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29 Samstag, 24. Oktober 2020 Der kleine Alexander Sury Zuerst eine Überraschung. Es geht hinauf und nicht wie erwartet hi- nunter. Die Fahrt im Glaslift auf der rückseitigen Fassade des Ber- nischen Historischen Museums (BHM) führt in den dritten Stock, dorthin, wo in der Dauerausstel- lung «Bern im 20. Jahrhundert» im Fokus steht. Keine Exkursion in den Bauch des Historischen Museums also. Noch nicht. Wer- den alle die Gegenstände, Artefak- te und Objekte normalerweise nicht in der Unterwelt einer sol- chen Institution gelagert? Allein, alles ist eine Platzfrage, im Fall des Historischen Museums werden seit vielen Jahren alle möglichen Örtlichkeiten im Museum als Sammlungsdepot genutzt. Zunehmender «Wildwuchs» 2015 erliess Jakob Messerli, der damalige Direktor des Histori- schen Museums, im Rahmen einer neuen Gesamtstrategie einen Sammlungsstopp. Neue Objekte sollten in den vier Hauptbereichen archäologische, historische, numismatische (Münzen) und ethnografische Sammlung künftig nur noch in begründeten Ausnahmefällen aufgenommen werden. Bei der geschätzt rund 500’000 Ob- jekte umfassenden Sammlung waren massive Defizite bei der Erschliessung seit den 1980er- Jahren festgestellt worden. Da- bei ist die Sammlung eines Mu- seums ihr wertvollstes Kapital. Nur rund zwei Prozent der Sammlung ist derzeit sichtbar für das Publikum. Während der Fahrt im Glaslift er- klärt Gudrun Föttinger, Leiterin der Sammlungen, den stetig zu- nehmenden «Wildwuchs» beim Sammeln auch mit der progres- siven Ausrichtung des Museums seit etwa 1980: «Das Historische Museum hat vermehrt Zeugnisse der Alltagskultur und der jünge- ren Zeitgeschichte gesammelt, dies aber weitgehend ohne klares Konzept und Ressourcen für de- ren adäquate Erschliessung.» Seit dem 2015 verfügten Sammlungs- stopp schaffen es also nur noch wenige Objekte in die Sammlung, letztes Jahr etwa der abgewetzte Koffer eines italienischen Gast- arbeiters aus dem Jahr 1957. Alles Nötige «on board» Der Rundgang in Begleitung von Gudrun Föttinger und Sebastian Herzberg, Leiter des Projekts «Sammlungserschliessung und -bereinigung» (SEB), beginnt im Westflügel unter dem Dach des Museums. Hinter einer unschein- baren Tür gelangt man in eine an- dere Welt. Die Eintretenden müs- sen sich zunächst bücken zwi- schen den schräg abfallenden Dachsparren. An einem Kleider- ständer hängen weisse Schutzan- züge, die an «Tatort»-Spurensi- cherer erinnern; etwas weiter hinten ist eine so gekleidete Mit- arbeiterin des Museums damit be- schäftigt, Objekte auf dem im BHM eigens konzipierten Regi- mobils zu fotografieren. Die Di- mensionen des schmalen Ge- fährts wurden den Gangbreiten angepasst. Alles ist «on board», was für die Registrierung von Ob- jekten benötigt wird, nicht zuletzt der direkt mit der zentralen Datenbank verbundene Fotoap- parat und der Screen mit der Ein- gabemaske. Hier arbeiten mehrere Mit- arbeiter des SEB-Projekts an der Registrierung von Objekten, teils sind es zerlegte historische Ka- chelöfen oder Orgelschnitzereien. In der Nähe steht eine alte Holz- wiege, es könnte der Estrich eines Hauses sein, in dem Gegenstän- de über Generationen aufbewahrt worden sind. Sebastian Herzberg zeigt Fotos, die eine ziemliche Un- ordnung in diesem Dachstock do- kumentieren: «So sah es hier noch vor einigen Monaten aus.» Jetzt ist alles säuberlich gestapelt, je- des Regal bekam eine Standort- Nummer, vieles ist bereits regist- riert und mit einer Etikette samt Inventarnummer und QR-Code versehen, über den man per Scan direkt alle Objektinformationen in der Datenbank aufrufen kann. Ein Projektmitarbeiter hat das Bruchstück einer Orgelschnitze- rei aus einem Regal genommen und auf einen Tisch gelegt. Er überprüft, ob es bereits mit einer Inventarnummer beschriftet ist, hält Ausschau nach Besonderhei- ten und Schäden, ehe er das Ob- jekt auf einem Regimobil fotogra- fiert. Die Hinweise bei der Regis- trierung können den Kuratoren später dabei helfen, den Gegen- stand mit den Einträgen in Jahr- büchern, Inventarbüchern, Kar- teikarten oder Katalogen abzu- gleichen – zu «matchen», wenn es eine Übereinstimmung gibt – und im Rahmen des zweiten Schrittes, der Minimalerschlies- sung, inhaltlich näher zu be- schreiben. Knapp 9 Minuten pro Objekt «Früher bekam das Objekt eine Nummer», sagt Sebastian Herz- berg, «ins Inventarbuch wurden rudimentäre Informationen no- tiert und diese samt Standort auch auf Karteikarten