loszureißen. Es gelang ihm nicht. Er war gezwungen, zuzuse­hen, was weiter passierte.

Das Ungeheuer schlich mit schwankenden Schritten durch die Hal­le, auf George Roarkes Zimmer zu. George war der einzige, der im Erdgeschoß untergebracht war. Die Zimmer aller andern - auch das von Sam Willard - befanden sich im Obergeschoß.

Sams Kopfhaut spannte sich. Georges Leben hing an einem seidenen Faden. Der Ghoul befand

sich auf dem Weg zu ihm. In wenigen Augenblicken würde das Scheu­sal über ihn herfallen und ihn töten.

Niemand konnte die Katastrophe verhindern. Diese Erkenntnis war für Sam Willard ein schmerzhafter Tiefschlag. Er wollte nicht sehen, was weiter passierte, deshalb schloss er die Augen. Doch die grau­envollen Bilder blieben. Er sah sie durch die gesenkten Lider und schauderte.

*

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Dan Dozzie wurde in der Filmbranche als Genie angesehen. Er hatte für eine Unzahl von Filmen die Musik geschrieben und wusste sich wie kein zweiter Komponist in die jeweilige Handlung einzufühlen. Er be­herrschte die Kontrapunktion ebenso wie die sanfte Untermalung. Er konnte mit seinen Schöpfungen Spannungen aufbauen und Emotionen wecken. Er schrieb seine Musik für Western genauso wie für histori­sche Schinken, Kriminalfilme oder Liebesepen.

Er war ein Mann, um den sich die Filmfirmen rissen. Die Schall­platten, die von seinen Werken aufgenommen wurden, verkauften sich auf der ganzen Welt hervorragend. Er war reich und konnte aus einer Menge von Angeboten diejenigen auswählen, die ihn künstlerisch am meisten reizten. Das Geld, das er dabei verdienen konnte, war für ihn von zweitrangiger Bedeutung.

Als ihm auf einer Party in Hollywood Lynne McGowan vorgestellt wurde, fing er sofort Feuer und da Lynne kein Kind von Traurigkeit war, verbrachte sie gleich die Nacht mit ihm.

Von dieser Romanze berichteten sämtliche Zeitungen. Die Klatsch­spalten waren voll mit Bildern und Berichten über das neue Paar. Für den gut aussehenden Dan Dozzie war der Publicityrummel fast schon ein bisschen zuviel. Okay, trommeln gehört zum Handwerk, aber ir­gendwo sollte es auch diesbezüglich Grenzen geben. Die gab es ja auch, aber Lynne Überschritt sie fast immer.

Lynne war ruhmsüchtig. Wenn ihr Name nicht mindestens einmal täglich in allen führenden Blättern des Landes abgedruckt wurde, ins­zenierte sie die verrücktesten Dinge, um sofort wieder ins Gerede zu kommen.

Vor ihrer Abreise hatte sie hintereinander an zwei aufeinander ­folgenden Tagen drei Pressekonferenzen gegeben und sie hatte ihren Manager angewiesen, während ihrer Abwesenheit mit den Zeitungen in Verbindung zu bleiben. Es war reichlich anstrengend, mit Lynne zusammenzuleben.

Dennoch war es ein Schock für Dan Dozzie gewesen, als sie ihm den Laufpass gab. Ausgerechnet wegen Adam Pace, diesem mickrigen Kerl, der aussah wie jedermanns Schwager.

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Die Branche hatte damals insgeheim vor Lachen gewiehert, aber so etwas hatte Lynne noch nie gestört. Auf einer Pressekonferenz hat­te sie verlauten lassen, sie habe sich in Adam Pace, den besten Regis­seur Hollywoods, ›verknallt‹.

»Und was ist mit Dan Dozzie?«, hatte man sie gefragt. Daraufhin hatte sie maliziös gelächelt und zurückgefragt: »Wer,

bitte, ist Dan Dozzie? Wenn Sie den Filmkomponisten meinen - wir sind gute Freunde.«

Gute Freunde. Es nagte in Dozzie immer noch, dass Lynne ihn so einfach abgeschoben hatte wie einen alten Mantel, den sie nicht mehr sehen wollte. Seit diesem Tag hoffte er auf Revanche.

Er wollte sich Lynne zurückholen. Aber nur für kurze Zeit. Und dann wollte er ihr den Tritt zurückgeben, den sie ihm versetzt hatte. Sie verdiente es nicht anders.

Gute Freunde, dachte Dan, darauf wird gepfiffen. Er rollte im Bett herum. Plötzlich hörte er nebenan die Tür klap­

pen. Nur ganz leise. Wenn einer schlief, vernahm er das bestimmt nicht. Nebenan wohnten Lynne und Adam.

Wer stahl sich da aus dem Zimmer? Sie oder er? Dan Dozzie sprang aus dem Bett, in dem er sowieso keinen Schlaf finden konnte. Er schlüpfte in seine Pantoffeln, zog den Morgenmantel an und eilte zur Tür.

Behutsam öffnete er sie. Lynne McGowan erreichte soeben die Treppe. Dan lächelte. Das alte Leiden, dachte er. Sie hat mal wieder Durst. Er hatte es erlebt, als er mit ihr zusammengewohnt hatte. Min­destens einmal pro Nacht war sie aufgestanden, um sich einen Gin Fizz zu holen.

Die Gelegenheit war günstig. Adam Pace ließ Lynne kaum mal aus den Augen. Er hatte Angst, Dan könne ihm die attraktive Freundin ausspannen, deshalb wachte er mit Argusaugen über sie. Doch nun würde sie unten in der Halle allein sein.

Diese Chance wollte sich Dan nicht entgehen lassen. Er trat aus seinem Zimmer. Lynne huschte die Treppe hinunter. Dan Dozzie hefte­te sich an ihre Fersen.

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Als er das Ende der Treppe erreichte, sah er Lynne bei der Haus­bar stehen. Er schlich auf sie zu. Kein Geräusch verursachte er. Erst als er einen Schritt hinter ihr war, machte er sich mit einem leisen Räuspern bemerkbar.

Sie fuhr wie von der Natter gebissen herum. Weit waren ihre Au­gen aufgerissen. Er grinste sie amüsiert an.

»Du kannst es immer noch nicht lassen«, sagte er leise. »Mein Gott, hast du mich erschreckt.« »Du brauchst immer noch deinen Schlummertrunk.« »Das geht dich nichts an.« »Du solltest damit vorsichtig sein«, warnte Dan Dozzie. »Es ist

doch erwiesen, dass der Alkohol Gehirnzellen zerstört. Außerdem schwemmt er auf und macht dick. Das kannst du dir nicht leisten. Du bist nicht Sam Willard, bei dem es egal ist, wie er aussieht. Deine Figur ist dein Kapital.«

»Direkt rührend, wie du um mich besorgt bist«, sagte die blonde Schauspielerin schnippisch.

Er blickte ihr tief in die Augen. »Wundert dich das? Ich bin immer noch verliebt in dich. Ich komme nicht mehr los von dir, Lynne.« Er sagte nicht die Wahrheit, aber woher hätte sie das wissen sollen? Ge­danken lesen konnte sie zum Glück nicht. »Warum hast du mich da­mals sitzen lassen, Lynne? Noch dazu wegen Adam Pace.«

Das Mädchen hob abweisend den Kopf. »Keine beleidigenden Be­merkungen über Adam.«

»Du liebst ihn nicht, Lynne.« »Wer behauptet das?« »Das kann jeder sehen, der nicht blind ist. Warum verschenkst du

dich unter deinem Wert? Das hast du doch nicht nötig.« »Adam ist ein kluger Mann. Er gibt mir auf geistigem Gebiet viel.

Man kann viel von ihm lernen.« »Und deswegen gehst du mit ihm ins Bett?« Lynnes Augen verengten sich. »Ich kann tun, was ich will.« »Natürlich«, sagte Dan Dozzie einlenkend. »Mixt du mir auch ei­

nen Drink?« Sie bereitete zwei Gin Fizz.

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Er trat auf sie zu und legte seinen Arm um sie. Er drückte sie an sich. Sie ließ es nicht nur geschehen, sondern bewegte dabei aufrei­zend ihre Hüften. »Warum kehrst du nicht zu mir zurück?«, fragte er. »Es könnte alles wieder so wie früher werden.«

Lynne schüttelte den Kopf. »Ich kehre niemals um, Dan, merk dir das. Ich gehe immer nur vorwärts.«

»Was ist, wenn ich dir auf diesem Weg mal begegne?« »Das ist unmöglich, denn du gehörst meiner Vergangenheit an

und ich lasse nicht zu, dass sie mich überholt.« Enttäuscht sah Dan Dozzie seine Felle davonschwimmen. Das är­

gerte ihn und in seiner Wut küsste er sie heftig. Ihr Mund öffnete sich wie eine Knospe. Oh, sie war ein ganz durchtriebenes Luder und sie nahm alles mit, was sie kriegen konnte. Der Mann, bei dem sie nein gesagt hätte, musste erst geboren werden.

Plötzlich knallte eine Tür gegen die Wand. Dieses Geräusch und ein feindseliges Knurren riss die beiden jäh auseinander.

*

Fremde Einflüsse hatten sich des Hausfaktotums bemächtigt, ohne dass er es mitgekriegt hatte. Roarke begann ganz eigenartige Gefühle zu entwickeln. Zwischen ihm und der Insel entstand eine Verbindung besonderer Art. Das Eiland wurde für ihn etwas ganz Besonderes. Ein Platz, auf dem niemand etwas zu suchen hatte. Er fing langsam an, alle Menschen zu hassen, die die Insel betraten und er hasste natürlich auch Sam Willard, der es gewagt hatte, diesen Ort zu entweihen, in­dem er ein Haus darauf gebaut hatte.

Kein Mensch, außer ihm, hatte hier etwas zu suchen, diese Ansicht manifestierte sich in George Roarke und in stillen Stunden überlegte er, wie er es anstellen sollte, die Unwillkommenen zu vertreiben.

