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Friedrich Engels

Dialektik derNatur(Auszüge)

Friedrich Engels - Dialektik der Natur - 2

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Inhalt:

Einleitung 5

Über die Dialektik 39 Alte Vorrede zum "[Anti-]Dühring"

Allgemeine Fragen der Dialektik. 53 Grundgesetze der Dialektik]

Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen 64

[Notizen und Fragmente] 83

Naturwissenschaft und PhilosophieBüchner

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Einleitung1

Die moderne Naturforschung, die einzige, die es zu einer wissen-schaftlichen, systematischen, allseitigen Entwicklung gebracht hatim Gegensatz zu den genialen naturphilosophischen Intuitionen derAlten und zu den höchst bedeutenden, aber sporadischen und größ-tenteils resultatlos dahingegangnen Entdeckungen der Araber -

1 In dem von Engels aufgestellten Inhaltsverzeichnis des 3. Konvoluts heißt die-se "Einleitung" - "Alte Einleitung". Im Text der "Einleitung" finden sich zweiStellen, nach denen das Datum der Niederschrift bestimmt werden kann. Auf S.320 schreibt Engels, dass »die Zelle noch nicht vierzig Jahre entdeckt ist«. Wennman berücksichtigt, dass Engels in seinem Brief an Marx vom 14. Juli 1858 "ca.1836" als das Datum der Entdeckung der Zelle bezeichnet, und wenn man die-sem Datum 39 Jahre hinzufügt ("noch nicht vierzig Jahre"), erhält man ca. 1875als das Jahr, in dem die "Einleitung" geschrieben wurde. Andrerseits schreibtEngels auf S. 322, dass »erst seit ungefähr zehn Jahren die Tatsache bekannt ist,dass vollkommen strukturloses Eiweiß alle wesentlichen Funktionen des Le-bens... vollzieht«. Hierbei hatte er die von Ernst Haeckel in dem Buch "GenerelleMorphologie der Organismen..." beschriebenen Moneren (siehe Anm. 42) imAuge. Dieses Buch war 1866 erschienen. Wenn man diesem Datum zehn Jahrehinzufügt, kommt man auf 1876. Aus den angeführten Fakten folgt also, dass die"Einleitung" 1875 oder 1876 geschrieben wurde. Es ist möglich, dass der ersteTeil der "Einleitung" 1875 und der zweite Teil in der ersten Hälfte des Jahres1876 geschrieben wurde.

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Ibn Sina (lateinisiert: Avicenna), der Begründer derMedizinwissenschaft. Er war persischer Arzt, Physiker, Philo-soph, Dichter, Jurist, Mathematiker, Astronom, Alchemist und Mu-

siktheoretiker.

die moderne Naturforschung datiert wie die ganze neuere Ge-schichte von jener gewaltigen Epoche, die wir Deutsche, nach demuns damals zugestoßenen Nationalunglück, die Reformation, dieFranzosen die Renaissance und die Italiener das Cinquecento nen-nen, und die keiner dieser Namen erschöpfend ausdrückt.

Es ist die Epoche, die mit der letzten Hälfte des 15. Jahrhundertsanhebt. Das Königtum, sich stützend auf die Städtebürger, brachdie Macht des Feudaladels und begründete die großen, wesentlichauf Nationalität basierten Monarchien, in denen die modernen euro-päischen Nationen und die moderne bürgerliche Gesellschaft zurEntwicklung kamen; und während noch Bürger und Adel sich inden Haaren lagen, wies der deutsche Bauernkrieg prophetisch hinauf zukünftige Klassenkämpfe, indem er nicht nur die empörten

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Bauern auf die Bühne führte - das war nichts Neues mehr -, son-dern hinter ihnen die Anfänge des jetzigen Proletariats, die roteFahne in der Hand und die Forderung der Gütergemeinschaft aufden Lippen.

In den aus dem Fall von Byzanz geretteten Manuskripten, in denaus den Ruinen Roms ausgegrabenen antiken Statuen ging dem er-staunten Westen eine neue Welt auf, das griechische Altertum; vorseinen lichten Gestalten verschwanden die Gespenster des Mittelal-ters; Italien erhob sich zu einer ungeahnten Blüte der Kunst, die wieein Widerschein des klassischen Altertums erschien und die niewieder erreicht worden. In Italien, Frankreich, Deutschland ent-stand eine neue, die erste moderne Literatur; England und Spanienerlebten bald darauf ihre klassische Literaturepoche. Die Schrankendes alten Orbis terrarum (Erdkreises) wurden durchbrochen, dieErde wurde eigentlich jetzt erst entdeckt und der Grund gelegt zumspäteren Welthandel und zum Übergang des Handwerks in die Ma-nufaktur, die wieder den Ausgangspunkt bildete für die modernegroße Industrie.

Die geistige Diktatur der Kirche wurde gebrochen; die germani-schen Völker warfen sie der Mehrzahl nach direkt ab und nahmenden Protestantismus an, während bei den Romanen eine von denArabern übernommene und von der neuentdeckten griechischenPhilosophie genährteheitre Freigeistereimehr und mehr Wur-zel fasste und denMaterialismus des18. Jahrhunderts vor-bereitete.

Es war die größteprogressive Umwäl-zung, die dieMenschheit bis dahinerlebt hatte, eineZeit, die Riesen

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brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft undCharakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit. Die Männer, diedie moderne Herrschaft der Bourgeoisie begründeten, waren alles,nur nicht bürgerlich beschränkt. Im Gegenteil, der abenteuerndeCharakter der Zeit hat sie mehr oder weniger angehaucht. Fast keinbedeutender Mann lebte damals, der nicht weite Reisen gemacht,der nicht vier bis fünf Sprachen sprach, der nicht in mehreren Fä-chern glänzte.

Leonardo da Vinci war nicht nur ein großer Maler, sondern auchein großer Mathematiker, Mechaniker und Ingenieur, dem die ver-schiedensten Zweige der Physik wichtige Entdeckungen verdanken.

Leonardo da Vinci, Grotesker Kopf, 1515

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Albrecht Dürer war Maler, Kup-ferstecher, Bildhauer, Architekt underfand außerdem ein System der For-tifikation (Befestigungswerke), dasschon manche der weit später durchMontalembert und die neuere deut-sche Befestigung wieder aufgenom-menen Ideen enthält.

Machiavelli war Staatsmann, Ge-schichtsschreiber, Dichter und zu-gleich der erste nennenswerte Militär-schriftsteller der neueren Zeit.

Luther fegte nicht nur den Augiass-tall der Kirche, sondern auch den derdeutschen Sprache aus, schuf die mo-derne deutsche Prosa und dichteteText und Melodie jenes siegesgewis-sen Chorals, der die Marseillaise des16. Jahrhunderts wurde.

Die Heroen jener Zeit waren ebennoch nicht unter die Teilung der Arbeit geknechtet, deren beschrän-kende, einseitig machende Wirkungen wir so oft an ihren Nachfol-gern verspüren.

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Luther vor dem Reichstag zu Worms –

Holzschnitt 1556

Was ihnen aber besonders eigen, das ist, dass sie fast alle mitten inder Zeitbewegung, im praktischen Kampf leben und weben, Parteiergreifen und mitkämpfen, der mit Wort und Schrift, der mit demDegen, manche mit beidem. Daher jene Fülle und Kraft des Cha-rakters, die sie zu ganzen Männern macht. Stubengelehrte sind dieAusnahme: entweder Leute zweiten und dritten Rangs oder vor-sichtige Philister, die sich die Finger nicht verbrennen wollen.

Auch die Naturforschung bewegte sich damals mitten in der allge-meinen Revolution und war selbst durch und durch revolutionär;hatte sie sich doch das Recht der Existenz zu erkämpfen. Hand inHand mit den großen Italienern, von denen die neuere Philosophiedatiert, lieferte sie ihre Märtyrer auf den Scheiterhaufen und in dieGefängnisse der Inquisition. Und bezeichnend ist, dass Protestantenden Katholiken vorauseilten in der Verfolgung der freien Naturfor-schung. Johannes Calvin verbrannte Michael Servetus, als dieserauf dem Sprunge stand, den Lauf der Blutzirkulation zu entdecken,und zwar ließ er ihn zwei Stunden lebendig braten; die Inquisition

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begnügte sich wenigstens damit, Giordano Bruno einfach zu ver-brennen.

Giordano Bruno vor der Inquisitionskommission1600. Historisierendes Relief von Ettore Ferrari

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27811759

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Der revolutionäre Akt, wodurch die Naturforschung ihre Unab-hängigkeit erklärte und die Bullenverbrennung Luthers gleichsamwiederholte, war dieHerausgabe des unsterb-lichen Werks, womitKopernikus, schüchternzwar und sozusagen erstauf dem Totenbett, derkirchlichen Autorität innatürlichen Dingen denFehdehandschuh hin-warf2.

Dreistab (Triquetum) von Nikolaus Kopernikus

Von da an datiert die Emanzipation der Naturforschung von derTheologie, wenn auch die Auseinandersetzung der einzelnen ge-genseitigen Ansprüche sich bis in unsre Tage hingeschleppt undsich in manchen Köpfen noch lange nicht vollzogen hat. Aber vonda an ging auch die Entwicklung der Wissenschaften mit Riesen-schritten vor sich und gewann an Kraft, man kann wohl sagen imquadratischen Verhältnis der (zeitlichen) Entfernung von ihremAusgangspunkt. Es war, als sollte der Welt bewiesen werden, dassvon jetzt an für das höchste Produkt der organischen Materie, denmenschlichen Geist, das umgekehrte Bewegungsgesetz gelte wiefür den anorganischen Stoff.

Die Hauptarbeit in der nun angebrochnen ersten Periode der Na-turwissenschaft war die Bewältigung des nächstliegenden Stoffs.Auf den meisten Gebieten musste ganz aus den Rohen angefangenwerden. Das Altertum hatte den Euklid und das ptolemäische Son-nensystem, die Araber die Dezimalnotation, die Anfänge der Alge-bra, die modernen Zahlen und die Alchimie hinterlassen;

2 An seinem Sterbetag, dem 24.Mai 1543, erhielt Kopernikus das erste Exemplarseines Werkes "De revolutionibus orbium coelestium", in dem er das hellozentri-sche System, das die Sonne als von den Planeten umkreist in den Mittelpunkt derWelt stellt, darlegte.

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al-Chwarizimi, Vater der Algebra

das christliche Mittelalter gar nichts.

Notwendig nahm in dieser Lage die ele-mentarste Naturwissenschaft, die Mechanikder irdischen und himmlischen Körper, denersten Rang ein, und neben ihr, in ihremDienst, die Entdeckung und Vervollkomm-nung der mathematischen Methoden. Hierwurde Großes geleistet. Am Ende der Peri-ode, das durch Newton und Linné

https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_von_Linn%C3%A9 bezeichnetwird, finden wir dieseZweige der Wissenschaftzu einem gewissen Ab-schluss gebracht. Die we-sentlichsten mathemati-schen Methoden sind inden Grundzügen festgestellt; die analytische Geometrie vorzüglichdurch Descartes

https://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Descartes, die Logarit-men durch Neper, die Differential- und Integralrechnung durchLeibniz und vielleicht Newton.

Dasselbe gilt von der Mechanik fester Körper, deren Hauptgeset-ze ein für allemal klargestellt waren. Endlich in der Astronomie desSonnensystems hatte Kepler die Gesetze der Planetenbewegungentdeckt und Newton sie unter dem Gesichtspunkt allgemeiner Be-wegungsgesetze der Materie gefasst.

Die andern Zweige der Naturwissenschaft waren weit entferntselbst von diesem vorläufigen Abschluss. Die Mechanik der flüssi-gen und gasförmigen Körper wurde erst gegen Ende der Periode

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mehr bearbeitet.3 Die eigentliche Physik war noch nicht über dieersten Anfänge hinaus, wenn wir die Optik ausnehmen, deren aus-nahmsweise Fortschritte durch das praktische Bedürfnis der Astro-nomie hervorgerufen wurden. Die Chemie emanzipierte sich ebenerst durch die phlogistische Theorie4, von der Alchimie. Die Geolo-gie war noch nicht über die embryonische Stufe der Mineralogiehinaus; die Paläontologie konnte also noch gar nicht existieren.Endlich im Gebiet der Biologie war man noch wesentlich beschäf-tigt mit der Sammlung und ersten Sichtung des ungeheuren Stoffs,sowohl des botanischen und zoologischen wie des anatomischenund eigentlich physiologischen.

Von Vergleichung der Lebensformen untereinander, von Untersu-chung ihrer geographischen Verbreitung, ihren klimatologischenetc. Lebensbedingungen, konnte noch kaum die Rede sein. Hier er-reichte nur Botanik und Zoologie einen annähernden Abschlussdurch Linné.

Was diese Periode aber besonders charakterisiert, ist die Her-ausarbeitung einer eigentümlichen Gesamtanschauung, derenMittelpunkt die Ansicht von der absoluten Unveränderlichkeitder Natur bildet. Wie auch immer die Natur selbst zustande ge-kommen sein mochte: einmal vorhanden, blieb sie, wie sie war,solange sie bestand.

3 N (Randnotiz von Engels): Torricelli bei Gelegenheit der Alpenstromregulie-rung.

4 Die in der Chemie des 18. Jahrhunderts vorherrschende Theorie nahm an, dasWesen jeder Verbrennung bestehe darin, »dass sich von dem verbrennendenKörper ein andrer, hypothetischer Körper trenne, ein absoluter Brennstoff, dermit dem Namen Phlogiston bezeichnet wurde« (Engels). Die Unhaltbarkeit dieserTheorie wurde von dem französischen Chemiker Antoine-Laurent Lavoisier be-wiesen. Bei seinen Untersuchungen entdeckte er, dass »in der Verbrennungnicht das geheimnisvolle Phlogiston aus dem verbrennenden Körper weggeht,sondern dies neue Element« (d.h. der um diese Zeit entdeckte Sauerstoff) »sichmit dem Körper verbindet...« (Engels). Über die positive Rolle, die die phlogisti-sche Theorie zu ihrer Zeit gespielt hat, spricht Engels am Schluss der "AltenVorrede zum '[Anti-]Dühring'". Ausführlich behandelt Engels diese Theorie imVorwort zum zweiten Band des "Kapitals", dem die obigen Zitate entnommensind (siehe MEW, Band 24, S. 22).

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Die Planeten und ihre Satelliten, einmal in Bewegung gesetzt vondem geheimnisvollen "ersten Anstoß", kreisten fort und fort inihren vorgeschriebnen Ellipsen in alle Ewigkeit oder doch bis zumEnde aller Dinge. Die Sterne ruhten für immer fest und unbeweg-lich auf ihren Plätzen, einander darin haltend durch die "allgemeineGravitation". Die Erde war von jeher oder auch von ihrem Schöp-fungstage an (je nachdem) unverändert dieselbe geblieben. Die jet-zigen "fünf Weltteile" hatten immer bestanden, immer dieselbenBerge, Täler und Flüsse, dasselbe Klima, dieselbe Flora und Faunagehabt, es sei denn, dass durch Menschenhand Veränderung oderVerpflanzung stattgefunden.

Die Arten der Pflanzen und Tiere waren bei ihrer Entstehung einfür allemal festgestellt, Gleiches zeugte fortwährend Gleiches, undes war schon viel, wenn Linné zugab, dass hier und da durch Kreu-zung möglicherweise neue Arten entstehen konnten. Im Gegensatzzur Geschichte der Menschheit, die in der Zeit sich entwickelt, wur-de der Naturgeschichte nur eine Entfaltung im Raum zugeschrie-ben. Alle Veränderung, alle Entwicklung in der Natur wurde ver-neint. Die anfangs so revolutionäre Naturwissenschaft stand plötz-lich vor einer durch und durch konservativen Natur, in der alles

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noch heute so war, wie es von Anfang an gewesen, und in der - biszum Ende der Welt oder in Ewigkeit - alles so bleiben sollte, wie esvon Anfang an gewesen.

So hoch die Naturwissenschaft der ersten Hälfte des achtzehntenJahrhunderts über dem griechischen Altertum stand an Kenntnisund selbst an Sichtung des Stoffs, so tief stand sie unter ihm in derideellen Bewältigung desselben, in der allgemeinen Naturanschau-ung. Den griechischen Philosophen war die Welt wesentlich etwasaus dem Chaos Hervorgegangnes, etwas Entwickeltes, etwas Ge-wordenes. Den Naturforschern der Periode, die wir behandeln, warsie etwas Verknöchertes, etwas Unwandelbares, den meisten etwasmit einem Schlage Gemachtes. Die Wissenschaft stak noch tief inder Theologie. Überall sucht sie und findet sie als Letztes einenAnstoß von außen, der aus der Natur selbst nicht zu erklären. Wirdauch die Anziehung, von Newton pompöserweise allgemeine Gra-vitation getauft, als wesentliche Eigenschaft der Materie aufgefasst,woher kommt die unerklärte Tangentialkraft, die erst die Planeten-bahnen zustande bringt? Wie sind die zahllosen Arten der Pflanzenund Tiere entstanden? Und wie nun gar erst der Mensch, von demdoch feststand, dass er nicht von Ewigkeit her da war?

Auf solche Fragen antwortete die Naturwissenschaft nur zu oft,indem sie den Schöpfer aller Dinge dafür verantwortlich machte,im Anfang der Periode, schreibt Kopernikus der Theologie den Ab-sagebrief; Newton schließt sie mit dem Postulat des göttlichen ers-ten Anstoßes. Der höchste allgemeine Gedanke, zu dem diese Na-turwissenschaft sich aufschwang, war der der Zweckmäßigkeit derNatureinrichtungen, die flache Wolffsche Teleologie, wonach dieKatzen geschaffen wurden, um die Mäuse zu fressen, die Mäuse,um von den Katzen gefressen zu werden, und die ganze Natur, umdie Weisheit des Schöpfers darzutun. Es gereicht der damaligenPhilosophie zur höchsten Ehre, dass sie sich durch den beschränk-ten Stand der gleichzeitigen Naturkerkentnisse nicht beirren ließ,dass sie - von Spinoza bis zu den großen französischen Materialis-ten - darauf beharrte, die Welt aus sich selbst zu erklären, und derNaturwissenschaft der Zukunft die Rechtfertigung im Detail über-ließ.

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Ich rechne die Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts nochmit zu dieser Periode, weil ihnen kein andres naturwissenschaftli-ches Material zu Gebote stand als das oben geschilderte. Kants epo-chemachende Schrift blieb ihnen ein Geheimnis, und Laplace kamlange nach ihnen5. Vergessen wir nicht, dass diese veraltete Natur-anschauung, obwohl an allen Ecken und Enden durchlöchert durchden Fortschritt der Wissenschaft, die ganze erste Hälfte des neun-zehnten Jahrhunderts beherrscht hat6 und noch jetzt, der Hauptsachenach, auf allen Schulen gelehrt wird7.

Die erste Bresche in diese versteinerte Naturanschauung wurdegeschlossen nicht durch einen Naturforscher, sondern durch einen

5 Laplace entwickelte seine Hypothese über die Entstehung des Son-nensystems im letzten Kapitel seiner 1795/1796 erschienenen zweibän-digen Schrift "Exposition du système du monde". In der letzten von La-place besorgten Ausgabe dieser Schrift, die aber erst 1835, nach seinemTode, erschien, ist seine Hypothese in der Anmerkung VII dargelegt.

Die Existenz einer glühenden gasförmigen Substanz im Weltraum, ähnlich denNebelflecken (glühende Nebelmassen), die die Kaint-Laplacesche Nebulartheo-rie voraussetzte, wurde 1864 von dem englischen Astronomen William Hugginsmit Hilfe der 1859 von Gustav Kirchhoff und Robert Bunsen entdeckten Sprek-tralanalyse nachgewiesen. Engels benutzte hier Angelo Secchis Werk "Die Son-ne...", Braunschweig 1872, S.787, 789/790 (siehe MEW, Band 20, S.539

6 RN: Die Festigkeit der alten Naturanschauung lieferte den Boden zur allge-meinen Zusammenfassung der gesamten Naturwissenschaft als ein Ganzes. Diefranzösische Enzyklopädisten, noch rein mechanisch nebeneinander, danngleichzeitig St. Simon und deutsche Naturphilosophie, vollendet durch Hegel.

7 Wie unerschütterlich noch 1861 ein Mann an diese Ansicht glauben kann, des-sen wissenschaftliche Leistungen höchst bedeutendes Material zu ihrer Beseiti-gung geliefert haben, zeigen folgende klassischen Worte:

»Alle Einrichtungen im System unserer Sonne zielen, soweit wir sie zu durch-schauen imstande sind, auf Erhaltung des Bestehenden und unabänderlicheDauer. Wie kein Tier, keine Pflanze der Erde seit den ältesten Zeiten voll-kommener oder überhaupt ein anderes geworden ist, wie wir in allen Orga-nismen nur Stufenfolgen nebeneinander, nicht nacheinander antreffen, wieunser eigenes Geschlecht in körperlicher Beziehung stets dasselbe gebliebenist - so wird auch selbst die größte Mannigfaltigkeit der koexistierendenWeltkörper uns nicht berechtigen, in diesen Formen bloß verschiedene Ent-wicklungsstufen anzunehmen, vielmehr ist alles Erschaffene gleich vollkom-men] in sich« (Mädler, "Pop. Astr[onomie]", Berlin 1861, 5. Aufl., S.316).