übertra- gen», Es seien einfache Beschrei- bungen gewesen, meist ohne Fotos. «Aber die Standorte haben sich im Lauf der Zeit verändert, manchmal wurden die Num- mern nicht an das Objekt ange- schrieben, und dann war es prak- tisch unmöglich, Objekte zu identifizieren und im Museums- depot aufzufinden.» Die Samm- lungen des Museums waren bis- lang in über 50 Datenbanken verzeichnet, wobei nur rund zwei Drittel der Sammlung darin er- fasst waren. «Es kommen immer wieder neue Objekte zum Vorschein», be- stätigt Sebastian Herzberg. Er er- wähnt als Beispiel mittelalterliche Handschriftenfragmente die seit den 1890er-Jahren vermisst wur- den und letztes Jahr beim Regist- rieren zwischen historischen Bü- chern und Broschüren aufge- taucht sind. Wenn der Zeitplan eingehalten werden soll, darf sich ein Mitarbeiter des SEB-Projekts maximal 8 Minuten und 40 Se- kunden mit der Registrierung eines Objekts befassen. «Aber das ist ein Durchschnittswert» sagt Sebastian Herzberg, «hier bei den Orgelschnitzereien und anderen grösseren Objekten sind 12 Minu- ten veranschlagt, bei den Münzen sind es dagegen nur 2 Minuten und 30 Sekunden». Der studierte Betriebswirt hat auch eine Ausbil- dung als Kulturmanager absol- viert und sagt von sich, dass er sei- ne «Kulturaffinität» zum Be- ruf gemacht habe. Jetzt geht es hinunter im Alt- bau, wir machen Station im Unter- geschoss, direkt unter dem Haupt- eingang. Hier wird der Weg Berns vom Frühmittelalter bis zum An- cien Régime gezeigt. Gleich hin- ter dem eindrücklichen Berner Stadtmodell ist wieder eine die- ser kaum sichtbaren, in die Wand eingelassenen Türen. Sebastian Herzberg schliesst sie auf. Wir be- treten eine kleine Kammer mit einer Wendeltreppe. Herzberg zeigt auf einen unscheinbaren rötlichen Aktenkoffer, der im untersten Regal eines Gestells steht, beschriftet und mit QR-Co- de versehen. Dieser Handkoffer stammt aus dem Besitz eines weltweit aktiven Schweizer Frei- maurers und wurde im Zuge der Registrierung hier gefunden. Als 2017 die Ausstellung «Top Secret – Die Freimaurer» im Histori- schen Museum konzipiert worden sei, habe der Kurator vergeblich nach dem Koffer gesucht. «Er wusste, dass er sich irgendwo im Museum befand», sagt Herzberg, «hätte ihn aber in dieser abseiti- gen Kammer niemals vermutet.» Über die Wendeltreppe gelan- gen wir in einen Raum, in dem in Schränken rund 7500 textile Ob- jekte gelagert werden, von loka- len Volkstrachten bis zu Teilen von Chormänteln aus dem Mittelalter. Das grosse Aufräumen Sammlungsschätze Um tolle Ausstellungen entwickeln zu können, muss ein Museum wissen, was es alles hat und wo sich die Objekte befinden. Im Bernischen Historischen Museum wird derzeit viel auf den Kopf gestellt und eine «Jahrhundertchance» gepackt. Im Altbau des Bernischen Historischen Museums, unter dem Dach des Westflügels: Mit dem «Regimobil» können überall im Haus Objekte erfasst werden. Fotos: Franziska Rothenbühler Eine Holzwiege: etikettiet und mit dem QR-Code versehen. Gudrun Föttinger (links) und Sebastian Herzberg. Eine Orgelschnitzerei wird auf Beonderheiten untersucht, registriert und fotografiert. 7,7 Millionen Franken für die Generalinventur Für die erste Generalinventur seit der Gründung des Museums 1894 sind 7,7 Millionen Franken budge- tiert, wovon die Finanzierungsträ- ger Stadt, Kanton und Burgerge- meinde 5,1 Millionen Franken beisteuern und das Historische Museum für den Rest aufkommt. Das 2017 lancierte Projekt «Sammlungserschliessung und -bereinigung» wird 2022 abge- schlossen und bietet die Grundla- ge für eine Onlinepräsentation der Sammlungen. Im Hinblick auf das Projekt war ein erstes umfassen- des Sammlungskonzept erstellt und ein neues Softwaresystem eingeführt worden. Damit der Museumsbetrieb während dieser Generalinventur möglichst wenig gestört wird, wurden die Standorte in neun Komplexe aufgeteilt. Insgesamt werden 90 räumliche Einheiten abschnittsweise be- arbeitet. Die BHM-Sammlung ist auf diverse Standorte verteilt, die Aussenstellen in der Region sind allesamt gewerbliche Lagerräume. Die Depots haben zusammen eine Fläche von rund 6000 Quadratme- tern und sind damit fast so gross wie die Ausstellungsfläche. Finan- zierungsträger des Museums sind Stadt und Kanton Bern sowie die Burgergemeinde und die Regio- nalkonferenz Bern Mittelland. Pro Jahr verzeichnet das BHM im Schnitt rund 100’000 Eintritte. (lex) Die Sammlungen des Museums waren bislang in über 50 Datenbanken verzeichnet. Fortsetzung auf Seite 31

