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Der Wille bei Rousseau und beim Jenaer Hegel Zur Entstehung von Kegels Philosophie des subjektiven Geistes Myriam Bienenstock (Paris) In seinen Vorlesungsmanuskripten von 1805/06 iiber die Philosophie des Geistes behauptet Hegel, dafi der „Begriff" des Geistes sowohl „Intelligenz" als auch „Willen'' sei; und daC der Geist „weder als Intel- ligenz [...] noch als Willen - sondern als Willen, der Intelligenz ist" wirklich sei.' Die Unterscheidung, die er hier zwischen dem Geist nach seinem nBegriff" und dem „wirklichen" Geist machi, darf wohl als eine der ersten Formulierungen seiner spateren, systematischen Unter- scheidung zwischen dem ..subjektiven" und dem „objektiven" Geist gelten.^ Kein Wunder also, dafi die Frage nach den Quellen dieser Unterscheidung in der neueren Literatur viel Interesse gefunden hat: sie ermoglicht es, die Bedeutung seiner Philosophie des subjektiven Geistes entscheidend zu erhellen. Die Debatte, die sie unter Hegel-For- schern eroffnet hat, ist aber weit davon entfernt, abgeschlossen zu sein: sicherlich hatte Manfred Riedel recht, als er in seinem bahnbrechenden Aufsatz von 1967 bemerkte, dai5 die Terminologie, die Hegel in seinen Vorlesungen von 1805/06 benutzt, einen ..auffalligen Begriffswandel" in der Entwicklung des Denkens unseres Autors bezeichnet.' Ob man in diesem Wandel nichts weniger als ..eine Umkehr der Grundlagen von Hegels bisheriger Naturrechtskonzeption" sehen soUte, wie Riedel in 1 GW 8.222^j. Vgl. in dieser Edition, die Einteilung des ^Geistes nach seinem Begriff" in Jntelligenz" (185-201) und .Willen" (202-222). 2 Johannes Hoffmeister, der erste Herausgeber der Philosophie des Geistes von 1805/06, hatte sogar den Terminus „Subjektiver Geist" als Uberschrift fiir den ersten Teil dieser Philosophie gewahlt (Jenenser Realphilosophie II. Hamburg 1931. 179). Auch wenn es stimmt, dafi Hegel in diesem Teil dieselben Themen entwickelt, die er sparer in seine Philosophie des subjektiven Geistes einordnen wird, ist aber Hoffmeisters Entscheidung nicht berechtigt - da Hegel den Terminus ,Subjektiver Geist" in seiner Jenaer Zeit noch nicht gebraucht (Vgl. G W 8.315 f. Editoiischcr Bericht). 3 Vgl. hier M. Riedel, Hegels Kritik des Naturrechts, in: Studien zu Hegels Rechtsphilosaphie. Frankfurt 1969. 55. 134 seinem Aufsatz auch behauptete,^ ist aber bestreitbar: eher als eine Umkehr vom Polisideal, das Hegels Jugendschrifjten beherrschte, zum modernen Naturrecht soUte man vielleicht, mit I^udwig Siep, in Hegels Denken jener Zeit einen Versuch zur „Vermiitlung" beider Auffassun- gen sehen.' Denn obwohl es nicht zu leugnen ist, dafi die Terminolo- gie, die Hegel in den Jahren 1805/06 benutzt, den Einflufi von Fichte zeigt, ist es doch auch nicht zu bezweifeln, dafi er sich nicht damit be- gniigt, zur modernen, naturrechtlichen Position dieses Autors zuriick- zukehren. Wie Riedel selbst in seinem Aufsatz von 1967 bemerkte, fiihrt Hegel eher seine Diskussion mit dieser Theorie und, insbeson- dere, mit dem Naturbegriff des modernen Naturrechts, den Fichte angenommen hatte, weiter.' Der Zweck dieses Aufsatzes ist zu priifen, inwiefern diese Diskussion von Rousseaus eigener Kritik der modernen Naturrechtstheorien be- einflufit wurde. Zwar haben schon viele bemerkt, dafi Hegels Identi- fizierung der „Konstitution", in den Jahren 1805/06, mit dem „allgemei- nen Willen" (GW 8.256„jj .2j eine offene Bezugnahme auf Formulierun- gen des Contrat social sei. Diese Bezugnahme wurde aber fast immer im Zusammenhang einer allgemeinen Neubewertung der modernen Natur- rechtstheorien durch Hegel interpretiert - als hatte er Rousseau mit Kant und Fichte zusammengestellt, und in seinem Denken nichts anderes als noch ein Beispiel der modernen Naturrechtstheorien gese- hen.' Zur Klarung des Verhaltnisses von Hegel und Rousseau ist es aber wichtig anzumerken, dafi Rousseau selbst weit davon entfernt war, die Tradition des Naturrechts einfach zu rechtfertigen. Eher entwickelte er - Insbesondere in seinem Discours sur I'Origine et les Fondements de I'Inegalite parmi lesHommes eine scharfe Kritik dieser Tradition, die Interpreten mit Recht dazu fiihrte, sein Denken als das Zeugnis einer Krise, vielleicht sogar einer Auflosung, der modernen Naturrechtslehre 4 ibid., 61. 5 Vgl. L. Siep, Anerkennung als Prinzip der praktisdien Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. Freiburg/Munchen 1979. 198 ff. 6 M. Riedel, loc.cit., 61. 7 Vgl. z. B. M. Riedel, op.cit. 63. 135

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  • Der Wille bei Rousseau und beim Jenaer Hegel

    Zur Entstehung von Kegels Philosophie des subjektiven Geistes

    Myriam Bienenstock (Paris)

    In seinen Vorlesungsmanuskripten von 1805/06 iiber die Philosophie des Geistes behauptet Hegel, dafi der „Begriff" des Geistes sowohl „Intelligenz" als auch „Willen'' sei; und daC der Geist „weder als Intel-ligenz [...] noch als Willen - sondern als Willen, der Intelligenz ist" wirklich sei.' Die Unterscheidung, die er hier zwischen dem Geist nach seinem nBegriff" und dem „wirklichen" Geist machi, darf wohl als eine der ersten Formulierungen seiner spateren, systematischen Unter-scheidung zwischen dem ..subjektiven" und dem „objektiven" Geist gelten.^ Kein Wunder also, dafi die Frage nach den Quellen dieser Unterscheidung in der neueren Literatur viel Interesse gefunden hat: sie ermoglicht es, die Bedeutung seiner Philosophie des subjektiven Geistes entscheidend zu erhellen. Die Debatte, die sie unter Hegel-For-schern eroffnet hat, ist aber weit davon entfernt, abgeschlossen zu sein: sicherlich hatte Manfred Riedel recht, als er in seinem bahnbrechenden Aufsatz von 1967 bemerkte, dai5 die Terminologie, die Hegel in seinen Vorlesungen von 1805/06 benutzt, einen ..auffalligen Begriffswandel" in der Entwicklung des Denkens unseres Autors bezeichnet.' Ob man in diesem Wandel nichts weniger als ..eine Umkehr der Grundlagen von Hegels bisheriger Naturrechtskonzeption" sehen soUte, wie Riedel in

    1 G W 8.222^j. Vgl. in dieser Edition, die Einteilung des ^Geistes nach seinem Begriff" in Jntelligenz" (185-201) und .Willen" (202-222).

    2 Johannes Hoffmeister, der erste Herausgeber der Philosophie des Geistes von 1805/06, hatte sogar den Terminus „Subjektiver Geist" als Uberschrift fiir den ersten Teil dieser Philosophie gewahlt (Jenenser Realphilosophie II. Hamburg 1931. 179). Auch wenn es stimmt, dafi Hegel in diesem Teil dieselben Themen entwickelt, die er sparer in seine Philosophie des subjektiven Geistes einordnen wird, ist aber Hoffmeisters Entscheidung nicht berechtigt - da Hegel den Terminus ,Subjektiver Geist" in seiner Jenaer Zeit noch nicht gebraucht (Vgl. G W 8.315 f. Editoiischcr Bericht).

    3 Vgl. hier M. Riedel, Hegels Kritik des Naturrechts, in: Studien zu Hegels Rechtsphilosaphie. Frankfurt 1969. 55.

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    seinem Aufsatz auch behauptete,^ ist aber bestreitbar: eher als eine Umkehr vom Polisideal, das Hegels Jugendschrifjten beherrschte, zum modernen Naturrecht soUte man vielleicht, mit I^udwig Siep, in Hegels Denken jener Zeit einen Versuch zur „Vermiitlung" beider Auffassun-gen sehen.' Denn obwohl es nicht zu leugnen ist, dafi die Terminolo-gie, die Hegel in den Jahren 1805/06 benutzt, den Einflufi von Fichte zeigt, ist es doch auch nicht zu bezweifeln, dafi er sich nicht damit be-gniigt, zur modernen, naturrechtlichen Position dieses Autors zuriick-zukehren. Wie Riedel selbst in seinem Aufsatz von 1967 bemerkte, fi ihrt Hegel eher seine Diskussion mit dieser Theorie und, insbeson-dere, mit dem Naturbegriff des modernen Naturrechts, den Fichte angenommen hatte, weiter.'

