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Dr. Albrecht Plewnia ∙ IDS Mannheim
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Der vorliegende Text ist die Schriftfassung eines Vortrags auf der Jahrestagung der Gesellschaft Katholischer Publizisten in Mainz am 20. März 2015.
Deutsche Sprache im 21. Jahrhundert
Inhalt 1. Standortbestimmung: Die Themen ...................................................................................................... 1
2. Der Zustand des Deutschen: Variation und Wandel ..................................................................... 4
2.1. Deutsch als Varietätengefüge ........................................................................................................ 4
2.2. Anglizismen .......................................................................................................................................... 6
3. Der Status des Deutschen: Koexistenzen und Konkurrenzen ................................................... 9
3.1. Weltgeltung des Deutschen ............................................................................................................ 9
3.2. Deutsch als Wissenschaftssprache ........................................................................................... 12
3.3. Deutsch in den Institutionen der EU ........................................................................................ 18
4. Zusammenfassung ................................................................................................................................... 21
5. Literatur ...................................................................................................................................................... 21
1. Standortbestimmung: Die Themen
Wie steht es um die deutsche Sprache im 21. Jahrhundert? Vor nicht ganz zwei Jahren,
am 27. Juni 2013, hat der Deutsche Bundestag einen gemeinsamen Entschließungsan-
trag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP verabschiedet, einen Antrag mit dem Titel
„Deutsche Sprache fördern und sichern“, nachzulesen in der Bundesdrucksache
17/14114. Die Abstimmung fand spätnachts als Zusatzpunkt 18 der Tagesordnung statt,
die zugehörigen Reden wurden lediglich zu Protokoll gegeben. Drei Dinge sind hier be-
merkenswert: zum einen, dass der Verabschiedung dieses Antrags keinerlei öffentliche
Debatte vorausging; zweitens dass der Antrag auch im parlamentarischen Prozess of-
fenbar nicht sehr prominent behandelt wurde; und schließlich, dass er praktisch folgen-
los geblieben ist. Im Folgenden soll kurz skizziert werden, wovon dieser Antrag handelt.
Der Text umfasst sechs Seiten und besteht aus drei Abschnitten. Im ersten Teil, auf den
ersten drei Seiten, stellt der Bundestag etwas fest; im zweiten Teil, auf etwas mehr als
einer Seite, folgt eine Liste von neun unnummerierten Einzelpunkten, die der Bundestag
begrüßt; und der dritte Teil schließlich, gut zwei Seiten, umfasst eine Liste von siebzehn
einzeln nummerierten Handlungsaufforderungen an die Bundesregierung.
Der erste Absatz des Textes lautet wie folgt:
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„Sprachen sind Mittel kultureller Selbstvergewisserung, auch über nationale
Grenzen hinweg. Jede Sprache ist Trägerin eines kulturellen Gedächtnisses und
einer besonderen Ausdrucksfähigkeit. Es ist die kulturelle Bedeutung unserer
Sprache, die sie so wertvoll und schützenswert macht.“
Es folgen Bemerkungen zur Sprache als Identitätsträger, es wird die „Vielfalt und
Schönheit“ des Deutschen gelobt und die „großen und traditionsreichen Werke der
deutschsprachigen Literatur“ gefeiert, auch die Formel vom „Land der Dichter und Den-
ker“ fehlt nicht. Es wird betont, dass das Deutsche eine alte Sprache sei und einen „be-
sonders“ großen Wortschatz habe – offenbar ist das gut, wenn man viele Wörter hat,
also: mehr als die anderen –; und es heißt dort: „Die Gemeinsamkeit der Sprache ist auch
eine Grundlage unseres Nationalstaats.“ Die gemeinsame Sprache definiert die Nation:
eigentlich ist eine Gedankenfigur des 19. Jahrhunderts. – Aber auch eine andere Dimen-
sion wird genannt. „Sprache“, so heißt es dort, sei „notwendig, um die demokratische
Willensbildung zu organisieren und zu artikulieren.“ Und weiter: „Die Beherrschung
einer Sprache ist auch die Voraussetzung dafür, an gesellschaftlichen, politischen und
kulturellen Entwicklungen teilhaben und auf sie einwirken zu können.“ Es folgen, eini-
germaßen ungeordnet, Bemerkungen zu Sprecherzahlen verschiedener Sprachen, zur
Wirtschaftskraft der „deutschen Sprachgemeinschaft“, zur Mehrsprachigkeit in der EU
und zur Rolle des Deutschen in den europäischen Institutionen, schließlich noch zu
Deutsch als Wissenschaftssprache und, sehr ausführlich, zur deutschsprachigen Litera-
turproduktion und Literaturförderung.
Soweit die vom Bundestag beschlossene Zustandsbeschreibung. Von den dann folgen-
den neun Punkten, die der Bundestag „begrüßt“, handeln fünf von der Literaturförde-
rung (etwa dass P.E.N.-Zentrum Deutschland einen Bundeszuschuss erhält oder dass die
„Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften“ jährlich vom Beauftragten für Kultur
und Medien finanziell unterstützt wird) und vier von der Förderung des Sprachunter-
richts im Rahmen der Auswärtigen Kulturpolitik, vom allem durch die Goethe-Institute
und den DAAD).
Im dritten Abschnitt folgen nun siebzehn Forderungen an die Bundesregierung, die sich
allerdings nicht sehr harmonisch aus dem bisherigen Text ergeben. Es ist eine ziemlich
ungeordnete Liste, und die einzelnen Punkte haben unterschiedliche Bezugsbereiche
und sind von sehr unterschiedlicher Granularität. Die Bundesregierung wird also aufge-
fordert – die ersten drei Punkte –:
„1. in Abstimmung mit den Ländern verbindliche bundesweit vergleichbare
Sprachstandtests für alle Kinder im Alter von vier Jahren einzuführen und – bei
Bedarf verpflichtende – gezielte Sprachprogramme vor der Schule sowie solche,
die unterrichtsbegleitend während der Schulzeit angeboten werden, anzubieten.
[…]“
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Außerdem sind, zweitens,
„2. Initiativen zur Förderung der deutschen Sprache vor allem im Bereich der In-
tegration von Migrantinnen und Migranten stärker zu fördern;“
Im bisherigen Text kamen die Migranten nicht vor, oder allenfalls indirekt, nämlich ne-
gativ, indem die Einheit der Nation als Sprachnation beschworen wurde; hier sind sie
nun.
Die dritte Forderung lautet:
„3. in der eigenen Kommunikation die Worte sorgfältig zu wägen, auf Verständ-
lichkeit zu achten und unnötige Anglizismen zu vermeiden. […]“
Seine Worte sorgfältig zu wägen und auf Verständlichkeit zu achten, das ist immer eine
gute Idee – allenfalls kann man sich fragen, warum der Bundestag meint, die Bundesre-
gierung dazu mahnen zu müssen. Über die „unnötigen Anglizismen“ wird zu reden sein.