Derkleine - Bernisches Historisches Museum · 2020. 10. 28. · Bei «House of a Thousand Guitars», einemLobgesangauf die heilige Kraft der E Street Band,stolpertdiesonstsotritt-sichere

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Page 1: Derkleine - Bernisches Historisches Museum · 2020. 10. 28. · Bei «House of a Thousand Guitars», einemLobgesangauf die heilige Kraft der E Street Band,stolpertdiesonstsotritt-sichere

29Samstag, 24. Oktober 2020

Der kleine

Alexander Sury

Zuerst eineÜberraschung.Esgehthinauf undnichtwie erwartet hi-nunter. Die Fahrt im Glaslift aufder rückseitigenFassadedesBer-nischen Historischen Museums(BHM) führt in den dritten Stock,dorthin, wo in der Dauerausstel-lung «Bern im 20. Jahrhundert»im Fokus steht. Keine Exkursionin den Bauch des HistorischenMuseums also. Noch nicht. Wer-denalle dieGegenstände,Artefak-te und Objekte normalerweisenicht in der Unterwelt einer sol-chen Institution gelagert? Allein,alles ist einePlatzfrage, imFall desHistorischen Museums werdenseit vielen Jahren alle möglichenÖrtlichkeiten im Museum alsSammlungsdepot genutzt.

Zunehmender «Wildwuchs»2015 erliess Jakob Messerli, derdamalige Direktor des Histori-schen Museums, im Rahmeneiner neuen Gesamtstrategieeinen Sammlungsstopp. NeueObjekte sollten in den vierHauptbereichen archäologische,historische, numismatische(Münzen) und ethnografischeSammlung künftig nur noch inbegründeten Ausnahmefällenaufgenommen werden. Beider geschätzt rund 500’000 Ob-jekte umfassenden Sammlungwaren massive Defizite bei derErschliessung seit den 1980er-Jahren festgestellt worden. Da-bei ist die Sammlung eines Mu-seums ihr wertvollstes Kapital.Nur rund zwei Prozent derSammlung ist derzeit sichtbarfür das Publikum.

Während derFahrt imGlaslift er-klärt Gudrun Föttinger, Leiterinder Sammlungen, den stetig zu-nehmenden «Wildwuchs» beimSammeln auch mit der progres-siven Ausrichtung des Museumsseit etwa 1980: «Das HistorischeMuseumhat vermehrt Zeugnisseder Alltagskultur und der jünge-ren Zeitgeschichte gesammelt,dies aberweitgehendohne klaresKonzept und Ressourcen für de-ren adäquateErschliessung.» Seitdem2015verfügten Sammlungs-stopp schaffen es also nur nochwenigeObjekte in die Sammlung,letztes Jahr etwa der abgewetzteKoffer eines italienischen Gast-arbeiters aus dem Jahr 1957.