    Der Zweck dieses Aufsatzes ist zu priifen, inwiefern diese Diskussion von Rousseaus eigener Kr i t ik der modernen Naturrechtstheorien be-einflufit wurde. Zwar haben schon viele bemerkt, dafi Hegels Identi-fizierung der „Konstitution", in den Jahren 1805/06, mit dem „allgemei-nen Willen" (GW 8.256„jj.2j eine offene Bezugnahme auf Formulierun-gen des Contrat social sei. Diese Bezugnahme wurde aber fast immer im Zusammenhang einer allgemeinen Neubewertung der modernen Natur-rechtstheorien durch Hegel interpretiert - als hatte er Rousseau mit Kant und Fichte zusammengestellt, und in seinem Denken nichts anderes als noch ein Beispiel der modernen Naturrechtstheorien gese-hen.' Zur Klarung des Verhaltnisses von Hegel und Rousseau ist es aber wichtig anzumerken, dafi Rousseau selbst weit davon entfernt war, die Tradition des Naturrechts einfach zu rechtfertigen. Eher entwickelte er - Insbesondere in seinem Discours sur I'Origine et les Fondements de I'Inegalite parmi lesHommes — eine scharfe Kr i t ik dieser Tradition, die Interpreten mit Recht dazu fiihrte, sein Denken als das Zeugnis einer Krise, vielleicht sogar einer Auflosung, der modernen Naturrechtslehre

    4 ibid., 61. 5 Vgl. L . Siep, Anerkennung als Prinzip der praktisdien Philosophie. Untersuchungen zu Hegels

    Jenaer Philosophie des Geistes. Freiburg/Munchen 1979. 198 ff. 6 M. Riedel, loc.cit., 61. 7 Vgl. z. B. M. Riedel, op.cit. 63.

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  • insgesamt zu beirachten." Die Frage, die sich hier stellt, und die bis heute keine ausreichende A n t w o n gefunden hat, ist, ob sich Hegel dieses problematischen Status des Denkens Rousseaus bewufit war: ' den zweiten Discours zitiert er allerdings nicht - weder in seinen Vorlesungen von 1805/06 noch in anderen Schriften. Wir wissen aber, dafi er Rousseaus beriihmteste Schriften schon in Tubingen - vielleicht sogar in Stuttgart - kennengelernt hat: er hat Rousseaus Emile, seine Confessions und den Contrat social hoch geschatzt;'° und es ist kaum denkbar, dafi er den zweiten Discours — dessen Hauptideen am Anfang des Contrat social als bekannt vorausgesetzt sind - nicht ebenfalls gele-sen hatte.

    Wie ich in diesem Aufsatz zeigen werde, machen es auch die Hegel-schen Manuskripte von 1805/06 iiber die Philosophie des Geistes hochst plausibel, dafi Hegel den Discours sur les Origines et les Fondements de I'Inegalite parmi les hommes griindlich studiert hatte:" seine Kr i t ik der

    8 Vgl. z. B. Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte. Frankfurt 1977. 263-307. Zur neueren Dis-kussion vgl.: M. Forschner, Rousseau. Freiburg/Miinchen 1977, 72-78.

    9 Uber das Verhaltnis Hegel-Rousseau, vgl. L . Duguit, / . / . Rousseau, Kant et Hegel. Paris 1918; H . W . Brann, Rousseaus Einfluji auf die hegelsche Staatsphilosophie in ihrer Entwicklung und Vollendung (Diss., 28S.). Berlin 1926; J. Hyppolite, Introduction a la philosophie de I'histoire de Hegel. Paris 1948. Nouvelle Mition: 1983, 22-30; V . Goldschmidt, Etat de nature et pacte de soumission chez Hegel, in: Revue philosophique de la France et de I'etranger. Bd C L I V (1964), 45-65; N . Bobbio, Hegel und die Naturrechtslehre, in: Filosoficky Casopis 15 (1967), 322-340; wieder erschienen in: Hegel in der Sicht der neueren Forschung. Hrsg. von I. Fetscher. Darmstadt 1973, 291-321, und in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosaphie. Bd 2. Hrsg. von M. Riedel. Frankfurt 1975, 81-108; B. Bourgeois, Upenskpolitique de Hegel. Paris 1969, 88-90; F . Miiller, Der Denkansaa der Staatsphilosophie bei Rousseau und Hegel, in: Der Staat 10 (1971), 215-227; G . Besse, Jean-Jacques Rousseau: maitre, laquais, esclave, in: Hegel et te siecle des Lumieres. Hrsg. von J . D'Hondt. Paris 1974, 71-99; P. Methais, Contrat et volont^ gMrale selon Hegel et Rousseau, in: op.cit., 101-148; M. Baum, Gemeinwohl und allgemeiner Wille in Hegels Rechtsphilosophie in: Archiv fur Geschichte der Philosophie 60 (1978), 175-198; B. Tuschling, Hegel und Rousseau. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Kongrefi La RAiolution francaise: Philosophie et Sciences (erscheint noch).

    10 Vgl. hier das Zeugnis von Leutwein in D . Henrich, Leutwein iiber Hegel. E i n Dokument zu Hegels Biographie, in: Hegel-Studien 3 (1965). 56, Z . 124-130. Vgl. auch K . Rosenkranz, G.W.F. HegelsLehen. Berlin 1844. Neudruck: Darmstadt 1977.13.

    11 Dies behauptet auch Jacques Taminiaux in Naissance de la philosophie h^g^ienne de I'itat (Commentaire et traduction de la Realphilosophie d'lena. Paris 1984. 148 f.). Der Vergleich, den Taminiaux zwischen Rousseaus zweitem Discours und Hegels Geistesphilosophie von 1805/06 skizziert, fuhrt ihn aber zur SchluSfolgerung, daC sich die beiden Autoren sowohl in ihren Bewertungen als auch in den Grundsatzen ihrer politischen Philosophic radikal entge-

    Versuche, das Recht aus der Vorstellung eines Naturzustandes abzulei-ten, erhebt Einwande, die sich auch in der Kr i t ik solcher Versuche, welche Rousseau in seinem Discours entwickelt, finden. Seine Beschreibung des Kampfes um Anerkennung und insbesondere der Rolle, welche die Arbeitsteilung in der Entwicklung dieses Kampfes spielt, erinnert sehr stark an Thesen aus dem Discours. Schliefilich liegt die Vermutung nahe, dafi die von Rousseau im Discours getroffene Unterscheidung, zwischen dem Vertrag, den die Reichen mit den Armen schliefien, und einem urspriinglichen Vertrag, der auf dem all-gemeinen Willen begriindet ware, die unmittelbare Quelle der Hegel-schen Unterscheidung von 1805/06, zwischen dem „Vertrag", der auf dem „Anerkanntsein" begriindet, und der „Konstitution" war.'^ Sollte man also nicht schliessen, dafi die Konzeption des Willens als „Begriff" des Geistes, die Hegel in den Jahren 1805/06 vertritt, Rousseaus eigener Konzeption des Willens ebenso verpflichtet war?

    I .

    In seinen Vorlesungen von 1805/06 stellt Hegel diesen Begriff, der den Ausgangspunkt seiner praktischen Philosophie bildet, der Vorstellung des Menschen im Naturzustand schroff gegeniiber: „ich betrachte den Menschen in seinem Begriff d.h. nicht Im Naturzustande", notiert er am Rande einer Seite, auf welcher er die „gew6hnliche" Hypothese eines Naturzustandes erwagt (GW 8.214ĵ .ĵ (). In der Position, die er die-ser Hypothese gegeniiber einnimmt, haben manche Kommentatoren eine gewisse Annaherung an Hobbes gesehen." Steht sie nicht aber der kritischen Position viel naher, die Rousseau in seinem zweiten Discours entwickelt hatte?

    genstehen. In diesem Aufsatz versuche ich zu zeigen, da8 eine solche SchluSfolgerung unbe-griindet ist.

    12 Vgl. Discours sur I'origine et les fondements de I'in^alite parmi les hommes. in: O C III.176 ff.; 184 f. Diskurs Uber die Ungleichbeit/Discours sur I'in^aiitl Kritische Ausgabe des integralen Textes, neu ediert, ijbersetzt und kommentiert von H . Meier. Paderborn 1984. 215-219; 243.

