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Antoine Louis Claude Destutt de Tracy
GRUNDZÜGE EINER
IDEENLEHRE
II
Grammatik
Auf der Grundlage der Übersetzung aus dem Französischen
von Claus Sonnenschein-Werner
Herausgegeben, eingeleitet und annotiertvon Hans Jörg Sandkühler
frommann-holzboog
16-10-13 RZ Titelei-Destutt II_Layout 1 13.09.2016 15:06 Seite 2
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© frommann-holzboog Verlag e.K. · Eckhart Holzboog
Stuttgart-Bad Cannstatt · 2016
www.frommann-holzboog.de
ISBN 978-3-7728-2732-7
eISBN 978-3-7728-3102-7
Satz: Prof. Dr. Hans Jörg Sandkühler, Lilienthal
Druck und Einband: BBL Media, Ellhofen
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Inhalt
Editionshinweise VII
Einleitung des Herausgebers: Zur Einführung IX
Vorrede zur Ausgabe von 1803 1
Einleitung 9
Kapitel I
Analyse des Diskurses in einem beliebigen Sprechcode 24
Kapitel II
Analyse der Proposition in allen Sprechcodes, hauptsächlich
in der artikulierten Sprache, insbesondere in der
französischen Sprache 34
Kapitel III
Von den Elementen der Proposition in den gesprochenen
Sprachen, insbesondere in der französischen 55
§ I Von den Interjektionen 56
§ II Von den Nomina und Pronomina 57
§ III Von den Verben und Partizipien 64
§ IV Von den Adjektiven und Artikeln 73
§ V Von den Präpositionen 79
§ VI Von den Adverbien 91
§ VII Von den Konjunktionen oder konjunktiven
Interjektionen 93
VI I N H AL T
§ VIII Von den Konjunktionswörtern und
Konjunktions-Adjektiven 103
Schlussfolgerung aus diesem Kapitel 108
Kapitel IV
Von der Syntax 114
Sektion I Vom Satzbau 117
Sektion II Von den Deklinationen 122
§ I Von den Deklinationen der Nomina 124
§ II Von der Deklination der Adjektive 126
§ III Von den Deklinationen der Verben 127
Von den Zeiten der Verben 135
Sektion III Von den Präpositionen, Konjunktionen
und Satzpausen 178
Kapitel V
Von den dauerhaften Zeichen unserer Ideen,
insbesondere von der Schrift im eigentlichen Sinne 183
Kapitel VI
Von der Schaffung einer vollkommenen Sprache
und der Verbesserung unserer Volkssprachen 263
Überblick über die Grammatik, der als analytisches
Inhaltsverzeichnis dient 280
Namenregister 315
Sachregister 317
Editionshinweise
Die Erstübersetzung von Claus Sonnenschein-Werner wurde vom
Herausgeber durchgängig überarbeitet. Die deutschsprachige Edition
der zwischen 1801 und 1815 verfassten bzw. überarbeiteten Werke
Destutt de Tracys ist um eine möglichst große Nähe zum Sprachge-
brauch und zur Semantik des französischen Originals bemüht, auch
wenn dies an der einen oder anderen Stelle irritieren mag; der Sprach-
gebrauch wurde nur vorsichtig modernisiert. Die Übersetzung weicht
allerdings häufig von der Syntax des Originals ab, weil die von Destutt
de Tracy bevorzugte Hypotaxe – die Unterordnung langer Folgen von
Nebensätzen nach einem Hauptsatz – die Lektüre erschwert hätte.
Der Übersetzung des zweiten Teils – Grammaire – liegt folgende
Ausgabe der Éléments d’idéologie zugrunde:
2. Auflage aus dem Jahre 1817 der zunächst 1803 erschienenen
Grammaire. Zwischen der 1. und 2. Auflage haben keine nennenswer-
ten Änderungen stattgefunden.
Seitenangaben in |…| im fortlaufenden Text der Übersetzung entspre-
chen den Paginierungen in der folgenden Ausgabe:
Destutt de Tracy, Éléments d’idéologie. Seconde partie:
Grammaire, Paris 1970.
In dieser Edition sind zwei Arten von Fußnoten zu unterscheiden: Bei
Fußnoten
mit Ziffern1 ff. handelt es sich um Anmerkungen von Destutt
de Tracy;
VIII E D I T I O N SH I N W E I SE
mit AnnotationszeichenA1 ff. handelt es sich um Anmerkungen
des Herausgebers.
Bei Einfügungen in eckigen Klammern […] im Text und in den Fuß-
noten handelt es sich um Ergänzungen des Herausgebers.
Einleitung des Herausgebers
Zur Einführung
Antoine Louis Claude Destutt, Comte de Tracy (1754–1836), war zu
Beginn der Französischen Revolution Oberst und Deputierter der Ge-
neralstände. Als Liberaler stimmte er für die Abschaffung der Adels-
privilegien. 1792 musste er zusammen mit General Gilbert du Motier,
Marquis de La Fayette, Frankreich verlassen, kehrte jedoch 1793 zu-
rück und wurde am 2. November verhaftet. Erst nach dem Sturz
Maximilien Robespierres im Juli 1994 wurde er auf freien Fuß gesetzt.
Von 1808 bis zu seinem Tode war er als Nachfolger Cabanis’ Mitglied
der Académie française. Während der Herrschaft Napoléons Senator,
wurde er nach der Restitution der Bourbonen zum Pair von Frankreich
ernannt. Wenige Jahre nach seinem Tod würdigte ihn der Historiker
François-Auguste Mignet als »bedeutenden Philosophen, genialen
Analytiker, kraftvollen Logiker und reinen und ausgezeichneten
Schriftsteller«.1
De Tracys Werk verbindet sich mit einer der bedeutendsten Institu-
tionen des revolutionären Frankreich. Die Verfassung von 1795 errich-
tete das ›Institut national des sciences et des arts‹, für dessen II. Klasse
1 François-Auguste Mignet, ›La vie et les travaux de Destutt de Tracy‹. In: Revue des
Deux Mondes, 4ème série, tome 30, 1842.
X E I N L EI T U N G D E S H E R AUSG E B E R S
›Sciences morales et politiques‹2, 1. Sektion: ›Analyse3 des sensations et
des idées‹, Destutt de Tracy auf Drängen Cabanis’ 1796 ernannt
wurde.4 Hier hielt er Vorträge über Erkenntnistheorie, über die ›faculté
de penser‹. In der Auseinandersetzung mit der Tradition von Locke bis
Condillac und Kant entstand seine neue Wissenschaft, die ›Idéologie‹.