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Philosophen. 1755 erschien Kants"Allgemeine Naturgeschichte und The-orie des Himmels". Die Frage nachdem ersten Anstoß war beseitigt; dieErde und das ganze Sonnensystem er-schienen als etwas im Verlauf der ZeitGewordenes. Hätte die große Mehrzahlder Naturforscher weniger von demAbscheu vor dem Denken gehabt, denNewton mit der Warnung ausspricht:»Physik, hüte dich vor der Metaphy-sik!8 - sie hätten aus dieser einen genia-len Entdeckung Kants Folgerungen zie-hen müssen, die ihnen endlose Abwe-ge, unermessliche Mengen in falschenRichtungen vergeudeter Zeit und Ar-beit ersparte. Denn in Kants Entdeckung lag der Springpunkt allesferneren Fortschritts. War die Erde etwas Gewordenes, so mussteihr gegenwärtiger geologischer, geographischer, klimatischer Zu-stand, mussten ihre Pflanzen und Tiere ebenfalls etwas Gewordenessein, musste sie eine Geschichte haben nicht nur im Raum neben-

8 gemeint ist der Gedanke, den Isaac Newton am Ende des vierten Bandes seinesHauptwerkes "Philosophiae naturalis principia mathematica" in der "Allgemei-nen Anmerkung" aussprach: »Ich habe bisher die Erscheinungen des Himmels-körpers und die Bewegungen des Meeres durch die Kraft der Schwere erklärt,aber ich habe nirgends die Ursache der letzteren angegeben«. Nach Aufzählungeiniger Eigenschaften der Schwere setzt Newton fort: »Ich habe noch nicht da-hin gelangen können, aus den Erscheinungen den Grund dieser Eigenschaftender Schwere abzuleiten, und Hypothesen erdenke ich nicht. Alles nämlich, wasnicht aus den Erscheinungen folgt, ist eine Hypothese, und Hypothesen, seien sienun metaphysische oder physische, mechanische oder diejenigen der verborge-nen Eigenschaften, dürfen nicht in der experimentalen Philosophie aufgenom-men werden. In dieser Philosophie leitet Man die Sätze aus den Erscheinungenab und verallgemeinert sie durch Induktion«. (Deutsche Übersetzung nach: "SirIsaac Newton's mathematische Principien der Naturlehre", hrsg. von Wolfers,Berlin 1872, S. 511)

Diesen Ausspruch Newtons hatte Hegel im Auge, als er in seiner "Encyklopädieder philosophischen Wissenschaften..." im Zusatz 1 des § 98 schrieb: »Newtonhat... die Physik ausdrücklich gewarnt, sich vor der Metaphysik zu hüten...«

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einander, sondern auch in der Zeit nacheinander. Wäre sofort indieser Richtung entschlossen fortuntersucht worden, die Naturwis-senschaft wäre jetzt bedeutend weiter, als sie ist. Aber was konntevon der Philosophie Gutes kommen? Kants Schrift blieb ohne un-mittelbares Resultat, bis lange Jahre später Laplace und Herschelihren Inhalt ausführten und näher begründeten und damit die "Ne-bularhypothese" allmählich zu Ehren brachten. Fernere Entdeckun-gen verschafften ihr endlich den Sieg; die wichtigsten darunter wa-ren: die Eigenbewegung der Fixsterne, der Nachweis eines wider-stehenden Mittels im Weltraum, der durch die Spektralanalyse ge-führte Beweis der chemischen Identität der Weltmaterie und desBestehens solarer glühenden Nebelmassen, wie Kant sie vorausge-setzt9.

Es ist aber erlaubt zu zweifeln, ob der Mehrzahl der Naturforscherder Widerspruch einer sich verändernden Erde, die unveränderlicheOrganismen tragen soll, so bald zum Bewusstsein gekommen wäre,hätte die aufdämmernde Anschauung, dass die Natur nicht ist, son-dern wird und vergeht, nicht von andrer Seite Sukkurs bekommen.Die Geologie entstand und wies nicht nur nacheinander gebildeteund übereinander gelagerte Erdschichten auf, sondern auch in die-sen Schichten die erhaltenen Schalen und Skelette ausgestorbnerTiere, die Stämme, Blätter und Früchte nicht mehr vorkommenderPflanzen. Man musste sich entschließen anzuerkennen, dass nichtnur die Erde im ganzen und großen, dass auch ihre jetzige Oberflä-che und die darauf lebenden Pflanzen und Tiere eine zeitliche Ge-schichte hatten.

Die Anerkennung geschah anfangs widerwillig genug. CuviersTheorie von den Revolutionen der Erde war revolutionär in derPhrase und reaktionär in der Sache. An die Stelle der Einen göttli-chen Schöpfung setzte sie eine ganze Reihe wiederholter Schöp-fungsakte, machte das Mirakel zu einem wesentlichen Hebel derNatur. Erst Lyell brachte Verstand in die Geologie, indem er dieplötzlichen, durch die Launen des Schöpfers hervorgerufenen Re-

9 RN: Flutwellenrotationshemmung, auch von Kant, erst jetzt verstanden.

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volutionen ersetzte durch die allmählichen Wirkungen einer langsa-men Umgestaltung der Erde10.

Die Lyellsche Theorie war noch unverträglicher mit der Annahmebeständiger organischer Arten als alle ihre Vorgängerinnen. All-mähliche Umgestaltung der Erdoberfläche und aller Lebensbedin-gungen führte direkt auf allmähliche Umgestaltung der Organismenund ihre Anpassung an die sich ändernde Umgebung, auf die Wan-delbarkeit der Arten. Aber die Tradition ist eine Macht nicht nur inder katholischen Kirche, sondern auch in der Naturwissenschaft.Lyell selbst sah jahrelang den Widerspruch nicht, seine Schülernoch weniger. Es ist dies nur zu erklären durch die inzwischen inder Naturwissenschaft herrschend gewordne Teilung der Arbeit, diejeden auf sein spezielles Fach mehr oder weniger beschränkte undnur wenige nicht des allgemeinen Überblicks beraubte.

Inzwischen hatte die Physik gewaltige Fortschritte gemacht, derenResultate in dem für diesen Zweig der Naturforschung epochema-chenden Jahr 1842 von drei verschiedenen Männern fast gleichzei-tig zusammengefasst wurden. Mayer in Heilbronn und Joule inManchester wiesen den Umschlag von Wärme in mechanischeKraft und von mechanischer Kraft in Wärme nach. Die Feststellungdes mechanischen Äquivalents der Wärme stellte dies Resultat au-ßer Frage. Gleichzeitig bewies Crove11 - kein Naturforscher vonProfession, sondern ein englischer Advokat - durch einfache Verar-beitung der bereits erreichten einzelnen physikalischen Resultatedie Tatsache, dass alle sog. physikalischen Kräfte, mechanischeKraft, Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus, ja selbst die sog.

10 Der Mangel der Lyellschen Anschauung - wenigstens in ihrer ersten Form -lag darin, dass sie die auf der Erde wirkenden Kräfte als konstant auffaßte, kon-stant nach Qualität und Quantität. Die Abkühlung der Erde besteht nicht für ihn;die Erde entwickelt sich nicht in bestimmter Richtung, sie verändert sich bloß inzusammenhangsloser, zufälliger Weise.

11 Engels benutzte bei der Arbeit an der "Dialektik der Natur" William RobertGroves Buch "The correlation physical forces", 3rd ed., London 1855 (die ersteAuflage erschien 1846). Diesem Buch lag eine Vorlesung Groves zugrunde, diedieser im Januar 1842 in der "London Institution" gehalten und kurz danach ver-öffentlicht hatte.

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chemische Kraft, unter bestimmten Bedingungen die eine in dieandre umschlagen, ohne dass irgendwelcher Kraftverlust stattfindet,und bewies so nachträglich auf physikalischem Wege den Satz desDescartes, dass die Quantität der in der Welt vorhandenen Bewe-gung unveränderlich ist.12 Hiermit waren die besonderen physikali-schen Kräfte, sozusagen die unveränderlichen "Arten" der Physik,in verschieden differenzierte und nach bestimmten Gesetzen inein-ander übergehende Bewegungsformen der Materie aufgelöst. DieZufälligkeit des Bestehens von soundso viel physikalischen Kräftenwar aus der Wissenschaft beseitigt, indem ihre Zusammenhängeund Übergänge nachgewiesen. Die Physik war, wie schon die As-tronomie, bei einem Resultat angekommen, das mit Notwendigkeitauf den ewigen Kreislauf der sich bewegenden Materie als Letzteshinwies.

Die wunderbar rasche Entwicklung der Chemie seit Lavoisier undbesonders seit Dalton griff die alten Vorstellungen von der Naturvon einer andern Seite an. Durch Herstellung von bisher nur im le-benden Organismus erzeugten Verbindungen auf anorganischemWege wies sie nach, dass die Gesetze der Chemie für organischeKörper dieselbe Gültigkeit haben wie für unorganische, und fülltesie einen großen Teil der noch nach Kant auf ewig unüberschreitba-ren Kluft zwischen unorganischer und organischer Natur aus.

Endlich hatten auch auf dem Gebiet der biologischen Forschung,namentlich die seit Mitte des vorigen Jahrhunderts systematisch be-triebnen wissenschaftlichen Reisen und Expeditionen, die genauereDurchforschung der europäischen Kolonien in allen Weltteilendurch dort lebende Fachleute, ferner die Fortschritte der Paläonto-logie, der Anatomie und Physiologie überhaupt, besonders seit sys-

12 Die Auffassung von der Bewegung als einem konstanten Quantum (Erhaltungder Bewegungsquantität) entwickelte René Descartes in seiner Abhandlung überdas Licht (Erster Teil des Werkes "De mundo", das 1630-1633 geschrieben, abererst 1664, 14 Jahre nach Descartes' Tod, herausgegeben wurde) und in seinemBrief an de Beaune vom 30. April 1639. Vollständiger wurde diese Auffassungin Descartes' Werk "Principia philosophiae", Amsterdam 1644, Zweiter Teil, §36 dargelegt (siehe: (Euvres de Descartes, publiées par Victor Cousin, Paris1824, t. 4, p. 255 sqq., t. 11, p. 123/124 und t. 3, p. 150-152).

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tematischer Anwendung des Mikroskops und Entdeckung der Zel-le, so viel Material gesammelt, dass die Anwendung der verglei-chenden Methode möglich und zugleich notwendig wurde.13

Einerseits wurden durch die vergleichende physische Geographiedie Lebensbedingungen der verschiednen Floren und Faunen fest-gestellt, andrerseits die verschiednen Organismen nach ihren homo-logen Organen untereinander verglichen, und zwar nicht nur im Zu-stand der Reife, sondern auf allen ihren Entwicklungsstufen. Je tie-fer und genauer diese Untersuchung geführt wurde, desto mehr zer-floss ihr unter den Händen jenes starre System einer unveränderli-chen fixierten organischen Natur.

Nicht nur, dass immer mehr einzelne Arten von Pflanzen und Tie-ren rettungslos ineinander verschwammen, es tauchten Tiere auf,wie Amphioxus und Lepidosiren14, die aller bisherigen Klassifikati-on spotteten15, und endlich stieß man auf Organismen, von denennicht einmal zu sagen war, ob sie zum Pflanzenreich oder zumTierreich gehörten. Die Lücken im paläontologischen Archiv füll-ten sich mehr und mehr und zwangen auch dem Widerstrebendstenden schlagenden Parallelismus auf, der zwischen der Entwicklungs-geschichte der organischen Welt im Großen und Ganzen und derdes einzelnen Organismus besteht, den Ariadnefaden, der aus demLabyrinth führen sollte, worin Botanik und Zoologie sich tiefer undtiefer zu verirren schienen.

13 RN: Embryologie

14 Amphioxus (Lanzettfischchen) - kleines (ungefähr 5 cm langes) fischähnli-ches Tier, das in verschiedenen Meeren und Ozeanen vorkommt (im IndischenOzean, im Stillen Ozean an den Küsten des Malaiischen Archipels und Japans,im Mittelmeer, im Schwarzen Meer usw.) und eine Übergangsform von denWirbellosen zu den Wirbeltieren darstellt.

Lepidosiren (Schuppenmolch) - im Gebiet des Amazonenstromes lebenderFisch, der der Familie der Lungenfische oder Doppelatmer angehört und einengroßen Teil seines Lebens außerhalb des Wassers verbringt.

15RN: Ceratodus. Dito Archaeopteryx etc. (Ceratodus - ein Lungenfisch Austra-liens, der alle 30 - 40 Minuten an die Oberfläche des Wassers kommt, um dieLuft in seinen Schwimmblasen zu erneuern. Archaeopteryx - fossiles Wirbeltier,ein Vogel von der Größe einer Taube mit Reptilienmerkmalen. Engels benutztehier Henry Alleyne Nicholsons Buch "A manual of zoology".)

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Es war bezeichnend,dass fast gleichzeitigmit Kants Angriff aufdie Ewigkeit des Son-nensystems CasparFriedrich Wolff 1759den ersten Angriff aufdie Beständigkeit derArten erließ und die Ab-stammungslehre prokla-mierte16. Aber was beiihm nur noch genialeAntizipation, das nahmbei Oken, Lamarck,Baer feste Gestalt anund wurde genau 100Jahre später, 1859, vonDarwin sieghaft durch-geführt17.

16 Caspar Friedrich Wolff veröffentlichte 1759 seine Dissertation "Theoria ge-nerationis", worin die Präformationstheorie umgestoßen und die Theorie derEpigenesis wissenschaftlich begründet wird.

Die Anhänger der metaphysischen Präformationstheorie, einer Theorie, die im17. und 18. Jahrhundertunter den Biologen vorherrschend war, behaupteten, dassder heranreifende neue Organismus bereits im Keime in allen Einzelheiten vor-gebildet sei, die Entwicklung des Organismus nur ein rein quantitatives Wachs-tum bedeute und eine Entwicklung, die auf einer ununterbrochen fortgesetztenKette von Neubildungen (Epigenesis) beruhe, nicht vorkomme. Die Theorie derEpigenesis wurde durch eine Reihe bedeutender Biologen - von Wolff bis Dar-win - begründet und entwickelt.

17 Charles Darwins Hauptwerk "On the origin of species by means of natural se-lection..." erschien am 24. November 1859.

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Fast gleichzeitig wurde konstatiert, dass Protoplasma und Zelle, dieschon früher als letzte Formbestandteile aller Organismen nachge-wiesen, als niedrigste organische Formen selbständig lebend vor-kommen. Damit war sowohl die Kluft zwischen anorganischer undorganischer Natur auf ein Minimum reduziert, wie auch eine derwesentlichsten Schwierigkeiten beseitigt, die der Abstammungsthe-orie der Organismen bisher entgegenstand. Die neue Naturanschau-ung war in ihren Grundzügen fertig: Alles Starre war aufgelöst,alles Fixierte verflüchtigt, alles für ewig gehaltene Besonderevergänglich geworden, die ganze Natur als in ewigem Fluss undKreislauf sich bewegend nachgewiesen.

Und so sind wir denn wieder zurückgekehrt zu der Anschauungs-weise der großen Gründer der griechischen Philosophie, dass diegesamte Natur, vom Kleinsten bis zum Größten, von den Sandkör-nern bis zu den Sonnen, von den Protisten18 bis zum Menschen, in

18 Protisten - nach der Klassifikation Haeckels eine umfangreiche Gruppe ein-fachster Organismen, die sowohl einzellig als auch zellenlos sind und neben denbeiden Reichen der vielzeiligen Organismen (dem Pflanzen- und Tierreich) einbesonderes drittes Reich der organischen Natur bilden.

Die Moneren sind nach Haeckels Hypothese "als die Urquellen alles organischenLebens" "vollkommen homogene, strukturlose, formlose Eiweißklumpen", diealle wesentlichen Lebensfunktionen wie Nahrungsaufnahme, Bewegung, Reakti-on auf Reize, Fortpflanzung erfüllen. Haeckel unterschied ursprüngliche, ausge-storbene Moneren, die durch Selbstzeugung oder Autogonie (Archigonie) »ausdem Urmeere durch Zusammenwirken rein physikalischer und chemischerBedingungen, durch molekulare Bewegungen der Materie« entstanden waren(archigonische Moneren), und noch lebende Moneren. Haeckel ließ die erstenzum Ausgangspunkt der Entwicklung aller drei Reiche der organischen Naturwerden, da er glaubte, dass aus der archigonischen Monera sich historisch dieZelle entwickelt hatte. Die zweiten rechnete er zum Reich der Protesten, wo sieihre erste, einfachste Klasse bilden. Die von Haeckel angenommenen heutigenMoneren unterteilte er in verschiedene Arten: Protamoeba primitiva, Protomyxaaurantiaca, Bathybius Haeckelii.

Die Termini "Protisten" und "Moneren" wurden von Haeckel 1866 (in seinemBuch "Generelle Morphologie der Organismen..") eingeführt, haben sich jedochin der Wissenschaft nicht eingebürgert. Heute werden die von Haeckel als Pro-tisten angesehenen Organismen entweder als Pflanzen oder als Tiere klassifi-ziert. Die Annahme der Existenz von Moneren hat sich nicht bestätigt, jedochwurde die allgemeine Idee der Entwicklung der Zellenorganismen aus vorzelli-

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ewigem Entstehen und Vergehen, in unaufhörlichem Fluss, in rast-loser Bewegung und Veränderung ihr Dasein hat.

Nur mit dem wesentlichen Unterschied, dass, was bei den Grie-chen geniale Intuition war, bei uns Resultat streng wissenschaft-licher, erfahrungsmäßiger Forschung ist und daher auch in vielbestimmterer und klarerer Form auftritt. Allerdings ist der empiri-sche Nachweis dieses Kreislaufs nicht ganz und gar frei von Lü-cken, aber diese sind unbedeutend im Vergleich zu dem, was be-reits sichergestellt ist, und füllen sich mit jedem Jahr mehr undmehr aus. Und wie könnte der Nachweis im Detail anders als lü-ckenhaft sein, wenn man bedenkt, dass die wesentlichsten Zweigeder Wissenschaft - die transplanetarische Astronomie, die Chemie,die Geologie - kaum ein Jahrhundert, die vergleichende Methode inder Physiologie kaum fünfzig Jahre wissenschaftlicher Existenzzählen, dass die Grundform fast aller Lebensentwicklung, die Zelle,noch nicht vierzig Jahre entdeckt ist!19

Aus wirbelnden, glühenden Dunstmassen, deren Bewegungsge-setze vielleicht erschlossen werden, nachdem die Beobachtungeneiniger Jahrhunderte uns aber die Eigenbewegung der Sterne Klar-heit verschafft, entwickelten sich durch Zusammenziehung und Ab-kühlung die zahllosen Sonnen und Sonnensysteme unsrer von denäußersten Sternringen der Milchstraße begrenzten Weltinsel. DieseEntwicklung ging offenbar nicht überall gleich schnell vor sich.Die Existenz dunkler, nicht bloß planetarischer Körper, also ausge-glühter Sonnen in unserm Sternsystem, drängt sich der Astronomiemehr und mehr auf (Mädler); andrerseits gehört (nach Secchi) einTeil der dunstförmigen Nebelflecke als noch nicht fertige Sonnenzu unserm Sternsystem, wodurch nicht ausgeschlossen ist, dassandre Nebel, wie Mädler behauptet, ferne selbständige Weltinseln

gen Gebilden und die Idee der Differenzierung der ursprünglichen Lebewesen inPflanzen und Tiere in der Wissenschaft allgemein anerkannt.

19 Dieser Absatz ist im Engelsschen Manuskript vom vorhergehenden und vomfolgenden Absatz durch horizontale Striche getrennt und schräg durchgestrichen,wie es Engels mit solchen Absätzen eines Manuskripts zu tun pflegte, die er inanderen Arbeiten benutzt hatte.

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sind, deren relative Entwicklungsstufe das Spektroskop festzustel-len hat.20

Wie aus einer einzelnen Dunst-masse ein Sonnensystem sich ent-wickelt, hat Laplace im Detail inbis jetzt unübertroffner Weisenachgewiesen; die spätere Wis-senschaft hat ihn mehr und mehrbestätigt.

Auf den so gebildeten einzelnenKörpern - Sonnen wie Planetenund Satelliten - herrscht anfangsdiejenige Bewegungsform derMaterie vor, die wir Wärme nen-nen. Von chemischen Verbindun-gen der Elemente kann selbst beieiner Temperatur, wie sie heutenoch die Sonne hat, keine Redesein; inwieweit die Wärme sichdabei in Elektrizität oder Magne-tismus umsetzt, werden fortgesetzte Sonnenbeobachtungen zeigen,dass die auf der Sonne vorgehenden mechanischen Bewegungen le-diglich aus dem Konflikt der Wärme mit der Schwere hervorgehen,ist schon jetzt so gut wie ausgemacht. Die einzelnen Körper kühlensich umso rascher ab, je kleiner sie sind. Satelliten, Asteroiden,Meteore zuerst, wie denn ja unser Mond längst verstorben ist.Langsamer die Planeten, am langsamsten der Zentralkörper.

Mit der fortschreitenden Abkühlung tritt das Wechselspiel der in-einander umschlagenden physikalischen Bewegungsformen mehrund mehr in den Vordergrund, bis endlich ein Punkt erreicht wird,

20 Hier und weiter unten stützte sich Engels auf folgende Bücher: Johann Hein-rich von Mädler, "Der Wunderbau des Weltalls, oder Populäre Astronomie", undAngelo Secchi, "Die Sonne..."

Im zweiten Teil der "Einleitung" benutzte Engels seine wahrscheinlich im Januarund Februar 1876 niedergeschriebenen Auszüge aus diesen Büchern

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von wo an die chemische Verwandtschaft anfängt, sich geltend zumachen, wo die bisher chemisch indifferenten Elemente sich nach-einander chemisch differenzieren, chemische Eigenschaften erlan-gen, Verbindungen miteinander eingehen. Diese Verbindungenwechseln fortwährend mit der abnehmenden Temperatur, die nichtnur jedes Element, sondern auch jede einzelne Verbindung von Ele-menten verschieden beeinflusst, mit dem davon abhängenden Über-gang eines Teils der gasförmigen Materie zuerst in den flüssigen,dann in den festen Zustand und mit den dadurch geschaffenen neu-en Bedingungen.

Die Zeit, wo der Planet eine feste Rinde und Wasseransammlun-gen auf seiner Oberfläche hat, fällt zusammen mit der, von wo anseine Eigenwärme mehr und mehr zurücktritt gegen die ihm zuge-sandte Wärme des Zentralkörpers. Seine Atmosphäre wird derSchauplatz meteorologischer Erscheinungen in dem Sinne, wie wirdas Wort jetzt verstehen, seine Oberfläche der Schauplatz geologi-scher Veränderungen, bei denen die durch atmosphärische Nieder-schläge herbeigeführten Ablagerungen immer mehr Übergewichterlangen über die sich langsam abschwächenden Wirkungen nachaußen des heißflüssigen Innern.

