4
36 Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland – Gesellschaft und Staat Deutschland 1945-1949 Peter Steinbach tionspunkt erlebt hatte. Am Ende der Katastrophe für Deutschland, für Europa und für die Welt stand aber auch ein neuer Anfang, der sich in der Gründung der Vereinten Nationen 1945 verkörper- te. Ambivalenz der Gefühle Wegen seiner Vielschichtigkeit muss das Jahr 1945 umstritten sein. In der Nach- kriegszeit konnte nämlich die Beurtei- lung dessen, was auf den Zusammen- bruch folgte, niemals eindeutig und schon gar nicht einhellig sein. Deshalb blieb für die einen eine „Niederlage“, was für die anderen „Befreiung“ war. Der eine dachte an Flucht, Vertreibung, Ge- fangenschaft und Teilung, der andere an die Rettung seines Lebens, an seine Frei- setzung aus der Haft oder aus dem KZ, an die Befreiung von der nationalsoziali- stischen Willkür, von dem Terror der letzten Kriegswochen. Demgegenüber waren die entscheidenden politischen Zäsuren, der Neuaufbau der Demokratie in Deutschland, von nachrangiger Be- Epochenzäsur Keine historische Zäsur hat die Deut- schen unseres Jahrhunderts stärker be- schäftigt als das Jahr 1945. Es bedeutet nicht nur eine weltgeschichtliche Zäsur, sondern für die meisten auch einen tie- fen persönlichen Lebenseinschnitt. Es wurde unausweichlich zum Synonym für einen noch nach Jahrzehnten spürbaren und deshalb als absolut empfundenen Tiefpunkt deutscher Geschichte. Le- bensgeschichte und Politik gingen eine unauflösliche Verbindung ein. Diese Doppelung der Empfindungen prägt die Erinnerung. Sie muss die Viel- fältigkeit der Schicksale, die Gleichzei- tigkeit widersprüchlichster Stimmungen, Ängste und Hoffnungen zum Ausdruck bringen. Die Befreiung der Konzentrati- onslager und die Rettung der Häftlinge, die zu Todesmärschen gezwungen und so dem Tod preisgegeben wurden, steht ne- ben der Erinnerung an Plünderung und Vergewaltigung, an Gefangenschaft und Verschleppung, an Internierung und Ver- treibung. Welthistorisch bedeutet die Kapitulation Deutschlands die Befreiung von der nationalsozialistischen Herr- schaft und damit von einer schreckli- chen Zukunft, aber auch die Teilung des Landes und den Verlust der Ostgebiete. Nach einer Übergangsphase unter alli- ierter Herrschaft begann die Geschichte der deutschen Teilung. Einschnitt in der europäischen Geschichte Das Jahr 1945 war aber nicht nur eine Zäsur deutscher Zeitgeschichte, sondern zugleich ein tiefer Einschnitt für die Ge- schichte Europas, denn dieses Jahr mar- kiert den unwiderruflichen Untergang einer Ordnung, die seit dem Mittelalter und der frühen Neuzeit tief in der euro- päischen Geschichte verwurzelt war: Ostmitteleuropa wurde seitdem nicht mehr als „Zwischeneuropa“ empfunden, sondern als Teil des Ostblocks. Das Jahr 1945 wurde so zum Synonym für eine Tragödie, die mit der Geschichte der Nationalstaaten begonnen und durch den Nationalsozialismus ihren Kulmina- Karte “A” Anhang zum Protokoll zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritan- nien und der UdSSR vom 12. September 1944 über die Besatzungszonen in Deutschland und die Verwaltung Groß-Berlins (Londoner Protokoll). Die Zuweisung einer Besatzungszo- ne an Frankreich wurde später beschlossen.

Deutschland 1945-1949 - Nationalatlas - Archivarchiv.nationalatlas.de/wp-content/art_pdf/Band1_36-39_archiv.pdf · Während in den Westzonen bis 1948 die Grundlage für einen parlamen-tarischen

Embed Size (px)

Citation preview

36Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland – Gesellschaft und Staat

Deutschland 1945-1949Peter Steinbach

tionspunkt erlebt hatte. Am Ende derKatastrophe für Deutschland, für Europaund für die Welt stand aber auch einneuer Anfang, der sich in der Gründungder Vereinten Nationen 1945 verkörper-te.