Es wurde von ihm erwartet. Er wusste das und er hatte Angst da­vor, zu versagen, denn wenn er den Befehlen, die ihn erreichten, nicht gehorchte, würde ihn der Schlag des Bösen gleichfalls treffen.

Vielleicht war die Frist, die ihm gestellt worden war, bereits um. Er wusste es nicht. Alles war so nebulös. Er konnte vieles nur erahnen.

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Nichts wurde zwischen ihm und dem Bösen klar ausgesprochen. George Roarke zuckte in seinem Bett plötzlich hoch. Vor seiner Tür war ein Schnüffeln und Schnaufen zu vernehmen. Gleichzeitig wusste das Hausfaktotum: Deine Uhr ist abgelaufen. Du hast versagt. Du warst den finsteren Mächten keine Hilfe, sie haben dich fallengelassen und nun kriegst du von ihnen die Rechnung präsentiert.

Der Angstschweiß brach ihm aus allen Poren. Die Tür wurde jäh aufgestoßen. Sie knallte gegen die Wand und

im Rahmen stand ein grauenerregender Ghoul, der sein Opfer mit glü­henden Augen anstarrte und ein ziemlich aggressives Knurren hören ließ.

George sprang trotz seines Alters blitzschnell aus dem Bett. Das Schattenwesen trat ein. George Roarke wich Schritt um Schritt zurück. Bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Nun konnte er nicht mehr weiter zurückgehen. Sein faltiges Gesicht wurde bleich. Er starrte die Bestie, die nach seinem Leben gierte, verdattert an.

»Nein!«, stöhnte er. »Lass mich leben!« »Versager!«, hechelte der Ghoul. »Aber wieso denn?« »Du hattest Befehle!« »Die Frist war zu kurz. Ich wollte doch...« »Die Insel geht wieder in unseren Besitz über. Und zwar in dieser

Nacht. Aber das wirst du nicht mehr erleben.« George sah sich gehetzt um. Womit sollte er sich bewaffnen? Er

entdeckte einen kleinen bulligen Hocker. Augenblicklich packte er ihn. Er riss ihn vor seine Brust, so dass dem Ghoul die vier Holzbeine ent­gegenragten.

»Bleib mir vom Leib!«, presste George Roarke heiser hervor. »Dein Tod ist eine beschlossene Sache.« »Gebt mir noch eine Chance.« »Nichts zu machen«, geiferte der Ghoul und dann griff er an. Er

hatte Arme, die verhältnismäßig lang waren. Da Ghouls häufig auf Friedhöfen unter der Erde leben, sind ihre Hände wie die Grabschau­feln von Maulwürfen ausgebildet. Damit schlug er nun zu.

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Sein harter Hieb traf den Hocker. Ein Bein brach ab. Es klapperte auf den Boden. George pumpte seine Lungen voll und begann lauthals um Hilfe zu schreien. Der Ghoul drang auf ihn ein.

George hielt sich den gefährlichen Gegner mit den Hockerbeinen vom Leib. Das Monster verzerrte sein schleimiges Gesicht zu einem höhnischen Grinsen. »Was immer du anstellst, es wird dir nichts nüt­zen.«

Das Hausfaktotum stieß erneut mit dem Hocker zu. Der Ghoul machte einen Schritt zurück. George Roarke hatte etwas Luft. Er schwang den Hocker hoch und die Bestie knurrte unwillig und schüt­telte den Kopf.

Roarke schrie wieder um Hilfe. Zum Teufel, warum stand ihm denn keiner in seiner großen Not bei? Wieso stürmten nicht alle im Haus wohnenden Menschen die Treppe herunter, um ihm zu helfen? Fanden sie es nicht der Mühe wert, sich für ihn einzusetzen? War er in ihren Augen lediglich ein Untermensch, für den man sich nicht in Ge­fahr begibt?

»Hilfe!«, brüllte George Roarke. »So helft mir doch!« Er versuchte an dem Ghoul vorbeizukommen. Es gelang ihm, das

Scheusal mit dem Hocker zur Seite zu drücken. Ein neuerlicher Schlag des Ghouls entriss ihm die bullige Sitzgelegenheit. Egal. George bückte sich nicht nach ihr, sondern trachtete, so rasch wie möglich, aus sei­nem Zimmer zu kommen.

Aber der Ghoul ließ es nicht zu. Ein schmerzhafter Hieb traf den Rücken des alten Mannes. Roarke

fiel auf die Knie. Er wollte sich sofort wieder auf die Beine kämpfen, doch der Ghoul war schneller.

Ein Stoß warf George Roarke auf den Bauch. Er drehte sich atem­los um und sah die gefährliche Bestie über sich. Ihr widerliches Maul war weit aufgerissen. George sah die spitzen gelben Zähne.

Er stieß einen letzten verzweifelten Schrei aus. Dann gruben sich die Zähne in seinen Hals und es war vorbei mit ihm.

*

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Lynne McGowan packte fest zu. Sie klammerte sich an Dan Dozzie und ließ ihn nicht mehr los. Der Komponist versuchte sich von ihr zu lösen. »Lass mich nicht allein«, stieß sie heiser hervor. »Du musst mich be­schützen. Es ist deine Pflicht. Du hast gesagt, dass du mich immer noch liebst, Dan. Beweise es! Bleib bei mir!«

Roarke fing an zu schreien. »Lass mich los! Verdammt noch mal, George ist in Gefahr!«,

keuchte Dan. »Jemand muss ihm helfen!« »Er soll sich selbst helfen. Du bist nicht sein Schutzengel.« Dan wandte Gewalt an, als Georges Gebrüll immer lauter wurde.

Er stieß Lynne von sich. »Das wirst du bereuen!«, schrie sie. Dan kümmerte sich nicht weiter um sie. Er wirbelte herum und

rannte zu Georges Zimmer. Was er sah, ließ ihm die Haare zu Berge stehen. George Roarke kämpfte verzweifelt gegen einen Ghoul. Die ekelerregende Bestie war drauf und dran, das Hausfaktotum umzu­bringen.

Im Obergeschoß wurden die Türen aufgerissen. Adam Pace und Robert Tanna hetzten die Treppe herunter. »Verdammt!«, keuchte Tanna. »Was für eine Nacht! Man kommt nicht zur Ruhe!«

»Lynne war nicht im Zimmer, als mich die Schreie weckten«, sag­te Adam Pace wütend. »Ich möchte wissen, warum sie sich heimlich davonstiehlt.« An Roarkes Not dachte er nicht. Ihm waren immer nur seine Probleme wichtig, alle anderen waren nebensächlich.

Dan Dozzie wollte in den erbitterten Kampf eingreifen, aber er wusste nicht, wie. Als er sich dann endlich entschloss, sich mit bloßen Fäusten zwischen Roarke und den Ghoul zu werfen, war es für das Hausfaktotum zu spät. Wie gelähmt stand er da. »Zurück!«, schrie Robert Tanna. »Dan, geh doch zurück!«

Der Komponist rührte sich nicht von der Stelle. Kaum hatte der Ghoul das Hausfaktotum getötet, da richtete er sich bereits gegen den nächsten Menschen und das war Dan Dozzie.

Dozzie erkannte die schreckliche Gefahr, in der er schwebte, war jedoch unfähig, etwas zu seiner Rettung zu unternehmen. Irgendetwas

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hatte bei ihm ausgehakt. Sein Selbsterhaltungstrieb funktionierte nicht mehr.

Er starrte dem Grauen fassungslos in die glühenden Augen. Ge­duckt näherte sich das Monster dem nächsten Opfer.

»Lauf weg!«, schrie Tanna. »Bring dich in Sicherheit!« Doch Dozzie reagierte nicht. Aber Tanna ließ den Freund nicht im Stich. Suchend blickte er sich

um. Die Zeit drängte. Er entdeckte eine alte Zeitung. Blitzschnell ergriff er sie und drehte sie zusammen. Seine Hand stieß in die Tasche des weichen Kaschmirschlafrocks. Er holte sein Feuerzeug heraus, schnick­te es an und setzte die Zeitung in Brand.

Der Ghoul spannte seine Muskeln. Er nahm den Oberkörper nach unten. Wie eine zusammengedrückte Sprungfeder wirkte er, die gleich vorwärtsschnellen würde. Höchste Gefahr für Dan Dozzie.

Tanna stürmte mit der brennenden Zeitung auf den Freund zu. Mit Feuer kann man Ghouls vernichten. Feuer fürchten sie. Als der Ghoul die brennende Fackel in Tannas Hand sah, heulte er wütend auf.

Bob Tanna versetzte Dan Dozzie einen derben Stoß. Der Kompo­nist kippte zur Seite und knallte gegen die Wand. Im selben Augen­blick löste sich die Lähmung aus seinem Körper.

Er kreiselte herum und lief bis zur Hallenmitte. Dort blieb er ste­hen, um zu sehen, was weiter passierte. Tanna griff das Monster un­erschrocken an. Er wusste, dass dem Ghoul mit Feuer beizukommen war.

Der Ghoul riss die langen Arme hoch. Er hieb abwehrend in die Luft, wich mehr und mehr zurück. Bob Tanna folgte ihm. Er stieß mit der brennenden Zeitungsfackel nach dem Ungeheuer.

Der Ghoul geriet in Panik. Bevor ihn Tanna in die Enge treiben konnte, wirbelte er herum und gab Fersengeld. Mit einem kraftvollen Sprung katapultierte er sich durch das offene Fenster.

Glas klirrte und klimperte. Der Ghoul landete draußen auf wei­chem Erdreich, kam sofort wieder auf die Beine und suchte das Weite.

Zurück blieb ein Toter...

*

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Das alles bekam Sam Willard mit grausamer Deutlichkeit vorgeführt. Jedes Detail wurde ihm in Großaufnahme präsentiert. Es war so grau­envoll, dass dem weißhaarigen Schauspieler die Nerven durchzugehen drohten.

Mit dem Verschwinden des Ghouls löste sich das Flimmern vor Sams Augen auf. Er sah nur noch den schwarzen Götzen und nun war ihm klar, dass ihm dieses Geschenk kein Freund, sondern ein Feind gemacht hatte.