Gleicht sich endlich die Temperatur so weit aus, dass sie wenigs-tens an einer beträchtlichen Stelle der Oberfläche die Grenzen nichtmehr überschreitet, in denen das Eiweiß lebensfähig ist, so bildetsich, unter sonst günstigen chemischen Vorbedingungen, lebendi-ges Protoplasma. Welches diese Vorbedingungen sind, wissen wirheute noch nicht, was nicht zu verwundern, da nicht einmal diechemische Formel des Eiweißes bis jetzt feststeht, wir noch nichteinmal wissen, wie viel chemisch verschiedene Eiweißkörper esgibt, und da erst seit ungefähr zehn Jahren die Tatsache bekannt ist,dass vollkommen strukturloses Eiweiß alle wesentlichen Funktio-nen des Lebens, Verdauung, Ausscheidung, Bewegung, Kontrakti-on, Reaktion gegen Reize, Fortpflanzung, vollzieht.

Es mag Jahrtausende gedauert haben, bis die Bedingungen eintra-ten, unter denen der nächste Fortschritt geschehen und dies formlo-se Eiweiß durch Bildung von Kern und Haut die erste Zelle herstel-

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len konnte. Aber mit dieser ersten Zelle war auch die Grundlage derFormbildung der ganzen organischen Welt gegeben, zuerst entwi-ckelten sich, wie wir nach der ganzen Analogie des paläontologi-schen Archivs annehmen dürfen, zahllose Arten zellenloser undzelliger Protisten, wovon das einzige Eozoon canadense21 uns über-liefert, und wovon einige allmählich zu den ersten Pflanzen, anderezu den ersten Tieren sich differenzierten. Und von den ersten Tie-ren aus entwickelten sich, wesentlich durch weitere Differenzie-rung, die zahllosen Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen undArten der Tiere, zuletzt die Form, in der das Nervensystem zu sei-ner vollsten Entwicklung kommt, die der Wirbeltiere, und wiederzuletzt unter diesen das Wirbeltier, in dem die Natur das Bewusst-sein ihrer selbst erlangt - der Mensch.

21 Eozoon canadense - in Kanada gefundenes Gebilde, in dem man ursprünglichdie Überreste sehr alter primitiver Organismen sah. 1878 wies der Zoologe KarlAugust Möbius nach, dass das Eozoon canadense ein anorganisches Gebilde ist.

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nach Ernst Heckel, 1874

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Auch der Mensch entsteht durch Differenzierung. Nicht nur indi-viduell, aus einer einzigen Eizelle bis zum kompliziertesten Orga-nismus differenziert, den die Natur hervorbringt - nein, auch histo-risch. Als nach jahrtausendelangem Ringen die Differenzierung derHand vom Fuß, der aufrechte Gang, endlich festgestellt, da war derMensch vom Affen geschieden, da war der Grund gelegt zur Ent-wicklung der artikulierten Sprache und zu der gewaltigen Aus-bildung des Gehirns, die seitdem die Kluft zwischen Menschen undAffen unübersteiglich gemacht hat.

Die Spezialisierung der Hand - das bedeutet das Werkzeug, unddas Werkzeug bedeutet die spezifisch menschliche Tätigkeit, dieumgestaltende Rückwirkung des Menschen auf die Natur, die Pro-duktion. Auch Tiere im engern Sinne haben Werkzeuge, aber nurals Glieder ihres Leibes - die Ameise, die Biene, der Biber; auchTiere produzieren, aber ihre produktive Einwirkung auf die umge-bende Natur ist dieser gegenüber gleich Null. Nur der Mensch hates fertig gebracht, der Natur seinen Stempel aufzudrücken, indemer nicht nur Pflanzen und Tiere versetzte, sondern auch den Aspekt,das Klima seines Wohnorts, ja die Pflanzen und Tiere selbst so ver-änderte, dass die Folgen seiner Tätigkeit nur mit dem allgemeinenAbsterben des Erdballs verschwinden können.

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Und das hat er fertig gebracht zunächst und wesentlich vermittelstder Hand. Selbst die Dampfmaschine, bis jetzt sein mächtigstesWerkzeug zur Umgestaltung der Natur, beruht, weil Werkzeug, inletzter Instanz auf der Hand. Aber mit der Hand entwickelte sichSchritt für Schritt der Kopf, kam das Bewusstsein zuerst der Bedin-gungen einzelner praktischer Nutzeffekte, und später, bei den be-günstigteren Völkern, daraus hervorgehend die Einsicht in die siebedingenden Naturgesetze. Und mit der rasch wachsenden Kennt-nis der Naturgesetze wuchsen die Mittel der Rückwirkung auf dieNatur; die Hand allein hätte die Dampfmaschine nie fertig gebracht,hätte das Gehirn des Menschen sich nicht mit und neben ihr undteilweise durch sie korrelativ entwickelt.

Mit dem Menschen treten wir ein in die Geschichte. Auch dieTiere haben eine Geschichte, die ihrer Abstammung und allmähli-chen Entwicklung bis auf ihren heutigen Stand. Aber diese Ge-schichte wird für sie gemacht, und soweit sie selbst daran teilneh-men, geschieht es ohne ihr Wissen und Wollen. Die Menschen da-gegen, je mehr sie sich vom Tier im engeren Sinn entfernen, destomehr machen sie ihre Geschichte selbst, mit Bewusstsein, desto ge-ringer wird der Einfluss unvorhergesehener Wirkungen, unkontrol-lierter Kräfte auf diese Geschichte, desto genauer entspricht der ge-schichtliche Erfolg dem vorher festgestellten Zweck. Legen wiraber diesen Maßstab an die menschliche Geschichte, selbst der ent-wickeltsten Völker der Gegenwart, so finden wir, dass hier nochimmer ein kolossales Missverhältnis besteht zwischen den vorge-steckten Zielen und den erreichten Resultaten, dass die unvorherge-sehenen Wirkungen vorherrschen, dass die unkontrollierten Kräfteweit mächtiger sind als die planmäßig in Bewegung gesetzten. Unddies kann nicht anders sein, solange die wesentlichste geschichtli-che Tätigkeit der Menschen, diejenige, die sie aus der Tierheit zurMenschheit emporgehoben hat, die die materielle Grundlage allerihrer übrigen Tätigkeiten bildet, die Produktion ihrer Lebensbedürf-nisse, d.h. heutzutage die gesellschaftliche Produktion, erst rechtdem Wechselspiel unbeabsichtigter Einwirkungen von unkontrol-lierten Kräften unterworfen ist und den gewollten Zweck nur aus-nahmsweise, weit häufiger aber sein grades Gegenteil realisiert.

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Wir haben in den fortgeschrittensten Industrieländern die Natur-kräfte gebändigt und in den Dienst der Menschen gepresst; wir ha-ben damit die Produktion ins unendliche vervielfacht, so dass einKind jetzt mehr erzeugt als früher hundert Erwachsene. Und was istdie Folge? Steigende Überarbeit und steigendes Elend der Massenund alle zehn Jahre ein großer Krach. Darwin wusste nicht, welchbittre Satire er auf die Menschen und besonders auf seine Landsleu-te schrieb, als er nachwies, dass die freie Konkurrenz, der Kampfums Dasein, den die Ökonomen als höchste geschichtliche Errun-genschaft feiern, der Normalzustand des Tierreichs ist. Erst eine be-wusste Organisation der gesellschaftlichen Produktion, in der plan-mäßig produziert und verteilt wird, kann die Menschen ebenso ingesellschaftlicher Beziehung aus der übrigen Tierwelt herausheben,wie dies die Produktion überhaupt für die Menschen in spezifischerBeziehung getan hat. Die geschichtliche Entwicklung macht einesolche Organisation täglich unumgänglicher, aber auch täglichMöglicher. Von ihr wird eine neue Geschichtsepoche datieren, inder die Menschen selbst, und mit ihnen alle Zweige ihrer Tätigkeit,namentlich auch die Naturwissenschaft, einen Aufschwung nehmenwerden, der alles Bisherige in tiefen Schatten stellt.

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Indes, »alles was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht«.22 Mil-lionen Jahre mögen darüber vergehen, Hunderttausende von Ge-schlechtern geboren werden und sterben; aber unerbittlich rückt dieZeit heran, wo die sich erschöpfende Sonnenwärme nicht mehr aus-reicht, das von den Polen herandrängende Eis zu schmelzen, wo diesich mehr und mehr um den Äquator zusammendrängenden Men-schen endlich auch dort nicht mehr Wärme genug zum Leben fin-den, wo nach und nach auch die letzte Spur organischen Lebensverschwindet und die Erde, ein erstorbner, erfrorner Ball wie derMond, in tiefer Finsternis und in immer engeren Bahnen um dieebenfalls erstorbne Sonne kreist und endlich hineinfällt. Andre Pla-neten werden ihr vorangegangen sein, andre folgen ihr; anstatt desharmonisch gegliederten, hellen, warmen Sonnensystems verfolgtnur noch eine kalte, tote Kugel ihren einsamen Weg durch denWeltraum. Und so wie unserm Sonnensystem ergeht es früher oderspäter allen andern Systemen unsrer Weltinsel, ergeht es denen al-ler übrigen zahllosen Weltinseln, selbst denen, deren Licht nie dieErde erreicht, solange ein menschliches Auge auf ihr lebt, es zuempfangen.

Und wenn nun ein solches Sonnensystem seinen Lebenslauf voll-bracht und dem Schicksal alles Endlichen, dem Tode verfallen ist,wie dann? Wird die Sonnenleiche in Ewigkeit als Leiche durch denunendlichen Raum fortrollen und alle die ehemals unendlich man-nigfaltig differenzierten Naturkräfte für immer in die eine Bewe-gungsform der Attraktion aufgehen?

»Oder«, wie [Angelo] Secchi fragt (p.810), »sind Kräfte in derNatur vorhanden, welche das tote System in den anfänglichen Zu-stand des glühenden Nebels zurückversetzen und es zu neuem Le-ben wieder aufwecken können? Wir wissen es nicht.«23 Allerdingswissen wir das nicht in dem Sinn, wie wir wissen, dass 2 x 2 = 4ist, oder dass die Attraktion der Materie zu- und abnimmt nach demQuadrat der Entfernung. Aber in der theoretischen Naturwissen-

22 Worte des Mephistopheles in Goethes "Faust", Ertster Teil (Studierzimmer).

23 Engels zitiert hier aus der deutschen Ausgabe des Buches "Die Sonne..." vondem italienischen Astronomen Angelo Secchi.

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schaft, die ihre Naturanschauung möglichst zu einem harmonischenGanzen verarbeitet und ohne die heutzutage selbst der gedankenlo-seste Empiriker nicht vom Fleck kommt, haben wir sehr oft mit un-vollkommen bekannten Größen zu rechnen und hat die Konsequenzdes Gedankens zu allen Zeiten der mangelhaften Kenntnis forthel-fen müssen. Nun hat die moderne Naturwissenschaft den Satz vonder Unzerstörbarkeit der Bewegung von der Philosophie adoptierenmüssen; ohne ihn kann sie nicht mehr bestehen. Die Bewegung derMaterie aber, das ist nicht bloß die grobe mechanische Bewegung,die bloße Ortsveränderung, das ist Wärme und Licht, elektrischeund magnetische Spannung, chemisches Zusammengehen und Aus-einandergehen, Leben und schließlich Bewusstsein. Sagen, dass dieMaterie während ihrer ganzen zeitlos unbegrenzten Existenz nurein einziges Mal und für eine ihrer Ewigkeit gegenüber verschwin-dend kurze Zeit in der Möglichkeit sich befindet, ihre Bewegung zudifferenzieren und dadurch den ganzen Reichtum dieser Bewegungzu entfalten, und dass sie vor- und nachher in Ewigkeit auf bloßeOrtsveränderung beschränkt bleibt - das heißt behaupten, dass dieMaterie sterblich und die Bewegung vergänglich ist.

Die Unzerstörbarkeit der Bewegung kann nicht bloß quantitativ,sie muss auch qualitativ gefasst werden; eine Materie, deren reinmechanische Ortsveränderung zwar die Möglichkeit in sich trägt,unter günstigen Bedingungen in Wärme, Elektrizität, chemischeAktion, Leben umzuschlagen, die aber außerstande ist, diese Bedin-gungen aus sich selbst zu erzeugen, eine solche Materie hat Bewe-gung eingebüßt, eine Bewegung, die die Fähigkeit verloren hat,sich in die ihr zukommenden verschiedenen Formen umzusetzen,hat zwar noch Dynamis [Potenz, zu wirken], aber keine Energeia[Wirksamkeit] mehr, und ist damit teilweise zerstört worden. Bei-des aber ist undenkbar.

Soviel ist sicher: Es gab eine Zeit, wo die Materie unsrer Weltin-sel eine solche Menge Bewegung - welcher Art, wissen wir bis jetztnicht - in Wärme umgesetzt hatte, dass daraus die zu (nach Mädler)mindestens 20 Millionen Sternen gehörigen Sonnensysteme sichentwickeln konnten, deren allmähliches Absterben ebenfalls gewissist. Wie ging dieser Umsatz vor sich? Wir wissen es ebensowenig,

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wie Pater Secchi weiß, ob das künftige caput mortuum [der toteÜberrest] unsres Sonnensystems je wieder in Rohstoff zu neuenSonnensystemen verwandelt wird. Aber entweder müssen wir hierauf den Schöpfen rekurrieren, oder wir sind zu der Schlussfolge-rung gezwungen, dass der glühende Rohstoff zu den Sonnensyste-men unsrer Weltinsel auf natürlichem Wege erzeugt wurde, durchBewegungsverwandlungen, die der sich bewegenden Materie vonNatur zustehen, und deren Bedingungen also auch von der Materie,wenn auch erst nach Millionen und aber Millionen Jahren, mehroder weniger zufällig, aber mit der auch dem Zufall inhärentenNotwendigkeit sich reproduzieren müssen.

Die Möglichkeit einer solchen Umwandlung wird mehr und mehrzugegeben. Man kommt zu der Ansicht, dass die Weltkörper dieschließliche Bestimmung haben, ineinander zu fallen, und man be-rechnet sogar die Wärmemenge, die sich bei solchen Zusammen-stößen entwickeln muss. Das plötzliche Aufblitzen neuer Sterne,das ebenso plötzliche hellere Aufleuchten altbekannter, von demdie Astronomie uns berichtet, erklärt sich am leichtesten aus sol-chen Zusammenstößen.

Dabei bewegt sich nicht nur unsre Planetengruppe um die Sonneund unsre Sonne innerhalb unsrer Weltinsel, sondern auch unsreganze Weltinsel bewegt sich fort im Weltraum in temporärem, rela-tivem Gleichgewicht mit den übrigen Weltinseln; denn selbst relati-ves Gleichgewicht frei schwebender Körper kann nur bestehen beigegenseitig bedingter Bewegung; und manche nehmen an, dass dieTemperatur im Weltraum nicht überall dieselbe ist. Endlich: Wirwissen, dass mit Ausnahme eines verschwindend kleinen Teils dieWärme der zahllosen Sonnen unsrer Weltinsel im Raum ver-schwindet und sich vergeblich abmüht, die Temperatur des Welt-raums auch nur um ein Millionstel Grad Celsius zu erhöhen. Waswird aus all dieser enormen Wärmequantität? Ist sie für alle Zeitenaufgegangen in dem Versuch, den Weltraum zu heizen, hat siepraktisch aufgehört zu existieren und besteht sie nur noch theore-tisch weiter in der Tatsache, dass der Weltraum wärmer gewordenist um einen Graddezimalbruchteil, der mit zehn oder mehr Nullenanfängt? Diese Annahme leugnet die Unzerstörbarkeit der Bewe-

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gung; sie lässt die Möglichkeit zu, dass durch sukzessives Ineinan-derfallen der Weltkörper alle vorhandene mechanische Bewegungin Wärme verwandelt und diese in den Weltraum ausgestrahlt wer-de, womit trotz aller "Unzerstörbarkeit der Kraft" alle Bewegungüberhaupt aufgehört hätte. (Es zeigt sich hier beiläufig, wie schiefdie Bezeichnung: Unzerstörbarkeit der Kraft, statt Unzerstörbarkeitder Bewegung ist.) Wir kommen also zu dem Schluss, dass auf ei-nem Wege, den es später einmal die Aufgabe der Naturforschungsein wird aufzuzeigen, die in den Weltraum ausgestrahlte Wärmedie Möglichkeit haben muss, in eine andre Bewegungsform sichumzusetzen, in der sie wieder zur Sammlung und Betätigung kom-men kann. Und damit fällt die Hauptschwierigkeit, die der Rück-verwandlung abgelebter Sonnen in glühenden Dunst entgegenstand.

Übrigens ist die sich ewig wiederholende Aufeinanderfolge derWelten in der endlosen Zeit nur die logische Ergänzung des Neben-einanderbestehens zahlloser Welten im endlosen Raum - ein Satz,dessen Notwendigkeit sich sogar dem antitheoretischen Yankee-Gehirn Drapers aufzwingt.24

Es ist ein ewiger Kreislauf, in dem die Materie sich bewegt, einKreislauf, der seine Bahn wohl erst in Zeiträumen vollendet, für dieunser Erdenjahr kein ausreichender Maßstab mehr ist, ein Krei-stauf, in dem die Zeit der höchsten Entwicklung, die Zeit des orga-nischen Lebens und noch mehr die des Lebens selbst- und naturbe-wusster Wesen ebenso knapp bemessen ist wie der Raum, in demLeben und Selbstbewusstsein zur Geltung kommen; ein Kreislauf,in dem jede endliche Daseinsweise der Materie, sei sie Sonne oderDunstnebel, einzelnes Tier oder Tiergattung, chemische Verbin-dung oder Trennung, gleicherweise vergänglich, und worin nichtsewig ist als die ewig sich verändernde, ewig sich bewegende Mate-rie und die Gesetze, nach denen sie sich bewegt und verändert.

24 »The multiplicity of worlds in infinite space leads to the conception of a suc-cession of worlds in infinite time.« (»Die Vielheit der Welten im endlosen Raumführt zur Auffassung von einer Aufeinanderfolge der Welten in der endlosenZeit.«) (Henry Draper, "Hist[ory of the] Int[ellectual] Devel[opment of Europel".Vol. II, p. [325]).

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Aber wie oft und wie unbarmherzig auch in Zeit und Raum dieserKreislauf sich vollzieht; wieviel Millionen Sonnen und Erden auchentstehen und vergehen mögen; wie lange es auch dauern mag, bisin einem Sonnensystem nur auf einem Planeten die Bedingungendes organischen Lebens sich herstellen; wie zahllose organischeWesen auch vorhergehen und vorher untergehen müssen, ehe ausihrer Mitte sich Tiere mit denkfähigem Gehirn entwickeln und füreine kurze Spanne Zeit lebensfähige Bedingungen vorfinden, umdann auch ohne Gnade ausgerottet zu werden - wir haben die Ge-wissheit, dass die Materie in allen ihren Wandlungen ewig die-selbe bleibt, dass keins ihrer Attribute je verloren gehen kann,und dass sie daher auch mit derselben eisernen Notwendigkeit,womit sie auf der Erde ihre höchste Blüte, den denkendenGeist, wieder ausrotten wird, ihn anderswo und in andrer Zeitwieder erzeugen muss.

Henry Drapers Foto des Orion Nebels 1880

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Über die Dialektik(Alte Vorrede zum "[Anti-]Dühring"25)

Die nachfolgende Arbeit ist keines-wegs aus "innerem Antrieb" entstan-den. Im Gegenteil wird mir meinFreund Wilhelm L iebknecht bezeu-gen, wieviel Mühe es ihm gekostethat, bis er mich bewog, die neuestesozialistische Theorie des Herrn [Eu-gen] Dühring kritisch zu beleuchten.Einmal dazu entschlossen, hatte ichkeine andre Wahl, als diese Theorie,die sich selbst als letzte praktischeFrucht eines neuen philosophischenSystems vorführt, im Zusammenhangdieses Systems und damit das System selbst zu untersuchen. Ichwar also genötigt, Herrn Dühring auf jenes umfassende Gebiet zufolgen, wo er von allen möglichen Dingen spricht und noch von ei-nigen andersn. So entstand eine Reihe von Artikeln, die seit Anfang1877 im Leipziger 'Vorwärts' erschien und hier im Zusammenhangvorliegt.

Wenn die Kritik eines trotz aller Selbstanpreisung so höchst unbe-deutenden Systems in dieser durch die Sache gebotenen Ausführ-lichkeit auftritt, so mögen zwei Umstände dies entschuldigen. Ei-nerseits gab mir diese Kritik Gelegenheit, auf verschiedenen Gebie-

25 So lautet die Überschrift dieses Artikels im Inhaltsverzeichnis des 2. Konvo-luts, in das ihn Engels bei der Gruppierung der Materialien zur "Dialektik derNatur" nach Konvuluten aufnahm. Das Manuskript des Artikels hat als Über-schrift nur das eine Wort "Vorwort", aber in der rechten oberen Ecke der erstenSeite steht noch in Klammern "Dühring, Umwälzung in der Wissenschaft". Die-ser Artikel wurde im Mai oder in den ersten Tagen des Juni 1878 als Vorrede zurersten Ausgabe des "Anti-Dühring" geschrieben. Engels beschloss jedoch, dieseVorrede durch eine kürzere zu ersetzen (siehe vorl. Band). Die neue Vorrede istvom 11. Juni 1878 datiert. Ihr Inhalt stimmt im Wesentlichen mit den durchge-strichenen Seiten der "Alten Vorrede" überein (mit Ausnahme des letzten Absat-zes, der in der "Alten Vorrede" fehlt).