Alles Nötige «on board»Der Rundgang in Begleitung vonGudrun Föttinger und SebastianHerzberg, Leiter des Projekts«Sammlungserschliessung und-bereinigung» (SEB), beginnt imWestflügel unter dem Dach desMuseums.Hintereinerunschein-barenTürgelangtman in eine an-dereWelt.Die Eintretendenmüs-sen sich zunächst bücken zwi-schen den schräg abfallendenDachsparren. An einem Kleider-ständerhängenweisse Schutzan-

züge, die an «Tatort»-Spurensi-cherer erinnern; etwas weiterhinten ist eine so gekleidete Mit-arbeiterindesMuseumsdamit be-schäftigt, Objekte auf dem imBHM eigens konzipierten Regi-mobils zu fotografieren. Die Di-mensionen des schmalen Ge-fährts wurden den Gangbreitenangepasst. Alles ist «on board»,was fürdieRegistrierungvonOb-jektenbenötigtwird,nicht zuletztder direkt mit der zentralenDatenbank verbundene Fotoap-parat undderScreenmit derEin-gabemaske.

Hier arbeiten mehrere Mit-arbeiter des SEB-Projekts an derRegistrierung von Objekten, teilssind es zerlegte historische Ka-chelöfenoderOrgelschnitzereien.In der Nähe steht eine alte Holz-wiege,es könnte derEstrich einesHauses sein, in dem Gegenstän-deüberGenerationenaufbewahrt

worden sind. SebastianHerzbergzeigt Fotos,die eine ziemlicheUn-ordnung indiesemDachstockdo-kumentieren: «So saheshiernochvor einigen Monaten aus.» Jetztist alles säuberlich gestapelt, je-des Regal bekam eine Standort-Nummer,vieles ist bereits regist-riert und mit einer Etikette samtInventarnummer und QR-Codeversehen, über denman per Scandirekt alle Objektinformationenin der Datenbank aufrufen kann.

Ein Projektmitarbeiter hat dasBruchstück einer Orgelschnitze-rei aus einem Regal genommenund auf einen Tisch gelegt. Erüberprüft, ob es bereits mit einerInventarnummer beschriftet ist,hältAusschaunachBesonderhei-ten und Schäden, ehe er das Ob-jekt auf einemRegimobil fotogra-fiert. Die Hinweise bei der Regis-trierung können den Kuratorenspäter dabei helfen, den Gegen-

stand mit den Einträgen in Jahr-büchern, Inventarbüchern, Kar-teikarten oder Katalogen abzu-gleichen – zu «matchen», wennes eine Übereinstimmung gibt– und im Rahmen des zweitenSchrittes, der Minimalerschlies-sung, inhaltlich näher zu be-schreiben.

Knapp 9Minuten pro Objekt«Früher bekam das Objekt eineNummer», sagt Sebastian Herz-berg, «ins Inventarbuchwurdenrudimentäre Informationen no-tiert und diese samt Standortauch auf Karteikarten übertra-gen», Es seien einfache Beschrei-bungen gewesen, meist ohneFotos. «Aber die Standorte habensich im Lauf der Zeit verändert,manchmal wurden die Num-mern nicht an das Objekt ange-schrieben, und dannwar es prak-tisch unmöglich, Objekte zu

identifizieren und imMuseums-depot aufzufinden.» Die Samm-lungen desMuseumswaren bis-lang in über 50 Datenbankenverzeichnet,wobei nur rund zweiDrittel der Sammlung darin er-fasst waren.

«Es kommen immer wiederneueObjekte zumVorschein»,be-stätigt SebastianHerzberg. Er er-wähnt alsBeispielmittelalterlicheHandschriftenfragmente die seitden 1890er-Jahren vermisstwur-den und letztes Jahr beimRegist-rieren zwischenhistorischenBü-chern und Broschüren aufge-taucht sind. Wenn der Zeitplaneingehaltenwerden soll, darf sichein Mitarbeiter des SEB-Projektsmaximal 8 Minuten und 40 Se-kunden mit der RegistrierungeinesObjekts befassen.«Aberdasist ein Durchschnittswert» sagtSebastianHerzberg,«hierbei denOrgelschnitzereien und anderen

grösserenObjekten sind 12Minu-tenveranschlagt,bei denMünzensind es dagegen nur 2 Minutenund 30 Sekunden». Der studierteBetriebswirt hat auch eineAusbil-dung als Kulturmanager absol-viert und sagtvon sich,dass ersei-ne «Kulturaffinität» zum Be-ruf gemacht habe.