Wut und Abscheu wallten in Sam Willard auf. »Jetzt habe ich dich durchschaut«, schrie er die schwarze Steinfigur an. »Du bist ein troja­nischer Götze. Äußerlich verkörperst du das Gute, aber in deinem In­neren verbirgt sich das Böse. Du bist in der Lage, den menschlichen Geist zu manipulieren, kannst Personen in deinen Bann schlagen und Monster erschaffen, die für dich grausame Taten vollbringen. Ich has­se dich! Ich verachte dich! Du bist ein Werk des Satans! Deshalb wer­de ich dich vernichten!«

In Sam Willards Kopf entstand ein diabolisches Lachen. Eine hal­lende Stimme erwiderte ihm: »Es macht mir nichts aus, dass du mich durchschaut hast. Zu einer Gegenmaßnahme ist es ohnedies für euch schon zu spät. Diese Insel wird wieder in den Besitz des Bösen über­gehen. Du hättest niemals hierher kommen dürfen. Damit hast du den Grundstein für dein schreckliches Ende gelegt.«

»Das werden wir erst sehen!«, schrie Sam wütend. »Ich werde um meine Insel kämpfen und ich werde dich zerstören!«

Der Zorn machte Sam Willard stark. Er stürmte auf den steinernen Götzen ein. Schwarze Mächte füllten den trojanischen Götzen aus. Deshalb wollte Sam Willard ihn von den Klippen stürzen.

Doch dazu kam es nicht, denn die Steinfigur reagierte auf Willards gewagten Angriff augenblicklich. Aus den weit auseinander stehenden Augen des Krötenköpfigen rasten Blitze.

Grell flammten sie auf. Sie erhellten für Sekundenbruchteile die Nacht. In ihrem Schein schien sich der Götze zu bewegen, aber das war nur ein Trugbild. Die weißen Blitze zuckten Sam Willard entgegen.

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Er war nicht in der Lage, ihnen zu entgehen. Sie trafen seinen Kopf. Er brüllte auf. Sie schmorten sich in ihn hinein und zerstörten all sein Wissen, sein Denken, seine Entschlusskraft. Sie machten ihn zum lallenden Idioten, der nicht mehr wusste, wer er war.

*

Tanna stand erschüttert vor dem Toten. Er hatte die brennende Zei­tung auf den Boden geworfen und die Flammen ausgetreten. Für den Moment war für sie alle die Gefahr gebannt. Aber Tanna war davon überzeugt, dass der Ghoul wiederkommen würde. Inzwischen stand fest, dass sich Sam Willard nicht im Haus befand. Er wäre einer der er­sten gewesen, der die Treppe heruntergestürzt wäre, um George zu helfen.

Dan Dozzie hatte sicherheitshalber in Sams Zimmer nachgesehen. Willard hatte sich nicht darin befunden. Er musste ohne das Wissen der andern das Haus verlassen haben.

Weswegen? Wohin hatte sich Sam begeben? Seit Tanna den Ghoul gesehen hatte, glaubte er jedes Wort, das

Ray Elliott gesagt hatte. Er war bereit, es als Tatsache zu akzeptieren, dass Joan Vance zum Vampir geworden war und dass es auf der Insel auch einen Werwolf gab. Und es behagte ihm ganz und gar nicht, Sam irgendwo dort draußen zu wissen, der Gefahr ausgesetzt, einem Blut­sauger, einem Werwolf oder einem Ghoul zu begegnen.

Adam Pace nahm sich einen schottischen Whisky. Er leerte sein Glas mit einem Zug und wenn Blicke hätten töten können, wäre Dan Dozzie in diesem Moment tot umgefallen.

Pace konnte nicht verlieren. Er war nur verträglich, solange er der Sieger war. Sein Ehrgeiz war in den Filmstudios gefürchtet, denn ihn bekamen alle zu spüren. Nicht nur die Schauspieler, sondern auch die Maskenbildner, die Dekorateure, der Kameramann und so fort. Seine Sucht nach dem absoluten Perfektionismus brachte alle, die mit ihm arbeiteten, manchmal zur Verzweiflung. Wenn er weltweit nicht so großen Erfolg erzielt hätte, an dem seine Mitarbeiter letztendlich mit­

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naschten, hätte er schon lange keine Crew mehr zusammenbe­kommen.

Sein stechender Blick wechselte von Dozzie zu Lynne McGowan. »Du verfluchte Schlampe! Genüge ich dir nicht? Musst du mich mit meinem Vorgänger betrügen? Was bist du bloß für ein widerliches Stück Dreck. Abschaum, königlich verpackt!«

»Sag mal, wie redest du denn mit mir, du aufgeblasener Garten­zwerg!«

»Heimlich stiehlst du dich aus dem Zimmer.« »Ich hatte Durst. Ich wollte mir einen Drink holen. Ist das verbo­

ten?« »Warum hast du damit gewartet, bis ich schlief, he?« »Kann man seinen Durst steuern? Verdammt noch mal, ich habe

mir nichts zuschulden kommen lassen und ich bin noch lange nicht dein Eigentum, Adam Pace! Ich kann tun, was ich will!«

»Du hast dich mit diesem widerlichen Windhund getroffen!«, schrie Pace und wies auf Dozzie. »Gib es zu! Warum gibst du es nicht zu?«

»Weil es nicht stimmt, verdammt noch mal.« »Du kannst nicht leugnen, dass ihr zwei schon hier unten wart, als

Bob und ich die Treppe herunter liefen.« »Es war trotzdem alles anders, als du es dir in deiner schlüpfrigen

Phantasie zusammenreimst. Und selbst wenn ich mich mit Dan hier unten getroffen hätte, ginge dich das nichts an!«

»Ich lasse mich von euch doch nicht zum Narren machen!« Paces Gesicht wurde rot. »Ich wusste von Anfang an, dass sich dieser Lack­affe wieder um dich bemühen würde, dass er dich Flittchen so schnell wieder herumkriegen würde, hätte ich nicht für möglich gehalten.«

»Jetzt habe ich den Kanal aber voll!«, herrschte Dan Dozzie den Regisseur an. »Wofür hältst du dich eigentlich, dass du denkst, jeden beleidigen zu dürfen?« Dozzie nahm die Fäuste hoch und wollte damit auf Adam Pace losgehen.

Aber da fuhr Robert Tanna wie ein Blitz dazwischen. »Ja, bin ich denn in ein Irrenhaus geraten?«, brüllte er. »Ray Elliott ist angeschla­gen. Sam Willard ist nicht im Haus. Hier liegt ein Toter. Dort draußen

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streichen drei Monster ums Haus, die jederzeit über uns herfallen kön­nen und ihr habt keine größeren Sorgen, als hier ein bühnenreifes Ei­fersuchtsdrama abzuziehen. Sind denn bei euch allen die Schrauben locker? Begreift ihr denn nicht, in was für einer Gefahr wir uns befin­den?«

Betretenes Schweigen trat ein. Dan Dozzie ging an Pace vorbei und griff nach seinem Gin-Fizz-Glas, von dem er noch nicht getrunken hatte. Er trank mit gierigen Zügen. Ihm war schrecklich heiß. Das war die Wut, die immer noch in ihm kochte.

Stille herrschte für kurze Zeit nach Bob Tannas Gebrüll in der Hal­le. Und in diese Stille hinein fiel plötzlich ein tappendes Geräusch. Tanna drehte sich beunruhigt um.

»Was war das?«, fragte Lynne McGowan nervös. »Es kam von der Haustür«, sagte Dan Dozzie. »Ich seh mal nach«, meinte Bob Tanna. »Bist du von Sinnen?«, entfuhr es Adam Pace. »Lass die Tür zu!« Tanna hörte nicht auf den bibbernden Regisseur. Er eilte zur Tür.

Da war das Tappen wieder. Diesmal lauter. Tanna griff nach der Klin­ke.

Er hielt den Atem an. Was würde passieren, wenn er die Tür auf­riss? Es würde sich herausstellen.

Blitzschnell öffnete Robert Tanna die Tür und im selben Augen­blick traf ihn der Schock mit der Wucht eines Keulenschlages.

Vor ihm stand Sam Willard totem blass. Zwei kleine Brandflecken waren an seiner Stirn zu erkennen. Der weißhaarige Schauspieler grin­ste dümmlich. Sein Mund stand halb offen. Speichel glänzte auf den Lippen. Dieser Mann war zweifellos geistesgestört.

»Sam!«, rief Bob Tanna betroffen aus. Das Schicksal des Freundes ging ihm schmerzhaft unter die Haut. »Sam, mein Gott...«

Willard erkannte ihn nicht wieder. Grinsend trat er ein. Grinsend blickte er Lynne, Adam Pace und Dan Dozzie an. Auch sie waren ihm fremd. Fremd wie das Haus, das er selbst gebaut hatte.

Dozzie eilte auf den Freund zu. »Sam, was ist passiert?« Willard antwortete nicht. Er konnte nicht mehr reden.

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Dozzie wollte das nicht wahrhaben. Er ergriff den weißhaarigen Schauspieler bei den Schultern und schüttelte ihn. »Sam! Wo bist du gewesen? Woher kommst du?«

Willard behielt sein dümmliches Grinsen bei und lallte unverständ­liches Zeug. Er riss sich von Dozzie los. Sein Blick heftete sich auf Lyn­ne McGowan. Er ging auf sie zu. Sein Speichelfluss verstärkte sich.

Lynne wich angewidert zurück. »Fass mich nicht an!« Sam wollte es trotzdem tun. Adam Pace eilte ihr zu Hilfe. »Lass sie in Ruhe!«, herrschte er den Idioten an und drängte ihn

ab. Sam war das egal. Dozzie holte ihn und führte ihn zu einem Sessel. Dort zwang er ihn, sich zu setzen und Sam blieb grinsend sitzen.

»Schrecklich«, seufzte Dan. »Er hat völlig den Verstand verloren. Ob er einen ähnlichen Schock wie Ray erlitten hat?«

»Ich frage mich, ob nicht die beiden Brandwunden damit zusam­menhängen«, meinte Robert Tanna nachdenklich.