    13 Vgl. M . Riedel, op.cit., 59 f. H . Kimmerle, Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Bonn 1970. 2. erweiterte Auflage 1982. 162.

    137

  • In diesem Discours hatte Rousseau selbst Hobbes* beriihmte Beschreibung des Kampfes aller gegen alle im Naturzustand vor Augen gehabt. Statt diese Beschreibung einfach aufzunehmen, hatte er aber zeigen wollen, dafi der sogenannte „Naturzustand", den Hobbes als Kriegszustand beschreibt, iiberhaupt nicht nnatiirlich", sondern eher das Resultat einer langen geschichtlichen Entwicklung ist, die keines-wegs notwendig war. Durch das idyllische Bild des Naturzustandes, welches schon der erste Teil des Discours enthalt, hatte er unter anderem zeigen wollen, dafi der Selbsterhaltungstrieb, der bei Hobbes die menschliche Natur charakterisiert, keineswegs zum Krieg aller gegen alle und folglich zur Notwendigkeit, den Naturzustand zu ver-lassen, fiihren mufi. Ware der Mensch tatsachlich, wie Hobbes ihn beschrieb, ein Tier, dessen Bewegung allein durch den Trieb zur Selbsterhaltung bestimmt wird , dann wurde sich, wie Rousseau argu-mentiert hatte, kein Krieg zwischen ihm und den anderen Menschen entwickeln. Hobbes fiihrt aber in diesen Zustand menschliche Leiden-schaften ein, die nicht angeboren, sondern eher gesellschaftlich erwor-ben sind: dies ist der Fehler, der ihn zum Schlufi f i ihrt , dafi der Natur-zustand ein Kriegszustand sei, aus welchem die Menschen unbedingt austreten miissen. Auch wenn die Notwendigkeit, die vom Krieg aller gegen alle zur Griindung eines Rechtszustandes f i i h n , unbestreitbar ist, sollte man dennoch eingestehen, dafi jener Krieg keineswegs in der Natur der Menschen selbst begriindet ist; dafi es also keine Notwen-digkeit gibt, die vom Naturzustand selbst zur Griindung eines recht-Hchen, politischen Zustandes fiihren kann.'*

    Schon mit dieser Schlufifolgerung, die Rousseau im ersten Teil sei-nes Discours zieht, bricht er mit der modernen Naturrechtstradition: fiir ihn handelt es sich nicht mehr darum, im Naturzustand Griinde zu finden, welche den Ubergang zum rechtlichen, politischen Zustand notwendig machen. Es gibt bei ihm keine Notwendigkeit - weder eine historische, noch eine begriffliche oder logische - die vom Natur-zum Rechtszustand fiihren miifite. Zwar hatte Rousseau die Hypothese eines Naturzustandes noch beibehalten, und dies nicht nur aus

    14 Vgl. Discours sur I'origine et les fondementtde I'in^alit^parmila homma. ( O C III.153ff.; 157; 159f.D»sife. 137-141; 150; 161)

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    kritischen Griinden. Was immer seine Griinde gewesen sein mogen -eine Frage, der ich mich im dritten und letzten Teil dieses Aufsatzes zuwenden werde - sollte man jedoch erkennen, dafi die Rolle, welche die Hypothese eines Naturzustandes in seiner politischen Philosophie spielte, eine ganz andere und viel problematischere war als diejenige, die sie im friiheren Naturrecht gespielt hatte.''

    Ob sich Hegel des problematischen Status dieser Hypothese bewufit war, ist zweifelhaft. Die meisten seiner Zeitgenossen betrachte-ten Rousseau bekanntlich in erster Linie als Kampfer fi ir die Riickkehr zu einem Naturzustand, der durch Frieden und Unschuld gekenn-zeichnet war - eine Vorstellung, die hauptsachlich durch Voltaire ver-breitet worden war, die Rousseau selbst jedoch schon in seinen Anmerkungen zum Discours ausdriicklich verworfen hatte (OC III.207. Disk. 318). In Hegels Jenaer Vorlesungsmanuskripten von 1805/06 wird die These eines gliicklichen, unschuldigen Naturzustandes zwar iiber-haupt nicht erwahnt, Hegel kritisiert sie aber in seinen spateren Schrif-ten - und schon in der Phdnomenologie (GW 9.285,;^); und obwohl Rousseau dann nicht genannt wird , ist es hochst plausibel, dafi er dabei an Rousseau dachte. Es scheint mir iiberzeugend, dafi Hegel die Forde-rung einer Riickkehr zu einem unschuldigen, urspriinglichen Natur-zustand Rousseau zuschrieb: ein Schlufi, der sich - wie ich am Ende dieses Aufsatzes ausfiihren werde - nicht nur durch den Hinweis auf die damals allgemein verbreitete Interpretation Rousseaus erklaren lafit. Dieser Schlufi sollte uns aber nicht daran hindern anzuerkennen, dafi Hegels Position von 1805/06 gegeniiber der Hypothese des Natur-zustandes Rousseau viel naher steht als Hobbes: genauso wie Hobbes - aber auch wie Rousseau (z.B., OC 111.152; Disk. 135), - behauptet Hegel, dafi die Individuen im Naturzustande keine Rechte und keine Pflichten gegeneinander haben; und dafi sie solche Rechte und Pflich-ten erst durch das Verlassen des Naturzustandes erhalten - exeundum e statu naturae. Was er in dieses Argument hineinliest ist aber nicht, wie bei Hobbes, dafi es eine Notwendigkeit gibt, die vom Naturzustand zum Rechtszustand fiihrt. Eher behauptet er, dafi diese Notwendigkeit

    15 Vgl. hier insbesondere V. Goldschmidt, Anthropologic et politique. Les principes du syst^me de Rousseau. Paris 1974. 177-189, 217-221.

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  • vom „Begriff" des SelbstbewuCtseins oder des Menschen zum „ReaUsieren" dieses Begriffs im Rechtszustand fuhrt; und die Unter-scheidung, die er zwischen der „Natur" und dem „Begriff" des Menschen macht, ist eindeutig: der Mensch im Naturzustand „ist nicht in seinem Begriff, sondern als Naturwesen, in seinem Daseyn". Vom Naturzustand kann man aber nichts folgern, aufier der Tatsache, dz& die Frage des Rechts sich in ihm nicht stellen kann. Wie bei Rousseau gibt es also auch bei Hegel keine Notwendigkeit, die von diesem Zustand zum Recht und zum Staat fiihren wiirde."

    Zwar ist Hegel bereit, das Verhaltnis eines selbstandigen Bewufitseins zum anderen als „Naturzustand" zu bezeichnen - weil es in diesem Ver-haltnis noch keine Rechte gibt. Die Beschreibung, die er von einem solchen Verhaltnis gibt, steht der Hobbesschen Beschreibung des Natur-zustandes als Kriegszustand sehr nah. Noch enger lehnt sie sich aber an die Beschreibung jener Situation an, die Rousseau im zweiten Teil seines Discours als „die wahrhafte Jugend der Welt" {la veritable Jeunesse du Monde) kennzeichnet (OC III.170 f.; Disk. 189-195): in diesem zweiten Teil hat Rousseau zwischen mehreren Entwicklungsstadien der mensch-lichen Geschichte unterschleden, die alle - aufier dem letzten -..Naturzustande" waren, da noch keine Rechtsverhaltnisse in Ihnen vor-handen waren. Auch hier hat er sich aber gegen denjenigen Argumenta-tionsgang der Naturrechtstheorien stellen wollen, demzufolge eine strenge Notwendigkeit - die nicht immer historisch, immer aber begriffllch-logisch konzipiert wurde - vom sogenannten Naturzustand zum politischen Zustand fiihren wiirde: dies ist der Grund, weswegen er den zufalligen Charakter der Ereignisse, die von einem Stadium zum anderen fiihren, sehr stark betont.'^ Mittels seiner Geschichte oder „Genealogie" des Rechts hat er insbesondere zeigen wollen, auf welchen ungenannten Voraussetzungen Hobbes' ,.Krieg aller gegen alle" beruht. So hat er einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit isoliert, von dem aus sich alles einer strengen Notwendigkeit zufolge entwickelt:

    16 Ober den Naturzustand bei Hegel, vgl. auch, in seinen spateren Schriften, Grundliniai der Philosophie des Rechts. § 57. M M 7.123 f.); und Vorlesungen uber die Philosophie der Geschichte. M M 12.122-129.

    17 Vgl. hier z.B. V. Goldschmidt, op.cit., 425 f.

    140

    wie bekannt, ist dieser Punkt durch die Arbeitsteilung gekennzeichnet {OCm.m;Disk. 195 ff.).