Jetzt geht es hinunter im Alt-bau,wirmachenStation imUnter-geschoss,direktunterdemHaupt-eingang.Hierwird derWegBernsvom Frühmittelalter bis zumAn-cien Régime gezeigt. Gleich hin-ter dem eindrücklichen BernerStadtmodell ist wieder eine die-ser kaumsichtbaren, in dieWandeingelassenen Türen. SebastianHerzberg schliesst sie auf.Wirbe-treten eine kleine Kammer miteiner Wendeltreppe. Herzbergzeigt auf einen unscheinbarenrötlichen Aktenkoffer, der imuntersten Regal eines Gestellssteht, beschriftet undmitQR-Co-de versehen. Dieser Handkofferstammt aus dem Besitz einesweltweit aktiven Schweizer Frei-maurers und wurde im Zuge derRegistrierung hier gefunden. Als2017 die Ausstellung «Top Secret– Die Freimaurer» im Histori-schenMuseumkonzipiertwordensei, habe der Kurator vergeblichnach dem Koffer gesucht. «Erwusste, dass er sich irgendwo imMuseum befand», sagt Herzberg,«hätte ihn aber in dieser abseiti-gen Kammer niemals vermutet.»

Über dieWendeltreppe gelan-genwir in einen Raum, in dem inSchränken rund 7500 textile Ob-jekte gelagert werden, von loka-lenVolkstrachtenbis zuTeilenvonChormänteln ausdemMittelalter.

Das grosse AufräumenSammlungsschätze Um tolle Ausstellungen entwickeln zu können, muss ein Museumwissen, was es alles hat und wo sich die Objektebefinden. Im Bernischen Historischen Museumwird derzeit viel auf den Kopf gestellt und eine «Jahrhundertchance» gepackt.

Im Altbau des Bernischen Historischen Museums, unter dem Dach des Westflügels: Mit dem «Regimobil» können überall im Haus Objekte erfasst werden. Fotos: Franziska Rothenbühler

Eine Holzwiege: etikettiet und mitdem QR-Code versehen.

Gudrun Föttinger (links) undSebastian Herzberg.

Eine Orgelschnitzerei wird aufBeonderheiten untersucht,registriert und fotografiert.

7,7 Millionen Franken für die Generalinventur

Für die erste Generalinventur seitder Gründung des Museums 1894sind 7,7 Millionen Franken budge-tiert, wovon die Finanzierungsträ-ger Stadt, Kanton und Burgerge-meinde 5,1 Millionen Frankenbeisteuern und das HistorischeMuseum für den Rest aufkommt.Das 2017 lancierte Projekt«Sammlungserschliessung und-bereinigung» wird 2022 abge-schlossen und bietet die Grundla-ge für eine Onlinepräsentation derSammlungen. Im Hinblick auf dasProjekt war ein erstes umfassen-des Sammlungskonzept erstelltund ein neues Softwaresystemeingeführt worden. Damit derMuseumsbetrieb während dieser

Generalinventur möglichst weniggestört wird, wurden die Standortein neun Komplexe aufgeteilt.Insgesamt werden 90 räumlicheEinheiten abschnittsweise be-arbeitet. Die BHM-Sammlung istauf diverse Standorte verteilt, dieAussenstellen in der Region sindallesamt gewerbliche Lagerräume.Die Depots haben zusammen eineFläche von rund 6000 Quadratme-tern und sind damit fast so grosswie die Ausstellungsfläche. Finan-zierungsträger des Museums sindStadt und Kanton Bern sowie dieBurgergemeinde und die Regio-nalkonferenz Bern Mittelland. ProJahr verzeichnet das BHM imSchnitt rund 100’000 Eintritte. (lex)

Die SammlungendesMuseumswaren bislangin über 50Datenbankenverzeichnet.