Dozzie blickte ihn besorgt an. »Bob, was haben wir noch alles zu erwarten?«

Lynnes Nerven rissen. »Ich will weg von hier!«, schrie sie schrill. »Fort von diesem Haus! Runter von dieser unheimlichen Insel!«

»Beruhige dich«, sagte Adam Pace eindringlich. »Ich bitte dich, beruhige dich! Wir werden gemeinsam überlegen, was zu tun ist.«

»Es ist mir gleichgültig, was ihr euch überlegt. Ich will weg von dieser Insel und zwar sofort.«

»Du weißt, dass das unmöglich ist«, sagte Bob Tanna. Er bewahr­te von allen am besten die Ruhe, obwohl auch ihn die schrecklichen Ereignisse nicht kalt ließen.

»Wieso ist es unmöglich?«, wollte Lynne wissen. »Sag mir, wie­so!«

»Sam hat seine Jacht einem Bekannten geliehen. Er sitzt wie wir auf seiner Insel fest.«

»Angenommen, er will die Insel verlassen, was tut er dann?«, fragte Lynne.

»Er ruft drüben auf Key West an. Die schicken ihm ein Boot, das ihn abholt.«

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Lynne nickte. »Genau das sollten wir auch tun. Ruf an, Bob, ruf sofort an. Ich werde auf dieser Insel sonst noch wahnsinnig!«

Dan Dozzie begab sich ans Telefon und hob für Bob Tanna ab. Er hielt den Hörer an sein Ohr und erschrak.

»Was ist?«, fragte Robert Tanna. »Tot. Die Leitung ist tot!« Tanna eilte zum Apparat. Er riss Dozzie den Hörer aus der Hand

und presste ihn an sein Ohr. Nichts war zu hören. Dan hatte recht. Das Telefon funktionierte nicht mehr. Tanna konnte sich vorstellen, von wem es zerstört worden war. Er schlug mit der flachen Hand mehr­mals auf die Gabel, doch das nützte nichts. Die Leitung blieb tot.

Aber Sam Willard war ein vorausblickender Mann. Er zog ins Kal­kül, dass das Telefon irgendwann einmal ausfallen konnte. Deshalb hatte er sich unter dem Dach eine Funkstation einrichten lassen. Tan-na erinnerte sich an sie. Sam hatte sie ihm voll Stolz vorgeführt.

Er ließ den Hörer in die Gabel fallen und erzählte den Freunden von der Funkstation. Sofort hängten sich neue Hoffnungen daran. Ge­meinsam eilten sie nach oben.

Tanna schaltete nervös das Funkgerät ein. Die Skalen leuchteten auf und allen fiel ein riesengroßer Stein vom Herzen.

»Dem Himmel sei Dank«, seufzte Adam Pace. Bob Tanna suchte sich eine Frequenz, auf der er Key West errei­

chen konnte. Er blickte in die gespannten Gesichter seiner Freunde. »Nur Mut«, sagte er. »Wir werden es schon schaffen.«

Er setzte sich die Kopfhörer auf. Im selben Augenblick passierte es. Eine weiße Stichflamme schoss aus dem Gerät. Tanna sprang zu­rück und riss sich die Hörer vom Kopf. Es zischte, knisterte und knack­te. Die Hitze verschmorte Drähte und Widerstände. Sie zerstörte Tran­sistoren und Skalen. Innerhalb eines Sekundenbruchteils war das Funkgerät unbrauchbar geworden und keiner, nicht einmal ein hoch­begabter Elektrotechniker, hätte den entstandenen Schaden reparieren können.

Lynne fing an zu weinen. Dan Dozzie blickte Tanna verstört an.

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Und Adam Pace jammerte: »Liebe Güte, was machen wir jetzt bloß?«

Aus dem kaputten Funkgerät geisterte mit einem Mal ein hohn triefendes Gelächter. »Das habt ihr euch so gedacht!«, spottete eine hallende Stimme. »Aber aus einer Rettung wird nichts. Ihr bleibt näm­lich hier und ihr werdet noch in dieser Nacht euer Leben verlieren!«

Lynne McGowan kreischte auf. Sie schüttelte verzweifelt den Kopf und hielt sich die Ohren zu.

»Ich kann das nicht hören!«, schrie sie. Adam Pace brachte sie mit Dan Dozzie in die Halle. Er hatte nun

nichts mehr dagegen, dass auch Dan sich um das Mädchen sorgte. Lynne zitterte nun wie Espenlaub. Sie schluchzte laut und wimmerte: »Wäre ich doch niemals hierher gekommen.«

Sam Willard saß nach wie vor im Sessel und grinste dumm vor sich hin. Er nahm keine Notiz von den andern, spielte mit seinen Fin­gern und lallte wie ein Kleinkind.

Bob Tanna massierte sein Kinn. »Jetzt ist guter Rat teuer, Freun­de. Wir werden von finsteren Mächten bedroht. Vor dem Haus ist die Gefahr für uns noch wesentlich schlimmer als hier drinnen, deshalb werden wir das Gebäude nicht verlassen. Ich glaube, wir haben nur dann eine Chance, wenn wir beisammenbleiben und zusammen­halten.« Ärgerlich schüttelte er den Kopf. »Wo wir jeden Mann benöti­gen, habe ich Ray Elliott mit zwei Tabletten eingeschläfert...«

»Du konntest diese Entwicklung doch nicht vorhersehen«, warf Dan ein.

»Da hast du allerdings Recht. Für mich steht fest, dass wir einen Angriff zu erwarten haben. Da wir nicht die Absicht haben, das Haus zu verlassen, werden unsere Gegner hereinkommen. Um das zu ver­hindern, müssen wir uns etwas einfallen lassen.«

»Alle Fenster und Türen verbarrikadieren«, sagte Adam Pace so­fort.

Tanna nickte. »Keine schlechte Idee.« Er schnippte mit zwei Fin­gern. »Ja, Adam, das werden wir tun. Inzwischen wirst du, Lynne, Kaffee kochen. Mein Gott, hör endlich zu heulen auf, das macht die Lage auch nicht besser. Der Kaffee muss so stark sein, dass man da­

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mit Tote aufwecken kann, verstehst du? Und koche nicht zu wenig davon. Wir können alle einen tüchtigen Schluck brauchen, damit unse­re Sinne hellwach bleiben. Schaffst du das allein?«

»Ja«, antwortete Lynne McGowan kleinlaut. Von dem geltungs­süchtigen Star, als der sie überall auftrat, war nichts mehr übrig. Jetzt war sie nur noch ein ängstliches Häufchen Elend.

Während sie sich in die Küche begab, fingen die drei Männer an, Fenster und Türen zu verbarrikadieren. Sam Willard schaute ihnen dabei zu und grinste blöde vor sich hin. Ihm war alles egal. Er begriff nichts mehr. Er hatte aber auch nichts zu befürchten, denn von Ver­rückten lassen die Mächte der Finsternis für gewöhnlich die Finger.

Ray Elliott lag tief eingebettet in Morpheus' Armen. Von all dem Grauen, dem Horror, die über das Haus und die Insel hereingebrochen waren, wusste er nichts. Seine Züge waren entspannt. Er schlief mit regelmäßigen Atemzügen. Aber das Unheil machte auch vor ihm nicht halt.

Die milchweißen Gardinen vor dem offenen Fenster bauschten sich im lauen Nachtwind. In den nahen Wipfeln der Baumriesen wisperte es gespenstisch. Ein grausames Schicksal sollte Ray ereilen. Die Weichen waren dafür bereits gestellt. Auf leisen Sohlen schlich die Gefahr her­an. Niemand hörte sie kommen. Niemand wusste von ihrer bedrohli­chen Nähe.

*

Joan war es, die nach dem Blut ihres Freundes lechzte. Diesmal wollte sie ihn sich allein vornehmen und sie war zuversichtlich, dass er ihr kein zweites Mal entkommen würde.

Sie würde ihm den Keim des Bösen ins Blut setzen, würde ihn ver­giften und dafür sorgen, dass auch er zum gierigen Blutsauger wurde. Danach würden sie gemeinsam Jagd auf die ändern machen.

Joan kletterte ohne Schwierigkeiten an der Fassade hoch. Mühelos erreichte sie das offene Fenster. Ohne auch nur das geringste Ge­räusch zu verursachen, glitt sie über die Fensterbank.

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Durch den Vorhang betrachtete sie ihr Opfer. Ein grausames Lä­cheln huschte über ihre Züge. Sie war kein liebenswertes Mädchen mehr, sondern ein Schattenwesen, das den Menschen Tod und Verder­ben brachte.

Langsam hob sie die Hand. Ihre zarten Finger berührten das dün­ne Gewebe der Gardine. Behutsam schob sie den Vorhang zur Seite. Sie hatte es nicht eilig, denn Rays warmes süßes Blut war ihr sicher. Nur mit Mühe konnte sie sich beherrschen.

Sie wollte nicht wie ein Tier über ihn herfallen, sondern sich neben ihn legen und ihm den Todeskuss geben. In ihrer Vorfreude darauf leckte sie sich die blutleeren Lippen.

Als würde sie schweben, so bewegte sie sich auf das Bett zu, in dem Ray Elliott lag. Neben ihm blieb sie stehen. Er schien ihre Nähe zu spüren und er reagierte darauf mit einer gewissen Unruhe.

Er bewegte sich, drehte sich auf den Rücken, seine Zunge huschte über die trockenen Lippen und dann schmatzte er vernehmlich. Wieder lächelte die Vampirin.

Sie beugte sich über den Mann. Niemand im Haus würde wissen, dass auch aus ihm ein Schattenwesen geworden war. Es würde ihm leicht fallen, die Freunde zu überrumpeln.

Joan Vance stützte sich mit beiden Händen auf das Bett und gleich darauf schickte sie sich an, den Platz neben Ray einzunehmen.

»Gleich«, wisperte sie. »Gleich wirst du vom Tod geküsst, Lieb­ling!«

Und dann öffnete sie langsam ihren Mund...

*

Der starke Kaffee, den Lynne McGowan gekocht hatte, duftete im gan­zen Haus. Mittlerweile hatten die Männer Türen und Fenster mit Mö­beln verstellt. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen. Tanna machte die Freunde darauf aufmerksam, dass sie sich trotz der Barrikaden nicht in Sicherheit wiegen durften.