    In seinen Vorlesungsmanuskripten von 1805/06 unterscheidet Hegel zwischen jenem Zustand, den man gewohnlich ..Naturzustand" nennt, und den er auf den ..Begriff" des Geistes bezieht, und dem ..Anerkanntseyn" - einem Zustand, der zum ..wirklichen Geist" gehort. Gewifi ist der Argumentationsgang, mittels welchem er vom einen zum anderen, d.h. vom ..Begriff" des Geistes zu seinem ..Realisieren" gelangt. weit davon entfernt, Rousseaus „Genealogie des Rechts" zu entsprechen. Es kann aber kein Zufall sein, dafi die Arbeitsteilung - genauer gesagt: die Einbeziehung der Arbeitsteilung in den Kampf um Anerkennung - auch bei ihm, wie bei Rousseau, den Wendepunkt vom Natur- zum Rechtszustand bezeichnet: ab diesem Punkt verwandelt sich der Besitz in das Recht, Vertrage werden geschlossen, und ein Staat konstituiert sich. In anderen Worten - die Worte Hegels - der Geist ist . .wirklich" (GW 8.222 ff.). Sollte man nicht schon daraus folgern. dafi die Voraussetzungen. auf welchen fiir ihn der ..Begriff" des Menschen beruht, Rousseau viel naher stehen als Hobbes?

    I I .

    Die Tatsache, dafi Hegel in den Jahren 1805/06 den Vertrag und, mit ihm, das Recht als Ergebnis eines Kampfes um Anerkennung darstellt, hat manche Kommentatoren zum Schlufi gefiihrt, dafi er dann von Fichte'* - und vielleicht sogar von Hobbes" - beeinflufit wurde. M i t Recht hat aber Ludwig Siep betont, dafi man die Annaherung an das Naturrecht, die sich zu jener Zeit in Hegels Position manifestiert, nicht iiberschatzen darf: Hegel hat seine friihere Kr i t ik der Naturrechtstheo-rien nie ganzlich zuriickgenommen.^° Dies allein wiirde schon einen Vergleich mit Rousseaus zweitem Discours rechtfertigen; denn die Be-

    18 Vgl. M . Riedel, op.cit., 59.

    19 Vgl. L . Siep, Der Kampf um Anerkennung. Zu Hegels Auseinandersetzung mit Hobbes in den Jenaer Schriften, in: Hegel-Studien. Bd. 9 (1974). 155-207.

    20 Vgl. L . Siep, loccit., 188.

    141

  • handlung der Anerkennungsproblematik, die Rousseau im zweiten Teil dieses Aufsatzes entwickelt, darf ebensowohl als eine kritische Aneig-nung der Gedanken, die Hobbes entwickelt hatte, betrachtet werden.

    Eine genauere Lektiire der Vorlesungsmanuskripte von 1805/06 legt tatsachlich nahe, dafi Hegel den Discours von Rousseau sehr gut ge-kannt haben mufi. In diesem Text hatte Rousseau, wie ich schon fr i i -her bemerkt habe, die Arbeitsteilung als den „Wendepunkt" in der Geschichte der Menschheit bezeichnet. Zwar hatte er betont, dafi alle Bedingungen eines fortdauernden menschlichen Lebens im Zeitalter der „wahrhaften Jugend der Welt" schon vorhanden waren: sowohl intellektuelle Fahigkeiten (OC III.165; Disk. 177) als auch affektive menschliche Vermogen batten sich schon entwickelt. Es gab sogar ein sozlales Leben und eine A r t Anerkennung zwischen Menschen, nicht nur im Kreise der Familie, die auf Liebe beruht (OC I I I . 168; Disk. 183), sondern auch zwischen selbstbewufiten Individuen: jeder wollte die „Achtung" (consideration) des Anderen erlangen (OC I I I . 170; Disk. 189). Aus seinem Streben nach consideration, das selbst aus einer schon entwickelten „Selbstsucht" (amour-propreY^ stammte, entstanden aber die grausamsten Rachehandlungen. Denn, so schreibt Rousseau, „jedes vorsatzliche Unrecht wurde von da an zu einer Beleidigung, da der Beleidigte zusammen mit dem Schaden, der aus dem Unrecht entsiand, in diesem die Geringschatzung seiner Person sah, die oft unenraglicher war als der Schaden selbst" (OC HI. 170; Disk. 191). Paradoxerweise betont Rousseau aber auch, dafi diese Epoche die gliicklichste der Menschheit war (OC III.171; Disk. 193) - eine Betonung, durch welche er sich sicherlich noch einmal von Hobbes absetzen w i l l : er w i l l sagen, dafi der Rachekampf, der sich in jenem Zeitaher entwickelt, nicht notwendigerweise zur Errichtung eines Staates fi ihrt.

    In seinen Vorlesungsmanuskripten von 1805/06 scheint auch Hegel zwischen Stadien zu unterscheiden, die ganz ahnlich wie bei Rousseau beschrieben sind: im ersten Stadium - dem Zustand namhch, der nach Hegel gewohnlich „Naturzustand" genannt w i r d - sind schon, wie in

    21 Das Wort amour-propre selbst benutzt Rousseau in seiner Beschreibung jedoch noch nicht -weil er es in einen Gegensatz zur „Selbstliebe' {amour de sot) stellt, der dem CtgsnsMz Aat de nature - etat civil et\tsprkht. Vgl. hier V . Goldschmidi, Anthropolo^ et politique, 443.

    142

    Rousseaus Jugend der Welt", alle Bedingungen eines fortdauernden menschlichen Lebens vorhanden. Sowohl intellektuelle als auch affek-tive menschliche Fahigkeiten haben sich entwickelt. Es gibt zwei Arten der Anerkennung: im Familienkreis, aber auch zwischen selbst-bewufiten Individuen, die, wie Hegel es formuliert, „zugleich aufein-ander bezogen, und gespannt gegeneinander" sind (GW 8.214,). Der Kampf, der in diesem Zustand stattfindet, ist sicherlich genauso grau-sam wie der Kampf, den Rousseau in das goldene Alter der „wahrhaften Jugend der Welt" verlegte. Man konnte sogar sagen, dafi Hegel in ihm denselben Grund der Grausamkeit identifiziert, den Rousseau schon beklagt hatte: jedes Individuum sieht in dem Schaden, der ihm zugefiigt wird , nichts weniger als eine personliche Beleidigung, eine Verachtung seiner Person selbst. Diese Reaktion hatte Hegel schon in seinen Vorlesungsmanuskripten von 1803/04 beschrieben: er hatte dann behauptet, dafi die Verletzung jeder Einzelheit des Besitzes eines Individuums dann „unendlich [und] eine absolute Beleidigung, [...] eine Beleidigung seiner Ehre" ist, da jeder „jedes Moment als sich selbst setzt, denn difi ist das Bewufitseyn das ideellseyn der Welt" (GW 6.307,^.,f). Wenn er jetzt (1805/06) betont, in diesem Kampfe wiirde jeder „ausser sich" sein, „jeder will dem andern gelten; es ist jedem Zweck im andern sich anzuschauen" (GW 8.219^^, steht er in einer noch unmittelbareren, unbezweifelbaren Nahe zu Rousseaus zweitem Teil des Discours sur I'Inegalite:

    „Der Wilde lebt in sich selbst, der soziable Mensch weifi, immer aufier sich, nur in der Meinung

    der anderen zu leben; und sozusagen aus ihrem Urteil allein bezieht er das Gefiihl seiner eigenen

    Existenz." ( O C 111.193; Disk. 269).

    Diese Satze, in welchen man eine Formulierung der beriihmten Unter-scheidung Rousseaus zwischen amour de soi und amour-propre, „Selbst-liebe" und „Selbstsucht" oder „Eigenliebe"" sehen kann, bewahrte Hegel sicherlich im Gedachtnis, als er wahrend der Jahre 1805/06 seine eigene Beschreibung des Kampfes um Anerkennung ausarbeitete.