Fortsetzung auf Seite 31

Page 2: Derkleine - Bernisches Historisches Museum · 2020. 10. 28. · Bei «House of a Thousand Guitars», einemLobgesangauf die heilige Kraft der E Street Band,stolpertdiesonstsotritt-sichere

31Samstag, 24. Oktober 2020

Kultur

Nick Joyce

Im Jahr 2019 brachte BruceSpringsteen, derElder Statesmandes Rock’n’Roll, nach mehrjäh-riger Schreibblockade das miss-glückte Album «Western Stars»heraus, eine nostalgisch versüss-te Hommage an den Country-Pop der frühen 1970er-Jahre. Sowaren die Erwartungen an seinnächstes Werk eher bescheiden.ZumGlückwerden sie von «Let-ter to You» übertroffen. Denn:Hier sitzt der junge BruceSpringsteen, oder was von ihmübrig geblieben ist, wieder amSteuer.

Kernthema von «Letter toYou» sei die Musik, so Spring-steen vergangene Woche imZoom-Chat, undwas sie ihm be-deute.Also das Fieber, das er aufder Bühne spürt, die Gemein-schaft, die ermit seinerBand undseinem Publikum verbindet –und auch die persönlichen Ver-luste, die er über die vielen Jah-re als Musiker erleiden musste.In «Last Man Standing» betrau-ert Springsteen die aus dem Le-ben geschiedenenMitglieder sei-ner allerersten Band The Casti-les. «Ghosts» handelt von DannyFederici und Clarence Clemons,zwei ebenfalls verstorbeneWeg-gefährten aus den Reihen seinerE Street Band.

Ein erschreckendkonservatives AlbumNicht umsonst gehören dieseverzweifelten Klagelieder zu denbesten Songs auf «Letter toYou»,das vor allem in der ersten Spiel-hälfte einiges an Dutzendwareenthält.Warum Springsteen, derlaut eigener Aussage viele nochunveröffentlichte Songs gehor-tet hat, das gar schmucklos wir-kende «Burnin’ Train» auf die-ses Album klatschen musste,weiss nur er.

Weil aber die aktuelle Beset-zung der E Street Band so sattund straff spielt wie schon lan-ge nichtmehr, hörtman über dieTaucherhinweg.Mehrnoch:MaxWeinbergs donnerndes Schlag-zeug sowie Nils Lofgrens undSteven Van Zandts schneidendeLead-Gitarrenmachen die vielenmüden Alben vergessen, dieSpringsteen im Verlauf der letz-ten Jahre veröffentlicht hat.

Zwar ist «Letter to You» ein er-schreckend konservativesAlbumgeworden, auf dem die experi-mentellerenAusflüge von «Wre-cking Ball» (2012) und die ver-krampften Stilexperimente von«High Hopes» (2014) gänzlichfehlen. Überraschend an «LettertoYou» ist höchstens dieVerletz-lichkeit, die in Springsteens Ge-sang hochkommt.

Bei «House of a ThousandGuitars», einem Lobgesang aufdie heilige Kraft der E StreetBand, stolpert die sonst so tritt-sichere Gesangsstimme. EinigeWörter wirken wie dahingelallt.Der mittlerweile 71-jährigeSpringsteen zeigt hier ein kleinwenig Altersschwäche, und dasist gut so. Für ihn ist das neu undfür sein Publikum berührend.

In das ziselierte Getöse derE Street Band flechtet Spring-

steen auch einige nachdenklicheMomente ein. Im Eröffnungs-stück «OneMinuteYou’re Here»führt er zum hallenden Klangseiner geschrammten akusti-schen Gitarre das Thema dereigenenVergänglichkeit ein.Underinnert dabei vorteilhaft an diekarge Intensität, die das ver-kannte Album «Nebraska» zumMeisterwerk machte.

Wilde Unbefangenheitdes FrühwerksGanz neu ist das Repertoire auf«Letter to You» übrigens nicht.«Song for Orphans», «JaneyNeeds a Shooter» und «If I Wasthe Priest» stammen ausSpringsteens Anfängen, als dieKritiker ihn als neuen Bob Dylanfeierten. Dass diese Stücke da-mals ungenutzt blieben, soSpringsteen im Zoom-Chat, lie-

ge daran, dass er die Vergleicheüberhatte. Im Nachhinein be-dauere er es, diewilde Unbefan-genheit seines Frühwerks schnellaufgegeben zu haben. Damalshabe mehr dringelegen.