»Wir müssen mit allem rechnen«, sagte er. »Und wir müssen höl­lisch auf der Hut sein, um nicht überrumpelt zu werden. Deshalb wer­

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den wir uns Sams Waffen ausleihen. Ein Glück, dass seine Sammlung so umfangreich ist.«

Er begab sich mit Dan Dozzie und Adam Pace in den Raum, in dem die Sammlung untergebracht war. Dämonenbanner hingen an den Wänden. Es gab alte Dolche aus reinem Silber, in deren Klingen weißmagische Sprüche und Symbole eingraviert waren.

Ein handtellergroßer silberner Drudenfuß hing an einer langen Kette an einem Haken. Bob Tanna räumte die Wand systematisch ab und stattete sich und seine Freunde reichlich mit Waffen aus.

Adam Pace erhielt einen magischen Flammenwerfer sowie ein schützendes Amulett.

Dan Dozzie nahm von Tanna ein silbernes Krummschwert entge­gen. Außerdem hängte ihm Tanna noch eine Gnostische Gemme um, den Hals.

Für Lynne McGowan legte Bob Tanna eine Silberschrotflinte bei­seite und reichlich Munition.

Er selbst nahm sich einen Eichenpfahl - jenen, durch den an­geblich schon Graf Dracula gestorben sein sollte - den silbernen Dru­denfuß und für Ray Elliott, der nicht länger schlafen durfte, steckte Tanna mehrere Dolche in seinen Gürtel.

Als sie in die Halle zurückkehrten, stand der Kaffee in Tassen für alle bereit. In einer Kanne befand sich der Kaffee für Ray. Tanna reich­te Lynne das Gewehr.

»Kannst du mit so etwas umgehen?«, fragte er. »Ich musste mal für einen Film schießen üben«, antwortete sie.

»Aber getroffen habe ich selten.« »Diese Donnerbüchse ist mit Silberschrot geladen. Damit kannst

du nicht danebenschießen. Da die Munition auch noch geweiht ist, kannst du damit alles erledigen, was bösen Ursprungs ist.«

Sie tranken den starken Kaffee. Er war heiß. Tanna verbrannte sich die Lippen und schimpfte. Sam Willard saß neben ihm und lallte leise.

»Armer Kerl«, sagte Dan Dozzie. »Ob er wieder klarkommt?«

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»Wir wollen es hoffen«, erwiderte Tanna. Nachdem er den Kaffee getrunken hatte, griff er nach der Kanne und der daneben stehenden Tasse und meinte: »Jetzt werde ich Ray aufwecken.«

»Soll ich mitkommen?«, fragte Adam Pace. »Das schaffe ich schon allein.« Lynne räumte das Geschirr ab. Tanna stieg die Treppe hoch. Er

erreichte die Tür, hinter der Ray schlief. Anzuklopfen hatte keinen Sinn. Ray hätte ihn nicht gehört.

Er öffnete deshalb einfach die Tür, trat ein und machte Licht. Im selben Moment vernahm er ein feindseliges Fauchen und eine

Gestalt sprang neben Ray Elliott hoch. Ein Mädchen war es: Joan Vance, die Vampirin. Tanna sah das offene Fenster und sein Herz krampfte sich zu­

sammen. Hatte der weibliche Blutsauger den Freund bereits gebissen? Er stellte die Kaffeekanne rasch beiseite.

»Adam! Dan!«, rief er. Die Vampirin starrte ihn mordlüstern an. Adam Pace und Dan Doz­

zie eilten die Treppe hoch. Joans Gesicht verzerrte sich zu einem ge­meinen Grinsen, das aber in dem Moment verschwand, als Bob Tanna den Eichenpfahl aus seinem Gürtel zog.

»Du hast nicht die Kraft, es zu tun!«, zischte sie. »Ich werde dir das Gegenteil beweisen!« Sie näherte sich ihm. Lang und spitz ragten die gefährlichen Vam­

pirzähne aus ihrem Mund. »Du hast mich gestört, deshalb werde ich dich bestrafen«, sagte

sie heiser. Totenblass war ihr Gesicht, blutleer waren die Lippen. Bob Tanna

wusste, dass er keinen Menschen vor sich hatte, sondern ein Schat­tenwesen, das hinterlistig und gemein war, das über Höllenkräfte ver­fügte und vor dem man sich sehr in acht nehmen musste.

Mit beiden Händen umklammerte er den Holzpfahl. Er konnte sie damit erlösen. Aber die Spitze des Pfahls musste ihr Herz durchbohren. Ob ihm das gleich beim ersten Stoß gelingen würde?

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Joan schlich auf nackten Sohlen näher. Ihre Augen besaßen hyp­notische Kraft. Bob Tanna spürte es. Die Vampirin wollte Gewalt über seinen Geist bekommen. Er kämpfte verbissen dagegen an.

Aber ihr Blick machte ihm zu schaffen. Eine bleierne Müdigkeit kroch in seine Glieder. Er riss sich zusammen.

»Warum willst du mich umbringen?«, fragte sie ihn. »Ich bin doch Joan, das Mädchen, das du heimlich verehrst.«

»Das warst du mal«, gab Bob Tanna schwitzend zurück. »Jetzt bist du nur noch eine bildschöne Verpackung für das absolut Böse.«

Sie trat noch einen Schritt näher und dann stürzte sie sich fau­chend auf ihn. Ihr Gesicht war zur Fratze verzerrt. Die Augen waren weit aufgerissen, desgleichen der Mund.

Joan wollte ihm ihre dolchartigen Zähne ins Fleisch schlagen, doch er schaffte es, trotz der Müdigkeit, die ihm das Schattenwesen sugge­riert hatte, rechtzeitig auszuweichen.

Er sprang zur Seite und stieß mit dem Pfahl zu. Jetzt hatte Joan Mühe, sich in Sicherheit zu bringen. Sie verzichtete vorläufig darauf, ihn neuerlich beißen zu wollen. Sie schlug ihm ihren Handrücken ins Gesicht.

Tanna wurde gegen die Wand geschleudert. Um ein Haar wäre seinen Händen der Eichenpfahl entfallen.

Er war benommen. Es kam ihm endlos lange vor, bis Dan Dozzie und Adam Pace ein­

trafen. Als die beiden dann endlich in den Raum stürmten, griff die Vampirin nicht mehr an. Sie starrte die Männer feindselig an und fauchte.

Und dann wollte sie sich zum Fenster zurückziehen. Tanna er­kannte ihre Absicht jedoch sofort. Sie wollte sich aus dem Staub ma­chen. Das durfte nicht geschehen.

Joan Vance war zur drohenden Gefahr geworden. Sie mussten sie ausschalten. Bob Tanna schnitt ihr den Weg zum Fenster ab. Sie zisch­te wütend.

»Fasst sie!«, verlangte Tanna von seinen Freunden. »Haltet sie fest, damit ich ihr meinen Pfahl ins Herz stoßen kann!«

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»Bleibt mir vom Leib!«, fauchte die Vampirin. »Den ersten, der mich angreift, töte ich!«

Adam Pace zögerte. Er war die schwächste Stelle in der Kette. Joan fand das sofort heraus. Sie wandte sich gegen ihn.

»Zurück!«, befahl sie ihm schneidend. »Geh mir aus dem Weg, Adam!«

Der Regisseur gehorchte. Joan beabsichtigte, durch die Tür zu flie­hen. Wenn sie erst einmal diesen Raum verlassen hatte, würde sie schon irgendwo aus dem Haus kommen.

»Adam, lass sie nicht durch!«, rief Tanna. Doch Pace hatte nicht die Kraft, sich der Vampirin entgegenzustel­

len. Als sie an ihm vorbeiwischen wollte, griff Dozzie ein. Er wuchtete sich vorwärts. Mit beiden Händen packte er sie. Als Adam Pace das sah, wollte er nicht nachstehen und auch er ergriff das Schattenwesen.

Joans Hände waren eiskalt. Pace schauderte. Aber er ließ das Mädchen nicht mehr los. Joan schrie und tobte. Sie beschimpfte die Männer, die sie festhielten und versuchte sich von ihnen loszureißen.

Pace und Dozzie hatten Mühe, sie zu halten. Sie drehten sich mit der Vampirin um. Der weibliche Blutsauger zischte und fauchte wie ein Raubtier. Pace und Dozzie pressten sie an die Wand, während Tanna die Spitze des Eichenpfahls gegen ihre Brust richtete.

»Das darfst du nicht tun!«, geiferte sie. »Das ist Mord!« Tanna hörte nicht auf sie. Er warf sich dem Monster entgegen.

Der Pfahl traf genau. Joan Vance schrie grell auf. Ihre Augen weiteten sich in namenlo­

sem Entsetzen. Dann erschlaffte ihr Körper und als Pace und Dozzie sie losließen, sackte sie zu Boden.

Ein friedlicher Ausdruck breitete sich über ihr Gesicht. Die langen Augenzähne verschwanden. Sie war erlöst.

Als Adam und Dan nach oben liefen, weil Bob sie gerufen hatte, war Lynne McGowan allein mit Sam Willard. Obwohl er in seiner stupi­den Einfältigkeit harmlos wirkte, fürchtete sich die Schauspielerin vor ihm. Sie wollte ihn nicht in ihrer Nähe haben, deshalb zog sie sich mit Gewehr und Munition in die Bibliothek zurück. Nervös ging sie darin auf und ab.

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Der Todesschrei der Vampirin schien Sam Willard plötzlich zu e­lektrisieren. Sein Blick blieb zwar weiterhin geistesabwesend, aber er reagierte zum ersten Mal auf einen akustischen Reiz.

Und er blieb nicht länger sitzen. Langsam stand er auf. Das dum­me Grinsen behielt er bei. Er wanderte scheinbar ziellos durch die Hal­le, gelangte zu einer Tür, öffnete sie und begab sich zum Fenster, vor dem ein schwerer Schrank stand.

Tanna und Dozzie hatten ihn mühsam davor geschoben. Willard schien von draußen einen Befehl empfangen zu haben, denn er trat neben den Schrank, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und stemm­te ein Bein gegen die Wand.