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ten meine Auffassung von Streitpunkten positiv zu entwickeln, dieheute von allgemeinerem wissenschaftlichem oder praktischem In-teresse sind. Und so wenig es mir einfallen kann, dem System desHerrn Dühring ein andres System entgegenzusetzen, so wird derLeser hoffentlich auch in den von mir aufgestellten Ansichten, beialler Verschiedenheit des behandelten Stoffs, den inneren Zusam-menhang nicht vermissen.

Andrerseits aber ist der "systemschaffende Herr Dühring keinevereinzelte Erscheinung in der deutschen Gegenwart. Seit einigerZeit schießen in Deutschland die philosophischen, namentlich dienaturphilosophischen Systeme über Nacht zu Dutzenden auf wiedie Pilze, von den zahllosen neuen Systemen der Politik, der Öko-nomie usw. gar nicht zu sprechen. Wie im modernen Staat voraus-gesetzt wird, dass jeder Staatsbürger über alle die Fragen urteilsreifist, über die abzustimmen er berufen; wie in der Ökonomie ange-nommen wird, dass jeder Käufer auch ein Kenner aller derjenigenWaren ist, die er zu seinem Lebensunterhalt einzukaufen in denFall kommt - so soll es jetzt auch in der Wissenschaft gehalten wer-den. Jeder kann über alles schreiben, und darin besteht grade die"Freiheit der Wissenschaft", dass man erst recht über das schreibt,was man nicht gelernt hat, und dass man dies für die einzige strengwissenschaftliche Methode ausgibt. Herr Dühring aber ist einer derbezeichnendsten Typen dieser vorlauten Pseudowissenschaft, diesich heutzutage in Deutschland überall in den Vordergrund drängtund alles übertönt mit ihrem dröhnenden - höheren Blech. HöheresBlech in der Poesie, in der Philosophie, in der Ökonomie, in derGeschichtschreibung, höheres Blech auf Katheder und Tribüne, hö-heres Blech überall, höheres Blech mit dem Anspruch auf Überle-genheit und Gedankentiefe im Unterschied von dem simplen platt-vulgären Blech andrer Nationen, höheres Blech das charakteris-tischste und massenhafteste Produkt der deutschen intellektuellenIndustrie, billig aber schlecht, ganz wie andre deutsche Fabrikate,neben denen es leider in Philadelphia nicht vertreten war26. Sogar

26 Am 10. Mai 1876 wurde in Verbindung mit der 100. Wiederkehr der Unab-hängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Nordamerika (4.Juli 1776) inPhiladelphia die sechste Industrie-Weltausstellung eröffnet. Unter den vierzig

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der deutsche Sozialismus macht neuerdings, namentlich seit demguten Beispiel des Herrn Dühring, recht erklecklich in höheremBlech; dass die praktische sozialdemokratische Bewegung sichdurch dies höhere Blech so wenig irremachen läßt, ist wieder einBeweis für die merkwürdig gesunde Natur unsrer Arbeiterklasse ineinem Lande, wo doch sonst, mit Ausnahme der Naturwissenschaft,augenblicklich so ziemlich alles krankt.

Wenn Nägeli in seiner Rede auf der Münchener Naturforscherver-sammlung sich dahin aussprach, dass das menschliche Erkennennie den Charakter der AIlwissenheit annehmen werde27, so sind ihmdie Leistungen des Herrn Dühring offenbar unbekannt geblieben.

Diese Leistungen haben mich genötigt, ihnen auch auf eine Reihevon Gebieten zu folgen, auf denen ich höchstens in der Eigenschafteines Dilettanten mich bewegen kann. Es gilt dies namentlich vonden verschiednen Zweigen der Naturwissenschaft, wo es bisherhäufig für mehr als unbescheiden galt, wenn ein "Laie" ein Wortdareinreden wollte. Indes ermutigt mich einigermaßen der ebenfallsin München gefallene, an einer andern Stelle näher erörterte Auss-pruch Herrn Virchows, dass jeder Naturforscher außerhalb seinereignen Spezialität ebenfalls nur ein Halbwisser, vulgo Laie ist28.

Ländern, die dort ausstellten, war auch Deutschland. Der zum Präsidenten derdeutschen Jury ernannte Direktor der Gewerbeakademie in Berlin, ProfessorFranz Reuleaux, sah sich gezwungen, in seinen ersten an die 'Nationalzeitung'gerichteten "Briefen aus Philadelphia" (vom 2. Juni 1876) festzustellen: »UnsereLeistungen stehen in der weitaus größten Zahl der ausgestellten Gegenständehinter denen anderer Nationen zurück... Als Quintessenz aller Angriffe tritt derWahlspruch auf: Deutschlands Industrie hat das Grundprinzip "billig undschlecht".« Diese Feststellung rief zahlreiche Presseäußerungen hervor. Der'Volksstaat' brachte insbesondere von Juli bis September 1876 hierüber eine Rei-he von Artikeln.

27 Siehe Nägelis Rede über "Die Schranken der naturwissenschaftlichen Er-kenntniss", veröffentlicht im 'Tageblatt der 50.Versammlung deutscher Naturfor-scher und Aerzte in München 1877', Beilage, S. 18.

28 Engels verweist hier auf die Rede Rudolf Virchows auf der 50. Versammlungdeutscher Naturforscher und Ärzte zu München am 22. September 1877 (sieheRudolf Virchow, "Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat...", Berlin1877, S. 13)

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Wie ein solcher Spezialist sich erlauben darf und erlauben muss,von Zeit zu Zeit auf benachbarte Gebiete überzugreifen, und wieihm da von den betreffenden Spezialisten Unbehilflichkeit des Aus-drucks und kleine Ungenauigkeiten nachgesehen werden, so habeauch ich mir die Freiheit genommen, Naturvorgänge und Naturge-setze als beweisende Exempel meiner allgemein theoretischen Auf-fassungen anzuführen, und darf wohl auf dieselbe Nachsicht rech-nen29. Die Resultate der modernen Naturwissenschaft drängen sicheben einem jeden, der sich mit theoretischen Dingen beschäftigt,mit derselben Unwiderstehlichkeit auf, mit der die heutigen Natur-forscher, wollen sie's oder nicht, zu theoretisch-allgemeinen Folge-rungen sich getrieben sehn. Und hier tritt eine gewisse Kompensati-on ein. Sind die Theoretiker Halbwisser auf dem Gebiet der Natur-wissenschaft, so sind es die heutigen Naturforscher tatsächlichebensosehr auf dem Gebiet der Theorie, auf dem Gebiet dessen,was bisher als Philosophie bezeichnet wurde.

Die empirische Naturforschung hat eine so ungeheure Masse vonpositivem Erkenntnisstoff angehäuft, dass die Notwendigkeit, ihnauf jedem einzelnen Untersuchungsgebiet systematisch und nachseinem innern Zusammenhang zu ordnen, schlechthin unabweisbargeworden ist. Ebenso unabweisbar wird es, die einzelnen Erkennt-nisgebiete unter sich in den richtigen Zusammenhang zu bringen.Damit aber begibt sich die Naturwissenschaft auf das theoretischeGebiet, und hier versagen die Methoden der Empirie, hier kann nurdas theoretische Denken helfen30. Das theoretische Denken ist abernur der Anlage nach eine angeborene Eigenschaft. Diese Anlagemuss entwickelt, ausgebildet werden, und für diese Ausbildung gibtes bis jetzt kein andres Mittel als das Studium der bisherigen Philo-sophie.

Das theoretische Denken einer jeden Epoche, also auch das derunsrigen, ist ein historisches Produkt, das zu verschiedenen Zeiten

29 Bis zu dieser Stelle strich Engels das Manuskript mit einem senkrechten Blei-stiftstrich durch, da er diesen Teil in der Einleitung der ersten Ausgabe des "An-ti-Dühring" verwandt hatte.

30 im Manuskript ist dieser und der vorhergehende Satz mit Bleistift durchge-strichen

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sehr verschiedne Form und damit sehr verschiednen Inhalt an-nimmt. Die Wissenschaft vom Denken ist also, wie jede andre, einehistorische Wissenschaft, die Wissenschaft von der geschichtlichenEntwicklung. des menschlichen Denkens. Und dies ist auch für diepraktische Anwendung des Denkens auf empirische Gebiete vonWichtigkeit. Denn erstens ist die Theorie der Denkgesetze keines-wegs eine ein für allemal ausgemachte "ewige Wahrheit", wie derPhilisterverstand sich dies bei dem Wort Logik vorstellt. Die for-melle Logik selbst ist seit Aristoteles bis heute das Gebiet heftigerDebatte geblieben. Und die Dialektik gar ist bis jetzt erst von zweiDenkern genauer untersucht worden, von Aristoteles und Hegel.Gerade die Dialektik ist aber für die heutige Naturwissenschaft diewichtigste Denkform, weil sie allein das Analogen und damit dieErklärungsmethode bietet für die in der Natur vorkommenden Ent-wicklungsprozesse, für die Zusammenhänge im Großen und Gan-zen und für die Übergänge von einem Untersuchungsgebiet zumandern.

Zweitens aber ist die Bekanntschaft mit dem geschichtlichen Ent-wicklungsgang des menschlichen Denkens, mit den zu verschied-nen Zeiten hervorgetretenen Auffassungen der allgemeinen Zusam-menhänge der äußeren Welt auch darum für die theoretische Natur-wissenschaft ein Bedürfnis, weil sie einen Maßstab abgibt für dievon dieser selbstaufzustellenden Theorien. Der Mangel an Bekannt-schaft mit der Geschichte der Philosophie tritt hier aber oft undgrell genug hervor. Sätze, die in der Philosophie seit Jahrhundertenaufgestellt, die oft genug längst philosophisch abgetan sind, tretenoft genug bei theoretisierenden Naturforschern als funkelneueWeisheit auf und werden sogar eine Zeitlang Mode. Es ist sicherein großer Erfolg der mechanischen Wärmetheorie, dass sie denSatz von der Erhaltung der Energie mit neuen Belegen gestützt undwieder in den Vordergrund gestellt hat; aber hätte dieser Satz als et-was so absolut Neues auftreten können, wenn die Herren Physikersich erinnert hätten, dass er schon von Descartes aufgestellt war31?

31 Die Auffassung von der Bewegung als einem konstanten Quantum (Erhaltungder Bewegungsquantität) entwickelte René Descartes in seiner Abhandlung überdas Licht (Erster Teil des Werkes "De mundo", das 1630-1633 geschrieben, aber

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Seitdem Physik und Chemie wieder fast ausschließlich mit Mole-külen und Atomen hantieren, ist die altgriechische atomistischePhilosophie mit Notwendigkeitwieder in den Vordergrund ge-treten. Aber wie oberflächlichwird sie selbst von den bestenunter ihnen behandelt! So er-zählt Kekulé ("Ziele und Leis-tungen der Chemie"), sie rührevon Demokrit her, statt vonLeukipp, und behauptet, Daltonhabe zuerst die Existenz quali-tativ verschiedner Elemen-taratome angenommen und ih-nen zuerst verschiedne, für dieverschiednen Elemente charak-teristische Gewichte zuge-schrieben32, während doch beiDiogenes Laertius (X, §§ 43 -44 u. 61) zu lesen ist, dassschon Epikur den Atomen Ver-schiedenheit nicht nur der Grö-ße und Gestalt, sondern auchdes Gewichts zuschreibt33, alsoschon Atomgewicht und Atomvolum in seiner Art kennt.

Das Jahr 1848, das in Deutschland sonst mit nichts fertig wurde,hat dort nur auf dem Gebiet der Philosophie eine totale Umkehr zu-stande gebracht. Indem die Nation sich auf das Praktische warf,

erst 1664, 14 Jahre nach Descartes' Tod, herausgegeben wurde) und in seinemBrief an de Beaune vorn 30. April 1639. Vollständiger wurde diese Auf-fassung in Descartes' Werk "Principia philosophiae", Amsterdam 1644, ZweiterTeil, § 36 dargelegt (siehe: CEuvres de Descartes, publées par Victor Cousin,Paris 1824, t.4, p. 255 sqq., t. 11, p. 123/124 und t.3, p. 150-152).

32 August Kekulé, "Die wissenschaftlichen Ziele und Leistungen der Chemie",Bonn 1878, S. 13-15.

33 Siehe vorl. Band, S. 461

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hier die Anfänge der großen Industrie und des Schwindels gründe-te, dort den gewaltigen Aufschwung, den die Naturwissenschaft inDeutschland seitdem genommen, eingeleitet durch die Reisepredi-ger und Karikaturen Vogt, Büchner etc., sagte sie der im Sande derBerliner Althegelei verlaufenen klassischen deutschen Philosophieentschieden ab. Die Berliner Althegelei hatte das redlich verdient.

Aber eine Nation, die auf der Höhe der Wissenschaft stehen will,kann nun einmal ohne theoretisches Denken nicht auskommen. Mitder Hegelei warf man auch die Dialektik über Bord - grade im Au-genblick, wo der dialektische Charakter der Naturvorgänge sich un-widerstehlich aufzwang, wo also nur die Dialektik der Naturwis-senschaft über den theoretischen Berg helfen konnte - und verfieldamit wieder hilflos der alten Metaphysik. Im Publikum grassiertenseitdem einerseits die auf den Philister zugeschnittenen flachen Re-flexionen Schopenhauers und später sogar Hartmanns, andrerseitsder vulgäre Reiseprediger-Materialismus eines Vogt und Büchner.Auf den Universitäten machten sich die verschiedensten Sorten vonEklektizismus Konkurrenz, die nur darin übereinstimmten, dass sieaus lauter Abfällen vergangner Philosophien zusammengestutztund alle gleich metaphysisch waren. Von den Resten der klassi-schen Philosophie rettete sich nur ein gewisser Neukantianismus,dessen letztes Wort das ewig unerkennbare Ding an sich war, alsodas Stück Kant, das am wenigsten verdiente, aufbewahrt zu wer-den. Das Endresultat war die jetzt herrschende Zerfahrenheit undVerworrenheit des theoretischen Denkens.

Man kann kaum ein theoretisches naturwissenschaftliches Buchzur Hand nehmen, ohne den Eindruck zu bekommen, dass die Na-turforscher es selbst fühlen, wie sehr sie von dieser Zerfahrenheitund Verworrenheit beherrscht werden und wie ihnen die jetzt land-läufige sog. Philosophie absolut keinen Ausweg bietet. Und hiergibt es nun einmal keinen andern Ausweg, keine Möglichkeit, zurKlarheit zu gelangen, als die Umkehr, in einer oder der andernForm, vom metaphysischen zum dialektischen Denken.

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Kant mit Senf-topf, [auf der Suchenach dem unerkennba-

rem Ding]

Karikatur vonFriedrich Ha-

germann (1801)

Diese Rückkehr kann auf verschiedenen Wegen vor sich gehen.Sie kann sich naturwüchsig durchsetzen, durch die bloße Gewaltder naturwissenschaftlichen Entdeckungen selbst, die sich nichtlänger in das alte metaphysische Prokrustesbett wollen zwängenlassen. Das ist aber ein langwieriger, schwerfälliger Prozess, beidem eine Unmasse überflüssiger Reibung zu überwinden ist. Er istgroßenteils schon im Gang, namentlich in der Biologie. Er kannsehr abgekürzt werden, wenn die theoretischen Naturforscher sichmit der dialektischen Philosophie in ihren geschichtlich vorliegen-den Gestalten näher beschäftigen wollen. Unter diesen Gestalten

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sind es namentlich zwei, die für die moderne Naturwissenschaft be-sonders fruchtbar werden können.

Die erste ist die griechische Philosophie. Hier tritt das dialekti-sche Denken noch in naturwüchsiger Einfachheit auf, noch unge-stört von den holden Hindernissen, die die Metaphysik des 17. und18. Jahrhunderts - Bacon und Locke in England, Wolff in Deutsch-land - sich selbst aufwarf, und womit sie sich den Weg versperrte,vom Verständnis des Einzelnen zum Verständnis des Ganzen, zurEinsicht in den allgemeinen Zusammenhang zu kommen. Bei denGriechen - eben weil sie noch nicht zur Zergliederung, zur Analyseder Natur fortgeschritten waren - wird die Natur noch als Ganzes,im Großen und Ganzen angeschaut.

Der Gesamtzusammenhang der Naturerscheinungen wird nicht imEinzelnen nachgewiesen, er ist den Griechen Resultat der unmittel-baren Anschauung. Darin liegt die Unzulänglichkeit der griechi-schen Philosophie, derentwegen sie später andren Anschauungs-weisen hat weichen müssen. Darin liegt aber auch ihre Überlegen-heit gegenüber allen ihren späteren metaphysischen Gegnern. Wenndie Metaphysik den Griechen gegenüber im einzelnen Recht be-hielt, so behielten die Griechen gegenüber der Metaphysik recht imGroßen und Ganzen. Dies ist der eine Grund, weshalb wir genötigtwerden, in der Philosophie wie auf so vielen andern Gebieten, im-mer wieder zurückzukehren zu den Leistungen jenes kleinen Volks,dessen universelle Begabung und Betätigung ihm einen Platz in derEntwicklungsgeschichte der Menschheit gesichert hat, wie keinandres Volk ihn ja beanspruchen kann. Der andre Grund aber istder, dass in den mannigfachen Formen der griechischen Philoso-phie sich fast alle späteren Anschauungsweisen bereits im Keim,im Entstehen vorfinden. Die theoretische Naturwissenschaft ist da-her ebenfalls gezwungen, will sie die Entstehungs- und Entwick-lungsgeschichte ihrer heutigen allgemeinen Sätze verfolgen, zu-rückzugehn auf die Griechen. Und diese Einsicht bricht sich mehrund mehr Bahn. Immer seltner werden die Naturforscher, die, wäh-rend sie selbst mit Abfällen griechischer Philosophie, z.B. der Ato-mistik, wie mit ewigen Wahrheiten hantieren, baconistisch-vor-nehm auf die Griechen herabsehen, weil diese keine empirische Na-

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turwissenschaft hatten. Zu wünschen wäre nur, dass diese Einsichtfortschritte zu einer wirklichen Kenntnisnahme der griechischenPhilosophie.

Raffael: Schule von Athen, Detail, 1510/11

Die zweite Gestalt der Dialektik, die grade den deutschen Natur-forschern am nächsten liegt, ist die klassische deutsche Philosophievon Kant bis Hegel. Hier ist bereits ein Anfang gemacht, indemauch außerhalb des schon erwähnten Neukantianismus es wiederMode wird, auf Kant zu rekurrieren. Seitdem man entdeckt hat,dass Kant der Urheber zweier genialer Hypothesen ist, ohne die dieheutige theoretische Naturwissenschaft nun einmal nicht voran-kommen kann - der früher Laplace zugeschriebnen Theorie von derEntstehung des Sonnensystems und der Theorie von der Hemmungder Erdrotation durch die Flutwelle -, ist Kant bei den Naturfor-schern wieder zu verdienten Ehren gekommen. Aber bei Kant Dia-lektik studieren zu wollen, wäre eine nutzlos mühsame und weniglohnende Arbeit, seitdem ein umfassendes, wenn auch von ganzfalschem Ausgangspunkt her entwickeltes Kompendium der Dia-lektik vorliegt in den Werken Hegels.

Nachdem einerseits die durch diesen falschen Ausgangspunkt unddurch das hilflose Versumpfen der Berliner Hegelei großenteils ge-rechtfertigte Reaktion gegen die "Naturphilosophie" ihren freienLauf gehabt und in bloßes Geschimpfe ausgeartet ist, nachdem and-rerseits die Naturwissenschaft in ihren theoretischen Bedürfnissenvon der landläufigen eklektischen Metaphysik so glänzend im Stichgelassen worden, wird es wohl möglich sein, vor Naturforschernauch wieder einmal den Namen Hegel auszusprechen, ohne da-

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durch jenen Veitstanz hervorzurufen, in dem Herr Dühring so Er-götzliches leistet.

Vor allem ist festzustellen,dass es sich hier keineswegshandelt um eine Verteidigungdes Hegelschen Ausgangs-punkts: dass der Geist, der Ge-danke, die Idee das Ursprüngli-che, und die wirkliche Welt nurder Abklatsch der Idee sei. Dieswar schon von Feuerbach aufge-geben. Darüber sind wir alle ei-nig, dass auf jedem wissen-schaftlichen Gebiet in Natur wieGeschichte von den gegebenenTatsachen auszugehen ist, in derNaturwissenschaft also von denverschiedenen sachlichen undBewegungsformen der Mate-rie34; dass also auch in der theo-retischen Naturwissenschaft dieZusammenhänge nicht in die Tatsachen hineinzukonstruieren, son-dern aus ihnen zu entdecken und, wenn entdeckt, erfahrungsmäßigsoweit dies möglich nachzuweisen sind.

Ebensowenig kann davon die Rede sein, den dogmatischen Inhaltdes Hegelschen Systems aufrecht zu halten, wie er von der BerlinerHegelei älterer und jüngerer Linie gepredigt worden. Mit dem idea-listischen Ausgangspunkt fällt auch das darauf konstruierte System,also namentlich auch die Hegelsche Naturphilosophie. Es ist aberdaran zu erinnern, dass die naturwissenschaftliche Polemik gegenHegel, soweit sie ihn überhaupt richtig verstanden, sich nur gegendiese beiden Punkte gerichtet hat: den idealistischen Ausgangs-

34 Hier folgt ein nicht zu Ende geschriebener Satz, der von Engels durchgestri-chen wurde: »Wir sozialistischen Materialisten gehen darin sogar noch bedeu-tend weiter als die Naturforscher, indem wir auch das...«

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punkt und die den Tatsachen gegenüber willkürliche Konstruktiondes Systems.

Nach Abzug von allem diesem bleibt noch die Hegelsche Dia-lektik. Es ist das Verdienst von Marx, gegenüber dem »ver-drießlichen, anmaßenden und mittelmäßigen Epigonentum, wel-ches jetzt in Deutschland das große Wort führt«35,36, zuerst wiederdie vergessene dialektische Methode, ihren Zusammenhang mit derHegelschen Dialektik wie ihren Unterschied von dieser hervorge-hoben und gleichzeitig im "Kapital" diese Methode auf die Tatsa-chen einer empirischen Wissenschaft, der politischen Ökonomie,angewandt zu haben. Und mit dem Erfolg, dass selbst in Deutsch-land die neuere ökonomische Schule sich nur dadurch über die vul-gäre Freihändlerei erhebt, dass sie Marx abschreibt (oft genugfalsch) unter dem Vorwand, ihn zu kritisieren.