    Wie bei Rousseau erhalt dieser Kampf auch bei ihm eine ganz neue Dimension, sobald die Menschen sich in einer Situation befinden, in

    22 In der Ubersetzung von Heinrich Meier: vgl. Disk. 141.

    143

  • welcher eine Teilung der Arbeit vorhanden ist. Rousseau hatte be-hauptet, dafi der Selbsterhaltungstrieb der Menschen erst in dieser Situa-tion zu einem Hobbesschen „Kampf aller gegen alle" f i ihrt , der die Kon-siitution eines Staates notwendig macht: mit der Initiierung der Arbeits-teilung w i r d die gegenseitige Abhangigkeit der Individuen, die bis dahin allein aus ihrem Verlangen nach „Achtung" (consideration) stammte, jetzt auch in der okonomischen Sphare verankert. Die „Selbstsucht" (amour-propre) macht es jetzt jedem unmoglich, sich selbst unabhangig von den anderen zu erhalten. Es ist hochst wichtig anzuerkennen, dafi Hegel in seinen Vorlesungsmanuskripten von 1805/06 dieselbe These behaupten w i l l : der Grund, der ihn in diesen Jahren dazu fi ihrt , in der Arbeitsteilung die erste Manifestation des „wirklichen Geistes" zu sehen, ist, dafi die Errichtung eines Rechtszustandes bei ihm, wie bei Rousseau, erst mit der Initiierung dieser okonomischen und sozialen Organisation notwendig wird . Erst hier ist fur ihn das „Anerkanntseyn" wirkl ich: „der Besitz verwandelt sich [...] in das Recht [...] und der Unterschied der Individuen w i r d ein Wissen vom Guten und Bosen;- persdnliches Recht und Unrecht" (GW 8.2235.,)."

    Hegels Nahe zu Rousseau - aber auch seine Originalitat diesem Autor gegeniiber - zeigt sich am deutlichsten in der Weise, in welcher er die Arbeitsteilung selbst analysiert. Es ist bemerkenswert, dafi er sie als einen Prozefi der ..Abstraction" beschreibt, der sowohl die Bediirfnisse als auch das Arbeiten, die A r t , in welcher gearbeitet wird , bestimmen soil:

    23 Beachtenswert ist die Ahnlichkeit der Unterscheidung, die Rousseau im zweiten Discours zwischen mehreren Stufen der Anerkennung trifft, und den entsprechenden Ausfiihrungen Hegels in den Grundlinien der Philosophie des Rechts und der Enzyklopadie der philosophischen Wissenschaften: , V o r den Anfang der wirklichen Geschichte fallt daher einerseits die inter-esselose, dumpfe Unschuld, andererseits die Tapferkeit des formellen Kampfes des Aner-kennens und der Rache" (MM 7.507 - S 349). Vgl. den Zusatz zu S 432 der Enzyklopadie, in welchem Hegel ausdriicklich betont, ,[...] daK der Kampf um die Anerkennung in der ange-gebenen bis zum Aufiersten getriebenen Form [wenn ,die Kampfenden sich in die Gefahr des Todes begeben'] bloK im Naturzustande, wo die Menschen nur als Einzelne sind, stattfinden kann, dagegen der biirgerlichen Gesellschaft und dem Staate fern bleibt, weil daselbst dasje-nige, was das Resultat jenes Kampfes ausmacht, namlich das Anerkanntsein, bereits vor-handen ist. Denn obgleich der Staat auch durch Gewalt entstehen kann, so beruht er doch nicht auf ihr [...]" (MM 10.221).

    144

    „Die Bediirfnisse", schreibt er, „sind viele. Diese Vielheit in Ich aufnehmen, arbeiten, ist die Ab-

    straction der allgemeinen Bilder, aber ein sich bewegendes Bilden. Das fursichseyende Ich istabstrac-

    tes; es ist aber arbeitend; sein Arbeiten ist ein ebenso abstractes. - Das Bediirfnifi iiberhaupt wird

    analysirt in seine viele Seiten; das ahstracte in seiner Bewegung ist das Fursichseyn, das Thun,

    arbeiten. - Weil nur fur das BedUrfnili als abstractes FUrsichseyn gearbeitet wird, so wird auch nur

    abstraa gearbeitet, difi ist der Begriff, die Wahrheit der Begierde, die hier existirt." ( G W 8.224,, , j ) .

    In diesen Satzen w i l l Hegel zunachst einmal sagen, dafi die Arbeit eine Manifestation der Reflexion ist - derjenigen Verstandesreflexion nam-lich, deren Entwicklung er im Abschnitt iiber die „Intelligenz" schon beschrieben hatte: schon dort hatte er den Gebrauch sowohl des Ge-dachtnisses als auch der Sprache als „Arbeit" bezeichnet (GW 8.193-196). In beiden - in der Sprache, und in der Arbeit - sieht er aber ein Ergebnis der Abstraktionsfahigkeit der Menschen. Dabei ist es wichtig zu bemerken, dafi das Individuum in seiner Arbeit fiir Hegel keineswegs nach einem verniinftigen oder sogar sittlichen Zweck strebt. Eher benutzt er seine theoretische Reflexionsfahigkeit, um „Begierden" zu befrledigen. ..Begierden" sind aber ..thierisch", nicht menschlich: schon wahrend der Jahre 1805/06 betont Hegel, dafi man sie von demjenigen „Trieb", der den menschlichen Willen bestimmt, klar unterscheiden sollte: wie bei Tieren kann die Befriedigung der Begierden hochstens zu einer ..leeren Sattheil". einem „einfachen Selbstgefiihl" fiihren (GW 8.203 f.).^* Eine solche Befriedigung ist aber die einzige, die sich das arbei-tende Individuum in diesem Zusammenhang zum Ziel setzt. Wie die neuere Hegel-Forschung bemerkt hat, ist in dieser Beschreibung der Arbeitsteilung Hegels spatere Analyse der „biirgerlichen Gesellschaft", d.h. des sogenannten „Not- und Verstandesstaates" (e.g., M M 7.340 -§ 183), schon klar vorgezeichnet.^ Zum genaueren Verstandnis dieser Konzeption gilt es aber auch anzumerken, dafi sie Rousseaus beriihmter These einer gegenseitigen Abhangigkeit des Verstandes und der Leiden-schaften (e.g., OC III.143; Disk. 107) zweifellos verpflichtet ist.

    24 Bereits in seinen Vorlesungsmanuskripten von 1803/04 hatte Hegel einen Unterschied ge-macht zwischen einer „animalischen" und einer „menschlichen Begierde" (vgl, G W 6.299 f.).

    25 Vgl. hier insbesondere R.P. Horstmann, Ober die Rolle der biirgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie, in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Bd 2. Hrsg. von M . Riedel (Frankfurt 1975), 276-311.

    145

  • Wenn Hegel sowohl das Bediirfnis, das im Zusammenhang der Arbeitsteilung befriedigt wird , als auch die Arbeit, mittels welcher es befriedigt wird , als ..abstract" bezeichnet, w i l l er aber nicht nur sagen, dafi beide das Produkt einer intellektuellen Fahigkeit der Menschen -der Verstandesreflexion - sind. Er w i l l auch behaupten, dafi weder die Bediirfnisse noch die A r t der Arbeit unabhangig vom Ganzen, aus dem sie herausgelost sind, „wirklich" sein konnen: schon die aufmerksame Lektiire der Seiten, auf denen er in seinen Vorlesungsmanuskripten von 1805/06 die Arbeitsteilung beschreibt (GW 8.223 ff.), zeigt, dafi ..abstrakt" in seiner Sprache „einseitig" oder „getrennt" bedeutet, „konkret" dagegen „vollstandig". Das „Abstrakte" ist fur Hegel das Produkt einer „Analysis" oder „Zerlegung des Konkreten", das „Konkrete" dagegen das Ganze, das VoUstandige - oder, genauer gesagt, das Einzelne als Ganzes, als Totalitat. Erst das Konkrete ist aber „wirklich": auch wenn das Individuum im Zusammenhang der Arbeitsteilung fiir ein Bediirfnis arbeitet, das „analysirt wird in seine viele Seiten", d.h. fiir „Begierden", welche „abstract" sind, gih es also anzuerkennen, dafi es seine eigenen Bediirfnisse erst durch die Arbeit anderer befriedigen kann. Wenn Hegel ferner behauptet, dafi die Arbeit selbst in diesen Bedingungen ^abstract" ist, w i l l er auch sagen, dafi sie nur eine Seite der ,.konkreten" Arbeit, d.h. des Arbeitsprozefies als Ganzes, betrifft. Nach ihm ist eine „konkrete" Arbeit eine Arbeit, uber welche der Mensch Meister sein kann, weil er sie in ihrer Ganz-heit umfafit, ihren ganzen Umfang beherrscht: er kennt alle vielfaltigen Bewegungen, die er ausfiihren mufi, um sie zu vollbringen. Dagegen wird die Tatigkeit des Menschen „abstrakt", wenn sie nur eine Seite jener Arbeit - zum Beispiel, eine einzige Bewegung - betrifft. Sie wird dann „mechanisch" - und kann in der Tat durch Maschinen ersetzt werden. Diese Entwicklung, wenngleich sie die Menschen gewissermafien von der Arbeit freisetzt, hat aber auch zum Ergebnis, dafi jeder die Herrschaft iiber seine eigene Tatigkeit und ihren Zweck verliert: er wird von der Arbeit anderer vollig abhangig. Eine solche Abhangigkeit, sowohl der Natur als auch anderen Menschen gegeniiber, hatte schon Rousseau als Hauptmerkmal jeder entwickelten Arbeitsteilung gekennzeichnet (e.g., OC III.174 f.; Disk. 207 f.). Auch

    146

    wenn die Terminologie, die Hegel benutzt, von Rousseaus eigener Sprache weit entfernt ist, gilt es also zu erkennen, dafi sich beide Autoren in ihrer Analyse der Arbeitsteilung sehr nahe stehen."