Der Verrückte strengte sich ungemein an. Millimeter um Millimeter rückte er den Schrank vom Fenster weg. Er nahm all seine Kräfte zu­sammen und nachdem das Möbel zur Seite geschoben war, öffnete Sam die Verriegelung des Fensters.

Das Böse machte ihn zu seinem Werkzeug. Sobald die beiden Fen­sterflügel offen waren, trat Sam Willard zurück. Nach wie vor troff Speichel aus seinem halb offen stehenden Mund.

Vor dem Haus lag unheilvolle Dunkelheit und aus dieser schälte sich im nächsten Augenblick der Werwolf, der darauf gewartet hatte, dass ihn jemand ins Haus ließ.

*

Der Schrei der Vampirin weckte Ray Elliot. Benommen richtete er sich im Bett auf. Tanna eilte mit der Kaffeekanne zu ihm. Ray hatte Mühe, die Augen offen zu halten.

Bob Tanna goss den Kaffee in die mitgebrachte Tasse. »Trink, mein Junge. Trink davon so viel wie möglich. Du darfst nicht länger schlafen. Wir brauchen dich.«

»Was ist passiert?«, fragte Ray. »Eine ganze Menge. Trink erstmal«, erwiderte Tanna. Er füllte

dem Freund zwei Tassen Kaffee ein. Während Ray trank, untersuchte ihn Tanna gründlich. Erleichtert stellte er fest, dass die Vampirin den Freund noch nicht gebissen hatte.

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»Was ist geschehen?«, fragte Ray nach der zweiten Tasse wieder. Bob Tanna informierte ihn. Als er hörte, dass Joan ihn um ein

Haar zum Vampir gemacht hätte, wurde er hellwach. Er verlangte nach seinen Kleidern. Dan Dozzie brachte sie ihm.

»Die Nacht ist eine starke Verbündete des Bösen«, sagte Tanna. »Deshalb ist es wichtig, dass wir sie erst einmal heil hinter uns brin­gen. Bei Tag können sich die Mächte der Finsternis nicht voll entfalten. Wenn wir Glück haben, schaffen wir es dann, von dieser verfluchten Insel fort zu kommen. Kritisch sind für uns die nächsten Stunden. Wenn wir die überleben, haben wir echte Chancen, davonzukommen.«

Ray zog sich an. Allmählich begann der starke Kaffee zu wirken. Aber er war weit davon entfernt, voll fit zu sein. Dennoch glaubte er, im Kampf gegen das Böse seinen Mann stehen zu können.

»Hier«, sagte Bob Tanna und reichte ihm drei Silberdolche. »Da­mit du Waffen hast, mit denen du dich verteidigen kannst.«

»Womit verteidigst du dich?«, fragte Ray. Tanna öffnete sein Hemd und zeigte ihm das silberne Penta­

gramm, das er sich um den Hals gehängt hatte. »Wir werden's schon irgendwie schaffen«, sagte er. »Mit vereinten Kräften muss es uns ein­fach gelingen, über die Runden zu kommen.«

*

Die Angst legte sich wie eine kalte Hand um Lynne McGowans Kehle. Joans Schrei schrillte immer noch in ihren Ohren. Sie konnte sich un­gefähr vorstellen, was sich im Obergeschoß abgespielt hatte und sie hoffte, dass es Bob, Dan und Adam gelungen war, mit der Vampirin fertig zu werden.

Die Furcht kroch immer tiefer in ihren Körper und fraß sich schmerzhaft in ihr Herz. War die Magie des Bösen nicht zu stark für sie? Würde sich die Drohung erfüllen, dass sie alle noch in dieser Nacht sterben würden?

Lynne rieselte es eiskalt über den Rücken. Sie, deren ganzes Le­ben eine einzige große Show war, vergaß zum ersten Mal, zu spielen.

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Jetzt war sie nur noch sie selbst. Ein Mensch wie jeder andere. Verletz­bar. Furchtsam. Verzweifelt.

Ein Geräusch riss sie herum. Sie sah, wie sich der Türknauf dreh­te. Waren die Freunde von oben zurückgekehrt? Kam Adam, um nach ihr zu sehen? Ihre Nerven vibrierten.

Sie hielt die Schrotflinte mit beiden Händen fest. Tonnenschwer schien die Waffe zu sein. Noch hatte sich die Tür nicht geöffnet. Nun aber schwang sie langsam zur Seite und ein neuerlicher Schock traf das Mädchen, denn im Rahmen der Tür stand kein Freund, sondern -George Roarke!

Lynne glaubte, den Verstand verloren zu haben. Sie begriff nicht, wieso das Hausfaktotum dort stehen konnte. George war doch tot!

Ein Impuls des Bösen hatte ihn erreicht und zum Zombie gemacht. Deutlich war die tödliche Verletzung zu sehen, die ihm der Ghoul zuge­fügt hatte. Dennoch stand er aufrecht im Türrahmen und nun bewegte er sich sogar.

Langsam betrat er den Raum. Lynnes Herz schien hoch oben im Hals zu schlagen. Vor lauter Schreck vergaß sie, dass sie eine Büchse in ihren Händen hielt, die mit geweihtem Silberschrot geladen war.

Damit hätte sie den Zombie erledigen können, aber sie dachte nicht daran. Fassungslos starrte sie den Näher kommenden an. Sein Gesicht war kalkig. Die toten Augen bewegten sich nicht. Seine Bewe­gungsabläufe wirkten mechanisch. Er machte den Eindruck einer fern­gesteuerten Puppe.

Und das war er auch: ferngesteuert von den Mächten des Grau­ens. Sie hatten ihm einen Auftrag übermittelt und er war nun dabei, ihn auszuführen.

Lynne McGowan wich zurück. Sie stieß gegen den Lesetisch und erschrak. Ein dicker Schweißfilm glänzte auf ihrer Stirn. Sie wollte um Hilfe rufen, doch sie brachte keinen Schrei über die Lippen.

»Heilige Madonna, bewahre mich vor einem so grausamen Schick­sal«, flüsterte sie.

George Roarke hob seine Hände. Er wird dich erwürgen!, hämmerte es in Lynnes Kopf. Du kannst

ihm nicht entkommen! Er ist bestimmt sehr kräftig! Er will dein Leben!

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»George«, presste Lynne McGowan heiser hervor. »George, um alles in der Welt...« Sie brach ab, denn sie wusste, dass sie von ihm kein Mitleid erwarten durfte. Mit vorgestreckten Händen ging er auf sie zu.

Als er sie schon fast erreicht hatte, fiel ihr die Waffe ein, die ihre Finger umklammerten. Sie riss das Gewehr hoch. Der Lauf schwang schräg nach oben. Lynnes zitternder Zeigefinger suchte den Abzug, doch ehe sie abdrücken konnte, schlug der Zombie die Waffe zur Sei­te. Dann erst krachte der Schuss. Eine rote Feuerlohe schoss aus dem Doppellaut der Flinte. Das laute Wummern erfüllte den gesamten Raum. Das Silberschrot prasselte gegen das Regal und zerfetzte zahl­reiche Buchrücken.

Aber der Zombie blieb unversehrt und seine Hände schlossen sich blitzschnell um Lynnes Hals.

*

Ray blickte ergriffen auf das tote Mädchen. Joan sah aus, als würde sie friedlich schlafen. Ray litt sehr unter diesem Verlust. Dass Robert Tan-na sie gepfählt hatte, fand er in Ordnung. Nicht dadurch hatte er Joan verloren, sondern die Mächte der Finsternis hatten sie ihm bereits in der vergangenen Nacht genommen. Bob hatte sie lediglich erlöst und dadurch eine große Gefahr für sie alle gebannt.

Er schüttelte ernst den Kopf. »George tot. Joan tot. Sam verrückt. Wird es weitergehen?«

»Wenn wir fest zusammenhalten, so dass sich einer auf den ande­ren verlassen kann«, erwiderte Tanna, »müsste es möglich sein, dass wir über diese Hürde drüber kommen. Einigkeit macht stark.«

»Das stimmt, aber macht sie uns ebenso stark, wie unsere Gegner sind?«

»Das wird sich herausstellen«, sagte Tanna. Und dann fiel der Schuss in der Bibliothek. Die vier Männer zuck­

ten zusammen. »Mein Gott, Lynne!«, schrie Adam Pace.

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Dan Dozzie jagte mit dem silbernen Krummschwert in der Faust aus dem Zimmer. Lynne war in Gefahr. Die Waffe war bestimmt nicht aus Versehen losgegangen. In diesen Stunden voller Schrecken und Horror hegte Dan keine Revanchegelüste mehr. Er entdeckte, dass er für Lynne tatsächlich immer noch etwas empfand und er wollte sie vor Schaden bewahren.

Pace, Tanna und Ray Elliott folgten ihm. Keiner konnte sich er­klären, warum Lynne geschossen hatte. War es möglich, dass Sam Willard sich gegen sie gewandt hatte?

Nein, Sam konnte es nicht sein, denn der saß nach wie vor - das glaubten sie - in seinem Sessel und nahm keinen Anteil an den schrecklichen Geschehnissen.

Sam bedrohte Lynne also nicht. Wer aber dann? Das Haus war verbarrikadiert. Oder gab es irgendwo eine undichte Stelle?

Dan Dozzie erreichte als erster das Ende der Treppe. Plötzlich wurde eine Tür aufgerissen und ein zotteliges Monster katapultierte sich dem Komponisten entgegen. Dan prallte vor dem Ungeheuer zu­rück. Ray Elliott griff nach einem der silbernen Dolche. Silber können Werwölfe nicht vertragen.

Als Ray sich an Dozzie vorbeidrängen wollte, hielt dieser ihn auf. »Lass mich das machen!«, keuchte er. Aus der Bibliothek war Kampflärm zu hören. Die Anwesenden

mussten annehmen, dass Lynne McGowan einen verzweifelten Kampf auf Leben und Tod mit dem Ghoul austrug.