Ambivalenz der GefühleWegen seiner Vielschichtigkeit muss dasJahr 1945 umstritten sein. In der Nach-kriegszeit konnte nämlich die Beurtei-lung dessen, was auf den Zusammen-bruch folgte, niemals eindeutig undschon gar nicht einhellig sein. Deshalbblieb für die einen eine „Niederlage“,was für die anderen „Befreiung“ war. Dereine dachte an Flucht, Vertreibung, Ge-fangenschaft und Teilung, der andere andie Rettung seines Lebens, an seine Frei-setzung aus der Haft oder aus dem KZ,an die Befreiung von der nationalsoziali-stischen Willkür, von dem Terror derletzten Kriegswochen. Demgegenüberwaren die entscheidenden politischenZäsuren, der Neuaufbau der Demokratiein Deutschland, von nachrangiger Be-

EpochenzäsurKeine historische Zäsur hat die Deut-schen unseres Jahrhunderts stärker be-schäftigt als das Jahr 1945. Es bedeutetnicht nur eine weltgeschichtliche Zäsur,sondern für die meisten auch einen tie-fen persönlichen Lebenseinschnitt. Eswurde unausweichlich zum Synonym füreinen noch nach Jahrzehnten spürbarenund deshalb als absolut empfundenenTiefpunkt deutscher Geschichte. Le-bensgeschichte und Politik gingen eineunauflösliche Verbindung ein.

Diese Doppelung der Empfindungenprägt die Erinnerung. Sie muss die Viel-fältigkeit der Schicksale, die Gleichzei-tigkeit widersprüchlichster Stimmungen,Ängste und Hoffnungen zum Ausdruckbringen. Die Befreiung der Konzentrati-onslager und die Rettung der Häftlinge,die zu Todesmärschen gezwungen und sodem Tod preisgegeben wurden, steht ne-ben der Erinnerung an Plünderung undVergewaltigung, an Gefangenschaft undVerschleppung, an Internierung und Ver-treibung. Welthistorisch bedeutet die

Kapitulation Deutschlands die Befreiungvon der nationalsozialistischen Herr-schaft und damit von einer schreckli-chen Zukunft, aber auch die Teilung desLandes und den Verlust der Ostgebiete.Nach einer Übergangsphase unter alli-ierter Herrschaft begann die Geschichteder deutschen Teilung.

Einschnitt in der europäischenGeschichteDas Jahr 1945 war aber nicht nur eineZäsur deutscher Zeitgeschichte, sondernzugleich ein tiefer Einschnitt für die Ge-schichte Europas, denn dieses Jahr mar-kiert den unwiderruflichen Untergangeiner Ordnung, die seit dem Mittelalterund der frühen Neuzeit tief in der euro-päischen Geschichte verwurzelt war:Ostmitteleuropa wurde seitdem nichtmehr als „Zwischeneuropa“ empfunden,sondern als Teil des Ostblocks. Das Jahr1945 wurde so zum Synonym für eineTragödie, die mit der Geschichte derNationalstaaten begonnen und durchden Nationalsozialismus ihren Kulmina-

� Karte “A”Anhang zum Protokoll zwischen denVereinigten Staaten von Amerika, Großbritan-nien und der UdSSR vom 12. September 1944über die Besatzungszonen in Deutschland unddie Verwaltung Groß-Berlins (LondonerProtokoll). Die Zuweisung einer Besatzungszo-ne an Frankreich wurde später beschlossen.

37Deutschland 1945-1949

deutung. Während in den Westzonen bis1948 die Grundlage für einen parlamen-tarischen Verfassungsstaat geschaffenworden war, unterstützte die sowjetischeMilitäradministration den Aufbau einerParteidiktatur. Die Wunde der Teilungging tief und vernarbte nur langsam. DieDeutschen konnten sie nur akzeptieren,weil sie die Teilung ihres Landes alsKonsequenz eines Krieges deuteten, dervon deutscher Seite entfesselt wordenwar und im Völkermord an den Judenkulminiert hatte.