Bei Hegel herrscht in der Dialektik dieselbe Umkehrung alleswirklichen Zusammenhangs wie in allen andern Verzweigungenseines Systems. Aber, wie Marx sagt. »Die Mystifikation, welchedie Dialektik in Hegels Händen untergeht, verhindert in keinerWeise, dass er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfas-sender und bewusster Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm aufdem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in dermystischen Hülle zu entdecken.34,35

In der Naturwissenschaft selbst aber begegnen uns oft genug The-orien, in denen das wirkliche Verhältnis auf den Kopf gestellt, dasSpiegelbild für die Urform genommen ist, und die daher einer sol-chen Umstülpung bedürfen. Solche Theorien herrschen oft genugfür längere Zeit. Wenn die Wärme während fast zwei Jahrhundertenals eine besondre geheimnisvolle Materie galt, statt als eine Bewe-

35 Vgl. MEW, Band 23, S.27

36 Einige Unterschiede zwischen dem Wortlaut dieses Zitats im "Anti-Dühring"und dem Wortlaut der angegebenen Stelle im Band 23 unserer Ausgabe rührendaher, dass Engels den ersten Band des "Kapitals" nach der zweiten deutschenAusgabe (1872) zitiert, während im Band 23 der Text nach der vierten deutschenAusgabe (1890) gebracht wird, wo die angeführte Stelle in etwas abgeänderterForm gegeben ist.

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gungsform der gewöhnlichen Materie, so war das ganz derselbeFall, und die mechanische Wärmetheorie vollzog die Umstülpung.Nichtsdestoweniger hat die von der Wärmestofftheorie beherrschtePhysik eine Reihe höchst wichtiger Gesetze der Wärme entdecktund besonders durch [J.-B.-J.] Fourier und Sadi Carnot37 die Bahnfrei gemacht für die richtige Auffassung, die nun ihrerseits die vonihrer Vorgängerin entdeckten Gesetze umzustülpen, in ihre eigeneSprache zu übersetzen hatte38. Ebenso hat in der Chemie die phlo-gistische Theorie 4 durch hundertjährige experimentelle Arbeit erstdas Material geliefert, mit Hilfe dessen Lavoisier in dem vonPriestley dargestellten Sauerstoff den reellen Gegenpol des phan-tastischen Phlogiston entdecken und damit die ganze phlogistischeTheorie über den Haufen werfen konnte.

37 Es handelt sich um folgende Schriften: Jean-Baptiste-Joseph Fourier, "Théorieanalytique de la chaleur", Paris 1822, und Sadi Carnot, "Réflexions sur la puis-sance motrice du feu et sur les machines propres à développer cette puissance",Paris 1824. Die von Engels erwähnte Funktion C kommt in der Anmerkung aufden Seiten 73-79 des Buches von Carnot vor.

38 Carnots Funktion C buchstäbIich umgestülpt: 1/C = die absolute Temperatur.Ohne diese Umstülpung nichts zu machen aus ihr.

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Damit aber waren die Versuchsresultate der Phlogistik durchausnicht beseitigt. Im Gegenteil. Sie blieben bestehen, nur ihre Formu-lierung wurde umgestülpt, aus der phlogistischen Sprache in dienunmehr gültige chemische Sprache übersetzt, und behielten soweitihre Gültigkeit.

Wie die Wärmestofftheorie zur mechanischen Wämelehre, wiedie phlogistische Theorie zu der Lavoisiers, so verhält sich die He-gelsche Dialektik zur rationellen Dialektik.

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(Allgemeine Natur der Dialektik als Wissenschaft von den Zusam-menhängen im Gegensatz zur Metaphysik zu entwickeln.)

Es ist also die Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesell-schaft, aus der die Gesetze der Dialektik abstrahiert werden. Siesind eben nichts andere als die allgemeinsten Gesetze dieser beidenPhasen der geschichtlichen Entwicklung sowie des Denkens selbst.Und zwar reduzieren sie sich der Hauptsache nach auf drei:

das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und um-gekehrt;

das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze;

das Gesetz von der Negation der Negation.

Alle drei sind von Hegel in seiner idealistischen Weise als bloßeDenkgesetze entwickelt: das erste im ersten Teil der "Logik", in derLehre vom Sein; das zweite füllt den ganzen zweiten und weitausbedeutendsten Teil seiner "Logik" aus, die Lehre vom Wesen; dasdritte endlich figuriert als Grundgesetz für den Aufbau des ganzenSystems. Der Fehler liegt darin, dass diese Gesetze als Denkgesetzeder Natur und Geschichte aufoktroyiert, nicht aus ihnen abgeleitetwerden. Daraus entsteht dann die ganze gezwungene und oft haar-sträubende Konstruktion: Die Welt, sie mag wollen oder nicht, sollsich nach einem Gedankensystem einrichten, das selbst wieder nur

39 "Dialektik" lautet die Überschrift dieses Artikels auf der ersten Seite des Ma-nuskripts. Auf der fünften und neunten Seite des Manuskripts (d.h. am Anfangdes zweiten und dritten Blatts) steht oben am Rand "Dialektische Gesetze" ge-schrieben. Der Arikel ist unvollendet geblieben. Er wurde 1879 verfasst, abernicht vor dem September dieses Jahres. Diese Angabe wird durch folgende Tat-sachen bestimmt: Es wird darin der zweite Band des "Ausführlichen Lehrbuchsder Chemie" von Roscoe und Schorlemmer zitiert, der Anfang September 1879erschienen war, andererseits wird in dem Artikel nichts von der Entdeckung desSkandiums (1879) gesagt, das Engels im Zusammenhang mit der Entdeckungdes Galliums bestimmt nicht unerwähnt gelassen haben würde, wenn er den Ar-tikel nach 1879 geschrieben hätte.

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das Produkt einer bestimmten Entwicklungsstufe des menschlichenDenkens ist.

Kehren wir die Sache um, so wird alles einfach und die in der ide-alistischen Philosophie äußerst geheimnisvoll aussehenden dialekti-schen Gesetze werden sofort einfach und sonnenklar.

Wer übrigens seinen Hegel nur einigermaßen kennt, der wirdauch wissen. dass Hegel an Hunderten von Stellen aus Natur undGeschichte die schlagendsten Einzelbelege für die dialektischenGesetze zu geben versteht.

Wir haben hier kein Handbuch der Dialektik zu verfassen, son-dern nur nachzuweisen, dass die dialektischen Gesetze wirklicheEntwicklungsgesetze der Natur, also auch für die theoretische Na-turforschung gültig sind. Wir können daher auf den inneren Zusam-menhang jener Gesetze unter sich nicht eingehen.

I. Gesetz vom Umschlagen von Quantität in Qualität und umge-kehrt. Dies können wir für unsern Zweck dahin ausdrücken, dass inder Natur, in einer für jeden Einzelfall genau feststehenden Weise,qualitative Änderungen nur stattfinden können durch quantitativenZusatz oder quantitative Entziehung von Materie oder Bewegung(sog. Energie).

Alle qualitativen Unterschiede in der Natur beruhen entweder aufverschiedner chemischer Zusammensetzung oder auf verschiedenenMengen resp. Formen von Bewegung (Energie) oder, was fast im-mer der Fall, auf beiden. Es ist also unmöglich, ohne Zufuhr resp.Hinwegnahme von Materie oder von Bewegung, d.h. ohne quanti-tative Änderung des betreffenden Körpers, seine Qualität zu än-dern. In dieser Form erscheint also der mysteriöse Hegelsche Satznicht nur ganz rationell, sondern selbst ziemlich einleuchtend. Esist wohl kaum nötig, darauf hinzuweisen, dass auch die verschiede-nen allotropischen und Aggregatzustände der Körper, weil auf ver-schiedner Molekulargruppierung, auf größeren oder geringeren demKörper mitgeteilten Mengen von Bewegung beruhen.

Aber der Formwechsel der Bewegung oder sog. Energie? Wennwir Wärme in mechanische Bewegung verändern, oder umgekehrt,

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da wird doch die Qualität verändert und die Quantität bleibt diesel-be? Ganz richtig. Aber Formwechsel der Bewegung ist wie HeinesLaster: Tugendhaft kann jeder für sich sein, zum Laster gehörenimmer zwei.40

Formwechsel der Bewegung ist immer ein Vorgang, der zwischenmindestens zwei Körpern erfolgt, von denen der eine ein bestimm-tes Quantum Bewegung dieser Qualität (z.B. Wärme) verliert, derandere ein entsprechendes Quantum Bewegung jener Qualität (me-chanische Bewegung, Elektrizität, chemische Zersetzung) emp-fängt. Quantität und Qualität entsprechen sich hier also beiderseitsund gegenseitig. Bisher ist es noch nicht gelungen, innerhalb eineseinzelnen isolierten Körpers Bewegung aus einer Form in eine and-re zu verwandeln.

Es ist hier zunächst nur die Rede von leblosen Körpern; für leben-de gilt dasselbe Gesetz, geht aber unter sehr verwickelten Bedin-gungen vor sich, und die quantitative Messung ist uns heute oftnoch unmöglich.

Wenn wir uns einen beliebigen leblosen Körper in immer kleinereTeile zerteilt vorstellen, so tritt zunächst keine qualitative Ände-rung ein. Aber das hat seine Grenze: Gelingt es uns, wie bei derVerdunstung, die einzelnen Moleküle frei darzustellen, so könnenwir zwar diese meist auch noch weiter zerteilen, jedoch nur untervollständiger Änderung der Qualität. Das Molekül zerfällt in seineeinzelnen Atome, und diese haben ganz andre Eigenschaften alsjene. Bei Molekülen, die aus verschiednen chemischen Elementenzusammengesetzt waren, treten an die Stelle des zusammengesetz-ten Moleküls Atome oder Moleküle dieser Elemente selbst; bei Ele-mentarmolekülen erscheinen die freien Atome, die ganz verschied-ne qualitative Wirkungen ausüben: Die freien Atome des naszentenSauerstoffs erwirken spielend, was die im Molekül gebundnen desatmosphärischen nie fertig bringen.

40 Heinrich Heine, "Über den Denunzianten. Eine Vorrede zum dritten Theiledes Salons", Hamburg 1837, S. 15.

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Aber auch schon das Molekül ist von der Körpermasse, der es an-gehört, qualitativ verschieden. Es kann Bewegungen vollführen un-abhängig von ihr, und während sie scheinbar in Ruhe bleibt, z.B.Wärmeschwingungen; es kann vermittelst Änderung der Lage unddes Zusammenhangs mit den Nachbarmolekülen den Körper in ei-nen andern allotropischen oder Aggregatzustand versetzen usw.

Wir sehen also, dass die rein quantitative Operation der Teilungeine Grenze hat, an der sie in einen qualitativen Unterschied um-schlägt: Die Masse besteht aus lauter Molekülen, ist aber etwas we-sentlich vom Molekül Verschied-nes, wie dieses wieder vom Atom.Es ist dieser Unterschied, auf demdie Trennung der Mechanik, alsWissenschaft von den himmli-schen und irdischen Massen, vonder Physik, als der Mechanik derMoleküle, und der Chemie, als derPhysik der Atome, beruht.

In der Mechanik kommen keine Qualitäten vor, höchstens Zustän-de wie Gleichgewicht, Bewegung, potentielle Energie, die alle aufmessbarer Übertragung von Bewegung beruhen und selbst quantita-tiv ausdrückbar sind. Soweit also hier qualitative Änderung stattfin-det, soweit ist sie bedingt durch quantitative entsprechende Ände-rung.

In der Physik werden die Körper chemisch unveränderlich oderindifferent behandelt; wir haben es mit den Veränderungen ihrerMolekularzustände zu tun und mit dem Formwechsel der Bewe-gung, der in allen Fällen, wenigstens auf einer der beiden Seiten,die Moleküle ins Spiel bringt. Hier ist jede Veränderung ein Um-schlagen von Quantität in Qualität, eine Folge quantitativer Verän-derung der dem Körper innewohnenden oder mitgeteilten Bewe-gungsmenge irgendwelcher Form.

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»So ist z.B. der Temperaturgrad des Wassers zunächst gleichgül-tig in Beziehung auf dessentropfbare Flüssigkeit; es trittdann aber beim Vermehrenoder Vermindern der Tempe-ratur des flüssigen Wassersein Punkt ein, wo dieser Ko-häsionszustand sich ändertund das Wasser einerseits inDampf und andrerseits in Eisverwandelt wird.« (Hegel "En-zykl.", Gesamtausg., Bd.VI,S.217.)41

So gehört eine bestimmteMinimalstromstärke dazu, denPlatindraht des elektrischenGlühlichts zum Glühen zubringen; so hat jedes Metallseine Glüh- und Schmelzwär-me, so jede Flüssigkeit ihren bei be-kanntem Druck feststehenden Ge-frier- und Siedepunkt - soweit unsreMittel uns erlauben, die betreffendeTemperatur hervorzubringen; soendlich auch jedes Gas seinen kriti-schen Punkt, wo Druck und Abküh-lung es tropfbar flüssig machen. Miteinem Wort: Die sogenannten Kon-stanten der Physik sind großenteilsnichts andres als Bezeichnungen vonKnotenpunkten, wo quantitative

41 Hegel, "Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften...", § 108, Zusatz.Engels zitiert den sechsten Band der Gesamtausgabe der Werke Hegels wahr-scheinlich nach der zweiten Auflage (Berlin 1843). Die erste Auflage (Berlin1840) stimmt in Text und Paginierung mit der zweiten Auflage völlig überein.

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Veränderung42 Zufuhr oder Entziehung von Bewegung qualitativeÄnderung im Zustand des betreffenden Körpers hervorruft, wo alsoQuantität in Qualität umschlägt.

Das Gebiet jedoch, auf dem das von Hegel entdeckte Naturgesetzseine gewaltigsten Triumphe feiert, ist das der Chemie. Man kanndie Chemie bezeichnen als die Wissenschaft von den qualitativenVeränderungen der Körper infolge veränderter quantitativer Zu-sammensetzung. Das wusste schon Hegel selbst ("Logik", Gesamt-ausg., III, S.433). Gleich der Sauerstoff: Vereinigen sich drei Ato-me zu einem Molekül, statt der gewöhnlichen zwei, so haben wirOzon, einen Körper, der durch Geruch und Wirkung von gewöhnli-chem Sauerstoff sehr bestimmt verschieden.

Und gar die verschiednen Verhältnisse, in denen Sauerstoff sichmit Stickstoff oder Schwefel verbindet, und deren jedes einen vonallen andern qualitativ verschiednen Körper bildet! Wie verschie-den ist Lachgas (Stickstoffmonoxyd N20) von Salpetersäureanhy-drid (Stickstoffpentoxyd N205)! Das erste ein Gas, das zweite beigewöhnlicher Temperatur ein fester kristallinischer Körper. Unddoch ist der ganze Unterschied der Zusammensetzung der, dass daszweite fünfmal soviel Sauerstoff enthält als das erste, und zwischenbeiden liegen noch drei andre Oxyde des Stickstoffs (NO, N2 03,NO2), die alle von jenen beiden und unter sich qualitativ verschie-den sind.

Noch schlagender tritt dies hervor an den homologen Reihen derKohlenstoffverbindungen, namentlich der einfacheren Kohlenwas-serstoffe. Von den normalen Paraffinen ist das niedrigste Methan,CH4; hier sind die vier Verbindungseinheiten des Kohlenstoffatomsmit vier Atomen Wasserstoff gesättigt. Das zweite, Äthan C2H6 hat2 Atome Kohlenstoff unter sich verbunden und die freien 6 Verbin-dungseinheiten mit 6 Atomen Wasserstoff gesättigt. So geht es fortC3H8, C4H10, usw. nach der algebraischen Formel CnH2n+2, so dassdurch Zusatz von je CH2 jedesmal ein von dem früheren qualitativverschiednen Körper gebildet wird.

42 Das Wort "Veränderung" ist im Manuskript gestrichen

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Die drei niedrigsten Glieder der Reihe sind Gase, das höchste be-kannte, das Hekdekan C16H34, ist ein fester Körper mit dem Siede-punkt 278 Grad C. Ganz ebenso verhält sich die Reihe der von denParaffinen (theoretisch) abgeleiteten primären Alkohole von derFormel CnH2n+2O und der einbasischen fetten Säuren (Formel Cn-

H2nO2). Welchen qualitativen Unterschied der quantitative Zusatzvon C3H6, hervorbringen kann, lehrt die Erfahrung, wenn wirÄthylalkohol C2H60 in irgendeiner genießbaren Form ohne Beimi-schung andres Alkohole verzehren, und wenn wir ein andres Maldenselben Äthylalkohol zu uns nehmen, aber mit einem geringenZusatz von Amylalkohol C5H12O, der den Hauptbestandteil des in-famen Fuselöls bildet. Unser Kopf wird das am nächsten Morgensicher gewahr, und zu seinem Schaden; so dass man sogar sagenkönnte, der Rausch und nachher der Katzenjammer sei ebenfalls inQualität umgeschlagene Quantität, einerseits von Äthylalkohol,andrerseits von diesem zugesetzten C,3H6.

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Bei diesen Reihen tritt uns das Hegelsche Gesetz indes noch in ei-ner andern Form entgegen. Die unteren Glieder lassen nur eine ein-zige gegenseitige Lagerung der Atome zu. Erreicht aber die Anzahlder zu einem Molekül verbundenen Atome eine für jede Reihe be-stimmte Größe, so kann die Gruppierung der Atome im Molekül inmehrfacher Weise stattfinden; es können also zwei oder mehrere

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isomere Körper auftreten, die gleichviel Atome C, H, O im Mole-kül haben, aber dennoch qualitativ verschieden sind.

Wir können sogar berechnen, wieviel sol-cher Isomerien für jedes Glied der Reihemöglich sind. So in der Paraffinreihe fürC4H10 zwei, für C5H10 drei; bei den höherenGliedern steigt die Zahl der möglichen Iso-merien sehr rasch. Es ist also wieder diequantitative Anzahl der Atome im Molekül, die die Möglichkeitund, soweit sie nachgewiesen, auch die wirkliche Existenz solcherqualitativ verschiednen isomeren Körper bedingt.

Noch mehr. Aus der Analogie der uns in jeder dieser Reihen be-kannten Körper können wir auf die physikalischen Eigenschaftender noch unbekannten Glieder der Reihe Schlüsse ziehn und we-nigstens für die den bekannten zunächst folgenden Glieder dieseEigenschaften, Siedepunkt usw., mit ziemlicher Sicherheit vorher-sagen.

Endlich aber gilt das Hegelsche Gesetz nicht nur für die zusam-mengesetzten Körper, sondern auch für die chemischen Elementeselbst. Wir wissen jetzt,

»dass die chemischen Eigenschaften der Elemente eine periodi-sche Funktion der Atomgewichte sind« (Roscoe-Schorlemmer,"Ausführliches Lehrbuch der Chemie", II. Bd. S.823),

dass also ihre Qualität bedingt ist durch die Quantität ihres Atom-gewichts. Und die Probe hierauf ist glänzend gemacht worden.Mendelejew wies nach, dass in den nach den Atomgewichten ange-ordneten Reihen verwandter Elemente verschiedene Lücken sichvorfinden, die darauf hindeuten, dass hier noch neue Elemente zuentdecken sind. Eins dieser unbekannten Elemente, das er Ekaalu-minium nannte, weil es in der mit Aluminium anfangenden Reiheauf dieses folgt, beschrieb er nach seinen allgemeinen chemischenEigenschaften im Voraus, und sagte sein spezifisches und Atomge-wicht wie sein Atomvolumen annähernd vorher. Wenige Jahre spä-ter entdeckte Lecoq de Boisbaudran dies Element wirklich, und die

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Vorausbestimmungen Mendelejews trafen bis auf ganz geringe Ab-weichungen zu. Das Ekaaluminium war realisiert im Gallium(ebendaselbst, S. 828)43. Vermittelst der - unbewussten - Anwen-dung des Hegelschen Gesetzes vom Umschlagen der Quantität inQualität war Mendelejew eine wissenschaftliche Tat gelungen, diesich der Leverriers in der Berechnung der Bahn des noch unbe-kannten Planeten Neptun kühn an die Seite stellen darf44.

In der Biologie wie in der Geschichte der menschlichen Gesell-schaft bewährt sich dasselbe Gesetz auf jedem Schritt, doch wollenwir hier bei Beispielen aus den exakten Wissenschaften bleiben, dahier die Quantitäten genau meßbar und verfolgbar sind.

Wahrscheinlich werden dieselben Herren, die bisher das Um-schlagen von Quantität in Qualität als Mystizismus und unverständ-lichen Transzendentalismus verschrien haben, jetzt erklären, es seija etwas ganz Selbstverständliches, Triviales und Plattes, das sieseit langer Zeit angewandt hätten, und somit werde ihnen gar nichtsNeues gelehrt. Ein allgemeines Gesetz der Natur-, Gesellschafts-

43 Das periodische Gesetz entdeckte Dmitri lwanowitsch Mendelejew 1869. Inden Jahren 1870/1871 beschrieb Mendelejew ausführlich die Eigenschaften eini-ger fehlender Glieder des periodischen Systems der Elemente. Zur Benennungder fehlenden Glieder des periodischen Systems der Elemente schlug Mendele-jew vor, Sanskritzahlwörter (z.B. "Eka" - eins) als Vorsilben in Verbindung mitdem Namen des vorhergehenden bekannten Elements zu benutzen, nach dem dieentsprechenden fehlenden Glieder der Reihe einzuordnen waren. Das erste vonMendelejew vorausgesagte Element, das im System zwischen Aluminium undIndium steht und von ihm Ekaaluminium genannt wurde - das Gallium -, wurde1875 entdeckt.