Niemand konnte wissen, dass George Roarke von den Toten wie­der auferstanden war. Adam Pace versuchte an Dozzie vorbeizukom­men. Die Sorge um Lynne ließ ihn seine Furcht überwinden und ihn über sich selbst hinauswachsen. Aber der Werwolf stand so, dass nie­mand an ihm vorbei konnte.

Tanna lenkte die knurrende Bestie ab. Der Wolf hechelte und schlug mit seiner Pranke nach dem Mann, der ihn reizte. Diesen Au­genblick nützte Dan Dozzie. Er schwang das Krummschwert hoch und hieb damit nach dem Ungeheuer. Das zottelige Monster brachte sich vor dem Schwert mit einem hastigen Satz in Sicherheit.

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Dozzie schlug erneut zu. Die Klinge surrte waagerecht durch die Luft. Der Wolf nahm seinen mächtigen Schädel zurück, fletschte die Zähne und griff sofort wieder an.

Die vier Männer waren gezwungen, zurückzuweichen. Aber Dozzie gab nicht klein bei. Er stach nach dem Ungeheuer, traf auch. Die Bes­tie heulte auf.

Schwarzes Dämonenblut tropfte auf den Boden. Aber der Werwolf war nicht tödlich getroffen, sondern nur leicht verletzt und das machte ihn doppelt gefährlich.

Sein Prankenhieb holte Adam Pace von den Beinen. Dozzie führte den nächsten Schwertstreich. Diesmal traf er besser. Der Werwolf taumelte zwei Schritte zurück.

Ray wartete nicht länger. Er wagte es, an dem Ungeheuer vorbei­zukommen und er schaffte es auch. Jemand musste sich um Lynne McGowan kümmern. Ohne Hilfe würde sie nicht auskommen.

Mit langen Sätzen durchquerte er die Halle. Indessen gingen Dan Dozzie und Bob Tanna gemeinsam gegen den Werwolf vor. Tanna nahm das silberne Pentagramm ab und drehte es über seinem Kopf an der Kette. Immer wieder schlug er damit nach dem Untier.

Gemeinsam trieben sie den verletzten Wolf in die Enge und Dan Dozzie gab dem Ungeheuer den Rest. Nie hätte er sich selbst diese Härte zugetraut. Aber er tat, was sein musste. Kraftvoll schlug er mit dem Krummschwert zu. Das Monster brach zusammen.

Im gleichen Augenblick stürzte Ray Elliott in die Bibliothek. Er stand so sehr unter Strom, dass er keine Schmerzen mehr spürte und auch die Müdigkeit war wie fort geblasen.

Was er zu sehen bekam, sträubte ihm die Nackenhärchen. Kein Ghoul trachtete Lynne McGowan nach dem Leben, sondern

George Roarke. Der lebende Tote hatte seine kräftigen Hände um Lynnes Hals gelegt.

Lynne rang verzweifelt nach Luft. Ihre Abwehrbewegungen waren matt. Sie war nahe daran, das Bewusstsein zu verlieren. Ray überlegte nicht lange. Er schleuderte sofort einen der Silberdolche, die er von Tanna bekommen hatte.

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Die Waffe wirbelte, sich mehrmals überschlagend, durch den Raum und traf dann den Zombie. George Roarke ließ augenblicklich von dem Mädchen ab.

Der silberne Dolch steckte in seiner Schulter und er versuchte, ihn sich herauszuziehen. Wankend drehte er sich um. Lynne lag auf dem Boden, weinte und hustete, massierte ihren Hals und fühlte sich elend.

Es gelang dem Zombie, den Dolch aus der Schulter zu reißen. Er wandte sich mit dieser Waffe sogleich gegen Ray. Mit tappenden Schritten kam er näher. Ray griff nach dem nächsten Dolch.

Abermals zuckte George Roarke zusammen. Seine Hand legte sich um den kunstvoll verzierten Griff. In jeder Hand eine blitzende Waffe, näherte sich der lebende Leichnam dem Mann, den er töten wollte.

Ray hatte nur noch einen Dolch. Er zog ihn aus dem Gürtel. Der dritte Wurf verfehlte den Zombie um Haaresbreite, denn

George war blitzschnell zur Seite gewichen. Hart hackte der Dolch in das Holz des Bücherregals. Nun stand Ray Elliot keine Waffe mehr zur Verfügung, mit der er sich den Zombie vom Leib halten konnte.

Er blickte sich nervös um. George Roarke wich nach links aus und versetzte der Tür gleich

darauf einen kraftvollen Tritt. Gefangen!, schoss es Ray durch den Kopf. Jetzt hat er dich gefan­

gen! Der Zombie stürzte sich mit den Dolchen auf ihn. Ray entging den

gefährlichen Hieben nur knapp. Die blitzenden Klingen fegten links und rechts an ihm vorbei. Der Zombie wuchtete sich vorwärts. Er presste seinen Gegner mit dem Brustkorb gegen das Regal und wollte ihm von beiden Seiten die Dolche in den Leib stoßen.

Als Lynne das begriff, wusste sie, was sie tun musste. Auf allen vieren kroch sie zu der Schrotflinte, die sie während des Kampfes mit George verloren hatte. Sie packte die Waffe mit beiden Händen, sprang auf und drückte ab.

Das geweihte Silberschrot tat seine Wirkung. Mit dem Krachen des Schusses ging ein heftiger Ruck durch den Körper des lebenden Toten und dann brach er wie vom Blitz getroffen zusammen.

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»Danke«, keuchte Ray. »Wir haben einander beide das Leben gerettet«, sagte Lynne hei­

ser. Hinter Ray flog die Tür auf. Er kreiselte herum und riss die Fäuste

hoch, doch das war nicht nötig, denn Adam, Dan und Bob traten ein. Verblüfft blickten sie auf den erledigten Zombie.

»Verdammt, die Hölle zieht auf dieser Insel alle Register«, presste Dan Dozzie grimmig hervor.

»Was ist mit dem Werwolf?«, wollte Ray wissen. Tanna schüttelte den Kopf. »Keine Gefahr mehr. Dan hat ihn fer­

tiggemacht.« »Wie ist er ins Haus gelangt?« »Das wissen wir nicht. Es muss irgendwo eine undichte Stelle ge­

ben.« »Die sollten wir schleunigst schließen, ehe der Ghoul uns einen

neuerlichen Besuch abstattet«, sagte Ray. Sie verließen die Bibliothek und schwärmten aus, um herauszufin­

den, wo der Werwolf ins Haus gelangt war. Dan Dozzie befand sich auf dem richtigen Weg. Als er den Raum betreten wollte, in dem Sam Wil­lard die Barrikade beseitigt hatte, schnellte sich ihm der schleimige Ghoul entgegen.

Dozzies Schrei alarmierte die Freunde. Er wartete nicht, bis sie ihm zu Hilfe eilten. Der Erfolg, den er über den Werwolf erzwungen hatte, machte ihn zuversichtlich.

Er dachte, auch mit dem Ghoul fertig zu werden. Kraftvoll schlug er mit dem silbernen Krummschwert zu.

Geschmeidig wich das Ungeheuer aus. Es traf mit seinen schaufel­artigen Krallenhänden Dozzie im Gegenangriff so schmerzhaft, dass der Mann zu Boden ging. Der Ghoul war sofort über ihm. Weit riss das Monster sein widerliches Maul auf. Der Geruch nach Fäulnis und Ver­wesung wehte Dan Dozzie entgegen.

Der Ghoul wollte ihn ebenso töten wie George Roarke. Aber da kamen Dozzie die andern zu Hilfe. Allen voran Bob Tanna.

Er hieb mit dem silbernen Pentagramm mehrmals auf das Ungeheuer

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ein. Mit einem gewaltigen Tritt beförderte Tanna den Ghoul von Dozzie weg.

Adam Pace half Dan Dozzie auf die Beine. Das Grauen, die perma­nente Lebensgefahr, in der sie sich befanden, schmiedete sie zusam­men. Sie waren nicht mehr länger Gegner, die um eine Frau buhlten. Sie waren nur noch Männer, die in der Gefahr zusammenhielten, um zu überleben. Alles, was sie noch vor kurzem gegeneinander gehabt hatten, zählte nicht mehr, war vergessen. Der Blick in das Auge des Todes hatte sie geläutert.

Abermals schlug Robert Tanna mit dem Drudenfuß zu. Der Ghoul wich zurück. Er wollte sich nicht zum Kampf stellen,

doch Tanna forderte ihn weiter heraus und der Ghoul war gezwungen, sich seiner schleimigen Haut zu wehren.

Ray konnte dabei nicht tatenlos zusehen. Er entriss Adam Pace den magischen Flammenwerfer, der die

Form einer futuristischen Strahlenpistole hatte. Sofort setzte er die Waffe gegen das Ungeheuer ein.

Auf Knopfdruck fauchte ein Flammenstrahl auf den Ghoul zu. Tan-na ließ von ihm ab. Die Flammen verteilten sich rings um den glänzen­den Leib.

Grell und heiß schoss vor den Freunden eine Stichflamme hoch, die sie zurückweichen ließ.

Das Feuer griff um sich. Es erfasste Vorhänge und Übergardinen, es fraß sich in Teppiche und Polstermöbel. Vom Ghoul blieb nichts üb­rig. Aber die Freunde hatten keinen Grund aufzuatmen, denn nun war das Feuer ihr Gegner.

»Löschen!«, schrie Adam Pace. »Wir müssen löschen!« »Das schaffen wir nicht!«, erwiderte Tanna. »Wir müssen raus!« »Aber es ist noch Nacht.« »Wir müssen es dennoch riskieren. Joan, der Werwolf und der

Ghoul sind ausgeschaltet. Möglicherweise ist die Gefahr draußen nun nicht mehr ganz so groß. Hier drinnen können wir jedenfalls nicht blei­ben. Wir würden entweder bei lebendigem Leib geröstet oder am Rauchgas ersticken. Ray, Dan! Helft mir! Wir schieben den Schrank von der Haustür weg!«

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Prasselnd fraß das heiße Feuer die Tapeten. Dicke Rauchschwa­den krochen schwarz und träge durch die Halle. Die Hitze ließ das Glas einer Vitrine zerplatzen.