Nur rasch die restlichen Forderungen: Punkt 4 geht in eine ähnliche Richtung; dort heißt
es, Beschilderungen, Leitsysteme und Beschriftungen in öffentlichen Gebäuden sollten
auf Deutsch abgefasst sein. Die Forderungen 5, 9, 11, 13, 14, 15 befassen sich in der ei-
nen oder anderen Weise mit Deutsch als Wissenschaftssprache; in den Punkten 6, 7, 16
und 17 geht es um Rolle des Deutschen in der Europäischen Union; die Punkte 8 und 10
betreffen die Förderung des Deutschen als Fremdsprache; Nummer 12 schließlich for-
dert eine sprachpolitische Kooperation „mit anderen deutschsprachigen Ländern bzw.
Regionen“.
Soweit dieser vom Bundestag beschlossen Antrag. Was sind also offenbar (jedenfalls für
die Legislative) die relevanten Gegenwarts- und Zukunftsfragen in Bezug auf die deut-
sche Sprache? Die behandelten Themen lassen sich grob zwei Bereichen zuordnen: Das
ist zum einen der Blick nach innen, die sprachliche und kulturelle Selbstvergewisserung.
Hierher gehört das ausführliche Bekenntnis zur Sprachnation im ersten Abschnitt; au-
ßerdem die nachdrückliche Betonung der Bedeutung des Deutschen als großer Litera-
tursprache (als Sprache großer Literatur); und drittens – im Text nicht gut motiviert,
aber prominent platziert – die Frage der Integrität der deutschen Sprache angesichts
äußerer, fremder Kultureinflüsse, kurz: das Anglizismenproblem. Der zweite Bereich
wendet den Blick sozusagen nach außen; hier geht es um die Stellung des Deutschen in
der Welt, und zwar als Lernersprache, als Sprache der Wissenschaft und, auf dem Felde
der Politik, als Sprache in den Gremien der Europäischen Union.
Interessant ist auch, was nicht vorkommt. Nicht bedient wird beispielsweise der Topos
vom Sprachverfall, weder derjenige vom allgemeinen, Sprach-, Bildungs- und Kulturver-
fall, noch der von der Verwahrlosung der Jugendsprache im allgemeinen sowie unter
dem Einfluss sich ändernder medialer Gewohnheiten (wie SMS, Twitter, WhatsApp) im
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besonderen. Auch nicht geklagt wird über die Sprache der Werbung. Und es fehlt der
Hinweis auf das Aussterben der Dialekte. Das alles würde in den ersten Bereich gehören.
Im zweiten Bereich hätte man noch Überlegungen in Bezug auf Mehrsprachigkeit erwar-
ten können; Migranten kommen im Text zwar vor, aber nur als Personen mit defizitärer
Kompetenz im Deutschen. Und die autochthonen Minderheitensprachen in Deutschland
– Friesisch, Sorbisch, Niederdeutsch, Romani – finden gar keine Erwähnung.
Um Literatur soll es im Folgenden nicht gehen, und um die Sprachnation auch nicht. Be-
gonnen werden soll mit einigen kurzen Bemerkungen zu dem Themenkomplex
„Sprachwandel und Varietäten“; ansonsten gilt die Aufmerksamkeit in diesem ersten
Bereich der Frage der Anglizismen. Im zweiten Bereich soll es um das Thema „Deutsch
als Wissenschaftssprache“ und um das Thema „Deutsch in der EU“ gehen.
2. Der Zustand des Deutschen: Variation und Wandel
2.1. Deutsch als Varietätengefüge
Sprache ist – darauf weist der Bundestagsantrag zurecht hin – ein zentraler Identitäts-
träger; Sprachdiskurse verhandeln also auch Identitätsfragen. Dabei sind Sprachdiskur-
se überwiegend Negativdiskurse. Die Annahme, dass es so etwas wie einen Verfall der
Sprache gebe, ist vermutlich so alt wie das Nachdenken über Sprache selbst. Dass Spra-
che sich wandelt, ist eine anthropologische Grundtatsache; dabei ist es ein gut einge-
führter Topos, dass dieser Wandel tendenziell als Verfall gelesen wird. Um nur ein (eini-
germaßen beliebig gewähltes) Beispiel zu zitieren: In seinem Rhetorik-Buch „Brutus“
vergleicht Marcus Tullius Cicero die sprachliche Kompetenz seiner Zeitgenossen mit
derjenigen früherer Generationen und kommt zu dem Urteil:
„aetatis illius ista fuit laus tamquam innocentiae sic Latine loquendi […], sed
omnes tum fere, qui nec extra urbem hanc vixerant neque eos aliqua barbaries
domestica infuscaverat, recte loquebantur. sed hanc certe rem deteriorem
vetustas fecit et Romae et in Graecia.“ (Cic., Brut. 258)1
Wandel wird tendenziell als Bedrohung und als Verlust wahrgenommen. Dabei steht
diese Klage über einen allgemeinen Sprachverfall in einer erkennbaren gedanklichen
Nähe zu derjenigen über den Verfall der Sitten und der Kultur überhaupt speziell der
jeweils nachfolgenden Generation. Das ist natürlich ein problematisches Argument,
denn diejenigen, die am lautesten einen fortwährenden Sprach- und Bildungs- und Kul-
1 „[J]ene Zeit besaß den Vorzug ebenso der sittlichen Reinheit wie auch der Reinheit in der lateinischen Sprache. […] Aber es pflegten doch dazumal fast alle richtig zu reden, soweit sie nicht außerhalb dieser Stadt lebten beziehungsweise unter einem schlechten familiären Einfluß litten. Doch hat in dieser Hinsicht der Gang der Zeit verschlechternden Einfluß gehabt, zu Rom sowohl wie auch in Griechenland.“ (Übers. von Bernhard Kytzler; Cicero 1990, S. 195-197)
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turverfall beklagen, sind ja, in dieser Logik, selber nur das vorletzte Glied einer langen
Kette des Niedergangs.
Es gibt in diesem Sprachverfallsdiskurs verschiedene Teildiskurse: da ist zum einen die
Klage – oder neutraler formuliert: die Reflexion – über grammatischen Wandel (etwa
über den langfristigen Umbau der deutschen Verbalflexion seit dem Althochdeutschen
oder den Umbau des deutschen Kasussystems, der dem Genitiv eine andere Funktion
zuweist, indem er ihn vom Objektkasus zum Attributanzeiger macht). Oft allerdings geht
es weniger um den Versuch, Variation und Wandel zu verstehen, sondern mehr darum,
kodifizierte Normen zu sanktuieren – was auch legitim ist. Hierher gehören neben fal-
schen Genitiven auch absurde Apostrophe und diverse orthographische Abenteuerlich-
keiten, die die freie Welt so bietet.
Es gibt zweitens die Kritik an bestimmten Varietäten des Deutschen. Die Sprache ist kein
homogenes Gebilde, sondern sie ist ein komplexes Gefüge aus verschiedenen Teilsyste-
men, die sich teilweise (und zwar systematisch sogar zum größten Teil) überlappen,
aber die natürlich auch divergieren. Alle sozialen Gruppen brauchen Marker zur identi-
tären Absicherung, nach außen wie nach innen. Dass beispielsweise Jugendliche ein in
mancher Hinsicht anderes Sprachverhalten haben als Erwachsene, ist sozial zwangsläu-
fig, ebenso zwangsläufig wie die Kritik daran. Würde die Jugendsprache von Erwachse-
nen nicht kritisiert, dann würde sie ihre soziale Funktion nicht erfüllen. Entsprechendes
gilt für bestimmte sprachliche Register, Funktionalstile usw.: die Sprache der Werbe-
branche, die Sprache der Zeitungsleute, die Sprache des Fernsehens: überall ist die
Sprache auch ein Differenzinstrument. Es ist kommunikativ sehr nützlich, dass man
Werbetexte relativ leicht als solche identifizieren kann. (Kritisieren kann man sie natür-
lich trotzdem.)