Das Stichwort fiel erstmals in seinem Mémoire sur la faculté de penser
im Jahre 17955: »Bürger, ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die spe-
kulativen Wissenschaften vor allem wegen ihrer Anwendungen em-
pfehlenswert sind; denn was ist letztlich das Ziel aller Forschung, wenn
nicht Nützlichkeit? […] Vornehmlich durch die Gründung der sciences
2 Die ›Klasse der moralischen und politischen Wissenschaften‹ wurde im Januar 1803
unter Napoléon aufgelöst, der die Idéologie-Schule bekämpfte. Vgl. hierzu die ›Intro-
duction‹ von C. Jolly in Destutt de Tracy, Œuvres complètes tome I : Premiers écrits
Sur l’éducation et l’instruction publique, éditées par Claude Jolly, Paris 2010, S. 121. 3 Das Konzept ›Analyse‹ entstammte der Chemie, mit der sich Destutt de Tracy intensiv
beschäftigt hatte. Er erklärte, wie François-Auguste Mignet 1842 in ›La vie et les trav-
aux de Destutt de Tracy‹ (Revue des Deux Mondes, 4ème série, tome 30) zitierte: »La-
voisier hat mich zu Condillac geführt«, dessen Werke er nach eigenem Bekunden (vgl.
ebd.) im Gefängnis las. Die analytische Methode war auch der Grund dafür, dass sich
zahlreiche Wissenschaftler in Nähe zur ›Idéologie‹ sahen: Dies galt für Lavoisier, La-
place, Monge, Biot, Haüy, Berthollet, Lagrange und die Mehrheit der dreizehn Mit-
glieder der 1. Klasse des Institut national. ›Analyse‹ bzw. ›analytische Methode‹ wur-
den zu Synonymen für ›Idéologie‹ und ermöglichten die Kommunikation zwischen
verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Aus der Verbindung zwischen dem
Philosophen und dem Wissenschaftler in einer Person − wie z. B. bei A. M. Ampère –
ergaben sich jenes Plädoyer für die empirisch-analytische Methode und jenes Veto ge-
gen ›leere Metaphysik‹, die zum Philosophie und Wissenschaften einigenden Band
wurden. 4 Weil Destutt de Tracy nicht in Paris, sondern in Auteuil wohnte, war er gemäß den
Statuten nicht ständiges, sondern assoziiertes Mitglied. Vgl. zur Entstehung und Ent-
wicklung der Sektion Une Académie sous le Directoire, par Jules Simon, Secrétaire per-
pétuel de l’Académie de 1882 à 1896: − VII − La section d’analyse des sensations et des
idées. (http://www.asmp.fr/travaux/dossiers/directoire_VII.htm). Letzter Abruf 20.3.
2016. 5 Destutt de Tracy, ›Mémoire sur la faculté de penser, 2 floréal an IV‹. In: Mémoires de
l’Institut national des sciences et arts pour l’an IV de la République, Sciences morales
et politiques, Tome premier, Paris 1798. Nachdruck in: Mémoire sur la faculté de pen-
ser/De la métaphysique de Kant et autres textes, Paris 1992, S. 35–177.
E I N L EI TU N G D E S H E R AU SG E B ER S XI
morales auf einer stabilen und gewissen Basis antwortet Ihr auf die
Hoffnungen, die das aufgeklärte Europa auf das erste gelehrte Korps
setzt, das sich mit einer gewissen Freiheit um diese Themen kümmert.
Dies ist das Motiv, das mich veranlasst, Eure Aufmerksamkeit auf die
Kenntnis der Formierung unserer Ideen zu richten. Diese Wissenschaft
ist, wie Ihr wisst, die Erste unter allen in der genealogischen Ordnung,
denn alle anderen gehen aus ihr hervor.«6 Das Ergebnis der Analyse der
Empfindungen und Ideen habe noch keinen Namen: »Es kann nicht
Metaphysik genannt werden. […] Wir können die Kenntnis unserer
Empfindungen Physik nennen. […] Ich würde es deshalb bevorzugen,
wenn man den Namen Idéologie oder Wissenschaft von den Ideen
verwendete.«7
Der Idéologie hat de Tracy zwischen 1801 und 1822 sein Hauptwerk
gewidmet: 1801 erschien das Projet d’éléments d’idéologie à l’usage des
écoles centrales de la République française8, 1804 als Éléments d’idéolo-
gie. Première partie. Idéologie proprement dite, erschienen, die Gram-
maire folgte 1803 als zweiter und die Logique 1805 als dritter Teil.9
6 Ebd., S. 37. 7 Ebd., S. 70 f. 8 Die in drei Zweijahres-Sektionen für Schüler ab dem 12. Lebensjahr gegliederten Éco-
les centrales (1. Zeichnen, Naturgeschichte, alte Sprachen; 2. Mathematik, Experimen-
talphysik bzw. -chemie; 3. Grammatik, schöne Literatur, Geschichte und Gesetzge-
bung) wurden mit Dekret vom 25. Februar 1795 anstelle der Collèges des Ancien
régime mit dem Ziel wissenschaftlicher Bildung durch öffentlich bestallte Lehrer – da-
runter für Experimentalphysik und Chemie – eingerichtet. Bereits 1797 gab es in
Frankreich ca. 100 derartige Schulen. Mit Gesetz vom 1. Mai 1802 wurden die Écoles
centrales aufgehoben; man hatte ihnen nicht nur eine unzureichende Organisation des
ersten Zweijahresabschnitts, sondern auch ›Materialismus‹ und ›Atheismus‹ und den
Mangel an moralischer und religiöser Bildung sowie zu große Freiheiten für die Schü-
ler zur Last gelegt. Vgl. hierzu die ›Introduction‹ von C. Jolly in Destutt de Tracy,
Œuvres complètes tome I: Premiers écrits Sur l’éducation et l’instruction publique, édi-
tées par Claude Jolly, Paris 2010, S. 105. 9 A.L.C. Destutt de Tracy, Eléments d’Idéologie. Paris 1801–1815, Reprint Stuttgart-
Bad Cannstatt 1977.