44 Über das kopernikanische System sagte Engels 1886 in seiner Arbeit "Lud-wig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie": "Daskopernikanische Sonnensystem war dreihundert Jahre lang eine Hypothese, aufdie hundert, tausend, zehntausend gegen eins zu wetten war, aber doch immereine Hypothese; als aber Leverrier aus den durch dies System gegebenen Datennicht nur die Notwendigkeit der Existenz eines unbekannten Planeten, sondernauch den Ort berechnete, wo dieser Planet am Himmel stehen müsse, und alsGalle dann diesen Planeten wirklich fand, da war das kopernikanische Systembewiesen" (siehe MEW, Band 21, S. 276). Den Planeten Neptun, von dem hierdie Rede ist, entdeckte am 23. September 1846 der Astronom Johann Galle vonder Berliner Sternwarte.

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und Denkentwicklung zum ersten Mal in seiner allgemein gelten-den Form ausgesprochen zu haben, das bleibt aber immer eineweltgeschichtliche Tat. Und wenn die Herren seit Jahren Quantitätund Qualität haben ineinander umschlagen lassen, ohne zu wissen,was sie taten, so werden sie sich trösten müssen mit Molières Mon-sieur Jourdain, der auch sein Leben lang Prosa gesprochen hatte,ohne das geringste davon zu ahnen45.

45 Siehe Jean-Baptiste Molières Komödie "Le Bourgeois gentilhomme", zweiterAkt, vierte Szene.

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Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen 46

Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums, sagen die politischenÖkonomen. Sie ist dies - neben der Natur, die ihr den Stoff liefert,den sie in Reichtum verwandelt. Aber sie ist noch unendlich mehrals dies. Sie ist die erste Grundbedingung alles menschlichenLebens, und zwar in einem solchen Grade, dass wir in gewis-sem Sinn sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaf-fen. ´

46 Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" lautet die Überschriftdieses Artikels im Inhaltsverzeichnis des 2. Konvoluts des Materials zur "Dialek-tik der Natur". Der Artikel wurde von Engels ursprünglich als Einleitung zu ei-ner umfangreicheren Arbeit mit dem Titel "Über die drei Grundformen derKnechtschaft" geschrieben. Später änderte Engels diesen Titel in -"Die Knech-tung des Arbeiters. Einleitung". Aber da diese Arbeit nicht vollendet wurde, gabEngels schließlich dem von ihm geschriebenen einführenden Teil die Überschrift"Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen", der dem Hauptinhalt desManuskripts dieser Arbeit entspricht, Der Artikel wurde offenbar im Juni 1876geschrieben. Für diese Annahme spricht ein Brief Wilhelm Liebknechts an En-gels vom 10. Juni 1876, in dem Liebknecht u.a. schreibt, er warte ungeduldig aufdie von Engels versprochene Arbeit "Über die drei Grundformen der Knecht-schaft" für den 'Volksstaat' (siehe Anm. 2). 1896 wurde dieser Artikel in derZeitschrift 'Die Neue Zeit" veröffentlicht (Jahrgang XIV, Band 2, S.545 -554).

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Vor mehreren hunderttausend Jahren, während eines noch nichtfest bestimmbaren Abschnitts jener Erdperiode, die die Geologendie tertiäre nennen, vermutlich gegen deren Ende, lebte irgendwo inder heißen Erdzone - wahrscheinlich auf einem großen, jetzt aufden Grund des Indischen Ozeans versunkenen Festlande - ein Ge-schlecht menschenähnlicher Affen von besonders höher Entwick-lung. Darwin hat uns eine annähernde Beschreibung dieser unsrerVorfahren gegeben. Sie waren über und über behaart, hatten Bärteund spitze Ohren, und lebten in Rudeln auf Bäumen.47

Wohl zunächst durch ihre Lebensweise veranlasst, die beim Klet-tern den Händen andre Geschäfte zuweist als den Füßen, fingendiese Affen an, auf ebner Erde sich der Beihilfe der Hände beimGehen zu entwöhnen und einen mehr und mehr aufrechten Ganganzunehmen. Damit war der entscheidende Schritt getan für denÜbergang vom Affen zum Menschen.

Skelett und Rekonstruktion desHomo Australopithecus

47 Charles Darwin, "The descent of man, and selection in relation to sex", vol. 1,London 1871, 6. Kapitel: "Über die Verwandtschaften und die Genealogie desMenschen".

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Alle noch jetzt lebenden menschenähnlichen Affen können auf-recht stehen und sich auf den beiden Füßen allein fortbewegen.Aber nur zur Not und höchst unbehilflich. Ihr natürlicher Gang ge-schieht in halbaufgerichteter Stellung und schließt den Gebrauchder Hände ein. Die meisten stützen die Knöchel der Faust auf denBoden und schwingen den Körper mit eingezogenen Beinen zwi-schen den langen Armen durch, wie ein Lahmer, der auf Krückengeht. Überhaupt können wir bei den Affen alle Übergangsstufenvom Gehen auf allen vieren bis zum Gang auf den beiden Füßennoch jetzt beobachten. Aber bei keinem von ihnen ist der letzteremehr als ein Notbehelf geworden.

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1431770

Wenn der aufrechte Gang bei unsern behaarten Vorfahren zuerstRegel und mit der Zeit eine Notwendigkeit werden sollte, so setztdies voraus, dass den Händen inzwischen mehr und mehr anderwei-tige Tätigkeiten zufielen. Auch bei den Affen herrscht schon einegewisse Teilung der Verwendung von Hand und Fuß. Die Hand

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wird, wie schon erwähnt, beim Klettern in andrer Weise gebrauchtals der Fuß. Sie dient vorzugsweise zum Pflücken und Festhaltender Nahrung, wie dies schon bei niederen Säugetieren mit den Vor-derpfoten geschieht. Mit ihr bauen sich manche Affen Nester in denBäumen oder gar, wie der Schimpanse, Dächer zwischen den Zwei-gen zum Schutz gegen die Witterung. Mit ihr ergreifen sie Knüttelzur Verteidigung gegen Feinde oder bombardieren diese mit Früch-ten und Steinen. Mit ihr vollziehen sie in der Gefangenschaft eineAnzahl einfacher, den Menschen abgesehener Vorrichtungen. Abergrade hier zeigt sich, wie groß der Abstand ist zwischen der unent-wickelten Hand selbst der menschenähnlichsten Affen und derdurch die Arbeit von Jahrhunderttausenden hoch ausgebildetenMenschenhand. Die Zahl und allgemeine Anordnung der Knochenund Muskeln stimmen bei beiden; aber die Hand des niedrigstenWilden kann Hunderte von Vorrichtungen ausführen, die keine Af-fenhand ihr nachmacht. Keine Affenhand hat je das rohste Stein-messer verfertigt.

Die Verrichtungen, denen unsre Vorfahren im Übergang vom Af-fen zum Menschen im Lauf vieler Jahrtausende allmählich ihreHand anpassen lernten, können daher anfangs nur sehr einfache ge-wesen sein. Die niedrigsten Wilden, selbst diejenigen, bei denenein Rückfall in einen mehr tierähnlichen Zustand mit gleichzeitigerkörperlicher Rückbildung anzunehmen ist, stehen immer noch weithöher als jene Übergangsgeschöpfe.

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http://www.eurekalert.org/multimedia/pub/50921.php?from=228578https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24479623Faust , https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24479726

Bis der erste Kiesel durch Menschen-hand zum Messer verarbeitet wurde, dar-über mögen Zeiträume verflossen sein,gegen die, die uns bekannte geschichtli-che Zeit unbedeutend erscheint. Aber derentscheidende Schritt war getan: DieHand war frei geworden und konnte sichnun immer neue Geschicklichkeiten er-werben, und die damit erworbene größereBiegsamkeit vererbte und vermehrte sichvon Geschlecht zu Geschlecht.

So ist die Hand nicht nur das Organ derArbeit, sie ist auch ihr Produkt. Nurdurch Arbeit, durch Anpassung an immer neue Vorrichtungen,

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durch Vererbung der dadurch erworbenen besondern Ausbildungder Muskel, Bänder, und in längeren Zeiträumen auch der Kno-chen, und durch immer erneuerte Anwendung dieser vererbten Ver-feinerung auf neue, stets verwickeltere Verrichtungen hat die Men-schenhand jenen hohen Grad von Vollkommenheit erhalten, aufdem sie Raffaelsche Gemälde, Thorvaldsensche Statuen, Paganini-sche Musik hervorzaubern konnte. Aber die Hand stand nicht al-lein. Sie war nur ein einzelnes Glied eines ganzen, höchst zusam-mengesetzten Organismus. Und was der Hand zugute kam, kamauch dem ganzen Körper zugute, in dessen Dienst sie arbeitete -und zwar in doppelter Weise.

Zuerst infolge des Gesetzes der Korrelation des Wachstums, wieDarwin es genannt hat. Nach diesem Gesetz sind bestimmte For-men einzelner Teile eines organischen Wesens stets an gewisseFormen andrer Teile geknüpft, die scheinbar gar keinen Zusam-menhang mit jenen haben. So haben alle Tiere, welche rote Blutzel-len ohne Zellenkern besitzen und deren Hinterkopf mit dem erstenRückgratswirbel durch zwei Gelenkstellen (Kondylen) verbundenist, ohne Ausnahme auch Milchdrüsen zum Saugen der Jungen. Sosind bei Säugetieren gespaltene Klauen regelmäßig mit dem mehr-fachen Magen zum Wiederkäuen verbunden. Änderungen bestimm-ter Formen ziehen Änderungen der Form andrer Körperteile nachsich, ohne dass wir den Zusammenhang erklären können. Ganzweiße Katzen mit blauen Augen sind immer, oder beinahe immer,taub. Die allmähliche Verfeinerung der Menschenhand und die mitihr Schritt haltende Ausbildung des Fußes für den aufrechten Ganghat unzweifelhaft auch durch solche Korrelation auf andre Teile desOrganismus rückgewirkt. Doch ist diese Einwirkung noch viel zuwenig untersucht, als dass wir hier mehr tun könnten, als sie allge-mein konstatieren.

Weit wichtiger ist die direkte, nachweisbare Rückwirkung derEntwicklung der Hand auf den übrigen Organismus. Wie schon ge-sagt, waren unsre äffischen Vorfahren gesellig; es ist augenschein-lich unmöglich, den Menschen, das geselligste aller Tiere, von ei-nem ungeseillgen nächsten Vorfahren abzuleiten. Die mit der Aus-bildung der Hand, mit der Arbeit, beginnende Herrschaft über die

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Natur erweiterte bei jedem neuen Fortschritt den Gesichtskreis desMenschen. An den Naturgegenständen entdeckte er fortwährendneue, bisher unbekannte Eigenschaften. Andrerseits trug die Aus-bildung der Arbeit notwendig dazu bei, die Gesellschaftsglieder nä-her aneinander zu schließen, indem sie die Fälle gegenseitiger Un-terstützung, gemeinsamen Zusammenwirkens vermehrte und dasBewusstsein von der Nützlichkeit dieses Zusammenwirkens für je-den einzelnen klärte. Kurz, die werdenden Menschen kamen dahin,dass sie einander etwas zu sagen hatten. Das Bedürfnis schuf sichsein Organ: Der unentwickelte Kehlkopf des Affen bildete sichlangsam aber sicher um, durch Modulation für stets gesteigerte Mo-dulation, und die Organe des Mundes lernten allmählich einen arti-kulierten Buchstaben nach dem andern aussprechen.

Dass diese Erklärung der Entstehung der Sprache aus und mit derArbeit die einzig richtige ist, beweist der Vergleich mit den Tieren.Das wenige, was diese, selbst die höchstentwickelten, einander mit-zutelien haben, können sie einander auch ohne artikullerte Sprachemitteilen. Im Naturzustand fühlt kein Tier es als einen Mangel,nicht sprechen oder menschliche Sprache nicht verstehen zu kön-nen. Ganz anders, wenn es durch Menschen gezähmt ist. Der Hundund das Pferd haben im Umgang mit Menschen ein so gutes Ohrfür artikulierte Sprache erhalten, dass sie jede Sprache leicht soweitverstehen lernen, wie ihr Vorstellungskreis reicht. Sie haben sichferner die Fähigkeit für Empfindungen wie Anhänglichkeit anMenschen, Dankbarkeit usw. erworben, die ihnen früher fremd wa-ren; und wer viel mit solchen Tieren umgegangen ist, wird sichkaum der Überzeugung verschließen können, dass es Fälle genuggibt, wo sie jetzt die Unfähigkeit zu sprechen als einen Mangelempfinden, dem allerdings bei ihren allzu sehr in bestimmter Rich-tung spezialisierten Stimmorganen leider nicht mehr abzuhelfen ist.Wo aber das Organ vorhanden ist, da fällt auch diese Unfähigkeitinnerhalb gewisser Grenzen weg. Die Mundorgane der Vögel sindsicher so verschieden wie nur möglich von denen des Menschen,und doch sind Vögel die einzigen Tiere, die sprechen lernen; undder Vogel mit der abscheulichsten Stimme, der Papagei, spricht ambesten. Man sage nicht, er verstehe nicht, was er spricht. Allerdings

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wird er aus reinem Vergnügen am Sprechen und an der Gesell-schaft von Menschen stundenlang seinen ganzen Wortreichtumplappernd wiederholen. Aber soweit sein Vorstellungskreis reicht,soweit kann er auch verstehen lernen, was er sagt. Man lehre einenPapagei Schimpfwörter, so dass er eine Vorstellung von ihrer Be-deutung bekommt (ein Hauptvergnügen aus heißen Ländern zu-rücksegelnder Matrosen); man reize ihn, und man wird bald finden,dass er seine Schimpfwörter ebenso richtig zu verwerten weiß wieeine Berliner Gemüsehökerin. Ebenso beim Betteln um Leckereien.

Arbeit zuerst, nach und dann mit ihr die Sprache - das sind diebeiden wesentlichsten Antriebe, unter deren Einfluss das Gehirn ei-nes Affen in das bei aller Ähnlichkeit weit größere und vollkomm-nere eines Menschen allmählich übergegangen ist. Mit der Fortbil-dung des Gehirns aber ging Hand in Hand die Fortbildung seinernächsten Werkzeuge, der Sinnesorgane. Wie schon die Sprache inihrer allmählichen Ausbildung notwendig begleitet wird von einerentsprechenden Verfeinerung des Gehörorgans, so die Ausbildungdes Gehirns überhaupt von der der sämtlichen Sinne. Der Adlersieht viel weiter als der Mensch, aber des Menschen Auge sieht vielmehr an den Dingen als das des Adlers. Der Hund hat eine weit fei-nere Spürnase als der Mensch, aber er unterscheidet nicht den hun-dertsten Teil der Gerüche, die für diesen bestimmte Merkmale ver-schiedner Dinge sind. Und der Tastsinn, der beim Affen kaum inseinen rohsten Anfängen existiert, ist erst mit der Menschenhandselbst, durch die Arbeit, herausgebildet worden.

Die Rückwirkung der Entwicklung des Gehirns und seiner dienst-baren Sinne, des sich mehr und mehr klärenden Bewusstseins, Abs-traktions- und Schlussvermögens auf Arbeit und Sprache gab bei-den immer neuen Anstoß zur Weiterbildung, einer Weiterbildung,die nicht etwa einen Abschluss fand, sobald der Mensch endgültigvom Affen geschieden war, sondern die seitdem bei verschiednenVölkern und zu verschiednen Zeiten verschieden nach Grad undRichtung, stellenweise selbst unterbrochen durch örtlichen undzeitlichen Rückgang, im Großen und Ganzen gewaltig vorangegan-gen ist; einerseits mächtig vorangetrieben, andrerseits in bestimm-

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tere Richtungen gelenkt durch ein mit dem Auftreten des fertigenMenschen neu hinzutretendes Element - die Gesellschaft.

Hunderttausende von Jahren - in der Geschichte der Erde nichtmehr als eine Sekunde im Menschenleben48 - sind sicher vergan-gen, ehe aus dem Rudel baumkletternder Affen eine Gesellschaftvon Menschen hervorgegangen war. Aber schließlich war sie da.Und was finden wir wieder als den bezeichnenden Unterschiedzwischen Affenrudel und Menschengesellschaft? Die Arbeit.

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Das Affenrudel begnügte sich damit, seinen Futterbezirk abzu-weiden, der ihm durch die geographische Lage oder durch den Wi-

48 Eine Autorität ersten Rangs in dieser Beziehung, Sir W. Thomson, hat be-rechnet, dass nicht viel mehr als hundert Millionen Jahre verflossen sein könnenseit der Zeit, wo die Erde soweit abgekühlt war, dass Pflanzen und Tiere auf ihrleben konnten. (Die Zeitannahme für die erste Entstehung des Lebens auf derErde geht bei den verschiedenen Forschern weit auseinander und schwankt heutezwischen 2.000 bis 5.000 Milllionen Jahren. )

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derstand benachbarter Rudel zugeteilt war; es unternahm Wande-rungen und Kämpfe, um neues Futtergebiet zu gewinnen, aber eswar unfähig, aus dem Futterbezirk mehr herauszuschlagen, als ervon Natur bot, außer dass es ihn unbewusst mit seinen Abfällendüngte. Sobald alle möglichen Futterbezirke besetzt waren, konntekeine Vermehrung der Affenbevölkerung mehr stattfinden, die Zahlder Tiere konnte sich höchstens gleichbleiben.

Aber bei allen Tieren findet Nahrungsverschwendung in hohemGrade statt, und daneben Ertötung des Nahrungsnachwuchses imKeime. Der Wolf schont nicht, wie der Jäger, die Rehgeiß, die ihmim nächsten Jahr die Böcklein liefern soll; die Ziegen in Griechen-land, die das junge Gestrüpp abweiden, eh' es heranwächst, habenalle Berge des Landes kahlgefressen. Dieser "Raubbau" der Tierespielt bei der allmählichen Umwandlung der Arten eine wichtigeRolle, indem er sie zwingt, andrer als der gewohnten Nahrung sichanzubequemen, wodurch ihr Blut andre chemische Zusammenset-zung bekommt und die ganze Körperkonstitution allmählich eineandre wird, während die einmal fixierten Arten absterben.

Es ist nicht zu bezweifeln, dass dieser Raubbau mächtig zurMenschwerdung unsrer Vorfahren beigetragen hat. Bei einer Affen-rasse, die an Intelligenz und Anpassungsfähigkeit allen andern weitvoraus war, musste er dahin führen, dass die Zahl der Nahrungs-pflanzen sich mehr und mehr ausdehnte, dass von den Nahrungs-pflanzen mehr und mehr essbare Teile zur Verzehrung kamen, kurz,dass die Nahrung immer mannigfacher wurde und mit ihr die in denKörper eingehenden Stoffe, die chemischen Bedingungen derMenschwerdung. Das alles war aber noch keine eigentliche Arbeit.Die Arbeit fängt an mit der Verfertigung von Werkzeugen. Undwas sind die ältesten Werkzeuge, die wir vorfinden?

Die ältesten, nach den vorgefundenen Erbstücken vorgeschichtli-cher Menschen und nach der Lebensweise der frühesten geschicht-lichen Volke wieder rohesten jetzigen Wilden zu urteilen? Werk-zeuge der Jagd und des Fischfangs, erstere zugleich Waffen. Jagdund Fischfang aber setzen den Übergang von der bloßen Pflanzen-nahrung zum Mitgenuss des Fleisches voraus, und hier haben wir

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wieder einen wesentlichen Schritt zur Menschwerdung. DieFleischkost enthielt in fast fertigem Zustand die wesentlichstenStoffe, deren der Körper zu seinem Stoffwechsel bedarf; sie kürztemit der Verdauung die Zeitdauer der übrigen vegetativen, demPflanzenleben entsprechenden Vorgänge im Körper ab und gewanndamit mehr Zeit, mehr Stoff und mehr Lust für die Betätigung deseigentlich tierischen (animalischen) Lebens. Und je mehr der wer-dende Mensch sich von der Pflanze entfernte, desto mehr erhob ersich auch über das Tier. Wie die Gewöhnung an Pflanzennahrungneben dem Fleisch die wilden Katzen und Hunde zu Dienern desMenschen gemacht, so hat die Angewöhnung an die Fleischnah-rung neben der Pflanzenkost wesentlich dazu beigetragen, demwerdenden Menschen Körperkraft und Selbständigkeit zu geben.Am Wesentlichsten aber war die Wirkung der Fleischnahrung aufdas Gehirn, dem nun die zu seiner Ernährung und Entwicklung nö-tigen Stoffe weit reichlicher zuflossen als vorher, und das sich da-her von Geschlecht zu Geschlecht rascher und vollkommener aus-bilden konnte. Mit Verlaub der Herren Vegetarianer, der Menschist nicht ohne Fleischnahrung zustande gekommen, und wenn dieFleischnahrung auch bei allen uns bekannten Völkern zu irgendei-ner Zeit einmal zur Menschenfresserei geführt hat (die Vorfahrender Berliner, die Weletaben oder Wilzen, aßen ihre Eltern noch im10.Jahrhundertt49), so kann uns das heute nichts mehr ausmachen.

Die Fleischkost führte zu zwei neuen Fortschritten von entschei-dender Bedeutung: zur Dienstbarmachung des Feuers und zur Zäh-mung von Tieren. Die erstere kürzte den Verdauungsprozess nochmehr ab, indem sie die Kost schon sozusagen halbverdaut an denMund brachte; die zweite machte die Fleischkost reichlicher, indemsie neben der Jagd eine neue regelmäßigere Bezugsquelle dafür er-öffnete, und lieferte außerdem in der Milch und ihren Produkten einneues, dem Fleisch an Stoffmischung mindestens gleichwertiges

49 Engels meint das von Jacob Grimm in seinem Buch "Deutsche Rechtsaltert-hümer", Göttingen 1828 (zweite Aufl. 1854) auf der Seite 488 angeführteZeugnis des Mönches Notker Labeo (der Großlippige) (etwa 952 bis 1022).Dieses Zeugnis zitiert Engels nach Jacob Grimm in seiner unvollendet geblie-benen Arbeit Die Geschichte Irlands" (siehe Band 16 MEW, S.489).