Ein dritter Diskursbereich, bei dem die identitäre Funktion von Sprache besonders
sichtbar wird, ist derjenige über regionale Variation. Der Dialekt ist die Nähesprache,
üblicherweise die Varietät der Primärsozialisation, und es ist klar, dass Dialektdiskurse
daher mit hoher Emotionalität behaftet sind. Meist geht es um die Sorge vor dem Aus-
sterben der Dialekte. Dazu in aller Kürze: ja, in weiten Teilen des deutschen Sprach-
raums sterben die alten, kleinräumigen Ortsdialekte aus. In großen Gebieten des ehe-
mals niederdeutschen Sprachraums ist dieser Prozess bereits abgeschlossen. Aber, nein:
das ist mitnichten das Ende von regionaler Variation. Tatsächlich erleben wir Umgrup-
pierungen in der Dialektlandschaft zu größeren Räumen, Regionalakzenten, die teilwei-
se sogar ausgebaut werden und die Distanz zum Standard noch vergrößern. Die soziale
Funktion regionaler Erkennbarkeit bleibt erhalten, nur eben nicht mehr auf Dorfebene,
sondern in größeren Bezügen.
Der vierte Bereich schließlich betrifft einen durch Einflüsse von außen induzierten
sprachlichen Wandel: fremde Wörter, Anglizismen.
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2.2. Anglizismen
Es gibt in der öffentlichen Fremdwortdiskussion bestimmte Muster, die sich persistent
durch den Diskurs ziehen. Ein Beispiel bietet der folgende kurze Textausschnitt, in dem
die Anglisierung Deutschlands kritisiert und lächerlich gemacht wird:
„In Berlin spricht man gegenwärtig so viel Englisch, daß der Vorwurf, Berlin sei
eine Stadt Englands, gar nicht unberechtigt ist. Natürlich sind es nicht reisende
Engländer, die hier in Rede stehen, sondern gut deutsche, Berliner Bürger … Be-
tritt man heute ein neues Haus, um etwa eine Wohnung zu besichtigen, so wird
man, da der neuzeitliche Mensch nicht mehr Treppen steigt, mit einem Aufzug
oder Fahrstuhl hinaufbefördert. Dieser Fahrstuhl heißt in Berlin ›Lift‹, und der ihn
bedienende Pförtner oder Fahrstuhljunge trägt stolz den Aufdruck ›Liftboy‹ an der
Mütze. Echt deutsch … In diesen Wohnungen finden wir jetzt außer dem Bratofen,
auf dem die deutsche Hausfrau bisher den Gänsebraten oder die Apfelspeise her-
stellte, einen ›Grill‹. Denn der echte Berliner, der in diese Wohnung zieht, ißt zum
Frühstück beileibe nicht mehr ein Eisbein oder ein Stück Rindfleisch, sondern ein
Beefsteak, ein Rumpsteak, ein Kalbsteak oder sonst ein Steak, und das würde ihm
nicht schmecken, wenn es nicht auf dem Grill und womöglich in dem besonderen
Grillroom zubereitet worden wäre. Der gute deutsche Mann ißt zudem schon lan-
ge keinen Kuchen mehr, sondern behilft sich mit Cakes und statt der gerösteten
Brotschnitte nimmt er zum Kaviar Toast, statt der Butterstullen Sandwiches.“
(Dunger 1909, S.4, zit. n. Spitzmüller 2008, S. 66)
Es handelt sich um einen Text aus dem Jahre 1909 von Hermann Dunger mit dem Titel
„Engländerei in der deutschen Sprache“; Hermann Dunger war eine prominente Figur
im Purismus-Diskurs um die vorletzte Jahrhundertwende. Dieser Text ist ziemlich ty-
pisch für eine bestimmte Form von Fremdwortkritik, die auch in der Gegenwart sehr
geläufig ist; Stil und Argumentation haben sich nicht wesentlich geändert. Die wichtigs-
ten Argumente der Anglizismenkritiker lassen sich wie folgt zusammenfassen (nach
Spitzmüller 2008):
1. Die Sprecher verwendeten Anglizismen nur, um sich in besonderer Weise zu pro-
filieren, aus Imponiergehabe, oder, wie Hermann Dunger es formuliert: „eitles
Prunken mit Sprachkenntnissen“ (Dunger 1899, Sp. 250).
2. Der Gebrauch von Anglizismen schaffe Verständnisbarrieren; Sprecher, die des
Englischen unkundig seien, würden ausgegrenzt.
3. Überhaupt sei der bereitwillige Gebrauch fremder Wörter Zeichen von fehlender
Sprachloyalität und damit Ausdruck einer gestörten Nationalidentität.
Die Argumente, die wiederum von Purismuskritikern typischerweise angeführt werden,
lauten, etwas kondensiert, wie folgt:
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1. Sprachkontakt und Entlehnungen habe es schon immer gegeben: Latein, Franzö-
sisch, jetzt Englisch; das sei nicht bedenklich.
2. Anglizismen stellten eine semantische Bereicherung dar.
3. Purismus sei nationalistisch.
Auf den jeweils letzten Punkt, die Frage von Sprache und Nation, soll hier nicht weiter
eingegangen werden; es dürfte jedoch auf der Hand liegen, dass es nicht primär sprach-
liche Fragen sind, die in diesem Teildiskurs verhandelt werden.
Interessant ist hier etwas anderes, und zwar die diesen Argumentationen zugrundelie-
genden Sprachkonzepte. Offensichtlich folgen sowohl Anglizismenkritiker als auch Pu-
rismuskritiker demselben laienlinguistischen Konzept von Sprache. Kurz gesagt liegen
diesem Konzept die folgenden Annahmen zugrunde (vgl. Spitzmüller 2008, S. 70-72):
1. Sprache ist dazu da, um Dinge zu benennen. Aus dieser Annahme speist sich der
Streit, welche Anglizismen „überflüssig“ seien. Dingen, die schon Wörter haben,
(so die Logik) müssen keine neuen Wörter zugewiesen werden.
2. Sprachen sind klar strukturiert, es gibt eindeutige Regeln, es gibt richtig und
falsch. Und
3. Sprachen sind homogene, klar definierte Gebilde mit eindeutigen Grenzen. In die-
sem Sinne sind eben englische Wörter Teil der englischen und nicht Teil der
deutschen Sprache.