XII E I N L EI TU N G D E S H E R AU SG E B ER S
Über die auf die Physiologie10 der menschlichen Organe und die Phy-
sik der Körperbewegungen gestützte naturalistische Erkenntnistheo-
rie, Sprachtheorie und Zeichentheorie, die auch eine Theorie der Will-
lensfreiheit beinhaltet, hinaus galt das Interesse de Tracys aber auch der
Gesellschaftstheorie, zu der er als Teile 4 und 5 der Élements d’Idéo-
logie 1815 seinen Traité de la volonté et de ses effets veröffentlichte, der
1823 unter dem Titel Traité d’économie politique erneut erschien.
Den politischen de Tracy hat Heine in Lutetia nicht ohne Grund
einen »Ritter der Volksrechte« genannt. De Tracy hat die Französische
Revolution, ihre Verfassung und die Menschenrechtserklärung zum
Schutz der Individualrechte vehement gegen Edmund Burkes Reflec-
tions on the Revolution (1790)11 verteidigt und betont: »Wir sind einer
edlen Liebe zur Freiheit und Menschlichkeit ergeben«.12
Im Vorwort zu den Éléments d’Idéologie von 1801, die de Tracy als
»Teilgebiet der Zoologie« bezeichnet13 und als deren Schöpfer er Con-
10 In der in Paris 1817 von ihm veröffentlichten Kurzfassung seiner Logik Principes lo-
giques, ou Recueil de faites relatives à l’ intelligence humaine. Par M. Destutt Comte
de Tracy heißt es: »Was man die Idéologie nennt, ist nur, soll sein und kann nur ein
Teil und ein Nebengebäude der Physiologie sein« (S. 97 Fußnote). 11 E. Burke, Reflections on the Revolution in France. And on the Proceeding in Certain
Societies in London Relative to That Event in a Letter Intended to Have Been Sent to
a Gentleman in Paris, London 1790. 12 M. de Tracy à M. Burke [In Reply to the Speech Delivered by the Latter in the House
of Commons on 9 February 1790]. Digitalisiert: Source gallica.bnf.fr/Bibliothèque na-
tionale de France, ftp://ftp.bnf.fr/007/N0075206_PDF_1_1DM.pdf, S. 5. Nachdruck
in: Destutt de Tracy, Œuvres complètes tome I: Premiers écrits Sur l’éducation et l’ins-
truction publique, Paris 2010. Zu erwähnen sind ferner die gegen die Sklaverei ge-
richtete Schrift Opinion de M. de Tracy, sur les affaires de Saint-Domingue (1791), das
Plädoyer für gesetzliche Allgemeinheit Quels sont les moyens de fonder la morale chez
un peuple? (1797/98), die Observations sur le système actuel d’instruction publique
(1800) und der Commentaire sur l’Esprit des lois de Montesquieu (1819). 13 In dieser Edition Band I, S. 5.
E I N L EI TU N G D E S H E R AU SG E B ER S XIII
dillac hervorhebt, mit dem er sich immer wieder kritisch auseinander-
gesetzt hat14, nennt er als Motiv für sein Projekt, er sehe, »dass auf die
Wut, alles zu zerstören, die Manie gefolgt ist, nichts sich etablieren zu
lassen, und dass unter dem Vorwand, die Ausschweifungen der Revo-
lution zu hassen, man allem den Krieg erklärt, was sie an Gutem her-
vorgebracht hat: Dies ist eine Mode, die an die Stelle unserer früheren
guten Gewohnheiten getreten ist. Früher sprach man nur von Refor-
men, von notwendigen Änderungen in der Erziehung; heute sähe man
sie am liebsten wie zu Zeiten Karls des Großen: man machte die Erfah-
rung als Routine lächerlich; jetzt glaubt man eine hohe Vorstellung von
seinen praktischen Kenntnissen geben zu können, indem man Verach-
tung für die Theorien heuchelt, die man nicht kennt. Man behauptet
ernsthaft, für ein vernünftiges Denken sei es nicht nötig, seine intellek-
tuellen Fähigkeiten zu kennen, und der in Gesellschaft lebende Mensch
brauche durchaus nicht die Grundsätze der Gesellschaftskunst zu
studieren. Es scheint, dass es unter uns heutzutage schon ein vergange-
ner Brauch ist, seinen Verstand zu kultivieren und ihn vom Joch der
Vorurteile zu befreien. So hat man Leute gesehen, ungestüme Neuerer,
die rote Mütze auf dem Kopf, wie sie die Philosophen anklagten, halb-
herzige Reformatoren zu sein, und eiskalte Freunde des Menschen-
wohls, die sie jetzt anklagen, alles umgestürzt zu haben, und die folg-
lich unermüdlich daran arbeiten, auch noch die nützlichen Einrichtun-
gen zu zerstören, die eben diese Philosophen hatten erhalten oder unter
Murren und Anfeindungen einführen können.«15
14 Vgl. hierzu in dieser Edition Band I, Kapitel XI; vgl. zur kritischen Auseinanderset-
zung mit Condillacs Essai sur l’origine des connaissances humaines, ouvrage où l’on
réduit à un seul principe tout ce qui concerne l’entendement humain (Amsterdam 1746)
Destutt de Tracys ›Dissertation sur quelques questions d’idéologie‹ (27. Mai 1799).
Nachdruck in: ders., Mémoire sur la faculté de Penser; De la métaphysique de Kant et
autres textes, Paris 1992, S. 181–202. 15 In dieser Edition Band I, S. 12.
XIV E I N L EI T U NG D E S H E R AU SG E B ER S
Als Ergebnis des ersten Bandes seines Werkes hält er fest: »Gewiss
sind wir noch weit davon entfernt, eine vollständige Geschichte der
menschlichen Intelligenz verfasst zu haben; tausende von Bänden wä-
ren nötig, um ein so weites Gebiet erschöpfend darzustellen, doch zu-
mindest haben wir zu ihr eine exakte Analyse vorgelegt; und das weni-
ge, was wir an Wahrheiten zusammengetragen haben, ist, wenn ich
mich nicht täusche, so frei von aller Obskurität, Ungewissheit und Zu-
fallsvermutung, dass wir daraus völlige Zuversicht schöpfen können:
Da wir der Bildung und der Verkettung unserer Ideen sicher sind, kann
alles, was wir im Folgenden darüber aussagen werden, wie wir diese
Ideen zum Ausdruck bringen, kombinieren, lehren und unsere eigenen
Empfindungen und Handlungen Regeln unterwerfen sowie die der
anderen steuern, nur die Folge dieser Präliminarien sein. Alles dies wird
eine stabile, invariable Grundlage haben, weil es aus der Natur unseres
Seins selbst geschöpft ist. Nun begründen diese Präliminarien eben das,
was man ganz speziell ›Ideenlehre‹ nennt, und alle sich aus ihr er-
gebenden Folgerungen sind Gegenstand der Grammatik, der Logik,
der Lehre, der privaten Moral und der öffentlichen Moral (der Gesell-
schaftskunst), der Erziehung und der Gesetzgebung, die nichts anderes
ist als die Erziehung erwachsener Menschen. Wir können also in allen
diesen Wissenschaften nur insofern in die Irre gehen, als wir die
grundlegenden Beobachtungen aus dem Auge verlieren, auf denen sie
beruhen«.16 »In der Tat: Wir haben gesehen, worin die Fähigkeit zu
denken besteht, welches die elementaren Fähigkeiten sind, die zusam-
men sie ausmachen, wie diese alle unsere zusammengesetzten Ideen bil-
den, wie sie uns unsere Existenz und die der anderen Entitäten erken-
nen lassen, deren Eigenschaften und die Art und Weise, sie zu bewer-
ten, wie sich diese intellektuellen Fähigkeiten mit den anderen aus
16 Ebd., S. 159.
E I N L EI TU N G D E S H E R AU SG E B ER S XV
unserer Organisation herrührenden Fähigkeiten verbinden, wie die
einen und die anderen von unserer Fähigkeit zu wollen abhängen, wie
sie alle durch die häufige Wiederholung ihrer Akte modifiziert werden,
wie sie sich im Individuum und in der Gattung vervollkommnen, und
schließlich, welche Hilfe ihnen der Gebrauch der Zeichen leistet und
welche Veränderungen er auslöst.«17 Die letzte Frage verweist auf den
zweiten Band der Éléments, die Grammatik als »die Fortführung der
Wissenschaft der Ideen.«18
»Denken ist […] immer Empfinden, nichts als Empfinden«19 – dies
ist der Kernsatz der sensualistischen Lehre de Tracys. »Der Mensch
beginnt in der Tat immer mit der Beobachtung der Tatsachen; von
seinen Bedürfnissen getrieben, zieht er aus ihnen zunächst praktische
Konsequenzen; er variiert, modifiziert und kombiniert sie, er findet für
sie tausend einfallreiche Anwendungen und eben dies macht die Kunst
aus; er erfreut sich lange seiner Erfolge, ehe er daran denkt, diese
grundlegenden Tatsachen zueinander in Beziehung zu setzen, sie zu
vergleichen, ihre Beziehungen zu untersuchen, konstante Gesetzmä-
ßigkeiten in ihnen zu entdecken und über sie zu tieferliegenden
weniger zahlreichen Tatsachen vorzudringen, von denen alle anderen
nur Folgen sind. Dies ist es, worin Theorie besteht: Es braucht Zeit der
Muße, um sich mit ihr zu befassen, denn wenn sie auch für die Zukunft
großen Nutzen verspricht, hilft sie doch den Bedürfnissen des
Augenblicks nicht ab. Oftmals sind die nützlichen Früchte, die sie
hervorbringen kann, unmöglich vorauszusehen; und erst wenn sie
aufgestellt ist, wird man dessen gewahr, manchmal sogar erst viel
später.«20
17 Ebd., S. 307. 18 In diesem Band, S. 7. 19 In dieser Edition Band I, S. 34. 20 Ebd., S. 235.
XVI E I N L EI T U NG D E S H E R AU SG E B ER S
Dies erklärt zugleich den Status der Idéologie: »Es ist also ganz na-
türlich, dass die – oftmals weit vorangeschrittene – Praxis aller guten
Theorie vorausgeht; dies kann auch gar anders sein, denn man kann die
Fakten nur miteinander vergleichen, wenn man sie zuvor kennenge-
lernt hat; und man kann die allgemeinen Gesetze, die in diesen Fakten
herrschen, nur entdecken, wenn man sie untereinander verglichen hat.
Dies macht uns auch deutlich, warum die Wissenschaft, mit der wir uns
befassen – die Wissenschaft von der Bildung unserer Ideen – so neu und
so wenig weit gediehen ist: Weil sie die Theorie der Theorien ist,
konnte sie erst als letzte entstehen. Dies sollte uns allerdings nicht zu
dem Schluss verleiten, die Theorien ganz allgemein und insbesondere
die Ideenlehre seien nutzlos; sie dienen dazu, die unterschiedlichen
Kenntnisse zu berichtigen und zu läutern, sie einander näherzubringen,
allgemeinsten Grundsätzen zuzuordnen und letztlich in dem zu
vereinen, was sie alle gemeinsam haben.«21
Die Grammatik
»Die Grammatik ist, wie man sagt, die Wissenschaft der Zeichen [...]
Ich sähe es aber lieber, wenn man sagte und vor allem wenn man es
immer gesagt hätte, sie sei die Fortführung der Wissenschaft der
Ideen.«22
21 Ebd., S. 220. 22 In diesem Band, S. 7. Zur Allgemeinen Grammatik in Frankreich um 1800 und zu
Destutt de Tracys Grammatik vgl. H.B. Acton, The Philosophy of Language in Revo-
lutionary France. In: Proceedings of the British Academy, 45 (1959); S. Auroux, Du
nom au verbe: la grammaire générale de Port-Royal à Destutt de Tracy. In: Modèles
linguistiques VI. 1 (1984); S. Auroux, Le vocabulaire théorique de la grammaire chez
Condillac et Destutt de Tracy. In: Traitements informatiques de textes du 18e siècle.
Congrès international des Lumières, no 6 (24/07/1983), 1984; R. Baum, La grammaire
E I N L EI TU N G D E S H E R AU SG E B ER S XVII
Destutt de Tracy veröffentlichte den zweiten Band seiner Éléments
d’idéologie – die Grammaire – in einer nach seiner Einschätzung »sehr
glückverheißende Epoche«, in der »die Vervollkommnung der franzö-
sischen Grammatik und Literatur zum speziellen Gegenstand der
Arbeit einer Klasse des Institut [national] geworden ist«. Seine Hoff-
nung war, dass man »an den von mir vorgestellten Ideen Geschmack
findet und ihnen die Ehre erweist, sich damit zu befassen, weil ich
glaube, dass dies das geeignete Mittel wäre, die gesunde Aussprache
idéologique et sa place dans l’histoire de la grammaire philosophique. In: Histoire Épis-
témologie Langage 4.1 (1982) : Les idéologues et les sciences du langage; A. Chervel,
Les grammaires françaises 1800-1914, Paris 22000; J.-C. Chevalier, Grammaire philo-
sophique et enseignement des Écoles centrales. In: Les Idéologues. Sémiotique, philo-
sophie du langage et linguistique pendant la Révolution française. Proceedings of the
Conference, held at Berlin, October 1983. Ed. by Winfried Busse and Jürgen Trabant,
Amsterdam 1986; S. Delesalle, Grammaire générale, idéologie et grammaire française.