Lynne wies auf Sam Willard. »Was machen wir mit ihm?« »Wir nehmen ihn selbstverständlich mit«, sagte Tanna. Sam grinste, als würde er sich über das Feuer mächtig freuen. Dan, Ray und Bob eilten zur Haustür. Davor stand der schwerste

Schrank. Mit vereinten Kräften schoben sie ihn beiseite. Jeder von ih­nen plagte sich ehrlich. Sobald die Tür frei war, sagte Tanna: »Wir holen den Jeep aus der Garage und hauen damit ab. Vielleicht sind wir unten in der Bucht, in der wir an Land kamen, sicherer als hier oben.«

Lynne und Pace wollten Sam Willard veranlassen, sich zu erheben, doch der Verrückte weigerte sich, aufzustehen. Das Feuer tobte nun auch schon in den Nebenräumen. Immer wilder griff es um sich. Kein Mensch konnte es mehr unter Kontrolle bringen. Es fraß sich zum O­bergeschoß hinauf.

»Nun komm schon, Sam!«, drängte Adam Pace. »Steh auf! Hier kannst du doch nicht bleiben!«

Aber Sam Willard schien sein brennendes Haus nicht verlassen zu wollen. Es würde ein Raub der Flammen werden und er wollte mit ihm zugrunde gehen. Gemeinsam wollten Adam und Lynne ihn aus seinem Sessel zerren. Er riss sich von ihnen los und ließ ein unwilliges Knurren hören.

Indessen öffnete Bob Tanna die Tür. Im selben Moment fuhr ihm ein Eissplitter ins Herz. Denn vor der Tür stand der steinerne Götze. Mannshoch ragte die schwarze Figur auf. Tanna rammte die Tür

sofort wieder zu. Er blickte seine Freunde verdattert an. Sie hatten den trojanischen Götzen ebenfalls gesehen.

»Verdammt, das Ding lebt!«, keuchte Robert Tanna. »Was machen wir nun?«, fragte Dan Dozzie aufgeregt. »Im Haus

können wir nicht bleiben. Und raus lässt uns dieser verfluchte Götze nicht!«

»Wir müssen es versuchen«, sagte Tanna.

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»Das hat keinen Zweck. Der Götze bringt bestimmt jeden um, der das Haus verlässt«, sagte Dozzie.

Ray schüttelte den Kopf. »Eine lebende Steinfigur. Wenn mir das vor ein paar Tagen jemand erzählt hätte, hätte ich gedacht, er will mich auf den Arm nehmen. Der Macht der Hölle ist doch wirklich nichts unmöglich.«

Tanna überlegte in fieberhafter Eile. Die Zeit brannte ihnen auf den Fingernägeln.

»Ich werde den Jeep aus der Garage holen«, sagte er. »Und dann?«, fragte Dozzie. »Dann fahre ich damit vors Haus. Hier vor diesem Eingang werde

ich dann halten, ihr springt in das Fahrzeug und wir hauen ab.« Dan Dozzie schüttelte den Kopf. »Das lässt der Götze nicht zu.« »Hast du einen besseren Vorschlag?« »Wir müssen ihn angreifen.« Tanna seufzte. »Okay. Wir können es ja versuchen. Ray, du lenkst

ihn von hier drinnen ab. Schieß auf ihn. Dann hat er keine Zeit, sich um mich zu kümmern.«

Er nahm Ray Elliott den magischen Flammenwerfer aus der Hand. »Hals- und Beinbruch«, sagte Ray. »Danke.« Ray holte sich Lynne McGowans Schrotflinte. Er lud die Waffe und

nahm die restliche Munition an sich. Bob Tanna presste sein Taschentuch auf Mund und Nase und

rannte auf eine lodernde Flammenwand zu. »Bob!«, rief Lynne mit schriller Stimme. »Gott, was hat er vor?« »Er versucht uns raus zu hauen«, sagte Dan Dozzie. »Aber er bringt sich doch um!« »Sei unbesorgt, niemand weiß besser, was er tut, als Bob.« Tanna verschwand im Feuer. Die Hitze stürzte sich auf ihn und

versuchte ihn niederzuringen. Rauchschwaden hüllten ihn ein. Er kämpfte gegen einen quälenden Hustenreiz an. Der Raum, in den er stürmte, war jener, in dem Sam Willard den Schrank vom Fenster weg geschoben hatte.

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Schwitzend erreichte er das Fenster. Hastig kletterte er nach draußen. Da sich das Fenster an der Seitenfront befand, konnte der schwarze Götze ihn nicht sehen. Er hoffte, dass die lebende Steinfigur seine Pläne nicht durchschaute. Wenn er Glück hatte, verhinderte dies der silberne Drudenfuß, den er im Augenblick wieder um den Hals trug.

Er blickte an der Fassade hoch. Aus den meisten Fenstern schlu­gen nun schon Flammen. Er wandte sich nach links und lief zur Gara­ge. Das Tor war geschlossen. Tanna kippte es nach oben.

Der erste Schuss fiel. Hell peitschte er durch die Nacht. Ray feuer­te wieder und lenkte damit die Aufmerksamkeit des Götzen auf sich. Tanna sprang in den Jeep. Er startete den Motor und gab Gas. Das Geländefahrzeug machte einen kraftvollen Sprung vorwärts.

Tanna preschte aus der Garage und um das Haus herum. Der steinerne Götze hieb wild mit seinen Händen in die Luft. Ray

Elliott feuerte die nächste Silberschrotladung auf ihn ab. Das steinerne Wesen, beweglich wie ein Roboter, schlug wieder in die Luft und stieß ein wütendes Knurren aus.

Tanna visierte das steinerne Ungeheuer eiskalt an. Er raste direkt auf den trojanischen Götzen zu, der das Gute verkörperte und das Böse in sich versteckt hatte.

Als das schwarze Monster den Jeep hörte, wandte es den Kopf und aus seinen weit auseinander stehenden Augen flogen Tanna zwei weiße Blitze entgegen. Der Götze wollte auch Tannas Geist zerstören, doch Bob war geschützt. Der silberne Drudenfuß lenkte die Blitze von Tannas Kopf ab. Das Pentagramm zog die Blitze an, fing sie ab und neutralisierte sie.

Und dann erreichte der Jeep den Unhold. Ray hörte zu schießen auf. Das Fahrzeug prallte in voller Fahrt gegen den gefährlichen Göt­

zen. Tanna legte sich die Kette über den Kopf, an der das Pentagramm hing. Der steinerne Götze riss sein mächtiges Krötenmaul auf. Tanna schleuderte ihm den silbernen Drudenfuß mitten hinein. Durch die Wucht des Aufpralls wurde der steinerne Koloss umgeworfen. Hart knallte er auf den Rücken.

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Tanna sprang augenblicklich aus dem Jeep. Mit dem magischen Flammenwerfer stürmte er auf den trojani­

schen Götzen ein. Er richtete die Waffe auf den hässlichen Schädel des schwarzen Ungeheuers und drückte auf den Knopf.

Fauchend fuhr das Feuer aus der Düse. Das Höllenwesen schmolz, wurde zu einer schwarzen, übel riechenden Flüssigkeit.

Kaum war der Schädel zerstört, da zerfiel der Körper des Götzen zu schwarzem Staub, den der Wind erfasste und fortwehte, nach Os­ten, wo ein dünner Silberstreifen den Anbruch des kommenden Tages verkündete.

Tanna rief seine Freunde. Lynne McGowan und Adam Pace erschienen. Dan Dozzie folgte ih­

nen. »Wo ist Ray?«, fragte Tanna. »Der versucht Sam herauszuholen«, antwortete Pace. »Aber Sam

will nicht. Er wehrt sich.« »Verdammt!«, platzte es aus Tanna heraus. »Steigt in den Jeep.

Ich bin gleich zurück.« Er lief zum Hauseingang, aus dem nun ebenfalls schon dünne

Feuerzungen leckten. Es knisterte und knackte im Gebäude. Es knirschte im Gebälk. Ein brennender Balken fiel krachend von der De­cke. Funken stoben Tanna ins Gesicht.

»Ray!«, brüllte er. »Komm heraus, ehe dir das ganze Haus auf den Kopf fällt!«

»Ich gehe nicht ohne Sam!«, schrie Ray zurück. Elliott musste mit Sam Willard regelrecht kämpfen. Der grinsende

Idiot wollte sich nicht packen lassen. Endlich erwischte Ray ihn aber doch mit festem Griff.

Er zerrte Sam drei Yard weit. Dann ließ dieser sich fallen. Ray wollte ihn weiterschleifen, aber das brennende Haus wollte Sam Wil­lard nicht fortlassen. Neuerlich krachte ein Deckenbalken herab. Das schwere Ding landete auf Sams Rücken.

Ray versuchte ihn darunter hervorzuziehen, aber er schaffte es nicht. Die Hitze trieb ihn aus dem Gebäude. Benommen vor Wut und Enttäuschung taumelte er Tanna entgegen.

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Page 85: Der trojanische Götze

»Du hast getan, was du konntest, Ray. Vielleicht ist es besser so. Man wird Sam als strahlenden Helden in Erinnerung behalten, nicht als lallenden Idioten.«

Sie begaben sich zum Jeep und fuhren zur Bucht hinunter. Eine halbe Stunde später legte ein Schiff an. Die rote Feuersäule, die über der Insel stand, war von der Mannschaft gesehen worden. Ziemlich fertig gingen Lynne McGowan, Adam Pace, Dan Dozzie, Robert Tanna und Ray Elliott an Bord.

Als das Schiff ablegte, um sie nach Key West zu bringen, blickten sich Ray und Bob um.

»Weißt du, was ich mir jetzt wünsche, Bob?«, fragte Ray. »Was?« »Dass diese Teufelsinsel im Meer versinkt.« »Vielleicht passiert das - eines Tages.« »Ich würde es gern erleben.« »Darauf haben wir leider keinen Einfluss«, sagte Tanna, wandte

sich um und richtete nie mehr seinen Blick auf die Insel, die wie ein Paradies ausgesehen hatte, für ihn und seine Freunde aber die Hölle gewesen war.

Ende

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