Jahrzehnte blieb die Ambivalenz spür-bar, die das Ende des Krieges bedeutete.Diese Ambivalenz hat ihren Grund inder Geschichte selbst, die sich niemalsauf einen einzigen Strang historisch-po-litischer Erfahrungen oder auf eine einzi-ge, allgemeine oder gar verbindlicheEmpfindung reduzieren läßt. Um dieSchwierigkeit einer Entscheidung füreindeutige Bewertungen zu vermeiden,sprachen deshalb einige Zeitzeugen baldneutral von der „Kapitulation“ oder vonder „Stunde Null“ der deutschen Nach-kriegsgeschichte, andere betonten eherden Beginn einer „Restauration“, wäh-rend Dritte immer wieder bekräftigten,das Jahr 1945 sei der Anfang einer Neu-ordnung, ein „Neubeginn“.

Kontroverse GeschichtsbilderSeit der Gründung der DDR 1949 wurdeimmer wieder betont, im Westen sei die„kapitalistische“ Eigentumsordnung wie-derhergestellt worden, die nach marxi-stisch-leninistischer Überzeugung dieGefahr einer Wiederholung der „faschi-stischen Unterdrückung“ mit sich brin-ge: „Kapitalismus führt zum Faschis-mus!“, so lautete eine gängige und ver-breitete Parole des Systemkonflikts, dievor allem das Ziel hatte, den als Legiti-mationsideologie missbrauchten „Anti-faschismus“ in das Bewusstsein einzu-brennen. Antifaschismus sollte seinenAusdruck in der Bodenreform, in derEnteignung von Industrien und in derSchwächung des Mittelstandes finden.Antifaschismus war niemals nur das Be-kenntnis gegen den NS-Staat, sondernzugleich auch Ausdruck der Kritik am li-beraldemokratischen Verfassungsstaat,den man als „bürgerlichen Klassenstaat“bezeichnete, gleichsam als Spielart einerHerrschaftsform, die sowohl faschistischwie liberal sein konnte. Diese Gleichset-zung gegensätzlicher Systeme konnteman auf westlicher Seite nicht akzeptie-ren; denn hier sah man im freiheitlichenVerfassungsstaat das geglückte Gegen-bild zur nationalsozialistischen Diktatur.Seine Grundlage schien in der Über-gangsphase zwischen Kapitulation undGründung der beiden deutschen Staatengelegt worden zu sein.

Stunde Null – Restauration –Neuordnung?Heute ist diese Kontroverse entschieden.Die gegenseitige Abgrenzung gegensätz-licher Systeme steht nicht mehr im Vor-dergrund geschichtspolitischer Ausein-andersetzung, sondern der Versuch, diedeutsche Geschichte auf das Jahr 1945

zu beziehen. Dabei zeigt sich, dass jederStreit, der um Begriffe geführt wird, Tie-fenschichten des politischen Selbstver-ständnisses berührt, das nicht zuletztauch durch das Nebeneinander von ost-und westdeutschen Erinnerungen an die„Stunde Null“ geprägt ist. War für diewestdeutsche Seite die Betonung derstaatlichen Kontinuität besonders wich-tig, so verkörperte die DDR im Bewusst-sein ihrer Bürger nicht selten den Ver-such eines grundlegenden Neubeginns.Die Debatte über die angemessene Be-schreibung des fundamentalen „Bruchs“durchzieht alle geschichtspolitischenAuseinandersetzungen in der Zeit deut-scher Teilung. Wer den Begriff der„Stunde Null“ verwendet, setzt sichnicht nur dem Vorwurf aus, der Fragenach der Kontinuität deutscher Ge-schichte im 20. Jahrhundert auszuwei-chen. Denn er macht auch deutlich, dassdieses Jahr den Anfang einer anderen,einer glücklicheren Geschichte verkör-perte. Der nach dem Scheitern der Wei-marer Republik und nach der Befreiungvon der nationalsozialistischen Diktaturnun zum zweitenmal unternommeneVersuch der Deutschen, eine stabile De-mokratie zu schaffen, rechtfertigt durch-aus den Begriff der „Stunde Null“.