In: Actes du Colloque International «Idéologie – Grammaire générale – Écoles cen-
trales». 29 mars – 2 avril 2001, Château de Hohentübingen. Sous la direction d’Ilona
Pabst et Jürgen Trabant, Berlin 2008. [Projekt: Diskursformation: Die Grammaire gé-
nérale an den Écoles centrales. Corpus de la Grammaire générale dans les Écoles cen-
trales (1795-1802). Sous la direction de Jürgen Trabant]; E. Schwartz, «Idéologie» et
grammaire générale. In: Corpus n° 26/27 (1994): Destutt de Tracy et l’Idéologie; R.
Goetz, Destutt de Tracy, philosophie du langage et science de l’homme, Genève 1993;
U. Ricken, Sprache, Anthropologie, Philosophie in der französischen Aufklärung. Ein
Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Sprachtheorie und Weltanschauung, Ber-
lin 1984; U. Ricken (Hg.), Sprachtheorie und Weltanschauung in der europäischen Auf-
klärung. Zur Geschichte der Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts und ihrer europäi-
schen Rezeption nach der Französischen Revolution, Berlin 1990; B. Schlieben-Lange,
Die Französische Revolution und die Sprache. In: LiLi (Zeitschrift für Literaturwis-
senschaft und Linguistik) 41 (1981): Sprache und Literatur in der Französischen Revo-
lution; B. Schlieben-Lange et al. (Hg.), Europäische Sprachwissenschaft um 1800. Me-
thodologische und historiographische Beiträge zum Umkreis der ›idéologie‹. 4 Bde.,
Münster 1989–1994; B. Schlieben-Lange, La Grammaire Générale dans les Écoles
Centrales. In: dies., Europäische Sprachwissenschaft um 1800. Methodologische und
historiographische Beiträge zum Umkreis der ›idéologie‹, Bd. 3. Münster 1992; B.
Schlieben-Lange, Idéologie, révolution et uniformité de la langue, Liège 1996; B.
Schlieben-Lange, Idéologie: Zur Rolle von Kategorisierungen im Wissenschaftspro-
zeß. (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der
Wissenschaften 18), Heidelberg 2000; J. Traband, Der Gallische Herkules. Studien
über Sprache und Politik in Frankreich und Deutschland, Tübingen/Basel 2002.
XVIII E I N L E I T UN G D E S H ER AU SG E B E RS
und die echte Prosodie unserer Sprache zu verbreiten und zu fixieren –
etwas für die Poesie und die Eloquenz ebenso Wertvolles wie für den
Fortschritt der Aufklärung und für die Interessen der politischen
Gesellschaft; denn die ganze Geschichte des Menschen ist in der
Geschichte der Zeichen für ihre Ideen enthalten, zumal der bleibenden
Zeichen, denen sie das Depositum ihrer Gedanken anvertraut.«23
Destutt de Tracy veröffentlichte seine Grammatik, die wie die ge-
samten Grundzüge der Ideenlehre für den Unterricht in den Écoles
centrales verfasst war und eine vollständige Analyse sowohl der Dis-
kurs- und Propositionen-Elemente sowie der Syntax umfasst24, in einer
Zeit der Hochkonjunktur Allgemeiner Grammatiken25, allerdings mit
einer besonderen Ausrichtung – mit der Tendenz von der Sprach- zur
Zeichenlehre: »Ich habe nun alle Diskurselemente ausführlich Revue
passieren lassen. Dabei ging es weder darum, dem Sprechcode Regeln
vorzuschreiben, noch darum, gelehrt über die verschiedenen Verwen-
dungen zu berichten, die man mit ihnen angestellt hat: Genügend
andere haben sich mit diesen Dingen befasst. Ich wollte erforschen, was
die Zeichen für die Ideen sind und wie sie aus unseren intellektuellen
Operationen hervorgehen; denn dies, scheint mir, hat man bisher noch
nicht ausreichend getan.«26 »Beachtet, dass ich mich hier ausdrücklich
solcher sehr allgemeinen Termini wie ›Zeichen‹ und ›Sprechcode‹
23 In diesem Band S. 289. 24 Vgl. hierzu insbesondere den zweiten Teil ›La Linguistique Idéologique‹ in: R. Goetz,
Destutt de Tracy, philosophie du langage et science de l’homme, Genève 1993, S. 151 ff. 25 Vgl. u. a. A. Court de Gébelin, Histoire naturelle de la parole, ou precis de l’origine du
langage et de la grammaire universelle, Paris 1776; U. Domergue, Grammaire général
analytique, Paris 1796; ders., Mémoire sur la proposition grammaticale. In: Mémoires
de l’Institut natonal des Sciences et Arts, Littérature et Beaux Arts 1, Paris 1797/98; E.
Loneux, Grammaire générale, appliquée à la langue françoise, Liège 1799; D. Thie-
bauld, Grammaire philosophique ou la métaphysique, la logique et la grammaire réu-
nies, Paris 1802. 26 In diesem Band S. 119. Hervorh. von mir.
E I N L EI TU N G D E S H E R AU SG E B ER S XIX
bediene und nicht ›Wort‹ und ›Sprache‹ verwende, weil alles hier Ge-
sagte sich auf die gesprochenen Sprachen nicht anders anwenden lässt
als auf jedes andere Zeichensystem. Alles, was allein in der Natur und
im Gebrauch unserer intellektuellen Fähigkeiten sowie in der Ent-
stehung der sich daraus ergebenden Ideen gründet, passt in gleicher
Weise auf alle möglichen Sprechcodes.«27
Destutt de Tracy hat sich in seinem Werk auf die in seiner Zeit
maßgeblichen Grammatiken bezogen. Seine Kritik galt vor allem der
auch unter dem Namen ›Grammaire de Port Royal‹ bekannten carte-
sianischen Grammaire générale et raisonnée contenant les fondements
de l’art de parler, expliqués d’une manière claire et naturelle, die 1660
von Antoine Arnauld und Claude Lancelot veröffentlicht worden war.