Dieses Konzept ist in der europäischen Geistesgeschichte ziemlich populär, man findet
es ziemlich prominent ausgearbeitet schon bei Johann Gottfried Herder. Leider ist daran
so ziemlich alles falsch. Natürlich ist Sprache dazu da, um Dinge zu benennen. Aber das
ist bei weitem nicht alles. Sie ist auch ganz wesentlich ein Instrument zur sozialen Posi-
tionierung, und oft ist diese soziale Funktion sogar bedeutsamer als die Darstellungs-
und Benennungsfunktion. „Bike“ und „Fahrrad“ sind zwar auf der Ebene des Denotats,
das heißt hinsichtlich des benannten Objekts identisch (wobei auch das nicht mal ganz
stimmt, denn eigentlich bezeichnet „Bike“ nur eine Teilmenge“ von „Fahrrad“). Sie haben
aber eine ganz unterschiedliche sozialsymbolische Aufladung, die vom Sprecher genutzt
werden kann – und die natürlich auch soziale Kosten in Form von Kritik produzieren
kann. Nur muss der Sprecher dazu natürlich eine Auswahl haben. Variation (mit teils
nur sehr subtilen Differenzierungen) ist also der Normalfall. In diesem Sinne ist die
Formel von den „überflüssigen Anglizismen“ zumindest aus soziolinguistischer Sicht
nicht sinnvoll. Kein Sprachzeichen ist überflüssig. Das bedeutet auch, dass der Vorwurf
vom Imponiergehabe natürlich zutrifft – aber eben nicht trifft: natürlich kann man Ang-
lizismen (Gallizismen, Latinismen) als Angeberei abtun. Aber das trifft niemals die Spra-
che, sondern nur den Sprecher. Es ist keine sprachliche Frage, sondern eine kulturelle
Frage.
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Ein letztes noch, das Abgrenzungsargument: Anglizismen sind keine englischen Wörter,
sie sind Teil des Deutschen. Sie folgen spezifischen phonologischen, orthographischen
und morphologischen Regeln, die das Deutsche für diesen Wortschatzbereich bereit-
stellt, sie haben Bedeutungen und unterliegen Verwendungsbedingungen, und weil sie
Wörter des Deutschen sind, haben ihre Bedeutung und ihre Verwendungsbedingungen
nur zufällig etwas mit ihren englischen Pendants zu tun. Die Frage, was „Public viewing“
oder „flat“ denn „in Wirklichkeit“ heiße, ist falsch gestellt. Der Hinweis, „handy“ heiße
aber auf Englisch etwas anderes, geht an der Sache vorbei. Die Beherrschung des Engli-
schen ist für die angemessene Verwendung von Anglizismen nicht nur nicht erforder-
lich, sondern, wegen der semantischen Differenzen, manchmal sogar störend, genauso
wie das analog bei den deutschen Wörtern im französischen oder lateinischen Gewande
der Fall ist.
Vor anderthalb Jahren ist ein Band erschienen mit dem Titel „Reichtum und Armut der
deutschen Sprache“ mit dem Untertitel „Erster Bericht zur Lage der deutschen Sprache“.
Es handelt sich um das Ergebnis eines Projekts der Deutschen Akademie für Sprache
und Dichtung und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, für das auf
der Grundlage eines eigens zusammengestellten Korpus die deutsche Schriftsprache um
1900, um 1950 und um 2000 untersucht wurde. In diesem Band hat Peter Eisenberg
einen Beitrag zu Anglizismen verfasst. er stellt fest, dass sich die Zahl der Anglizismen in
den letzten hundert Jahren mehr als verzehnfacht hat. Allerdings weisen sie eine hohe
interne Strukturiertheit auf, und vor allem
„stehen [sie] unter erheblichem Integrationsdruck der Kerngrammatik. Anders
als bei den Latinismen, deren Wortgrammatik viele dem Kern fremde Eigenschaf-
ten hervorgebracht und konserviert hat, ist der strukturelle Einfluss der Angli-
zismen marginal“ (Eisenberg 2013, S. 115).
Etwas plakativ formuliert: Von den Anglizismen, auch wenn es viele sind, droht dem
Deutschen keine Gefahr. Die grammatische Struktur ist stabil, und die Anglizismen fügen
sich auf eine spezifische Weise ins System des Deutschen ein. Eisenberg resümiert wie
folgt:
„Eine Anglizismenkritik ist aus unserer Sicht gerechtfertigt, soweit sie sich auf
den Gebrauch und die Generierung solcher Wörter für unakzeptable Zwecke be-
zieht. Auch in dieser Hinsicht stellen Anglizismen aber keinen Sonderfall dar,
denn Wörter fast jeder Art werden auf diese Weise missbraucht. Allerdings legt
der Zeitgeist einen Missbrauch von Anglizismen besonders nahe, etwa wo einem
prätentiösen Globalismus gehuldigt wird oder wo Texte gezielt unverständlich
gemacht werden. Jede Kritik dieser Art wendet sich an die Sprecher, nicht jedoch
an die Sprache, schon gar nicht an die deutsche. Untergangsszenarien für und Ab-
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gesänge auf das Deutsche sind nicht nur fehl am Platz, sondern sie untergraben
die Loyalität der Sprecher zu ihrer Sprache. Wenn sie überhaupt Wirkung entfal-
ten, dann ausschließlich negative. Das sollte sich jeder vor Augen führen, der sich
sprachkritisch über Anglizismen äußert.“ (Eisenberg 2013, S. 115)
Soweit Peter Eisenberg und so viel zu den Anglizismen.
3. Der Status des Deutschen: Koexistenzen und Konkurrenzen
Diese Dinge betreffen das Deutsche sozusagen von innen; es betrifft die Frage, wie die
Sprecher mit der Mehrgestaltigkeit ihrer Sprache und mit deren Ungleichzeitigkeiten
umgehen; es ist dies letztlich ein sprachinterner – oder genauer: sprachgemeinschaftsin-
terner – Aushandlungsprozess von Normen auf den verschiedensten Ebenen – aber eben
ohne die Beteiligung Dritter. Wie aber sieht es aus, wenn man die Perspektive wechselt
und diese Dritten mit in den Blick nimmt? In welchem Verhältnis steht das Deutsche im
21. Jahrhundert zu anderen Sprachen bzw. Sprachgemeinschaften? Auch hier muss eine
Auswahl getroffen werden; es soll um zwei Themen gehen, nämlich erstens die Rolle des
Deutschen als internationale Wissenschaftssprache und zweitens die Frage der Präsenz
der deutschen Sprache in den politischen Institutionen der Europäischen Union. Zu-
nächst jedoch einige Bemerkungen zum Status des Deutschen im Weltsprachenkonzert.