    M i t dieser Behauptung w i l l ich den Einflufi der schottischen poli-tischen Okonomie auf Hegel nicht vermindern. Diese Einflufilinie ist aber heute gut dokumentiert,^ und es ist nicht notig, sie noch einmal darzustellen. Dariiber hinaus sollte man jedoch einer zusatzlichen Frage nachgehen, auf die uns die Tatsache stofit, dafi Hegel in den Vor-lesungsmanuskripten von 1805/06 seine Analyse der Arbeitsteilung im Zusammenhang eines Kampfes um Anerkennung entwickelt. Dieser Kontext seiner Analyse setzt ihn von den schottischen Okonomen ab, riickt er ihn nicht in unmittelbare Nahe zu Rousseaus zweitem Discours? Fiir Hegel wie fiir Adam Smith ist die Arbeit, die im Zusammenhang der Arbeitsteilung stattfindet, zum Tausche bestimmt. U m zu erklaren, warum die Teilung der Arbeit den Tausch notwendig macht, schreibt Hegel, dafi die „Abstraction", die hier stattfindet, eine Riickkehr zum Konkreten notwendig macht. Er betont auch, dafi die Dinge im Tausch einen Wert bekommen, der von alien anerkannt wird . Fiir Hegel ist aber im Tausch nicht nur das Ding anerkannt. Was anerkannt wird , ist eigentlich mein Wille, der mit dem Willen des Anderen gleichgesetzt ist (GW 8.225 ff.). Kein Wunder also, dafi die Arbeitsteilung nichts anderes als ein „unmittelbares Anerkanntseyn" ist; und dafi der Tausch sich wie von selbst in einen Vertrag verwandelt: ist der Vertrag etwas anderes, als „ein ideeller Tausch" (GW 8.228)?

    Die Bewenung des Vertrags, als daseiendes „Anerkanntseyn" des Willens, die hier zum Ausdruck kommt, ist von den vehementen Ak-zenten weit entfernt, in welchen Rousseau diesen Vertrag denunzierte:

    26 Dagegen ist die Terminologie, welche Karl Marx in seiner Analyse der Arbeitsteilung benutzt, eindeutig von Hegel gepriigt. Uber die Hegelschen Ursprunge und die Bedeutung der Begriffe ,Abstraktion" und „abstrakte Arbeit" bei Marx, vgl. meinen Aufsatz On Marx's .Hegelian' Practice of A bstraction. In: International Studies in Philosophy, erscheint noch.

    27 Vgl. hier M. Riedel, Die Rezeption der Nationalokonomie, in: Studien zu Hegels Rechtsphilo-sophie, 75-99; N . Waszek, The Division of Labour: From the Scottish Enlightenment to Hegel, in: The Owl of Minerva. Journal of the Hegel Society of America. Vol. 15, 1 (1983), 51-75; und schlieGlich N . Waszek, The Scottish Enlightenment and Hegel's Account of .Civil society'. Dordrecht/Boston/London 1988.

    147

  • war dieser Vertrag fi ir Rousseau nicht das Ergebnis eines bewufiten Be-trugs, der zum Zweck hatte, der tatsachhchen Ungleichheit zwischen Reichen und Armen eine rechthche Anerkennung zu verleihen? Es ist hauptsachlich dieser offenbare Gegensatz in der Bewertung, der dazu gefiihrt hat, den Einflul5 von Rousseaus zweitem Discours auf Hegel zu bestreiten. Hier ist nicht der Platz zu zeigen, dai5 Hegels Einschatzung der Vor- und Nachteile der „biirgerlichen Gesellschaft", die sich in sei-ner Behandlung des „wirklichen Geistes" von 1805/06 schon vorzeich-net, keineswegs eindeutig war;^' und dafi Rousseau selbst weit davon entfernt war, die Institution des Privateigentums abschaffen zu wollen: war sein Hauptzweck nicht eher zu priifen, was dieser Institution ihre Legitimitat verleihen kann? Fiir ihn war der Vertrag zwischen Reichen und Armen, als Herrschaftsvertrag, keineswegs von selbst rechtsmafiig. Eher bekam er seine Legitimitat aus einer anderen Quelle, die er iden-tifizieren wollte.^' Diese letzte Aufgabe teilt Hegel mit ihm voUstandig. Sein Gedankengang, der ihn in den Jahren 1805/06 von der Behandlung des ..wirklichen Geistes", d.h. des „Anerkanntseyns", des Vertrags und des Strafrechts zur „Konstitution" und zum Staat fi ihrt , lafit sich auf Rousseaus Argumentationsgang im zweiten Discours nahtlos zuriick-fiihren: schon Rousseau hatte in diesem Text zeigen wollen, dafi der Kampf um Anerkennung unter gewissen Bedingungen zu einem Ver-trag fi ihrt , der das Recht auf Privateigentum begriindet. Auch hatte er diesen Vertrag vom „Grundvertrag" [Facte fondamental), der den ..politischen Korper" selbst errichtet (OC 111.184; Disk. 243), klar unter-schleden: nach ihm kann erst dieser „Grundvertrag" - iiber dessen Natur er sich iibrigens im zweiten Discours noch nicht ausfiihrlich aus-lafit" - der Institution des Privateigentums Rechtmafiigkeit oder Legi-

    28 Uber diese Disltussion und ihren heutigen Stand, vgl. insbesondere N . Waszek, loc.cit., 219-228.

    29 Vgl. hier Du Contrat social I. viii-ix ( O C III.364-367; deutsche Ubersetzung: Der Gesell-schaftsvertrag. Hrsg. von H . Weinstock. Stuttgart 1969. 48-53). Vgl. auch Discours sur I'konomie politique ( O C III , 263). Zu Rousseaus Stellung gegeniiber dem Privateigentum siehe auch den Literaturbericht und die Position von I. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs. Erste Auflage, Neuwied und Berlin 1960. Frankfurt 1975 (insbesondere 212-219); und M . Forschner, op.cit., 57-62.

    30 Zu diesem Zeitpunkt scheint er uber die wahre Natur dieses Vertrags noch unentschieden gewesen zu sein. Vgl. R. Derath^, Rousseau et la science politique de son temps. Paris 1950. 222ff.

    148

    timitat verleihen. Wie ich im letzten Teil dieses Aufsatzes zeigen werde. ist Hegel in dieser Hinsicht eindeutig von Rousseau gepragt.

    I I I .

    In seinen kritischen Schriften von 1801/02 hatte Hegel die „Abstractionen" der Kantischen und Fichteschen Naturrechtstheorien scharf kritisiert. Zwar hatte er in diesen Theorien einen Versuch gese-hen, sich aus der unreinen „Vermischung des empirischen und reflec-tirten" herauszuheben, welche die Begriffsbildung der Gliickseligkeits-lehre iiberhaupt und des Naturrechts insbesondere kennzeichnen wurde (z.B., GW 4.430 f.). Er hatte sogar behauptet, dafi es die „gro6e Seite der Kantischen und Fichteschen Philosophie" war, sich zur „h6heren Abstraction der Unendlichkeit", d.h. zum ..absoluten Begriff", zum Begriff des ..Einsseyns" des Rechts und des denkenden und woUenden Subjekts, erhoben zu haben (GW 4.441,^,,). Aber fiir ihn waren Kant und Fichte diesem Begriff nichi treu geblieben, indem sie in ihrer praktischen Philosophie eine Trennung zwischen Moralitat und Legalitat wiederherstellten. Gegen eine solche Trennung gait es dann fiir Hegel, die Einheit von Moralitat und Recht, die in den anti-ken Konzeptionen der Sittlichkeii vorausgesetzt war, neu zu bewerten.

    Diese Absicht behalt er auch 1805/06 bei: in seinen Vorlesungs-manuskripten dieser Jahre hat er vor zu zeigen, dafi sowohl „die abstracte Intelligenz" als auch „der abstracte Willen" sich in eine „geistige Wirklichkeit" aufheben, welche keine andere ist als diejenige der „Sittlichkeit iiberhaupt" (z.B. GW 8.222,-223 )̂.