Zu seinen wichtigsten Quellen wurden neben Grammatik-Artikeln in
der Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des
métiers die 1782 in Paris herausgegebene Encyclopédie Méthodique, Ou
Par Ordre De Matières: Par Une Société De Gens De Lettres, De
Savants Et D’Artistes; Précédée d’un Vocabulaire universel, servant de
Table pour tout l’Ouvrage, ornée des Portraits de MM. Diderot et
D’Alembert, premiers Éditeurs de l’Encyclopédie – insbesondere die
von Nicolas Beauzée verfassten Beiträge – und dessen Grammaire
générale ou exposition raisonnée des éléments nécessaires du langage,
Paris 1767.
Destutt de Tracys Grammatik war – sensualistisch und metaphysik-
kritisch – dem Geist der Aufklärung verpflichtet. Im Interesse des
Fortschritts allgemeiner Aufklärung setzte er seine Hoffnung auf die
Entwicklung einer Universalschrift: »Hierdurch verfügte man über ein
wahrhaft vollständiges Alphabet, eine dieses Namens wirklich würdige
Orthografie, die eine wahre und korrekte Schreibweise bedeutet, und
27 In diesem Band S. 124.
XX E I N L EI TU N G D E S H E R AU SG E B ER S
man hätte ein enzyklopädisches Dokument des gegenwärtigen Standes
des gesprochenen Wortes und von dessen getreulicher Repräsentation.