«Song for Orphans» ist einegar vordergründige Hommagean Bob Dylans erste elektrischeSchaffensphase.Dafür enthält «IfI Was the Priest» etwas von derpolitischen Aktualität, die manbei «Letter to You» sonst ver-misst. Hier geht es um die Out-laws, die die immer gleichenTricks abziehen, singt Spring-steen mit sehniger Inbrunst. Imderegulierten Chaos des heuti-genAmerika hat dieser Song einebesondere Resonanz.

Alarmismuswar nochnie Springsteens SacheJe älter er werde, desto stärkerwerde sein Bewusstsein, dass ermehr Verantwortung für seinHandeln übernehmen müsse,sagt Springsteen in Thom Zim-nys kritikfreiem Making-of zu«Letter to You».

Gerade jetzt, kurz vor den Prä-sidentschaftswahlen in denVer-einigten Staaten, hätte man sichvon ihm eine klarere politischeStellungnahme gewünscht. Nurentstand «Letter to You» bereitsimNovember 2019. Zu einer Zeitalso, als noch kein Mensch vonCorona redete und die Black-Li-ves-Matter-Bewegung weitge-hend unbemerkt vor sich hinbrodelte.

Alarmismuswar abernoch nieSpringsteens Sache. Sein Job be-stehe darin , so Springsteenwäh-rend seiner Residenz am Broad-way 2017/2018, sich und seineMitmenschen daran zu erinnern,wer sie seien und was sie errei-chen könnten.

Heute sei er aber selber nichtso sicher, wer er sei, so BruceSpringsteen vergangene WocheimNetz. Erwisse von einemTagauf den anderen nicht, wer ersein werde: Im Auto, wo er unddie anderen Versionen seinerselbst mitführen, sei es jetztschon ziemlich eng.

Bruce Springsteen: «Letter toYou», Sony Music. Heute wirdauch Thom Zimnys gleichnamigerDokumentarfilm bei Apple TV +aufgeschaltet.

Der Boss gibt sich verletzlichNeues Album Auf «Letter to You» beschwört Bruce Springsteen die Kraft der Rockmusik und die Gemeinschaft.Bei diesem Roadtrip der Gefühle klingt er mal nachdenklich, mal triumphal.

«Letter to You» offenbart ein klein wenig Altersschwäche – und das ist gut so: Bruce Springsteen. Foto: PD

Die fünf besten Songs von Bruce Springsteen

1. «Born to Run» (1975)Springsteens unverwüstlicheErkennungsmelodie, die nichteinmal Frankie Goes to Hollywoodmit ihrer irrewerdenden Coverver-sion zu ruinieren vermochten. Sobewusst bombastisch wurdeSpringsteens Musik nie wieder.2. «State Trooper» (1982)Mit dem Album «Nebraska»handelte sich Springsteen einenKarrieren-Knick ein. Dabei enthal-ten die kargen Heimaufnahmeneinige seiner wohl eindringlichstenSongs. «State Trooper» ist dafürexemplarisch.3. «I’m on Fire» (1984)Mitte der 1980er-Jahre avancierteSpringsteen zum Superstar. Mitder zweiten Single aus demMillionenseller-Album «Born in the

U.S.A.» zeigte er, wie man grosseGefühle auch ohne Stadionpathosvertonen konnte.4. «Streets of Philadelphia»(1993)Innerhalb vier Minuten fasst er dieganze Tragik von Jonathan Dem-mes HIV-Drama «Philadelphia»zusammen. Und betritt mit einemtreibenden Hip-Hop-Beat auchpersönlich musikalisches Neuland.5. «The Ghost of Tom Joad»(1995)Zu einer hypnotischen Gitarrenbe-gleitung beruft er sich auf dasŒuvre des grossen John Stein-beck. Ihm gelingt so ein Klageliedüber eine zerbröselndeWeltord-nung in Zeiten von Turbokapitalis-mus und Säbelrasseln. Ein unter-schätztes Meisterwerk. (nij.)

Fortsetzung von Seite 29

Bei Projektbeginn wurden dieTextilien in einemangrenzendenRaumanunterhalbderDeckever-laufenden Rohren aufgehängt.Jetzt liegen sie flach in Regalen.Ein kleiner Teil der Projektmittelwird für sogenannte Notkonser-vierungen aufgewendet undschafft dort wo nötig bessere La-gerungsbedingungen für beson-ders gefährdete Objekte.