Wer hingegen das Schlagwort von der„Restauration“ bevorzugt, will den Ein-druck abschwächen, dass nach 1945 derVersuch einer liberalen Demokratiegrün-dung gelungen ist. Im Mittelpunkt sei-ner Kritik steht die Klage, dass es keinengrundlegenden Austausch der politi-schen, gesellschaftlichen und kulturellenEliten gegeben habe und weiterhin man-che Wertvorstellungen des deutschenObrigkeitsstaates verbreitet seien. Ur-sprünglich ist der Begriff der „Restaurati-on“ verwendet worden, um zu Beginnder fünfziger Jahre auf die Gefahren hin-zuweisen, die von der eher unterstelltenals realen, in jedem Fall jedoch befürch-teten Erneuerung des Alten ausgingen.Nichts spricht dafür, dass es in den mehrals vier Jahrzehnten westdeutscherNachkriegsgeschichte nicht gelungensei, Deutschland aus den Bahnen seineshistorischen Sonderwegs zu befreien undfest im Kreis der westlichen liberalenStaaten zu verankern.

Wer schließlich den Begriff der „Neu-ordnung“ verwendet, vernachlässigt häu-fig ganz bewusst das Kontinuitätspro-blem, das sich aus der engen Verbindungzwischen den deutschen Eliten über alleEpochenbrüche ergibt. Die schließlichgelungene Neuordnung war das Ergebnislanger politischer Auseinandersetzung,vieler Reformen und mancher Kompro-misse. „Neuordnung“ stand als Begriffzunächst nur für den Versuch, das neuentstandene politische System aus einerbewussten Entscheidung zur Neugestal-tung hervorgehen zu lassen.

Jeder der aufgeführten Begriffe hatvieles für sich; er beleuchtet aber weni-ger die historische Wirklichkeit desnach 1945 entstandenen Deutschlandsals die Unterschiedlichkeit einer mögli-chen Interpretation der Erfolgsgeschich-te deutscher Demokratie. Deshalb �

��!�

��3�

�/��

��3�

'����

��

��!�

(���

�����

�/��

/�����+��)����

(��

��

)����

��)�

3��

���1�

��������

>;�7JF;

E;�7J>;

<;�7JE;

DB;;P F;;7� =;;;P E;;7� F;;P D;;7� E;;P ?;;7� D;;

=;;7� ?;;

��G����77=H7<7;;;7;;;

; <; =;;7!�?< ><

@7 �������7*��7"A����!����C7"�� ���7=III

#���"�'���� ����A������$������+�������������$����,5

F���� �+�����������A������$�������L

-�.�����)/�������0)���#++1

4���+���'���� �+���������������$������'����L

=<�7J?;

=;�7J=<

7J7=;

7P7?; 7P7F;

"�������*��

'��������

6���!*���-�2

��������0��

/�����!

"�� ���

(�������

������������������

�����*���

'�������'������������

%+��

��������

��������

������

��������

����

�+��������������

%��������

3�������

6��������27��������

������

%�����

1�������!

%��*���,����

3���������0��

.�����

'�����

'������

������

���������

�������

%���

�����

��������!��

/����������������

'��������*

���������

������ �

,����0��

������

,������

%��&�����,J,����/��<

� � � � � !

� " � ! # ! $ % " &

� � ' " ( ! & !

� � � � � ! �

� ! � � ) *

� � � !

� � # ! �

� ' " * * + $ " &

���")�!#

� ( ! ) � ! # �

� , � ) -

� . " # " � ( ! �

� ( # " � � � � � !

� � / ) ! $ % " & �

0 . " 1 . + + " !

� � � ) � 2 ( & �

� . ) � * ( !

� � 3 " !

� � * , � ) !

!����E:6&:����

Die Ruine der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche 1945

38Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland – Gesellschaft und Staat

@7 �������7*��7"A����!����C7"�� ���7=III

!������E:�&:)���������:!&:(!����; ? D E F =;7%�

��� ����

������

������

�������

����� ��

��������������

����

������

������

�������������

�����

����

��������

������� �

�������

��������� ����

������

������� ������������

������

�������

����

�� ����

���

��

���

����

"��1��(!�������

�������

��#��

$������)&

)����

)����

��%�

!���������

$����

"���&

$�%�����'

)��(��'���

�������������(������,5 (����'+���'���������)���������

��7������

�����!������

��������

*����+�����

*�A������*��7%��������A���

�����������7�������7=ID<����������7������������������70��7=ID<

,�����7�������7���1���7���7���73�����!�����

,�� �Q��������7���7������������������!�A*��7��7������

6�����*��)����������

darf nicht übersehen werden, dass dieBegriffe nur Deutungsangebote sind, dievor allem Aufschluss über Geschichts-bilder geben, deren Vielfalt für plurali-stische Gesellschaften charakteristischist. Das Miteinander der Begriffe, gegenderen ausschließliche oder gar plakativeVerwendung vieles spricht, erlaubt je-doch, die ganze Ambivalenz der Nach-kriegsgeschichte zu erfassen.