3.1. Weltgeltung des Deutschen
Es gibt ungefähr 6.000 bis 7.000 Sprachen auf der Welt (von denen übrigens in hundert
Jahren bestimmt die Hälfte ausgestorben sein dürfte – ein Schicksal, das natürlich in ers-
ter Linie den nicht oder nur wenig literarisierten Sprachen droht; das Deutsche ist da-
von sicher nicht betroffen). Was macht eine Sprache zu einer wichtigen Sprache? Ein
naheliegendes Kriterium ist die Zahl der Sprecher. In der Tat sind Sprecherzahlen (und
damit Reichweiten) der einzelnen Sprachen höchst unterschiedlich: Es gibt sehr viele
Sprachen mit sehr wenigen Sprechern und sehr wenige Sprachen, die sehr viele Spre-
cher haben. Zu den Sprachen mit vielen Sprechern gehört – nach wie vor – auch das
Deutsche. Je nach, dem welche Quellen man befragt, bekommt man leicht unterschiedli-
che Zahlen; es kommt hier aber nur auf die ungefähren Größenordnungen an, und da
liegt das Deutsche meistens so um Platz zehn (vgl. Abb. 1 bzw. Tabelle 1 auf der folgen-
den Seite). Die meisten Sprecher weltweit hat das Englische, wobei man in der Graphik
auch einen weiteren Gesichtspunkt sehen kann. Wichtig ist nämlich nicht nur die absolu-
te Gesamtzahl der Sprecher, sondern auch, ob es sich (nur oder vor allem) um eine Erst-
sprache handelt oder auch um eine Lernersprache. Man sieht, dass die Zahl derjenigen,
die Englisch als Zweit- oder weitere Fremdsprache erworben haben, erheblich höher ist
als die Zahl derjenigen, die Englisch als Muttersprache sprechen. In dieser Hinsicht un-
terscheidet es sich fundamental vom Mandarin-Chinesischen, das hier auf Platz zwei
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steht (vermutlich muss man die Sprecherzahl noch nach oben korrigieren): hier sind die
Sprecher zum weit überwiegenden Teil Muttersprachler.
Abbildung 1: Sprecherzahlen (gesamt)
Muttersprache Insgesamt
Englisch 375 1500
Mandarin 982 1100
Hindi 450 650
Spanisch 330 420
Französisch 79 370
Arabisch 206 300
Russisch 165 275
Portugiesisch 216 235
Bengali 215 233
Deutsch 105 185
Japanisch 127 128
Koreanisch 78 78
Tabelle 1: Sprecherzahlen (gesamt) (in Mio.)
Dem Englischen in dieser Hinsicht am ähnlichsten (wenngleich auf deutlich niedrigerem
Niveau) ist das Französische, auch hier übersteigt die Zahl der Zweitsprachler diejenige
der Muttersprachler erheblich. Bengali wiederum funktioniert wie Chinesisch; und auch
Japanisch und Koreanisch spielen als Fremdsprachen praktisch keine Rolle – was offen-
bar auch heißt, dass ökonomischer Erfolg einer Sprachgemeinschaft kein hinreichendes
Kriterium dafür ist, dass eine Sprache als Fremdsprache erworben wird. Deutsch schafft
es mit rund hundert Millionen Muttersprachlern und ungefähr achtzig Millionen Fremd-
sprachenlernen gerade noch unter die Top Ten.
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Ein anderes wichtiges Kriterium ist die regionale Verteilung. Tatsächlich ist Deutsch als
Erstsprache weltweit verbreitet.
Abbildung 2: Deutsch in der Welt2
Abbildung 2 zeigt eine Karte aus Wikipedia. An einzelnen Punkten kann man Kritik
üben; worauf es hier ankommt, ist das Gesamtbild: Deutsch kommt zwar weltweit vor,
aber praktisch nur in Form von sehr kleinen Minderheitengebieten, sogenannten
Sprachinseln. Deutsch ist auf allen Kontinenten vertreten, auch in Australien (das ist
hier nicht eingezeichnet). Doch die meisten dieser Sprachinseln sind inzwischen hoch-
gradig moribund. In vielen der hier eingezeichneten Gebieten gibt es allenfalls noch
Sprecher der älteren Generation, und was es nirgends mehr gibt, ist eine deutsche Ein-
sprachigkeit in den Minderheitengebieten.
Ganz anders sind die Verhältnisse beim Englischen. Abbildung 3 (auf der nächsten Seite)
zeigt eine Karte der britischen Kolonialgebiete; die USA muss man eigentlich noch hin-
zunehmen. Englisch hat sich entweder als alleinige Erstsprache vollständig durchgesetzt
(wie in Nordamerika, Australien, Südafrika), oder es hat sich zumindest als Amts- und
Verwaltungssprache und vor allem als Bildungssprache etabliert. Deutsch ist hingegen
als Kolonialsprache ohne nennenswerte Verbreitung geblieben.
2 http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Sprache
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Abbildung 3: Britische Kolonialgebiete
Das zeigen auch die Sprecherzahlen (vgl. Tabelle 2).
Gesamtsprecherzahl davon in Europa davon in Übersee
Englisch 573 61,3 (10,7%) 511,7 (89,3%)
Spanisch 352 39,4 (11,2%) 312,6 (88,8%)
Russisch 242 172,8 (71,4%) 69,2 (28,6%)
Portugiesisch 182 9,8 ( 5,4%) 172,2 (94,6%)
Französisch 131 62,4 (47,6%) 68,6 (52,4%)
Deutsch 101 96,9 (96,0%) 4,1 (4,0%)
Tabelle 2: Sprecherzahlen (Erstsprachler) (in Mio.)3
Englisch und Spanisch sind in dieser Hinsicht erfolgreiche Kolonialsprachen. Fast neun-
zig Prozent ihrer Sprecher (hier geht es um Muttersprachler) kommen nicht aus Europa.
(Diese Zahlen weichen etwas ab von denen in Tabelle 1, aber es kommt hier nur auf die
ungefähren Größenordnungen an.) Noch deutlicher ist dieser Effekt beim Portugiesi-
schen; etwas plakativ gesagt: Portugal ist klein, und Brasilien ist groß. Das Deutsche
verhält sich genau umgekehrt wie das Portugiesische: Die allermeisten seiner Sprecher
kommen aus Europa, und zwar aus einem weitgehend geschlossenen Sprachgebiet.
All das zusammengenommen bedeutet: Deutsch ist eine europäische Sprache. Und es
bedeutet: Deutsch ist keine Weltsprache.
3.2. Deutsch als Wissenschaftssprache
Mit dieser nüchternen Feststellung – dass Deutsch keine Weltsprache ist – müssen die
Überlegungen zur Rolle des Deutschen als Wissenschaftssprache beginnen. Und die
zweite, ebenso nüchterne Feststellung lautet: wenn über akademische Mehrsprachigkeit
gesprochen wird, geht es in Wirklichkeit gar nicht um Mehrsprachigkeit – jedenfalls
3 http://ieg-ego.eu/de/threads/crossroads/sprachenmosaik/harald-haarmann-das-sprachenmosaik-europas
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nicht in dem Sinne, dass eine balancierte Koexistenz (und im besseren Falle Kooperati-
on) mehrerer Sprachen als hermeneutischer Instrumente im Interesse des Fortschritts
der Wissenschaft angestrebt würde, sondern es geht einzig und allein um die Frage, wel-
che Rolle die eigene Sprache neben der übermächtigen Lingua franca Englisch spielen
kann. Das ist etwas anderes.