Dann könnte man auch ohne Unannehmlichkeit jede einzelne Schrift
unter dem Joch der Routine und der üblichen Verwendung fortbeste-
hen lassen, da man sich dem ja doch nicht entziehen kann. Diese Uni-
versalschrift, für die Verständnis zu erlangen sich bald jeder etwas Ge-
bildete beeilen würde, wie man sich auch algebraische oder chemische
Zeichen oder fremdsprachige Alphabete aneignet, würde zum allge-
meinen und unveränderlichen Typus, dem man alle anderen Schriften
annähern würde, und brächte unschätzbaren Nutzen, der ständig
größer würde. Verlangte man nach exakter Kenntnis der Aussprache
und der Prosodie einer fremden oder seiner eigenen Sprache? Die Uni-
versalschrift böte das genaue Abbild.«28
De Tracy appellierte »an alle, die ein wenig über unsere intellektu-
ellen Fähigkeiten nachgedacht haben: Gibt es Schändlicheres auf der
Welt als eine Ordnung der Dinge, der dazu führt, dass das erste und
längste Studium der Kindheit mit der Ausübung der Urteilskraft
unvereinbar ist? Und lässt sich die ungeheure Zahl fehlgeleiteter
Geister ermessen, die eine so unheilvolle, alle anderen überholende Ge-
wohnheit hervorbringen kann? Es ist diese letzte Überlegung, die mich
– eher noch als der Nutzen, den sie der Poesie, der Eloquenz und dem
Studium der Sprachen und ihrer Prosodie brächte – wünschen lässt,
dass diese Universalschrift, die man eine philosophische nennen kann,
geschaffen wird. Ich bin überzeugt: Die Dienste, die sie erbrächte,
würden sie bald zum Allgemeingut werden lassen, und ohne dass man
sich eigens damit befassen müsste, würden die ordinären Schriftweisen
sehr schnell nach einer Annäherung an sie streben; denn der Mensch
28 Ebd., S. 287.
E I N L EI TU N G D E S H E R AU SG E B ER S XXI
hat die natürliche Neigung, der Vernunft zu folgen, sobald er ihr
Beispiel vor Augen hat.«29
Die Idee einer Universalsprache aber lehnte de Tracy ab: Bezüglich
der Universalität allein einer Sprache war er »desillusioniert«; er habe
»zu dem Urteil kommen müssen, dass ein Mensch, der sich nicht allge-
meine Zustimmung zu einem vernünftigen und allen gebrauchten Spra-
chen gleichermaßen angemessenen Alphabet und zu einer entspre-
chenden Orthografie erhofft, sich noch weniger einbilden kann, man
werde jemals alle diese Sprachen aufgeben, um eine einzige noch so
perfekte Sprache anzunehmen. In der Tat, ich glaube fest an das, was
ich schon anderenorts gesagt habe: dass eine Universalsprache so un-
möglich ist wie das perpetuum mobile. Ich sehe sogar einen zwin-
genden Grund für diese Unmöglichkeit: Wenn nämlich alle Menschen
auf der Welt sich heute darauf einigten, dieselbe Sprache zu sprechen,
würde sie sich einfach dadurch, dass sie gebraucht wird, bald verändern
und in den verschiedenen Ländern auf tausenderlei Weise abwandeln
und ebenso viele unterschiedliche Idiome entstehen lassen, die sich
immer weiter voneinander entfernen würden. So gäbe es keine einzige
Sprache mehr, und kein beliebiger Sprechcode könnte lange Zeit
universal bleiben«.30
Dieses Veto betraf auch die seinerzeit oft gehegte Illusion, »die er-
wünschte Universalsprache sei eine gemeinsame und von allen Gelehr-
ten der verschiedenen Nationen akzeptierte Sprache, auch wenn sie nir-
gendwo verbreitet ist«. Eine »Universalsprache, ob Gelehrten- oder
Volkssprache«, müsse ein »schöner Traum« bleiben.31 Würde sie ver-
wirklicht, so bestünde »ihr unvermeidbarer Effekt« darin, die »Aufklä-
rung […] auf wenige zu konzentrieren und auf ein einziges Zentrum
29 Ebd., S. 288. 30 Ebd., S. 292. 31 Ebd., S. 293.
XXII E I N L E I TUN G D E S H ER AU SG E B E RS
zu beschränken; dies ist nur eine andere Art und Weise, der Aufklärung
extrem zu schaden«.32
Die Aufklärung, der sich Destutt de Tracy verpflichtet wusste, war
ein europäisches, ja ein zu großen Teilen eurozentrisches Projekt. De
Tracy grenzte sich – darin mit zahlreichen europäischen Protagonisten
von Aufklärungs-Ideen übereinstimmend und den ›kultivierten‹ Status
Europas wie selbstverständlich betonend – in seiner Kritik an nicht-
europäischen Sprachen von ›Wilden‹ bzw. ›wilden Völkern‹ ab, ohne
darin ein Problem zu sehen.33
De Tracy wandte sich – am Beispiel Ägyptens, Chinas und Japans –
gegen Hieroglyphen- und Symbolschriften und verteidigte die europä-
ische Alphabetschrift: »Wir werden erkennen, dass diese Unterschiede,
auf die man nicht genug geachtet hat, erstaunliche Konsequenzen
haben: Sie reichen dazu aus, über das Schicksal der Nationen zu ent-
scheiden und moralische und politische Phänomene zu erklären, über
die man sich nie angemessen Rechenschaft abgelegt hat; und wir wer-
den darüber erstaunt sein, dass eine einzige, scheinbar kaum bemer-
kenswerte kleine Tatsache derart großen Einfluss auf das Schicksal der
Menschen haben kann. Dies alles beweist, dass schon die geringsten
Beobachtungen bezüglich der Tätigkeiten unseres Geistes von größter
32 Ebd., S. 297. 33 Vgl. in der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers,
Bd. 14, Paris 1751, S. 729, die Definition im Artikel ›Sauvages, s. m. plur. (Hist. mod.)‹:
»Barbarische Völker, die ohne Gesetz, ohne Polizei [d. h. ohne eine regulierende Ord-
nungsmacht und ohne Formen sozialer Kontrolle] und ohne Religion leben und über-
haupt keinen festen Wohnsitz haben«; vgl. ebd. den Artikel ›Sauvages, (Geog. mod.)‹:
»Wilde nennt man alle indianischen Völker, die nicht dem Joch [der Gesetze] des Lan-
des unterworfen sind und abgesondert für sich leben.« Zu weiteren Belegen zu ›Wilde‹
vgl. in dieser Edition Band I, S. 210 ff., 214, 267, 302, und hier in Band II, S. 189, 205,
232, 241.
E I N L EI TU N G D E S H E R AU SG E B ER S XXIII
Wichtigkeit sind und ein helles Licht auf die Geschichte des Menschen-
geschlechts werfen.«34 Der eurozentrische Ton ist unüberhörbar: »Je-
des Volk, das eine gesprochene Sprache hat und dieses Mittel, sie in
dauerhafte Zeichen zu überführen, nicht nutzt, verurteilt sich schon
dadurch zu völliger Nutzlosigkeit. Seine Existenz ist – so lange sie auch
währen möge – ebenso steril wie die der Völker, die keine bleibenden
Zeichen kennen, und bleibt absolut Null für die Fortschritte des
menschlichen Geistes. Sie kann und muss ihnen sogar schaden, weil sie
dazu beiträgt, den Weg zum Fortschritt zu verkennen und hinsichtlich
der Mittel zu seiner Beförderung in die Irre zu führen.«35
Es sei »eine für eine Vereinigung der Menschen zur Gesellschaft
höchst wichtige Festlegung von größtem Einfluss auf ihr Schicksal, sich
für den Gebrauch der hieroglyphischen Schrift oder der Schrift im
eigentlichen Sinne zu entscheiden.«36
Hat eine Nation »die Hieroglyphen vorgezogen, dann hat sie sich
jedes Mittels begeben, ihre Kenntnisse zu mehren und auch nur die in
ihrer Reinheit zu bewahren, die sie von anderswo empfangen könnte;
sie hat damit zum Ausdruck gebracht, dass ihre Existenz, so lange sie
auch währte, für die weiteren Fortschritte des menschlichen Geistes
nahezu so ohne Nutzen wäre, wie wenn sie überhaupt keine bleiben-
den Zeichen für ihre Ideen hätte; sie hat aus ihrer Geschichte wie auch
aus der der wilden Völker eine mehr oder minder lange Lücke in der
Geschichte des Menschengeschlechts gemacht. Sie hat sich zu einem
nutzlosen Zweig dieses großen Baumes gemacht, der wohl noch einige
Blätter tragen, aber keine Früchte mehr hervorbringen kann.«37
34 In diesem Band S. 211. 35 Ebd., S. 223. 36 Ebd., S. 223 f. 37 Ebd., S. 232.
XXIV E I N L E I T UN G D E S H ER AU SG E B E RS
Deshalb müsse Europa »dem Orient die Verbesserungen zurück-
[geben], die die Griechen und ihre Nachfolger der Schrift haben ange-
deihen lassen, die sie aus diesen Weltgegenden empfangen haben.«38
38 Ebd., S. 236.
É L É M E N T S
D ’ I D É O L O G I E
SECONDE PARTIE
G R A M M A I R E
PAR M. DESTUTT COMTE DE TRACY,
Pair de France, Membre de l’Institut de France et de la Société Philosophique de Philadelphie.
DEUXIEME ÉDITION
PARIS,
MME VE COURCIER, IMPRIMEUR-LIBRAIRE,
rue du Jardinet, no 12, quartier Saint-André-des-Arcs.
1817.
Vorrede zur Ausgabe von 1803 |V|
Als ich vor etwa zwei Jahren den ersten Teil meiner Arbeit veröffent-
lichte, der vom Ursprung und der Bildung unserer Ideen handelt, den
man also die Ideenlehre im eigentlichen Sinne nennen kannA1, glaubte
ich dem Werk als Ganzes den Titel Projet d’Éléments d’Idéologie, à
l’usage des écoles centrales de la république françaiseA2 geben zu sollen.
Das ist in der Tat die Bezeichnung, die zu ihm passte, denn sie bringt
das Ziel zum Ausdruck, das ich mir bei seiner Abfassung stellte, und
die Art des Nutzens, den ich mir von ihm erhoffte. Da indessen be-
stimmten Leuten das Wort ›Projekt‹ missfiel, habe ich mich dafür ent-
schieden, es wegzulassen und mich mit dem vielleicht zu anspruchsvol-
len Titel Éléments d’Idéologie zu begnügen. Ansonsten ist aber diese
Veränderung von sehr geringer Bedeutung, |VI| und ich bringe sie dem
Leser nur zur Kenntnis, damit er durch diese doppelte Bezeichnung
nicht in die Irre geführt wird und glaubt, es handele sich da um zwei
verschiedene Werke.