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Nahrungsmittel. So wurden beide schon direkt neue Emanzipati-onsmittel für den Menschen; auf ihre indirekten Wirkungen im ein-zelnen einzugehen, würde uns hier zu weit führen, von so hoherWichtigkeit sie auch für die Entwicklung des Menschen und derGesellschaft gewesen sind.

Wie der Mensch alles Essbare essen lernte, so lernte er auch in je-dem Klima leben. Er verbreitete sich über die ganze bewohnbareErde, er, das einzige Tier, das in sich selbst die Machtvollkommen-heit dazu besaß. Die andren Tiere, die sich an alle Klimata gewöhnthaben, haben dies nicht aus sich selbst, nur im Gefolge des Men-schen, gelernt: Haustiere und Ungeziefer, Und der Übergang ausdem gleichmäßig heißen Klima der Urheimat in kältere Gegenden,wo das Jahr sich in Winter und Sommer teilte, schuf neue Bedürf-nisse: Wohnung und Kleidung zum Schutz gegen Kälte und Nässe,neue Arbeitsgebiete und damit neue Betätigungen, die den Men-schen immer weiter vom Tier entfernten.

Durch das Zusammenwirken von Hand, Sprachorganen und Ge-hirn nicht allein bei jedem einzelnen, sondern auch in der Gesell-schaft, wurden die Menschen befähigt, immer verwickeltere Vor-richtungen auszuführen, immer höhere Ziele sich zu stellen und zuerreichen. Die Arbeit selbst wurde von Geschlecht zu Geschlechteine andre, vollkommnere, vielseitigere. Zur Jagd und Viehzuchttrat der Ackerbau, zu diesem Spinnen und Weben, Verarbeitung derMetalle, Töpferei, Schifffahrt. Neben Handel und Gewerbe tratendlich Kunst und Wissenschaft, aus Stämmen wurden Nationenund Staaten. Recht und Politik entwickelten sich, und mit ihnen dasphantastische Spiegelbild der menschlichen Dinge im menschli-chen Kopf: die Religion. Vor allen diesen Gebilden, die zunächstals Produkte des Kopfs sich darstellten und die die menschlichenGesellschaften zu beherrschen schienen, traten die bescheidnerenErzeugnisse der arbeitenden Hand in den Hintegrund; und zwar umso mehr, als der die Arbeit planende Kopf schon auf einer sehr frü-hen Entwicklungsstufe der Gesellschaft (z. B. schon in der einfa-chen Familie) die geplante Arbeit durch andere Hände ausführenlassen konnte als die seinigen. Dem Kopf, der Entwicklung und Tä-tigkeit des Gehirns, wurde alles Verdienst an der rasch fortschrei-

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tenden Zivilisation zugeschrieben; die Menschen gewöhnten sichdaran, ihr Tun aus ihrem Denken zu erklären statt aus ihren Bedürf-nissen (die dabei allerdings im Kopf sich widerspiegeln, zum Be-wusstsein kommen) - und so entstand mit der Zeit jene idealistischeWeItanschauung, die namentlich seit Untergang der antiken Weltdie Köpfe beherrscht hat. Sie herrscht noch so sehr, dass selbst diematerialistischsten Naturforscher der Darwinschen Schule sichnoch keine klare Vorstellung von der Entstehung des Menschen er-kennen, die die Arbeit dabei gespielt hat. Die Tiere, wie schon an-gedeutet, verändern durch ihre Tätigkeit die äußere Natur ebensogut, wenn auch nicht in dem Maße wie der Mensch, und diesedurch sie vollzogenen Änderungen ihrer Umgebung wirken, wiewir sahen, wieder verändernd auf ihre Urheber zurück. Denn in derNatur geschieht nichts vereinzelt, Jedes wirkt aufs andre und umge-kehrt, und es ist meist das Vergessen dieser allseitigen Bewegungund Wechselwirkung, das unsere Naturforscher verhindert, in deneinfachsten Dingen klar zu sehen. Wir sahen, wie die Ziegen dieWiederbewaldung von Griechenland verhindern; in Sankt Helenahaben die von den ersten Anseglern ans Land gesetzten Ziegen undSchweine es fertig gebracht, die alte Vegetation der Insel fast ganzauszurotten, und so den Boden bereitet, auf dem die von späterenSchiffern und Kolonisten zugeführten Pflanzen sich ausbreitenkonnten. Aber wenn die Tiere eine dauernde Einwirkung auf ihreUmgebung ausüben, so geschieht dies unabsichtlich und ist, fürdiese Tiere selbst, etwas Zufälliges. Je mehr die Menschen sichaber vom Tier entfernen, desto mehr nimmt ihre Einwirkung aufdie Natur den Charakter vorbedachter planmäßiger, auf bestimmte,vorher bekannte Ziele gerichteter Handlung an.

Das Tier vernichtet die Vegetation eines Landstrichs ohne zu wis-sen, was es tut. Der Mensch vernichtet sie, um in den frei geworde-nen Boden Feldfrüchte zu säen oder Bäume und Reben zu pflanzen,von denen er weiß, dass sie ihm ein Vielfaches der Aussaat einbrin-gen werden. Er versetzt Nutzpflanzen und Haustiere von einemLand ins andre und ändert so die Vegetation und das Tierleben gan-zer Weltteile. Noch mehr. Durch künstliche Züchtung werden

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Pflanzen wie Tiere unter der Hand des Menschen in einer Weiseverändert, dass sie nicht wiederzuerkennen sind.

Die wilden Pfanzen, von denen unsre Getreidearten abstammen,werden noch vergebens gesucht. Von welchem wilden Tier unsreHunde, die selbst unter sich so verschieden sind, oder unsre ebensozahlreichen Pferderassen abstammen, ist noch immer streitig.

Es versteht sich übrigens von selbst, dass es uns nicht einfällt, denTieren die Fähigkeit planmäßiger, vorbedachter Handlungsweiseabzustreiten.

Im Gegenteil. Planmäßige Handlungsweise existiert im Keimeschon überall, wo Protoplasma, lebendiges Eiweiß existiert und re-agiert, d.h. bestimmte, wenn auch noch so einfache Bewegungenals Folge bestimmter Reize von außen vollzieht. Solche Reaktionfindet statt, wo noch gar keine Zelle, geschweige eine Nervenzelle,besteht. Die Art, wie insektenfressende Pflanzen ihre Beute abfan-gen, erscheint ebenfalls in gewisser Beziehung als planmäßig, ob-wohl vollständig bewusstlos. Bei den Tieren entwickelt sich die Fä-higkeit bewusster, planmäßiger Aktion im Verhältnis zur Entwick-lung des Nervensystems und erreicht bei den Säugetieren eineschon hohe Stufe. Auf der englischen Fuchsparforcejagd kann mantäglich beobachten, wie genau der Fuchs seine große Ortskenntniszu verwenden weiß, um seinen Verfolgern zu entgehen, und wie

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gut er alle Bodenvorteile kennt und benutzt, die die Fährte unter-brechen.

Bei unseren im Umgang mit Menschen höher entwickelten Haus-tieren kann man tagtäglich Streiche der Schlauheit beobachten, diemit denen menschlicher Kinder ganz auf derselben Stufe stehen.Denn wie die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Keims imMutterleibe nur eine abgekürzte Wiederholung der millionenjähri-gen körperlichen Entwicklungsgeschichte unsrer tierischen Vorfah-ren, vom Wurm angefangen, darstellt, so die geistige Entwicklungdes menschlichen Kindes eine, nur noch mehr abgekürzte, Wieder-holung der intellektuellen Entwicklung derselben Vorfahren, we-nigstens der späteren. über alle planmäßige Aktion aller Tiere hates nicht fertig gebracht, der Erde den Stempel ihres Willens aufzu-drücken. Dazu gehörte der Mensch.

Kurz, das Tier benutzt die äußere Natur bloß und bringt Änderun-gen in ihr einfach durch seine Anwesenheit zustande; der Menschmacht sie durch seine Änderungen seinen Zwecken dienstbar, be-herrscht sie. Und das ist der letzte, wesentliche Unterschied desMenschen von den übrigen Tieren, und es ist wieder die Arbeit, diediesen Unterschied bewirkt.50

Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichenSiegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns.Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet,aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehe-ne Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben.Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und an-derswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen,träumten nicht, dass sie damit den Grund zur jetzigen Verödung je-ner Länder legten, indem sie ihnen mit den Wäldern die Ansammv-lungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen.51 Die Italiener

50 Am Rande des Manuskripts ist mit Bleistift vermerkt: "Vered-lung"

51 Zur Frage des Einflusses der menschlichen Tätigkeit auf die Veränderung derPflanzenwelt und des Klimas benutzte Engels das Buch von Carl Fraas: "Klimaund Pflanzenwelt in der Zeit, ein Beitrag zur Geschichte beider", Landshut 1847.

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der Alpen, als sie die am Nordabhang des Gebirge so sorgsam ge-hegten Tannenwälder am Südabhang vernutzten, ahnten nicht, dasssie damit der Sennwirtschaft auf ihrem Gebiet die Wurzel abgru-ben; sie ahnten noch weniger, dass sie dadurch ihren Bergquellenfür den größten Teil des Jahrs das Wasser entzogen, damit diese zurRegenzeit um so wütendere Flutströme über die Ebene ergießenkönnten. Die Verbreiter der Kartoffel in Europa wussten nicht, dasssie mit den mehligen Knollen zugleich die Skrofelkrankheit ver-breiteten. Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dasswir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein frem-des Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht - son-dern dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mit-ten in ihr stehen, und dass unsre ganze Herrschaft über sie darin be-steht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erken-nen und richtig anwenden zu können.

Und in der Tat lernen wir mit jedem Tag ihre Gesetze richtigerverstehen und die näheren und entfernteren Nachwirkungen unsrerEingriffe in den herkömmlichen Gang der Natur erkennen. Na-mentlich seit den gewaltigen Fortschritten der Naturwissenschaft indiesem Jahrhundert werden wir mehr und mehr in den Stand ge-setzt, auch die entfernteren natürlichen Nachwirkungen wenigstensunsrer gewöhnlichsten Produktionshandlungen kennen und damitbeherrschen zu lernen. Je mehr dies aber geschieht, desto mehrwerden sich die Menschen wieder als Eins mit der Natur nicht nurfühlen, sondern auch wissen, und je unmöglicher wird jene wider-sinnige und widernatürliche Vorstellung von einem Gegensatz zwi-schen Geist und Materie, Mensch und Natur, Seele und Leib, wiesie seit dem Verfall des klassischen Altertums in Europa aufgekom-men und im Christentum ihre höchste Ausbildung erhalten hat.

Hat es aber schon die Arbeit von Jahrtausenden erfordert, bis wireinigermaßen lernten, die entfernteren natürlichen Wirkungen uns-rer auf die Produktion gerichteten Handlungen zu berechnen, sowar dies noch weit schwieriger in Bezug auf die entfernteren ge-

Auf dieses Werk hatte Marx am 25. März 1868 Engels brieflich aufmerksam ge-macht.

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sellschaftlichen Wirkungen dieser Handlungen. Wir erwähnten dieKartoffel und in ihrem Gefolge die Ausbreitung der Skrofeln. Aberwas sind die Skrofeln gegen die Wirkungen, die die Reduktion derArbeiter auf Kartoffelnahrung auf die Lebenslage der Volksmassenganzer Länder hatte, gegen die Hungersnot, die 1847 im Gefolgeder Kartoffelkrankheit Irland betraf, eine Million kartoffel- und fastnur kartoffelessender Isländer unter die Erde und zwei Millionenüber das Meer warf?

Als die Araber den Alkohol destillieren lernten, ließen sie sichnicht im Traume einfallen, dass sie damit eins der Hauptwerkzeugegeschaffen, womit die Ureinwohner des damals noch gar nicht ent-deckten Amerikas aus der Welt geschafft werden sollten. Und alsdann Kolumbus dies Amerika entdeckte, wusste er nicht, dass erdamit die in Europa längst überwundne Sklaverei zu neuem Lebenerweckte und die Grundlage zum Negerhandel legte.

Die Männer, die im siebzehnten und achtzehnten Jahrhun-dert an der Herstellung der Dampfmaschine arbeiteten, ahntennicht, dass sie das Werkzeug fertigstellten, das mehr als jedesandere die Gesellschaftszustände der ganzen Welt revolutionie-ren und namentlich in Europa durch Konzentrierung desReichtums auf Seite der Minderzahl, und der Besitzlosigkeitauf Seite der ungeheuren Mehrzahl, zuerst der Bourgeoisie diesoziale und politische Herrschaft verschaffen, dann aber einenKlassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat erzeugensollte, der nur mit dem Sturz der Bourgeoisie und der Abschaf-fung aller Klassengegensätze endigen kann.

Aber auch auf diesem Gebiet lernen wir allmählich, durch lange,oft harte Erfahrung und durch Zusammenstellung und Untersu-chung des geschichtlichen Stoffs, uns über die mittelbaren, entfern-teren gesellschaftlichen Wirkungen unsrer produktiven TätigkeitKlarheit zu verschaffen, und damit wird uns die Möglichkeit gege-ben, auch diese Wirkungen zu beherrschen und zu regeln.

Um diese Regelung aber durchzuführen, dazu gehört mehr als diebloße Erkenntnis. Dazu gehört eine vollständige Umwälzung unse-rer bisherigen Produktionsweise und mit ihr unsrer jetzigen gesam-

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ten gesellschaftlichen Ordnung. Alle bisherigen Produktionsweisensind nur auf Erzielung des nächsten, unmittelbarsten Nutzeffektsder Arbeit ausgegangen. Die weiteren erst in späterer Zeit eintreten-den, durch allmähliche Wiederholung und Anhäufung wirksamwerdenden Folgen blieben gänzlich vernachlässigt.

Das ursprüngliche gemeinsame Eigentum am Boden entsprach ei-nerseits einem Entwicklungszustand der Menschen, der ihren Ge-sichtskreis überhaupt auf das Allernächste beschränkte, und setzteandererseits einen gewissen Überfluss an verfügbarem Boden vor-aus, der gegenüber den etwaigen schlimmen Folgen dieser waldur-sprünglichen Wirtschaft einen gewissen Spielraum ließ. Wurde die-ser Überschuss von Land erschöpft, so verfiel auch das Gemeinei-gentum. Alle höheren Formen der Produktion aber sind zur Tren-nung der Bevölkerung in verschiedne Klassen und damit zum Ge-gensatz von herrschenden und unterdrückten Klassen vorangegan-gen, damit aber wurde das Interesse der herrschenden Klasse dastreibende Element der Produktion, soweit diese sich nicht auf dennotdürftigsten Lebensunterhalt der Unterdrückten beschränkte.

Am vollständigsten ist dies in der jetzt in Westeuropa herrschen-den kapitalistischen Produktionsweise durchgeführt. Die einzelnen,Produktion und Austausch beherrschenden Kapitalisten könnensich nur um den unmittelbarsten Nutzeffekt ihrer Handlungen küm-mern. Ja selbst dieser Nutzeffekt - soweit es sich um den Nutzendes erzeugten oder ausgetauschten Artikels handelt - tritt vollstän-dig in den Hintergrund; der beim Verkauf zu erzielende Profit wirddie einzige Triebfeder.

Die Sozialwissenschaft der Bourgeoisie, die klassische politischeÖkonomie, beschäftigt sich vorwiegend nur mit den unmittelbarbeabsichtigten gesellschaftlichen Wirkungen der auf Produktionund Austausch gerichteten menschlichen Handlungen. Dies ent-spricht ganz der gesellschaftlichen Organisation, deren theoreti-scher Ausdruck sie ist. Wo einzelne Kapitalisten um des unmittel-baren Profits willen produzieren und austauschen, können in ersterLinie nur die nächsten, unmittelbarsten Resultate in Betracht kom-men. Wenn der einzelne Fabrikant oder Kaufmann die fabrizierte

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oder eingekaufte Ware nur mit dem üblichen Profitchen verkauft,so ist er zufrieden, und es kümmert ihn nicht, was nachher aus derWare und deren Käufer wird. Ebenso mit den natürlichen Wirkun-gen derselben Handlungen. Die spanischen Pflanzer in Kuba, diedie Wälder an den Abhängen niederbrannten und in der AscheDünger genug für eine Generation höchst rentabler Kaffeebäumevorfanden - was lag ihnen daran, dass nachher die tropischen Re-gengüsse die nun schutzlose Dammerde herabschwemmten und nurnackten Fels hinterließen? Gegenüber der Natur wie der Gesell-schaft kommt bei der heutigen Produktionsweise vorwiegend nurder erste, handgreiflichste Erfolg in Betracht; und dann wundertman sich noch, dass die entfernteren Nachwirkungen der hieraufgerichteten Handlungen ganz andre, meist ganz entgegengesetztesind, dass die Harmonie von Nachfrage und Angebot in deren pola-ren Gegensatz umschlägt, wie der Verlauf jedes zehnjährigen in-dustriellen Zyklus ihn vorführt und wie auch Deutschland im"Krach"52 ein kleines Vorspiel davon erlebt hat; dass das auf eigneArbeit gegründete Privateigentum sich mit Notwendigkeit fortent-wickelt zur Eigentumslosigkeit der Arbeiter, während aller Besitzsich mehr und mehr in den Händen von Nichtarbeitern konzentriert,dass [...]53

52 Gemeint ist die Weltwirtschaftskrise von 1873. In Deutschland begann dieseKrise im Mai 1873 mit dem "großen Krach", der das Vorspiel einer langandau-ernden Krise war, die sich bis ans Ende der siebziger Jahre hinzog.

53 Hier bricht das Manuskript ab

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[Notizen und Fragmente]

[Naturwissenschaft und Philosophie]

Büchner54

Aufkommen der Richtung. Auflösung der deutschen Philosophiein Materialismus - die Kontrolle über die Wissenschaft beseitigt -Losplatzen der platt materialistischen Popularisation, deren Materi-alismus den Mangel an Wissenschaft ersetzen sollte. Flor zur Zeitder tiefsten Erniedrigung des bürgerlichen Deutschlands und der of-fiziellen deutschen Wissenschaft 1850-1860. Vogt, Moleschott,Büchner. Gegenseitige Assekuranz. - Neubelebung durch Mode-werden des Darwinismus, den diese Herren gleich pachteten.

Man könnte sie laufen lassen und ihrem nicht unlöblichen, wennauch engen Beruf überlassen, dem deutschen Philister Atheismusetc. beizubringen, aber 1. das Schimpfen auf die Philosophie (Stel-len anzuführen)55, die trotz alledem den Ruhm Deutschlands bildet,

54 Das Fragment mit der Überschrift "Büchner" wurde vor allen anderen Teilender "Dialektik der Natur" geschrieben; es eröffnet die erste Notiz des 1. Konvo-luts des Manuskripts von Engels. Das Fragment ist offenbar der Entwurf einervon Engels geplanten Arbeit gegen Ludwig Büchner als den Vertreter des Vul-gärmaterialismus und des Sozialdarwinismus. Nach dem Inhalt des Fragmentsund nach den Randbemerkungen in dem Engels gehörenden Exemplar von Lud-wig Büchners Schrift "Der Mensch und seine Stellung in der Natur..." (2.Aufl.,Leipzig 1872) zu urteilen, beabsichtigte Engels, vor allem dieses Buch einer Kri-tik zu unterziehen.

Die lakonische Bemerkung Wilhelm Liebknechts: »Quant à, Büchner: wamsdruff!« in einem Brief vom 8. Februar 1873 an Engels erlaubt anzunehmen, dassEngels unmittelbar zuvor Liebknecht seinen Plan mitgeteilt hatte. Hieraus kannman schließen, dass dieses Fragment Anfang 1873 geschrieben wurde.

55 Büchner kennt die Philosophie nur als Dogmatiker, wie er selbst Dogmatikerdes plattesten Abspülicht des deutschen Aufklärichts, dem der Geist und die Be-wegung der großen französischen Materialisten abhanden gekommen (Hegelüber diese) - wie dem Nicolai der [Geist] des Voltaire. Lessings "toter Hund Spi-noza" ([Hegel,] "Enz[yklopädie.]", Vorr[ede, S.] 19).

Engels bezieht sich auf folgende Stelle aus Hegels Vorrede zur zweiten Ausgabe der "Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften...": »Lessing sagte zu seiner Zeit, die Leute gehen mit Spinoza wie mit einem toten Hunde um«. Hegel meint das Gespräch zwischen Lessing und Friedrich Heinrich Jacobi am 7. Juli

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und 2. die Anmaßung, die Naturtheorien auf die Gesellschaft anzu-wenden und den Sozialismus zu reformieren. So zwingen sie unszur Notiznahme. Zuerst, was leisten sie auf ihrem eignen Felde? Zi-tate.

2. Umschlag, p. 170/171. Woher plötzlich dies Hegelsche?56

Übergang zur Dialektik.

Zwei philosophische Richtungen, die metaphysische mit fixenKategorien, die dialektische (Aristoteles und Hegel besonders) mitflüssigen; die Nachweise, dass diese fixen Gegensätze von Grundund Folge, Ursache und Wirkung, Identität und Unterschied,Schein und Wesen unhaltbar sind, dass die Analyse einen Pol schonals in nuce (im Kern) vorhanden im andern nachweist, dass an ei-nem bestimmten Punkt der eine Pol in den andern umschlägt, unddass die ganze Logik sich erst aus diesen fortschreitenden Gegen-sätzen entwickelt. - Dies bei Hegel selbst mystisch, weil die Kate-gorien als präexistierend, und die Dialektik der realen Welt als ihrbloßer Abglanz erscheint. In Wirklichkeit umgekehrt: die Dialektikdes Kopfs nur Widerschein der Bewegungsformen der realen Welt,der Natur wie der Geschichte. Die Naturforscher bis Ende vorigenJahrhunderts, ja bis 1830 wurden mit der alten Metaphysik ziem-lich fertig, weil die wirkliche Wissenschaft nicht über Mechanik -irdische und kosmische - hinausging. Trotzdem brachte schon die

1780. Während dieses Gesprächs sagte Lessing: »Reden die Leute doch immer von Spinoza, wie von einem toten Hunde...« (siehe F.H.Jacobi, Werke, Bd.4, Abt. 1, Leipzig 1819, S.68)

Über die französischen Materialisten spricht Hegel ausführlich im Dritten Teildes Dritten Bandes seiner "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie".