Abbildung 4: Auszug aus Zoological Record 1920 (aus: Ammon 2000, S. 62)
Es ist nicht so lange her, da waren die Verhältnisse noch andere. Das ganze Mittelalter
hindurch und bis weit in die Neuzeit hinein war in ganz Europa die Sprache der Wissen-
schaft Latein. Mehr noch: Latein war lange Zeit die alleinige Sprache der Alphabetisie-
rung und Literarisierung: Wer in Europa im Mittelalter Lesen und Schreiben gelernt hat,
hat es auf Latein gelernt. Erst in der frühen Neuzeit haben sich die großen europäischen
Volkssprachen, so auch das Deutsche, als Bildungs- und Wissenschaftssprachen vom
Lateinischen emanzipiert. Dieser Sprachwechsel weg von der allgemeinen Lingua franca
Latein war Teil eines umfassenden Modernisierungsprozesses der europäischen Gesell-
schaften, bei dem es im Kern um die Neujustierung der sozialen Verhältnisse ging. Für
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die Wissenschaft stellte diese neue nationale Einsprachigkeit einen großen Gewinn dar,
weil sie einen breiteren Zugang zu Bildung, auch zu akademischer Bildung, ermöglichte
und dieser damit ihre elitäre Exklusivität nahm; die nationalen Wissenschaftsmärkte
wurden größer und damit dynamischer.
In der Folge musste sich der Wissenschaftssprachenmarkt neu organisieren; regional
und nach Fächern unterschiedlich spielt eine Handvoll Sprachen hier eine gewisse Rolle,
wobei eine Reihe von Faktoren ausschlaggebend war. Wissenschaftliche Exzellenz war
sicherlich ein wichtiges Kriterium, aber keineswegs das einzige. Gegen Ende des 19. und
zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte das Deutsche tatsächlich weltweit, auch in den Na-
turwissenschaften, eine bedeutende, teils dominierende Position. Abbildung 4 (auf der
vorigen Seite) zeigt einen Ausschnitt aus dem „Zoological Record“ von 1910, einer briti-
schen biologischen Fachzeitschrift. Man sieht hier (farblich markiert) Belege für die
Funktion von Deutsch als Lingua franca: das Deutsche wird genutzt zur Übersetzung
russischer, norwegischer und portugiesischer Titel – und zwar für englischsprachige
Leser.
Man muss allerdings klar sehen, dass dies nur ein ganz kurzes Zwischenhoch in der Ge-
schichte des Deutschen als Wissenschaftssprache war.
Abbildung 5: Zitatenanteile in chemischen Fachzeitschriften, 1920-1990 (aus: Ammon 2000, S. 63)
Abbildung 5 zeigt eine Auszählung der Sprachen von Zitaten in wissenschaftlichen Fach-
zeitschriften im Fach Chemie, in diesem Fall Deutsch, Englisch und Französisch. 1950
bezogen sich noch rund die Hälfte der Zitate, die in chemischen Fachaufsätzen vorka-
men, auf Texte in deutscher Sprache (unabhängig davon, in welcher Sprache der jeweili-
ge Aufsatz geschrieben war), 1990 war es nur noch ein Zehntel. Auch hier kann man
über die Validität der Zahlen im Detail diskutieren; es kommt aber auch nicht auf ein
paar Prozentpunkte an, sondern auf die Gesamttendenz, und die ist eindeutig: „Der An-
teil von Deutsch“, so formuliert es Ammon, „sinkt wie Blei, während der Anteil von Eng-
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lisch wie Helium aufsteigt.“ Und das sind nur quantitative Angaben, die nichts über die
Qualität der Zitate aussagen; für die jüngere Zeit wird man davon auszugehen haben,
dass es sich bei vielen der Zitate nur um Klassiker handelt, die von Publikation zu Publi-
kation weitergetragen werden und in Wirklichkeit gar nicht rezipiert worden sein müs-
sen. Inzwischen gehen einige US-amerikanische Zeitschriften – man muss sagen: konse-
quenterweise – so weit, Zitate in einer anderen Sprache als Englisch schlicht nicht zu
akzeptieren. Anderssprachiges Wissen wird damit einfach inexistent.
Ein Hinweis zu diese Graphik ist noch wichtig: Man sieht, dass der Niedergang des Deut-
schen nicht erst mit dem Jahr 1933 beginnt. Selbstredend hat dieses dunkle Kapitel un-
serer Geschichte, als Deutschland (und Österreich) der Zivilisation die Barbarei vorzo-
gen und unter den deutschsprachigen Wissenschaftlern gerade die besten mundtot
machten oder ins Exil trieben, der deutschen Wissenschaft schwersten Schaden zuge-
fügt. Aber es ist ein Mythos, dass dies ursächlich gewesen sei für den Bedeutungsverlust
des Deutschen als internationaler Wissenschaftssprache. Dieser Bedeutungsverlust war
bereits nach dem Ersten Weltkrieg in vollem Gange.
Abbildung 6: Anteile der Sprachen an naturwissenschaftlichen Publikationen, 1980-1996 (aus: Ammon 2000, S. 65)
Abbildung 6 bezieht sich auf die jüngere Zeit; sie hat eine etwas andere Datengrundlage,
aber die Tendenz ist dieselbe. Hier geht es um die Anteile der größeren Sprachen an na-
turwissenschaftlichen Publikationen in den Jahren 1980 bis 1996. Man beachte, dass die
Ordinate der Abbildung kräftig gestaucht ist. Da der Anteil deutschsprachiger Wissen-
schaftler an der Gesamtmenge wissenschaftlicher Publikationen nicht erheblich zurück-
gegangen ist, heißt das, dass deutschsprachige Wissenschaftler nicht mehr in ihrer eige-
nen, sondern in einer anderen Sprache schreiben, und zwar auf Englisch. Für die Wirt-
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schaftswissenschaften sieht es im Prinzip nicht so viel anders aus, für die Geistes- und
Sozialwissenschaften auch nicht, auch wenn die absoluten Zahlen etwas geringer sind.
(In den Geistes- und Sozialwissenschaften etwa sind 1974 66,6 Prozent der Publikatio-
nen auf Englisch geschrieben, 1995 sind es 82,5 Prozent. Im selben Zeitraum sinkt der
Anteil von Deutsch von 8,0 Prozent auf 4,1 Prozent; vgl. Ammon 1998, S. 167.)
Warum ist das ein Problem? Natürlich ist eine echte Lingua franca ein faszinierendes
Konzept. Die Vorteile liegen auf der Hand: wenn alle dieselbe Sprache sprechen, sollte es
leicht sein, Einigkeit zu erzielen, alle Kommunikationsbarrieren sind beiseite geschafft,
alle damit verbundenen Kosten können eingespart werden, die Primärkosten – Sprach-
ausbildung, Dolmetschen, Übersetzen – ebenso wie Sekundärkosten, die durch Rei-
bungsverluste und Übersetzungsfehler entstehen. Das alles gilt selbstredend nicht nur
für die Wissenschaft, sondern auch für die Kultur allgemein und auch (und vielleicht
sogar in erster Linie) für Handel und Wirtschaft.
Wer so argumentiert, folgt derselben Sprachideologie, die der Erzählung vom Turmbau
zu Babel zugrundeliegt. In diesem Konzept ist Einsprachigkeit der eigentliche Urzustand,
der technische Höchstleistungen ermöglicht (und im Falle des Turmbaus zu Babel eben
auch der menschlichen Hybris Vorschub leistet: was wir können, tun wir auch), und die-
sen Urzustand gilt es wiederherzustellen. Mehrsprachigkeit erscheint in diesem Konzept
als Strafe, und zwar als Strafe, die den technischen Fortschritt unterbindet. (Übrigens ist
natürlich im Grunde genommen die oben angesprochene Gleichung „ein Staat – eine
Sprache“ prinzipiell nichts anderes, nur eben nicht im globalen, sondern im nationalen
Rahmen.)