    Auch hier gilt es also fiir ihn, die „h6here Abstraction" anzuerken-nen, welche die Kantische und insbesondere die Fichtesche Reflexion erreicht hat, ohne jedoch diese Abstraction zur Grundlage seiner Philosophie des Geistes im allgemeinen und seiner praktischen Philo-sophie insbesondere zu machen. Zur Bestimmung dieser Grundlage be-ruft er sich aber jetzt nicht nur auf die antike Konzeption der Sitt-lichkeit, sondern auch - und vielleicht sogar hauptsachlich - auf Rousseau: obwohl Rousseau in den Vorlesungen von 1805/06 nie aus-driicklich zitiert wird , ist es zweifellos sein Begriff des „allgemeinen

    149

  • Willens" {volonte generale), den Hegel jetzt als Prinzip der „Konstitu-t ion" , d.h. des Staates, bestimmt. In Rousseau scheint er also viel mehr zu sehen, als nur einen weiteren Vertreter der „abstrakten" Natur-rechtstheorien, die von Kant und Fichte noch verteidigt wurden. Viel-mehr scheint er zu glauben, dafi er Rousseaus Konzeption des „all-gemeinen Willens" gegen den „abstrakten" Begriff des Willens von Fichte und Kant einsetzen kann.

    Es ist zweifellos von Rousseau, dafi Hegel seine Unterscheidung zwischen dem bourgeois und dem citoyen - zwischen der Individuali-tat, die nur fiir sich und seine Familie sorgt, und der Individualitat, die das Allgemeine zum Zweck hat, erhalt (GW 8.26l3„). Alles scheint auch zum Schlufi zu fiihren, dafi er Rousseaus beriihmte Unterscheidung zwischen dem „Willen aller" {volonte de tous) und dem „allgemeinen Willen" {volonte generale) im Gedachtnis bewahn, als er in seinen Vor-lesungen von 1805/06 iiber den allgemeinen Willen schreibt, dafi dieser

    ,sich zumt aus dem Willen der Einzelnen zu constituiren [hat], so dafi jener das Princip und Element

    scheint, aber umgekehrt ist er das Erste und das Wesen, und die einzelnen haben sich durch Nega-

    tion ihrer, Entausserung und Bildung, zum allgemeinen zu machen, er ist friiher als sie, er ist abso-

    lut da fiir sie, sie sind gar nicht unmittelbar derselbe." (GW 8.257, ^ .

    Fiir Rousseau selbst war der allgemeine Willen mit dem „Willen aller", der „auf das Privatinteresse geht und nur eine Summe einzelner Wi l -lensmeinungen ist", nicht zu verwechseln {Du Contrat social, H.i i i . In O C III.371; Ver. 58). Von diesem Willen konnte man auch sagen, wie Hegel es 1805/06 behauptet, dafi er immer schon da ist, weil er - so schrieb Rousseau - auf nichts anderes als auf die Natur des Menschen begriindet ist, d.h. auf „dem Vorzuge, den jeder sich selbst beilegt"." Diese Rousseauistische Konzeption der menschlichen Natur lehnt Hegel aber ausdriicklich ab: am Rande des Passus, der soeben zitiert wurde, erwahnt er Aristoteles, demzufolge „das Ganze der Natur [nach] eher ist als die Theile" (GW 8.257^ :̂ er halt es offenbar fiir moglich, im „all-gemeinen Willen" von Rousseau die aristotelische Auffassung wiederzu-finden, derzufolge der Mensch ein politisches Wesen par excellence sei.

    31 Ja pr^&ence que chacun se donne", Contrat social, Il . iv. In: O C III.373. Ver. 61.

    150

    Diese Auffassung hatte er bekanntlich schon wahrend der ersten Jahre seines Aufenthaltes in Jena angenommen, wenn er zum Beispiel im Naturrechtsaufsatz behauptete, dafi die Sittlichkeit „sich vors erste nicht im einzelnen ausdriicken [kann], wenn sie nicht seine Seele ist, und sie ist es

    nur, insofern sie ein allgemeines und der reine Geist eines Volkes ist; das positive ist der Natur

    nach eher als das negative; oder, wie Aristoteles es sagt, das Volk ist eher der Natur nach, als der

    einzelne." (GW 4.467^,3,).

    Diese erste Position, die in den Jahren 1801/02 formuliert wurde, scheint fiir ihn keineswegs in Widerspruch zu stehen mit der Position, die er jetzt (1805/06) darstellt: schreibt er nicht auch jetzt, dafi der „Geist", als „Geist eines Volkes", „die Natur der Individuen [und] ihre unmittel-bare Substanz" ist (GW 8.254J?

    Die Koharenz der Position, die er hier verteidigt, ist nicht so proble-matisch, wie sie zuerst erscheinen konnte. Von Rousseau selbst ist sie iibrigens nicht so weit entfernt: im Contrat social stellt sich Rousseau zwar ausdriicklich gegen die aristotelische Politik. Was er aber an diesem Buch ablehnt, ist nicht so sehr die aristotelische Konzeption des poli-tischen Lebens - dieses offentlichen Lebens, das fiir Aristoteles ein Leben in und fiir die polis war - als das Verhaltnis, das Aristoteles zwischen dem Recht und der „Natur" des Menschen feststellte. Bereits auf den ersten Seiten des Contrat social widerruft Rousseau die Aristotelische Behauptung, derzufolge - in seinen [d.h. Rousseaus; M.B.] Worten - „die Menschen keineswegs gleich waren, sondern die einen zur Sklaverei und die anderen zur Herrschaft geboren wurden" {Du Contrat social, I . i i . In OC III.353; Ver. 32): was er hier ablehnt, ist nichts anderes als die Idee eines Rechts, das aus der Natur stammen wiirde - die Idee eines ..Naturrechts". In den Jahren 1802/03 war Hegel noch weit davon entfernt, diese Position Rousseaus zu teilen: im System der Sittlichkeit schrieb er noch - in direktem Widerhall auf die ersten Seiten der aristotelischen Politik - dafi das Verhaltnis der Herrschaft und Knechtschaft der ..Natur" selbst angehort, d.h. der Ungleichheit, die in der Natur selbst zwischen Individuen vorhanden ist."

    32 Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Hrsg. von G . Lasson. Leipzig 1913. 2. Auflage 1923. 442 f.; 453 f. Z u diesem Punkt, vgl. L . Siep, Der Kampf um Anerkennung. Z u Hegpls Ausein-andersetzung mit Hobbes in den Jenaer Schriften", locat., 169.

    151

  • Ebenso wie Aristoteles, bezog auch er diese Ungleichheitsverhalt-nisse auf die Familie: gewissermaiSen gait diese fiir ihn noch als Modell bei der Beschreibung der politischen Verfassung. Zwar unterschied er schon zwischen der „physischen" und der „sittlichen Natur": zwischen der „natiirlichen Sittlichkeit", die In der Familie vorhanden ist, und der „SIttlIchkeit" selbst - sowohl der „SittlIchkeit nach dem Verhaltnis" als auch der „absoluten Sittlichkeit", welche die Verfassung begriindet. Doch war es noch eine Konzeption der „Natur" - genauer gesagt, der „sittlichen Natur" - die im System der Sittlichkeit als Begriindung des Rechts gait; und dies auch wenn die A r t , in welcher er diese Natur charakterisierte, noch hochst problematlsch war."

    I m Hinblick auf genau diesen fundamentalen Punkt ist die Trans-formation seiner Ideen wahrend der Jahren seines Aufenthaltes In Jena entscheidend: schon Im Jahre 1803/04 gesteht er, dafi das Verhaltnis der Herrschaft und Knechtschaft, das In unseren menschlichen Gesellschaf-ten ubllch ist - und die Sklaverei selbst, wenn sie vorhanden ist -nicht natiirlich seien; und dafi sie eher als Ergebnis eines Kampfes, einer Entgegensetzung der Individuen zu betrachten sind (GW 6.310 f.). Die Rolle, die er der Familie gibt, w i r d demzufolge ganz anders bestimmt: Hegel lobt nicht mehr die „natiirliche SIttUchkeit", die in Ihr herrschen wiirde. Statt dessen bemerkt er, in einem aufschlufi-relchen Passus von 1805/06, dafi die Liebe, die das Verhaltnifi der Mit-glleder einer Familie charakterisiert,

    „das Element der Sittlichkeit [ist], noch nicht sie selbst, es [d.h. die Liebe als Erkennen; M.B.] ist

    nur die Ahndung derselben. Jedes nur als hestimmter Willen, Charakter oder natSrliches Indivi-

    duum, sein ungebildetes natiirliches Selbst ist anerkannt. -" (GW S.2\0^^^).