Das Ende des deutschen Natio-nalstaats?Unbestreitbar ist, dass am 8. Mai 1945die Geschichte des 1871 gegründetenDeutschen Reiches ein jähes Ende ge-funden hatte – so schien es zumindestbis zum Jahre 1989. Das weitere Schick-sal von Deutschland und Europa war inseiner politischen Bedeutung und geopo-litischen Entwicklung durch die Abspra-chen festgelegt, welche die Alliierten inJalta im Februar 1945 noch einmal be-kräftigt hatten. Dabei stand fest, dassDeutschland als Vormacht in der MitteEuropas zerschlagen und langfristig ge-schwächt werden sollte.Von den vier Siegermächten waren dasbesiegte Reich in vier Besatzungszonen� und die Hauptstadt Berlin in vierSektoren � aufgeteilt worden. Die Ost-gebiete jenseits von Oder und Neiße wa-ren unter polnische bzw. sowjetischeVerwaltung gestellt worden, das Saar-

land aus der französischen Besatzungszo-ne herausgelöst und wirtschaftlich anFrankreich angegliedert worden. DieSiegermächte hatten vor allem ihre Ver-antwortung für „Deutschland als Gan-zes“ betont. Sie wurden Träger deutscherSouveränität und bekräftigten, dass vonDeutschland nie wieder eine Bedrohungfür das europäische Gleichgewicht undden Frieden ausgehen dürfe. Um dies zuerreichen, setzten sie auf Machtpolitik,auf Beeinflussung der Bevölkerung imZuge einer „Umerziehung“ und auf dieEntwicklung der Fähigkeit zur demokra-tischen Selbstverantwortung. Zunächstwurden Interessensphären der großen eu-ropäischen Mächte in Deutschland undin Europa festgelegt, die vor allem Sta-lins Machtbereich ausdehnen halfen unddeshalb schon früh Vorbehalte bei ein-zelnen Verbündeten weckten.

Potsdamer Konferenz 1945Unstrittig war aber die Politik der „Viergroßen Ds“, die im Sommer 1945 inPotsdam bekräftigt wurde: Deutschlandsollte dezentralisiert und demilitarisiert, de-nazifiert und demokratisiert werden. Indiesen vier Begriffen deutete sich nichtnur der Wille zur UnterwerfungDeutschlands an, sondern es wurdenauch Konturen einer Neuordnung deut-lich, die das politische Schicksal derDeutschen auf der Grundlage eines völ-lig veränderten Selbstbewusstseins be-einflusste. Die „großen vier D’s“ machteneindeutig klar, dass nach 1945 eineRückkehr zu den Idealen des deutschenObrigkeitsstaates nicht mehr möglichwar. Nur die Entscheidung für demokra-tische Wertvorstellungen, für eine ganzkonsequente Bundesstaatlichkeit, für diebewusste Überwindung des militaristi-schen Denkens als Ausdruck einer Über-höhung deutscher Interessen und für dieentschiedene Abkehr von nationalsozia-listischen Denkvorstellungen öffneteden Weg in den Kreis der zivilisiertenNationen. Nur einem Deutschland, dassich von seinem Sonderweg abwandteund sich für den liberalen Verfassungs-staat entschied, könnte sich die Chancebieten, die durch die Viermächteverant-wortung weiterhin offen gehaltene„deutsche Frage“ auf eine eindeutige Artzu lösen.