Das Problem ist, dass es diese neue Einsprachigkeit nicht umsonst gibt. Ist sie einmal
hergestellt, führt die barrierefreie Kommunikation zu erheblichen Kostenvorteilen. Auf
der anderen Seite stehen allerdings gewaltige Investitionskosten, die zunächst einmal
erbracht werden müssen, und zwar individuell jedes Mal aufs Neue. Das sind zum einen
schlicht die ökonomischen Kosten des Spracherwerbs für diejenigen, die nicht ohnehin
der Lingua franca teilhaftig sind; das sind sodann die Kosten, die möglicherweise aus
einer hermeneutischen Zugangsbeschränkung resultieren; man kann es auch umgekehrt
formulieren: man vergibt sich unter Umständen mit dem Verzicht auf Pluralität eine
Chance auf Erkenntnisgewinn. (Das ist sicher ein Problem, das etwa die Mathematik
weniger betrifft als die Soziologie; das ist auch kaum zu beziffern.) Der Gebrauch einer
Lingua franca mag global ein Vorteil sein, regional erschwert er aber die Möglichkeit zu
Teilhabe. Ein wesentlicher Grund für die explosionsartige Dynamisierung der europäi-
schen Wissenschaftswelt in der Neuzeit war ja gerade die Emanzipation vom Latein als
alleiniger Wissenschaftssprache. Und natürlich – auch das will ich nur erwähnen und
nicht weiter diskutieren – produziert ein Sprachwechsel immer auch identitäre Kosten.
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Die Kernfrage lautet nun: wie viele Kosten (auch immaterielle) wiegt der mögliche Ge-
winn auf? Dabei ist natürlich auch über die Frage der Lastenverteilung zu sprechen. Der
Vergleich zwischen dem Latein des Mittelalters und der Situation heute ist nämlich in
einem ganz entscheidenden Punkt schräg: Während Latein niemandes Muttersprache
war und damit die Erwerbskosten im Prinzip gleich verteilt waren, haben heute diejeni-
gen, die Englisch als Erstsprache haben und die vor allem – das ist noch wichtiger – in
der englischen Sprache alphabetisiert und literarisiert werden, einen uneinholbaren
Vorteil. Es genügt nämlich nicht, Wortschatz und Grammatik zu beherrschen, sondern es
gibt sehr tiefliegende Strukturen der Traditionen des Formulierens, die für Andersspra-
chige kaum oder gar nicht erreichbar sind.
Das hat ganz praktische Folgen. Abbildung 7 zeigt die bewilligten ERC Starting Grant für
2011.
Abbildung 7: ERC-Starting Grants 2011
Es handelt sich dabei um ein – sehr prestigieuses – Forschungsförderprogramm des Eu-
ropean Research Council der EU-Kommission; die Förderanträge müssen natürlich auf
Englisch eingereicht werden. In der Graphik sind die Zuwendungsempfänger nach Län-
dern aufgeschlüsselt; man sieht auf den ersten Blick, dass das Vereinigte Königreich,
gemessen an seiner relativen Größe, deutlich überrepräsentiert ist. Italien etwa, das un-
gefähr genauso viele Einwohner hat wie Großbritannien, ist mit 28 Grantees wesentlich
weniger erfolgreich in der Einwerbung gewesen. Auch Osteuropa ist insgesamt auffällig
unterrepräsentiert. Man tut den Briten sicher nicht unrecht, wenn man behauptet, dass
diese Verzerrungen sich nicht ausschließlich darauf zurückführen lassen, dass in Groß-
britannien so exzellente Wissenschaft betrieben wird. Besonders augenfällig ist dieser
Effekt in den „Social Sciences and Humanities“, wo ja die Sprache – und vor allem: die
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sprachliche (nicht nur wissenschaftssprachliche, sondern auch allgemeinsprachliche)
Sozialisierung – eine besondere Rolle spielt.
3.3. Deutsch in den Institutionen der EU
Der letzte Abschnitt behandelt die Rolle des Deutschen in den Institutionen der Europäi-
schen Union. Die EU hat 24 Amtssprachen, die formell gleichberechtigt sind. Das ist
wichtig für das Selbstverständnis der EU; die allererste Verordnung, die überhaupt von
der EWG nach ihrer Gründung 1958 erlassen wurde, behandelte die Sprachenfrage. Je-
der Bürger der EU soll alle Dokumente der EU in der Amtssprache seines Landes be-
kommen können, und jeder Bürger hat das Recht, der Europäischen Kommission zu
schreiben und eine Antwort in seiner Sprache zu erhalten. Das ist natürlich nicht ganz
unaufwendig. Die Europäische Kommission betreibt einen der größten Übersetzungs-
dienste weltweit mit 2500 Übersetzern und Dolmetschern. Dabei werden viele der über
500 denkbaren Sprachenkombinationen nicht einmal direkt bedient, sondern über Brü-
ckensprachen. Neben diesen 24 Amtssprachen gibt es drei Arbeitssprachen, die zugleich
die drei meistgesprochenen und meistgelernten Sprachen sind, nämlich Deutsch, Eng-
lisch und Französisch. Faktisch spielt jedoch Deutsch keine große Rolle. In den Anfangs-
jahren der EU bzw. EG hielten sich die Bundesregierungen stets sehr zurück, was das
Einfordern einer sprachlichen Gleichberechtigung anging, aus verschiedenen Gründen,
und Substanzielles hat sich daran nicht geändert. Verschoben hat sich allerdings die ers-
te Arbeitssprache: das war früher Französisch, heute dominiert ganz klar Englisch.
In regelmäßigen Abständen wird diese Frage in der deutschen Öffentlichkeit immer mal
wieder zum Thema; meistens herrscht ein gewisses Unbehagen vor, verbunden mit dem
Hinweis, dass Deutsch nach Sprecherzahl, Einwohnerzahl der deutschsprachigen Länder
und ihrer Wirtschaftskraft deutlich unterrepräsentiert ist. Das Institut für Deutsche
Sprache hat zusammen mit dem Lehrstuhl für Sozialpsychologen der Universität Mann-
heim unlängst ein Forschungsprojekt zu Spracheinstellungen durchgeführt (vgl. Gär-
tig/Plewnia/Rothe (2010), Eichinger/Plewnia/Stahlberg/Schoel 2012). Der materielle
Kern dieses Projekts ist eine repräsentative Meinungsumfrage zu verschiedensten
sprachlichen Fragen: Einstellungen zum Deutschen, zu anderen Sprachen, zu Dialekten,
zu Sprachwandel; und eine Frage bezog sich auch auf das Sprachregime der EU (vgl.