    Es ist jetzt offenslchtllch geworden, dafi die „natiirliche Sittlichkeit", die in der Familie herrscht, als Grundlage der Verfassung, des Staats nicht dienen kann. Auch wenn Hegel mit Rousseaus Auffassung der „Natur" des Menschen nicht einverstanden Ist, lehnt er doch den Gedanken eines Naturrechts ebenso ab, wie Rousseau Ihn abgelehnt hatte. Fiir ihn wie fiir Rousseau ist das Recht nicht in der „Natur"

    33 Z u dem Naturbegriff, den Hegel in diesen Jahren entwickelte, vgl.: Bernard Bourgeois, Le droit naturel de Hegel (1802-1803). Commentaire. Contribution k I'kude de la gen^se de la speculation hegilienne 4 Una. Paris 1986, 511-524.

    152

    begriindet - wie man dieses Wort auch immer bestimmen konnte -sondern eher im frelen Willen des Menschen.

    Vielleicht konnte man sagen, dafi Hegel In seiner Opposition zur Idee eines Naturrechts sogar radlkaler als Rousseau Ist. Denn die scharfe Kr i t ik dieser Idee, die Rousseau in seinen Schriften entwickelt, hindert ihn nicht, die Hypothese eines Naturzustandes und die Ver-tragsldee aufrechtzuerhalten. Wie ich schon friiher bemerkt habe, spielt In seinem Denken die Hypothese des Naturzustandes eine ganz andere Rolle als In den Theorien von Naturrechtsdenkern wie Locke oder Hobbes: nach Rousseau kann man keineswegs von der Natur zum Recht iibergehen. Das Recht beruht auf einem Vertrag, d.h. auf einer Konvention; und was bei einer solchen Konventlon wichtig ist, sind nicht so sehr ihre Klauseln als die Tatsache selbst, dafi sie - die Konvention, der Vertrag - eine gewoUte Handlung Ist, d.h. dafi sie auf dem Willen beruht: aus dieser Tatsache selbst kann man und sollte man die Klauseln folgern, die den Vertrag bestimmen. Darf man aber nicht doch sagen, dafi Rousseau sich in seiner Definition des Willens selbst auf seine Konzeption der menschlichen „Natur" beruft? Fiir Ihn handelt es sich selbstverstandlich nicht darum, eine Riickkehr zum Naturzustand zu fordern. Durch den Ubergang vom Naturzustand zum gesellschaftlichen Zustand, zum Rechtszustand w i r d der Mensch vollig verandert. Doch bleibt im gesellschaftlichen Zustand etwas -etwas muj? bleiben - vom Naturzustand: ware es anders, so behauptet Rousseau, ware der Ubergang zum Rechtszustand unmoglich.

    Dies Ist vielleicht das grundsatzHchste Paradox des politischen Denkens Rousseaus: er unterstrelcht den Abgrund, der den gesell-schaftlichen Zustand vom Naturzustand trennt - um aber im Rechts-zustand die Haupteigenschaft des Naturzustandes wiederherstellen zu wollen: in der Gesellschaft selbst w i l l er die „natiirliche" Unabhangig-kelt der Menschen wieder schaffen: dafi „jeder einzelne, obgleich er sich mit alien vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher" (Du Contrat social. I .v l . In : OC III.360. Ver.43). Fiir ihn verbindet keine Notwendigkeit - weder eine historische, noch eine logische - den Natur- mit dem Rechtszustand. Aus dieser Behauptung folgen er aber, dafi der Naturzustand im Rechtszustand

    153

  • unmittelbar - ohne irgendwelchen Ubergang - wiederhergestelk sein soU: „soforf [meine Hervorhebung; M.B.] - im Momente des Vertrags selbst - kehrt die gesellschaftliche Natur des Menschen zum urspriinglichsten Naturzustand zuriick.

    Was Hegel an Rousseaus Denken ablehnt, was ihn in manchen sei-ner Schriften dazu f i i h n , sowohl die Rolle von Rousseaus Hypothese des Naturzustandes als auch die Bedeutung seiner Konzeption des W i l -lens fehlzudeuten, ist vielleicht gerade dieses Verlangen nach Unmittel-barkeit. Zur Zeit der Redaktion seiner Berliner Vorlesungen uber die Philosophie des Rechts war ein solches Verlangen bei manchen seiner Zuhorer besonders ausgepragt; und es ist deswegen nicht erstaunlich, dafi er seinem damaligen Angriff auf Rousseau die scharfe Formulie-rung gegeben hat, die wir kennen (§ 258Z, M M 7.400 f.). Statt diesen beriihmten Passus als Hauptquelle in der Priifung des Verhaltnisses Hegel-Rousseau zu benutzen, sollte man den viel weniger bekannten Zusatz zur „Logik'' der Enzyklopadie - zum Abschnitt iiber den „sub-jektiven Begriff" - beachten, in welchem Hegel vom „Unterschied zwischen dem blofi Gemeinschaftlichen und dem wahrhaft Allgemei-nen" ausdriicklich schreibt, dafi er

    „sich in Rousseaus tielianntem Contrat social auf eine treffende Weise dadurch ausgesprochen fin-

    det, daB darin gesagt wird, die Gesetze eines Staats miiKten aus dem allgemeinen Willen (der

    volonte generale) hervorgehen, brauchen aber deshalb gar nicht der Wille aller (volontide tous) zu

    sein. Rousseau wiirde in Beziehung auf die Theorie des Staats Griindlicheres geleistet haben, wenn

    er diesen Unterschied immer vor Augen behalten hatte. Der allgemeine Wille ist der Begriff des

    Willens, und die Gesetze sind die in diesem Begriff begriindeten Bestimmungen des Willens. ' (§

    163Z, M M 8.312 f . ) . " ^

    34 Herrn D r . N . Waszek danke ich fur die aufmerksame Durchsicht der deutschen Fassung meines Manuskriptes.

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    Bewufitseinsstruktur und Vernunft

    Hegels propadeutischer Kursus iiber Geisteslehre von 1811/12

    Udo Rameil (Koln)

    Hegels Philosophie des subjektiven Geistes mit ihrer triadischen Ein-teilung in Anthropologic (Lehre von der Seele oder dem Naturgeist), Phdnomenologie (Lehre vom Bewufitsein) und Psychologic (Lehre vom Geist als solchen) liegt fenig ausgebildet erstmals in der 1817 erschie-nenen Heidelberger Enzyklopadie der philosophischen Wissenschaften vor und ist dann in die weiter ausgearbeiteten Fassungen der Enzyklopadie von 1827 und 1830 eingegangen. In dieser 2. und 3. Auflage der Enzy-klopadie beriicksichtigt Hegel die ausfiihrlichen Darlegungen zum sub-jektiven Geist, die er in seinen Vorlesungen speziell zu diesem Gebiet seiner Geistesphilosophie vorgetragen hat.' Die von Hegel veroffent-lichten Ausfiihrungen zur Philosophie des subjektiven Geistes stehen somit in einer besonders engen Beziehung zu seiner akademischen Vor-lesungstatigkeit: Die Paragraphenfolge zur Theorie des subjektiven Geistes in der Enzyklopadie als Hegels Lehrbuch „zum Gebrauch seiner Vorlesungen" (Titel) liegt seinen Lehrveranstaltungen zu diesem Thema zugrunde, und diese finden dann wiederum ihren Niederschlag in den inhaltlich vermehrten Auflagen der Enzyklopadie.

    Diese inhaltliche und formale Bezogenheit der enzyklopadischen Darstellung der Lehre vom subjektiven Geist auf die Vorlesungspraxis gilt nun auch fiir die Vor- und Entwicklungsgeschichte der Hegelschen Geistesphilosophie. Denn die Heidelberger Enzyklopadie als systemati-

    1 Den Plan, parallel zu der gesonderten Veroffentlichung der Philosophie des objektiven Geistes, den Grundlinien der Philosophic des Rechts von 1820/21, auch die Philosophie des sub-jektiven Geistes in einem eigenen Werk abzuhandeln, hat Hegel nicht realisiert. S. dazu Hegels Ankiindigung in der Rechtsphilosophie (§ 4 Anm.) und Ein Hegelsches Fragment zur Philosophie des Geistes. Eingeleitet und hrsg. von F . Nicolin. In: Hegel-Studien. 1 (1961), 9-48. - Z u Hegels Ausarbeitungen zum subjektiven Geist insgesamt s. F . Nicolin: Hegels Arbeiten zur Theorie des subjektiven Geistes. In: Erkenntnis und Verantwortung. Festschrift fur Theodor Litt. Hrsg. von J. Derbolav und F . Nicolin. Diisseldorf 1960, 356-374.

    155