Teilung und NeuordnungIn der militärischen NiederlageDeutschlands wurden so die Kontureneiner inneren politischen Neugestaltungder deutschen Gesellschaft sichtbar. Die-se löste sich aus den Traditionen desdeutschen Obrigkeitsstaates. Die neuenpolitischen Ziele und Strukturen prägtennicht allein die unmittelbare Nach-kriegszeit, sondern legten vor allem denGrund für eine demokratische Ordnungwestlichen Typs. Begriffe wie „Umerzie-hung“ oder gar „erzwungene Neuord-nung“ beschreiben diesen Vorgang nichthinreichend, denn sie wecken Zweifel ander letztlich freiwilligen Übernahme vonWertvorstellungen und Verhaltenswei-sen, die für eine demokratische Gesell-schaft unverzichtbar sind. Begünstigt

Ruinen und Trümmer, Berlin-Charlottenburg

39Deutschland 1945-1949

Tübingen

Ems

Spre

e

Neckar

Neckar

Hav

el

Hav

el

Spree

DONAU

RHEI

N

ELBE

RHEIN

WESER

Fulda

ODER

DONAU

Main

Inn

Main

Werra

ELBE

Neiße

LausitzerSaale

Saale

Mosel

WESER

Bodensee

München

LeipzigLeipzigLeipzig

Köln

DortmundEssen

Dresden

Nürnberg

Augsburg

Mannheim

Karlsruhe

Stuttgart

SaarbrückenSaarbrückenSaarbrücken

Mainz

Wiesbaden

ErfurtErfurtErfurtChemnitz

Braunschweig

Hannover

Kiel

KasselKrefeld

GelsenkirchenDuisburg

DüsseldorfBochum

Aachen

Münster

Mönchen-gladbach

Ludwigshafen

HalleHalleHalle

MagdeburgMagdeburgMagdeburg

Darmstadt

PlauenPlauenPlauen

RostockLübeck

Wuppertal

Potsdam

Hamburg

Berlin

S a c h s e nS a c h s e nS a c h s e n

B r a n d e n b u r g

T h ü r i n g e nT h ü r i n g e nT h ü r i n g e n

S a c h s e n -S a c h s e n -S a c h s e n -

A n h a l tA n h a l tA n h a l t

H e s s e n

B a d e n

W ü r t t e m b e r g -

Saarland

R h e i n l a n d -

P f a l z

N o r d r h e i n -

N i e d e r s a c h s e n

M e c k l e n b u r g

S c h l e s w i g -

H o l s t e i n

B a y e r n

Bremen

W e s t f a l e n

HohenzollernWürttemberg-

Baden

Zu Bayern:1956

Bremerhaven

SchwerinSchwerinSchwerin

Freiburg

Berlin-Karlshorst

Baden-Baden

Frankfurt

Bad Oeynhausen

TorgauTorgauTorgau

Maßstab 1: 3 750 000

0 50 100 km7525

Besatzungszonen in Deutschland 1945 - 1949

Besatzungszonen der AlliiertenSowjetisch

Amerikanisch

Britisch

FranzösischBerlin, Vier-Mächte-Verwaltung,siehe Karte: Das geteilte Berlin 1945Hauptquartier

Weitestes Vordringen amerikanisch-britischer Truppen nach Osten (bis 7.5.1945)

von den amerikanisch-britischen Truppenab dem 30.6.1945 geräumtes Gebiet

Saarland, 1957 zu Bundesrepublik

Luftkorridore nach Berlin (West)seit November 1945

Grenze der LänderKiel

Großstädte nach Einwohnern

Landeshauptstadt

mehr als 1 Mio.mehr als 500 000mehr als 200 000bis 200 000

© Institut für Länderkunde, Leipzig 1999

Autoren:P. Steinbach, A. Müller

wurde diese Umorientierung durch diewachsende Einsicht in den verbrecheri-schen Charakter des NS-Staates. DieSiegermächte hatten zu keiner ZeitZweifel daran gelassen, dass sich jedereinzelne für seine Untaten zu verantwor-ten habe und Deutschland auch nach der„bedingungslosen Kapitulation“ Wieder-gutmachung als Voraussetzung einer poli-tischen und moralischen Versöhnung zuleisten habe. Auch zu dieser Verantwor-tung bekannten sich die Deutschen undübernahmen später die Verantwortung fürdie nationalsozialistische Politik.