Wohinmit all demGeld?Neben der Behebung vonDefizi-ten bei der Erschliessung (wasden Hauptanteil der Ressourcenbindet) und bei der Konservie-rung verfolgt das SEB-Projektnoch ein drittes Ziel: Die Berei-nigung der Sammlungsbestän-de. Hinter dem FachausdruckDeakzessionierung verbirgt sichetwas, über das Museumsleuteweniger gern reden: sich vonOb-jekten zu trennen. «Dieser Pro-

zess ist heute kein Tabu mehr»,sagt Gudrun Föttinger, es geheauch darum, «das Profil derSammlung zu schärfen und sozu ihrerQualitätssteigerung bei-zutragen».

Wir sindmittlerweile imNeu-bau und haben die Eingeweidedes Kubus erreicht. Im Kubusstehen dem Museum rund 1000Quadratmeter Depotfläche zurVerfügung, die modernstenStandards entspricht. GudrunFöttinger zeigt auf einen Raum,den sie lachend als «Purgato-

rium» bezeichnet. In diesem«Fe-gefeuer» befinden sich unter an-derem Objekte, die aus derSammlung ausscheiden und aufeinen neuen (himmlischen) Be-sitzer warten. «Wir werfen Ob-jekte nicht einfach fort», betontFöttinger. «Vielleicht interessie-ren sich andere Museen für einObjekt und haben eine bessereVerwendung dafür.» Sie erwähnteinen historischen Schlitten ausder Ostschweiz, der in St. Gallenbesser aufgehoben sei und dort-hin abgegeben wird.

Schwieriger wird es wohl, fürdie über 30’000 Geldscheine ge-eignete Abnehmer zu finden, eshandelt sich um deutsches Not-geld aus derZeit des ErstenWelt-kriegs und der Inflation, davongibt es enorm hohe Stückzahlen,und siewurdennie fürdie Samm-lung inventarisiert. In denDepot-räumen mit den Gemälden ziehtSebastianHerzberg ein Rollgitterheraus; Porträts von Berner Pat-

riziern aus diversen Jahrhunder-ten tauchen auf. «DieAnlage hierist fast vollständig belegt. Wirmüssendeshalb genauüberlegen,welche Bilder wir im Rollgitterund welche in Kisten aufbewah-ren.»DieNachkommender indenletzten Jahren aufgelösten Bern-burger-Haushalte wollten, soHerzberg,die Bilder ihrerVorfah-ren nicht immer in ihren Stuben.Das Historische Museummusstedenn auch diesbezüglicheAnfra-gen abschlägig beantworten.

Dunkle Höhen, lichte TiefenVomDach-bis insUntergeschoss:Die Dramaturgie des Rundgangsist mit Bedacht gewählt. War derBesucher zu Beginn fast etwasschockiert oderspürteAufwallun-gen von Mitleid angesichts derschäbigen, fürdieAufbewahrungvonObjektenungeeigneteUmge-bung, so ist hier unten alles Stateof the Art: ein Rundgang von derDunkelheit in derHöhe ans Licht

in den Tiefen des Museums. Sol-che Lagerungsbedingungen er-hofft man sich auch von einemZentraldepot, das dereinst imRahmendesgeplantenMuseums-quartiers entstehen soll. Abernoch ist das Zukunftsmusik.

DasSammlungserschliessungsund -bereinigungsprojekt des

HistorischenMuseumswird auchin der Branche mit Interesse ver-folgt. Von den Erfahrungen unddenangewandtenMethodenbeimgrossen Aufräumen möchtenauch andere Museen profitieren.«Wirerhieltenbereits Besuchvonmehreren Delegationen aus derSchweiz und aus Deutschland»,bestätigt Gudrun Föttinger. Washier geschehe, könne im Sinneeiner «best practice» durchausModellcharakterhaben.FürGud-run Föttinger steht denn auchausserZweifel: Dieses grosseAuf-räumen sei eine «Jahrhundert-chance für das Museum», jedesObjekt gehe mindestens einmaldurch eineHandund sei amEndein der Datenbank mit Foto undStandort erfasst.«DieErkenntnis-se überdie Sammlungwachsen»,sagt Föttinger, «sie wird präsen-ter,unddieKuratorenhabenzahl-reiche Aha-Erlebnisse, wenn siefeststellen,was eigentlich alles inihrem Gebiet vorhanden ist.»

Ein QR-Code für jedes der rund500’000 Objekte im Museum.

Der Kurator wusste,das sich der Hand-koffer imMuseumbefand, hätte ihnaber in dieser absei-tigen Kammerniemals vermutet.