Viel mehr aber bedauere ich, nicht mehr sagen zu können als dass
diese Grundlagen zum Gebrauche in den ZentralschulenA3 bestimmt
A1 In dieser Edition Band I. A2 Projekt der Grundzüge einer Ideenlehre zum Gebrauch in den Zentralschulen der
französischen Republik. A3 Die in drei Zweijahres-Sektionen für Schüler ab dem 12. Lebensjahr gegliederten Éco-
les centrales (1. Zeichnen, Naturgeschichte, alte Sprachen; 2. Mathematik, Experimen-
talphysik bzw. -chemie; 3. Grammatik, schöne Literatur, Geschichte und Gesetzge-
bung) wurden mit Dekret vom 25. Februar 1795 anstelle der Collèges des Ancien ré-
gime mit dem Ziel wissenschaftlicher Bildung durch öffentlich bestallte Lehrer – da-
runter für Experimentalphysik und Chemie – eingerichtet. Bereits 1797 gab es in
Frankreich ca. 100 derartige Schulen.
2 V O R R E D E Z U R AU SG AB E V O N 1803
sind. Die Wissenschaft, die sie behandeln, ist nichts anderes als die ge-
sunde Logik; und ich bekenne freimütig, dass es mich sehr ärgert, dass
sie nicht mehr zum öffentlichen Unterricht in Frankreich gehört. Es
scheint mir unglücklich zu sein, dass die Logik, die geradezu im Über-
maß in den Schulen gelehrt worden und zu nichts nutze war, als das
Urteil zu trüben, nun ganz aus ihnen verbannt worden ist, seitdem sie
wirklich die Kunst geworden ist, den Geist auf der Suche nach der
Wahrheit zu leiten; sie kann Licht in alle anderen Wissenschaften
bringen, indem sie denen, die sie pflegen, die Entstehung der Ideen
aufzeigt, mit denen sie sich beschäftigen, und den Wert der Zeichen,
mit deren Hilfe sie |VII| diese Ideen miteinander verbinden, sowie die
Art und Weise, wie sie sich der Richtigkeit der einen wie der anderen
versichern können.
Ich habe noch einen zweiten Grund, mich wegen dieser Neuerung
zu grämen. Mein erster Band war kaum erschienen, als schon einige
bedeutende Professoren ihm die Ehre erwiesen, ihn zum Text in ihrem
Unterricht zu machen. Eine große Zahl weitsichtiger junger Menschen
erkor ihn zum Gegenstand ihrer Studien. Ich erhielt von allen Seiten
interessante Beobachtungen, und alle zeigten mir, dass die von mir
aufgeworfenen Fragen Gegenstand vertiefter Diskussionen waren und
die von mir gebotenen Antworten immer wieder Zustimmung oder
Modifizierungen seitens einer aufgeklärten und nahezu einmütigen
öffentlichen Meinung erhielten. Die Theorie der Zeichen, die ich heute
dem Urteil des Publikums unterbreite, hätte sich der gleichen Gunst
erfreut; ihre Prinzipien wären in ganz kurzer Zeit geprüft, erläutert und
anerkannt worden, und mein dritter |VIII| Teil [die Logik] hätte sich
als schon ganz fertig und auf unerschütterlichen Fundamenten gegrün-
det erwiesen. Um ihn zu redigieren, hätte ich mich nur zum Sekretär
aller aufgeklärten Menschen dieser Zeit zu machen brauchen, falls ich
V O R R E D E Z U R A U S G A B E V O N 1803 3
nicht das Glück gehabt hätte, dass mir bei dieser so leichten wie ange-
nehmen Arbeit ein Geschickterer zuvorgekommen wäre, der ihr so-
gleich einen höheren Grad an Vollkommenheit verliehen hätte; dies
wäre die Erfüllung aller meiner Wünsche gewesen.
Dieser Hoffnung bin ich beraubt, und ich lasse sie mit Kummer fah-
ren. Ich kann zwar nicht mehr mit der Hilfe des öffentlichen Unter-
richts rechnenA1, doch ich schmeichle mir, dass diese nützlichen Über-
legungen nicht ganz verloren sein werden. Alle Wissenschaften machen
gegenwärtig rasche Fortschritte; im Allgemeinen werden sie mit dem
A1 Im Vorwort aus dem Jahre 1801 zum ersten Band der Éléments d’idéologie hatte
Destutt de Tracy geschrieben: »Ich sah, dass die Verfasser des Gesetzes vom 3. Brum-
aire des Jahres IV, die Frankreich nach einer Verfassung ein öffentliches Bildungswe-
sen gegeben haben, in jeder École centrale einen Lehrstuhl für allgemeine Grammatik
eingerichtet hatten: So verstand ich, dass sie gespürt hatten, dass alle Sprachen gemein-
same Regeln besitzen, die der Natur unserer intellektuellen Fähigkeiten entspringen
und aus denen sich die Prinzipien des vernünftigen Denkens herleiten; ich verstand,
dass sie dachten, man müsse diese Regeln unter dem dreifachen Bezug auf die Bildung,
den Ausdruck und die Deduktion der Ideen ins Auge gefasst haben, um den Weg der
menschlichen Intelligenz wirklich zu kennen, und dass diese Kenntnis nicht nur für
das Studium der Sprachen notwendig ist, sondern darüber hinaus die einzige solide
Basis der moralischen und politischen Wissenschaften, von denen sie zu Recht wollten,
dass alle Bürger davon gesunde, wenn nicht gar tiefergehende Vorstellungen haben
sollten. Ich verstand, dass es folglich ihre Absicht war, unter der Bezeichnung ›Allge-
meine Grammatik‹ in Wirklichkeit einen Kursus in Ideenlehre, Grammatik und Logik
anzubieten, der mittels der Lehre der Sprachphilosophie als Einführung in den Kurs
über individuelle und öffentliche Moral dienen sollte. Aber das Gesetz konnte und
wollte nicht auf diese Einzelheiten eingehen. Die Durchführungsbestimmungen waren
in keiner Weise ausgearbeitet, und ich glaubte, die wenigsten Bürger wussten, was ihre
Kinder da lernen sollten, ja selbst viele Professoren sich keine umfassende Vorstellung
von dem Unterricht machten, den man von ihrem Engagement erwartete.« (Band I
dieser Edition, S. 10 f.) Mit Gesetz vom 1. Mai 1802 wurden die Écoles centrales auf-
gehoben; man hatte ihnen nicht nur eine unzureichende Organisation des ersten Zwei-
jahresabschnitts, sondern auch den Mangel an moralischer und religiöser Bildung so-
wie zu große Freiheiten für die Schüler zur Last gelegt. Die ›Klasse der moralischen
und politischen Wissenschaften‹ wurde im Januar 1803 unter Napoléon aufgelöst; die
Grammaire wurde von der Idéologie abgetrennt.