Abb. 8 auf der folgenden Seite). Die Frage lautete: „Bei den Behörden der Europäischen
Union wird überwiegend Englisch und Französisch gesprochen und geschrieben. Sollte
Ihrer Meinung nach … (1=Deutsch dort als dritte alltägliche Arbeitssprache gleichbe-
rechtigt verwendet werden, 2=sollte das nicht der Fall sein, 3=ist Ihnen das egal).“ Das
Ergebnis ist ziemlich eindeutig: 61,1 Prozent der Befragten sind dafür, dass Deutsch als
dritte alltägliche Arbeitssprache gleichberechtigt verwendet werden sollte. Übrigens
wird die Zustimmung desto größer, je älter die Befragten sind. Und die Zustimmung
wird desto größer, je niedriger der Bildungsabschluss der Befragten ist.
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Abbildung 8: Deutsch als gleichberechtigte dritte Arbeitssprache in der EU (aus: Gärtig/Plewnia/Rothe 2010, S. 230)
Es gibt aber noch eine weitere Dimension des Problems, bei dem die Größe der Sprach-
gemeinschaft keine Rolle spielt. Im Zusammenhang mit der Wissenschaftssprache war
oben davon die Rede, dass native speakers gegenüber Nicht-native speakers einen un-
einholbaren Kompetenzvorsprung haben. Das gilt natürlich auch für politische Ent-
scheider. Es geht aber nicht bloß um Sprachkompetenz, also etwa die Fähigkeit zur Dif-
ferenziertheit im Ausdruck; die Sache ist noch verwickelter. Man kann das mit Hilfe ei-
nes Experiments zeigen, das auf dem sogenannten „Trolley-Problem“ basiert. Es handelt
sich um ein Gedankenexperiment zu einem moralischen Dilemma. Dabei geht es um Fol-
gendes: Eine Straßenbahn (ein trolley) ist außer Kontrolle geraten und droht, fünf Per-
sonen zu überfahren. Das kann verhindert werden, indem eine Weiche umgestellt wird,
so dass Straßenbahn auf ein anderes Gleis umgeleitet wird. Unglücklicherweise steht auf
diesem Gleis eine andere Person (zum Beispiel ein Gleisarbeiter), der auch nicht mehr
gewarnt werden kann. Die Frage ist nun: Darf – durch Umlegen der Weiche – der Tod
einer Person in Kauf genommen werden, um das Leben von fünf Personen zu retten? Das
ist ein philosophisches Problem, aber es ist natürlich auch ein juristisches Problem.
Abbildung 9 (auf der nächsten Seite) zeigt eine von Judith Jarvis Thomson eingeführte
Variante des Trolley-Problems, das sogenannte „Fetter-Mann-Problem“. Die Straßen-
bahn ist hier ein Zug (das spielt aber keine Rolle), die fünf Personen sind auf das Gleis
gefesselt. Auf einer Brücke über der Bahnlinie sitzt ein unbeteiligter fetter Mann. Der
Zug kann zum Stehen gebracht werden, indem dieser Mann von der Brücke herabgesto-
ßen wird. Die Frage lautet nun ein bisschen anders, nämlich: Darf – durch Stoßen des
Mannes von der Brücke – der Tod einer Person aktiv herbeigeführt werden, um das Le-
ben von fünf anderen Personen zu retten? Also darf man (oder muss man sogar) den
Einen aktiv opfern für die Fünf?
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Abbildung 9: Das „Fetter-Mann-Problem“
Man kann das utilitaristisch beantworten, dann sind eben fünf Leben mehr wert als ei-
nes. Albert Costa (Barcelona) und Kollegen haben diese Variante des Fetter-Mann-
Problems Versuchspersonen vorgelegt und um Beurteilung gebeten. Dabei wurde diese
Frage einmal den Probanden in deren Muttersprache vorgelegt und ein anderes Mal in
einer Fremdsprache (die sie natürlich sehr gut verstehen). Das Ergebnis war: Die utilita-
ristische Antwort, also den fetten Mann zu opfern, geben nur 18 Prozent der Befragten,
wenn sie die Frage in ihrer Muttersprache gestellt bekommen. Wird die Frage in einer
Fremdsprache gestellt, sind es 44 Prozent, die den Mann opfern würden (Costa et al.
2014). Das heißt, die Versuchspersonen urteilen in einer Sprache, die nicht ihre Mutter-
sprache ist, moralisch deutlich distanzierter.
Natürlich ist das zunächst einmal nur ein Ergebnis einer Versuchsanordnung, und man
muss mit Verallgemeinerungen vorsichtig sein. Dennoch ist das Ergebnis so deutlich,
dass es nachdenklich stimmen sollte, wenn man sich bewusst macht, dass tagtäglich in
Brüssel und Straßburg und anderswo politische Entscheidungen von großer Tragweite
getroffen werden, bei denen sowohl die Debatten als auch die zugrundeliegenden Ar-
beitspapiere faktisch doch nur auf Englisch (und vielleicht Französisch) vorliegen; oder
auch die Tatsache, dass der Deutsche Bundestag, weil es immer mal wieder schnell ge-
hen muss in der Rettungspolitik, über Vorlagen abstimmen muss, die ihm nicht in deut-
scher Sprache vorliegen.
Übrigens gilt das natürlich genauso auch für die ökonomische Welt, für internationale
Großkonzerne, für die Finanzbranche. Die Europäische Zentralbank spricht ausschließ-
lich Englisch.
Und wenn es stimmt, dann stimmt es – natürlich – nicht nur in Bezug aufs Deutsche,
sondern für alle Sprachen, auch für die kleinen.
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4. Zusammenfassung
Sprache ist nicht nur ein Werkzeug zur Kommunikation, sondern auch und oft sogar in
erster Linie Identitätsträger. Daher ist das Nachdenken über Sprache von hoher gesell-
schaftlicher Relevanz. Es gibt einen öffentlichen Diskurs über die deutsche Sprache. Die-
ser Diskurs ist typischerweise stark normorientiert, und er ist von einer skeptischen
Grundhaltung geprägt; vielfach ist es ein Bedrohungsdiskurs, der Veränderungen und
fremden Einflüssen distanziert gegenübersteht. Das ist für sich genommen nicht kri-
tisch; auch andere gesellschaftliche Diskurse – Umwelt, Frieden, Sicherheit – sind über-
wiegend besorgt, weil sie beschützen und bewahren wollen.
Typisch für den deutschen Sprachdiskurs ist aber, dass er stark nach innen gewendet ist:
Normprobleme, Varietätenfragen, Anglizismen sind wichtige Themen – man darf, man
soll sich auch über fehlende Kommata und abwegige Apostrophe mokieren; es sind dies
aber alles keine Themen, von denen der deutschen Sprache ein strukturelles Problem
droht. Die Fokussierung auf solche Themen kann aber dazu führen, dass der Blick ver-
stellt wird auf die Herausforderungen, die für das Deutsche insgesamt die kritischeren
sind: der Domänenverlust, das heißt das Wegbrechen ganzer Sachbereiche, die dann
irgendwann nicht mehr auf Deutsch verhandelt werden können, so wie es in einigen
wissenschaftlichen Disziplinen schon zu beobachten ist; und die Herausbildung einer
neuen Elitenmehrsprachigkeit, in deren Folge Englisch die Sprache der Entscheider ist,
während weite Teile der Bevölkerung von politischer und ökonomischer Teilhabe aus-
geschlossen sind. In einer solchen Entwicklung liegt eine viel größere Gefahr für die ge-
sellschaftliche Kohäsion als in ein paar falschen Genitiven.
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