Entscheidend für die weitere Entwick-lung wurde aber zunächst die TeilungDeutschlands. Sie ermöglichte, soschmerzhaft sie war, den Aufbau einerstabilen Demokratie zumindest in dendrei Westzonen des Landes, aus denen1949 die Bundesrepublik Deutschlandwurde, die infolge ihrer wirtschaftlichenProsperität und politischen Stabilität zueinem Magneten für den anderen TeilDeutschlands werden sollte, der sich ausder Sowjetischen Besatzungszone im Ok-tober 1949 zur Deutschen Demokrati-schen Republik entwickelt hatte.

Das Ende, das ein Anfang warIm Rückblick erscheint so die Niederla-ge als ein „Ende, das ein Anfang war“.1945 wurde das Schicksal der Deutschenin die Hand der Siegermächte gelegt.Mochten diese auch erklären, als „Sie-ger“ zu kommen, nicht als „Befreier“, so

wurde bald deutlich, dass sie bei allemSchweren, was folgte, die Deutschen vonder nationalsozialistischen Diktatur be-freit und vor einer noch schrecklicherenZukunft bewahrt hatten. Zwar musstenMillionen Deutsche auch nach 1945große Gefahren überstehen und uner-messliche Opfer bringen: Ihre Leidenwaren aber das Ergebnis einer Niederla-ge und einer denkbar späten Kapitulati-on. Viele Millionen hätten ihr Leben

behalten können, wenn man rechtzeitigden Krieg beendet hätte. Dies solltenicht vergessen werden, wenn man aufdas Jahr 1945 als „deutsche Katastrophe“(Friedrich Meinecke) zurückschaut: Fürdie NS-Führung war dieser Krieg zu allenZeiten vor allem ein Rassen- und Welt-anschauungskrieg gewesen. Er hatteWunden geschlagen, die, so schien es1945, nicht mehr verheilen konnten,denn dieser Krieg raffte ganz Unwieder-

bringliches dahin. Dieses endgültig Ver-gangene lässt sich nicht auf einen einzi-gen Begriff bringen: Deshalb sprechenwir vom „alten Europa“, das von der Ge-meinsamkeit vieler Völker, von der Viel-fältigkeit der Konfessionen, von der Plu-ralität der Überzeugungen und auch vomgeradezu unerschöpflichen Reichtum hi-storischer Erfahrungen in einem Bezie-hungsgeflecht ausging, das wir heute nurnoch ahnen können.

Wenn die Menschen später an den8. Mai 1945 zurückdachten, erwähntensie als stärksten und bleibenden Ein-druck die Stille: kein Kampflärm, keineBedrohung durch Bomben und Gestapo,häufig kaum mehr die Kraft wahrzu-nehmen, was Kriegsende und Friedenbedeuteten. Am 8. Mai 1945 endeteeine Phase unvorstellbarer Zerstörung,ein Weg in das Dunkel und in dieUngewissheit.�

Flucht, Vertreibung und Integration

Nach dem Kriegsende flüchteten zwi-schen 1945 bis 1950 etwa 8 Mio. Men-schen aus den ehemaligen Ostgebietendes Deutschen Reiches in den Grenzenvon 1937 sowie weitere rd. 5,5 Mio. ausanderen Gebieten außerhalb dieser Gren-zen in Richtung der vier Besatzungszo-nen. Die Aufnahme und Unterbringungder Vertriebenen und Flüchtlinge in dasräumlich stark verkleinerte und zerstörteDeutschland stellte eine der größten ge-sellschaftlichen, wirtschaftlichen und ins-besondere menschlichen Herausforderun-gen dar. Die vier Besatzungszonen nah-men ca. 12 Mio. Menschen auf, Öster-reich weitere 400.000. Viele verstarbenauf der Flucht. Die Hauptherkunftsgebie-te waren Ostpreußen und das Baltikum,Schlesien, das Sudetenland und Pom-mern. Von der Integration prozentual be-sonders stark betroffen waren die nord-deutschen Länder Schleswig-Holstein,Mecklenburg-Vorpommern und Nieder-sachsen. Heute stammt etwa jeder/efünfte deutsche Bürger/in aus den ehe-maligen Ostgebieten oder gehört einerFamilie von Vertriebenen und Flüchtlingenan.