56 Engels bezieht sich auf Ludwig Büchners Schrift "Der Mensch und seineStellung in der Natur..." (2. Aufl., Leipzig 1872). Auf den Seiten 170/171 diesesBuches sagt Büchner, dass im Verlaufe der ständigen Entwicklung der Mensch-heit der Augenblick eintritt, in dem im Menschen die Natur sich ihrer selbst be-wusst wird und dass von diesem Augenblick an der Mensch aufhört, sich passivden blinden Naturgesetzen zu unterwerfen und er die Herrschaft über die Naturantritt, d.h. in diesem Augenblick tritt, um einen Ausdruck von Hegel zu gebrau-chen, ein Umschlag der Quantität in Qualität ein. In dem Engels gehörenden Ex-emplar dieses Buches ist diese Stelle teilweise angestrichen und mit der Randbe-merkung versehen: "Umschlag!"

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höhere Mathematik, die die ewige Wahrheit der niedern Mathema-tik als einen überwundenen Standpunkt betrachtet, oft das Gegen-teil behauptet und Sätze aufstellt, die dem niederen Mathematikerals barer Unsinn erscheinen, Konfusion hinein. Die festen Kategori-en lösten sich hier auf, die Mathematik war auf ein Terrain gekom-men, wo selbst so einfache Verhältnisse, wie die der bloßen abs-trakten Quantität, das schlechte Unendliche, eine vollkommen dia-lektische Gestalt annahmen und die Mathematiker zwangen, widerWillen und ohne es zu wissen, dialektisch zu werden. Nichts komi-scher als die Windungen, faulen Schliche, und Notbehelfe der Ma-thematiker, diesen Widerspruch zu lösen, die höhere und niedreMathematik zu versöhnen, ihrem Verstand klarzumachen, dass das,was sich ihnen als unleugbares Resultat ergab, nicht reiner Blöd-sinn sei, und überhaupt Ausgangspunkt, Methode und Resultat derMathematik des Unendlichen rationell zu erklären.

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Jetzt aber ist das alles an-ders. Die Chemie, abstrakteTeilbarkeit des physikali-schen, schlechte Unendlich-keit - Atomistik. Die Physio-logie - Zelle (der organischeEntwicklungsprozess sowohldes Individuums wie der Ar-ten durch Differenzierungdie schlagendste Probe aufdie rationelle Dialektik) undendlich die Identität der Na-turkräfte und ihre gegenseiti-ge Verwandlung, die allerFixität der Kategorien einEnde machte. Trotzdem dieMasse der Naturforschernoch immer fest in den altenmetaphysischen Kategorienund hilflos, wenn diese mo-dernen Tatsachen, die dieDialektik sozusagen in der Natur nachweisen, rationell erklärt undin Zusammenhang unter sich gebracht werden sollen. Und hiermusste gedacht werden: Atom und Molekül etc. kann man nicht mitdem Mikroskop beobachten, sondern nur mit Denken. Vergleichedie Chemiker (ausgenommen Schorlemmer, der Hegel kennt) undVirchows "Zellularpathologie", wo schließlich allgemeine Phrasendie Hilflosigkeit verdecken müssen. Die des Mystizismus entklei-dete Dialektik wird eine absolute Notwendigkeit für die Naturwis-senschaft, die das Gebiet verlassen hat, wo die festen Kategorien,gleichsam die niedere Mathematik der Logik, ihr Hausgebrauch,ausreichten. Die Philosophie rächt sich posthum an der Naturwis-senschaft dafür, dass diese sie verlassen hat - und doch hätten dieNaturforscher schon an den naturwissenschaftlichen Erfolgen derPhilosophie sehen können, dass in all dieser Philosophie etwasstak, das auch auf ihrem eignen Gebiet ihnen überlegen war (Leib-

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niz - Gründer der Mathematik des Unendlichen, gegen den der In-duktionsesel Newton57 als Plagiator und Verderber tritt58; Kant -kosmische Entstehungstheorie vor Laplace59; Oken - der erste inDeutschland, der die Entwicklungstheorie annahm; Hegel - dessen[...]60 Zusammenfassung und rationelle Gruppierung der Naturwis-senschaften eine größere Tat ist als all der materialistische Blödsinnzusammen).

Bei der Prätention des Büchner, über Sozialismus und Ökonomieaus Kampf ums Dasein abzuurteilen. Hegel "Enz[yklopädie]", I, p.9, über das Schuhmachen61

57 Engels meint die Beschränktheit der philosophischen Ansichten Newtons, sei-ne einseitige Überschätzung der Methode der lnduktion und seine ablehnendeEinstellung zu Hypothesen, die ihren Ausdruck in Newtons bekannten Wortenfanden: »Hypotheses non finge« (Hypothesen erdenke ich nicht)

58 Heute steht ohne Zweifel fest, dass Newton die Differential- und Integral-rechnung unabhängig von Leibniz und früher als dieser entdeckte; aber Leibniz,der diese Entdeckung ebenfalls selbständig machte, gab ihr eine vollkommenereForm. Bereits zwei Jahre nach der Niederschrift dieses Fragments äußerte Engelseine richtigere Ansicht in dieser Frage.

59 Laplace entwickelte seine Hypothese über die Entstehung des Sonnensystemsim letzten Kapitel seiner 1795/1796 erschienenen zweibändigen Schrift "Exposi-tion du système du monde". In der letzten von Laplace besorgten Ausgabe dieserSchrift, die aber erst 1835, nach seinem Tode, erschien, ist seine Hypothese inder Anmerkung VII dargelegt.

Die Existenz einer glühenden gasförmigen Substanz im Weltraum, ähnlich denNebelflecken (glühende Nebelmassen), die die Kant-Laplacesche Nebulartheortevoraussetzte, wurde 1864 von dem englischen Astronomen William Huggins mitHilfe der 1859 von Gustav Kirchhoff und Robert Bunsen entdeckten Spektral-analyse nachgewiesen. Engels benutzte hier Angelo Secchis Werk "Die Sonne...',Braunschweig 1872, S.787, 789/790

60 Das Wort ist im Manuskript nicht zu entziffern, da es von ei-nem Tintenklecks verdeckt ist

61 Engels meint folgende Stelle aus Hegels "Encyklopädie der philosophischenWissenschaften...", § 5, Anmerkung: »Man gibt zu, dass man die andern Wis-senschaften studiert haben müsse, um sie zu kennen, und dass man erst vermögeeiner solchen Kenntnis berechtigt sei, ein Urteil über sie zu haben. Man gibt zu,dass, um einen Schuh zu verfertigen, man dies gelernt und geübt haben müsse,obgleich jeder an seinem Fuße den Maßstab dafür, und Hände und in ihnen dienatürliche Geschicklichkeit zu dem erforderlichen Geschäfte besitze. Nur zum

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Bei der Politik und [dem] Sozialismus: Der Verstand, auf den dieWelt gewartet hat (p. 11)62.

Außer-, Neben- und Nacheinander. Hegel "Enz[yklopädie]", p.35! als Bestimmung des Sinnlichen, der Vorstellung63. Hegel"Enz[yklopädie]", p. 40. Naturerscheinungen64 - aber bei Büchnerwird nicht gedacht, bloß abgeschrieben, daher das nicht nötig.

p. 42. Solon hat seine Gesetze "aus seinem Kopf hervorgebracht"- Büchner kann dasselbe für die moderne Gesellschaft.

p. 45. Metaphysik - Wissenschaft der Dinge - nicht der Bewegun-gen.

p. 53. "Bei der Erfahrung [kommt es darauf an, mit welchem Sinnman an die Wirklichkeit geht. Ein großer Sinn macht große Erfah-rungen und erblickt in dem bunten Spiel der Erscheinung das, wor-auf es] ankommt."

p. 56. Parallelismus zwischen menschlichem Individuum und Ge-schichte65 Parallelismus zwischen Embryologie und Paläontologie.

Philosophieren selbst soll dergleichen Studium, Lernen und Bemühung nicht er-forderlich sein.«

62 Hegel: "Encyklopdie der philosophischen Wissenschaften...", § 6, Anmer-kung: »Aber die Abtrennung der Wirklichkeit von der Idee ist besonders bei demVerstande beliebt, der die Träume seiner Abstraktionen für etwas Wahrhafteshält, und auf das Sollen, das er vornehmlich auch im politischen Felde gern vor-schreibt, eitel st, als ob die Welt auf ihn gewartet hätte, um zu erfahren, wie siesein sollte, aber nicht sei...«

63 Ebenda, § 20, Anmerkung.

64 Ebenda, § 21, Zusatz.

65 Hinweis auf die Überlegung Hegels über den Übergang vom Zustand der nai-ven Unmittelbarkeit zum Zustand der Reflexion sowohl in der Geschichte derGesellschaft wie auch in der Entwicklung des Individuums: »In der Tat liegt je-doch ... das Erwachen des Bewusstseins im Menschen selbst, und es ist dies diean jedem Menschen sich wiederholende Geschischte« (Hegel, "Encyklopädie derphilosophischen Wissenschaften...", § 24, Zusatz 3).

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Wie Fourier a mathematical poem66 (Ein mathematisches Ge-dicht) und doch noch gebraucht, so Hegel a dialectical poem (Eindialektisches Gedicht).

Die falsche Porositätstheorie (worin die verschiednen falschenMaterien, Wärmestoff etc., in ihren gegenseitigen Poren sitzen undsich doch nicht durchdringen) von Hegel, "Enz[yklopädie]", I, [S.]259, als reine Erdichtung des Verstandes dargestellt, siehe auch Lo-gik67.

Hegel, "Enz[yklopädie]", I, [S.1 205/20668), prophetische Stelleüber die Atomgewichte gegenüber den damaligen physikalischenAuffassungen zu entscheiden hat.

Wenn Hegel die Natur als eine "Manifestation der ewigen Idee" inder Entäußerung ansieht, und dies ein so schweres Verbrechen ist,was sollen wir sagen zum Morphologen Richard Owen:

»Die urbildliche Idee war lange vor der Existenz jener tierischenArten, die sie jetzt verwirklichen, in verschiedenen solcher Formenauf diesem Planeten verkörpert« ("Nature of Limbs", 1849).69

66 Ein "mathematisches Gedicht" nennt William Thomson das Buch des franzö-sischen Mathematikers Jean-Baptiste-Joseph Fourier "Théorie analytique de lachaleur" (Paris 1822). Siehe den Zusatz "On the secular cooling of the earth"zum Buch von William

Thomson und Peter Guthrie Tait "A treatise on natural philosophy", vol. 1, Ox-ford 1867, p. 713. In dem von Engels zusammengestellten Konspekt über dasBuch Thomsons und Taits ist diese Stelle herausgeschrieben und unterstrichen.

67 Hegel, "Encyklopädie der phiIosophischen Wissenschaften..", § 130, Anmer-kung, sowie "Wissenschaft der Logik", Zweites Buch, Zweiter Abschnitt, ErstesKapitel, Anmerkung über die Porosität der Materien.

68 Hegel, "Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften...", § 103, Zusatz.Hegel polemisiert hier mit jenen Physikern, die die Unterschiede des spezifi-schen Gewichts der Körper damit erklären, dass sie sagen, "ein Körper, dessenspezifische Schwere noch einmal so groß ist als die eines anderen, enthalte in-nerhalb desselben Raumes noch einmal so viele materielle Teile (Atome) als derandere".

69 Richard Owen: "On the nature of limbs...", London 1849, P. 86. Engels zitiertdiese Stelle nach dem englischen Original: "The archetypal idea was manifestedin the flesh under diverse such modifications upon this planet, long prior to the

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Wenn das ein mystischer Naturforscher sagt, der sich nichts dabeidenkt, so geht's ruhig hin, wenn aber ein Philosoph dasselbe sagt,der sich etwas, und zwar au fond (im Grunde genommen) das Rich-tige, wenn auch in verkehrter Form, dabei denkt, so ist's Mystikund ein unerhörtes Verbrechen.

Naturforscherliches Denken: Agassiz' Schöpfungsplan, wonachGott vom Allgemeinen zum Besondern und Einzelnen fortschafft,zuerst das Wirbeltier als solches, dann das Säugetier als solches,das Raubtier als solches, die Katze als solche und endlich erst denLöwen etc. schafft! also erst abstrakte Begriffe in Gestalt von kon-kreten Dingen und dann konkrete Dinge! (Siehe Haeckel, p. 59.)70

Bei Oken (Haeckel, p. 85ff.) tritt der Unsinn hervor, der entstan-den aus dem Dualismus zwischen Naturwissenschaft und Philoso-phie. Oken entdeckt auf dem Gedankenweg das Protoplasma unddie Zelle, aber es fällt niemand ein, die Sache naturwissenschaftlichzu verfolgen - das Denken soll's leisten! und als Protoplasma undZelle entdeckt werden, ist Oken im allgemeinen Verschiss!

Hofmann ("Ein Jahrhundert Chemie unter den Hohenzollern") zi-tiert Naturphilosophie, Zitat aus Rosenkranz, dem Belletristen, denkein richtiger Hegelianer anerkennt. Die Naturphilosophie für Ro-senkranz verantwortlich zu machen, ist ebenso albern, wie wennHofmann die Hohenzollern für die Marggrafsche Entdeckung desRübenzuckers verantwortlich macht.71

species that actually exemplify it."

70 Ernst Haeckel "Natürliche Schöpfungsgeschichte...', 4. Aufl., Berlin 1873.

71 Auf Seite 26 seiner Schtift "Ein Jahrhundert chemischer Forschung unter demSchirme der Hohenzollern" (Berlin 1881) zitiert August Wilhelm Hofmann in et-was veränderter Form aus Karl Rosenkranz' Buch "System der Wissenschaft. Einphilosophisches Encheiridion", Königsberg 1850, S. 301: »... das Platin für dieParadoxie des SiIbers, schon die höchste Stufe der Metallität einnehmen zu wol-len, die nur dem Golde gebührt...«. Bei Rosenkranz: »... Platin ist... im Grundenur eine Paradoxie des Silbers, schon die höchste Stufe der Metallität zu wollen.Diese gebührt nur dem Golde...« Über die »Verdienste« des preußischen KönigsFriedrich Wilhelm III. um die Organisation der Rübenzuckerfabrikation sprichtHofmann auf den Seiten 5/6 seines Büchleins.

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Theorie und Empirie: die Abplattung theoretisch durch Newtonfestgestellt. Die Cassinis72 und andere Franzosen behaupteten nochlange nachher, auf ihre empirischen Messungen gestützt, dass dieErde ellipsoidisch und die Polarachse die längste sei.

Die Verachtung der Empiriker für die Griechen erhält eine eigen-tümliche Illustration, wenn man z. B. Th. Thomson ("On Electrici-ty")73 liest, wo Leute wie Davy und selbst noch Faraday im dunkelnherumtappen (elektrischer Funken etc.) und Experimente anstellen,tdie ganz an die Erzählungen von Aristoteles undPlinius über physikalisch-chemische Verhältnisseerinnern. Grade in dieser neuen Wissenschaft re-produzieren die Empiriker ganz das blinde Tastender Alten. Und wo der geniale Faraday eine rich-tige Fährte hat, muss der Philister Thomson dage-gen protestieren ([p.] 397).

Haeckel, "Anthrop[ogenie]", [S] 707: »Nachder materialistischen Weltanschauung ist die Materie oder derStoff früher da als die Bewegung74 oder die lebendige Kraft, derStoff hat die Kraft geschaffen.«

Dies sei ebenso falsch, wie dass die Kraft den Stoff geschaffen, daKraft und Stoff untrennbar. Wo holt der sich seinen Materialis-mus?

72 Die Cassinis - französische Astronomen: 1. der aus Italien eingewanderteGiovanni Domenico Cassini (1625 -1712): 2. sein Sohn Jacques (1677-1756); 3.dessen Sohn César François Cassini de Thury (1714-1784) und 4. der Sohn desvorigen, Jacques-Dominique, comte de Cassini (1748-1845). Alle vier waren Di-rektoren der Sternwarte in Paris (von 1669 bis 1793). Die ersten drei hatten eineunrichtige, der Auffassung Newtons widersprechende Vorstellung von der Formdes Erdballs; nur der letzte der vier Cassinis sah sich unter dem Einfluss genaue-rer Messungen des Umfangs und der Form der Erde gezwungen, die Richtigkeitder Schlussfolgerung Newtons bezüglich der Abplattung des Erdballs an den Po-len anzuerkennen.73 Thomas Thomson, "An outline of the sciences of heat and electricity", 2nded., London 1840.

74 Hervorhebung von Engels

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Causae finales und efficientes75 von Haeckel ([S.] 89, 90)69 inzweckmäßig wirkende und mechanisch wirkende Ursachen ver-wandelt, weil ihm causa finalis = Gott! Ebenso ist ihm "mecha-nisch" ohne weiteres nach Kant = monistisch, nicht = mechanischim Sinn der Mechanik. Bei solcher Sprachkonfusion Unsinn unver-meidlich. Was Haeckel hier von Kants "Kritik der Urteilskraft"sagt, stimmt nicht mit Hegel ("G[eschichte] d[er] Phil[osophie]",[S.] 603).76

Andres77 Exempel der Polarität bei Haeckel: Mechanismus = Mo-nismus, und Vitalismus oder Teleologie = Dualismus. Schon beiKant und Hegel der innere Zweck ein Protest gegen Dualismus.Mechanismus aufs Leben angewandt eine hilflose Kategorie, wirkönnen höchstens von Chemismus sprechen, wenn wir nicht allenVerstand der Namen aufgeben wollen. Zweck: Hegel, V, [S.] 20578

»Der Mechanismus zeigt sich selbst dadurch als ein Streben derTotalität, dass er die Natur für sich als ein Ganzes zu fassen sucht,das zu seinem Begriffe keines andern bedarf - eine Totalität, die

75 Letzte (oder ein bestimmtes Ziel verfolgende) Ursachen und wirkende (hervorbringende) Ursachen

76 Ernst Haeckel ("Natürliche Schöpfungsgeschichte", 4. Aufl., Berlin 1873, S.89-94) unterstreicht den Widerspruch zwischen der "mechanischen Erklärungs-methode" und der Teleologie in Kants "Kritik der teleologischen Urteilskraft"(zweiter Teil des Werkes "Kritik der Urteilskraft"), wobei Haeckel im Gegensatzzu Kant die letzte als die Lehre von den äußeren Zielen, von der äußeren Zweck-mäßigkeit darstellt. Hegel jedoch, der in seinen "Vorlesungen über die Geschich-te der Philosophie", Bd. 3, Dritter Theil, Dritter Abschnitt: "B. Kant" (Werke,Bd. 15, Berlin 1836, S. 603) dieselbe "Kritik der teleologischen Urteilskraft" be-trachtet, hebt vor allem den Kantschen Begriff der "inneren Zweckmäßigket"hervor, wonach im organischen Wesen "alles Zweck und wechselseitig auchMittel ist" (Zitat aus Kants "Kritik der Urteilskraft", angeführt von Hegel).

77 Das Wort Andres" bezieht sich auf die Notiz "Pölarität", die unmittelbar vor dieser Notiz auf demselben Blatt steht

78 Hegel, "Wissenschaft der Logik", Dritter Teil (Buch), Zweiter Abschnitt,Drittes Kapitel. Engels benutzte den Band 5 der 2. Auflage der Werke Hegels,der 1841 In Berlin herausgegeben wurde.

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sich in dem Zwecke und dem damit zusammenhängenden außer-weltlichen Verstande nicht findet.«79

Der Witz aber der, dass der Mechanismus (auch der Materialis-mus des 18. Jahrhunderts) nicht aus der abstrakten Notwendigkeitund daher auch nicht aus der Zufälligkeit herauskommt. Dass dieMaterie das denkende Menschenhirn aus sich entwickelt, ist ihmein purer Zufall, obwohl, wo es geschieht, von Schritt zu Schrittnotwendig bedingt. In Wahrheit aber ist es die Natur der Materie,zur Entwicklung denkender Wesen fortzuschreiten, und dies ge-schieht daher auch notwendig immer, wo die Bedingungen (nichtnotwendig überall und immer dieselben) dazu vorhanden.

Weiter Hegel, V, [S.] 206:

»Dies Prinzip« (des Mechanismus) »gibt daher in seinem Zusam-menhange von äußerer Notwendigkeit das Bewusstsein unendlicherFreiheit gegen die Teleologie, welche die Geringfügigkeiten undselbst Verächtlichkeiten ihres Inhalts als etwas Absolutes aufstellt,in dem sich der allgemeinere Gedanke nur unendlich beengt undselbst ekelhaft affiziert finden kann.«

Dabei wieder die kolossale Stoff- und Bewegungsvergeudung derNatur. Im Sonnensystem vielleicht nur 3 Planeten höchstens, aufdenen Leben und denkende Wesen existieren können - unter jetzi-gen Bedingungen. Und um ihretwillen der ganze ungeheure Appa-rat!

Der innere Zweck im Organismus setzt sich dann nach Hegel (V,[S] 244)80 durch den Trieb durch. Pas trop fort [Nicht allzu über-zeugend]. Der Trieb soll das einzelne Lebendige mit seinem Begriffmehr oder weniger in Harmonie bringen. Hieraus geht hervor, wiesehr der ganze innere Zweck selbst eine ideologische Bestimmungist. Und doch liegt hierin Lamarck.

Die Naturforscher glauben sich von der Philosophie zu befreien,indem sie sie ignorieren oder über sie schimpfen. Da sie aber ohne

79 Hervorhebung von Engels

80 Ebenda, Dritter Abschnitt, Erstes Kapitel.

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Denken nicht vorankommen und zum Denken Denkbestimmungennötig haben, diese Kategorien aber unbesehen aus dem von denResten längst vergangner Philosophien beherrschten gemeinen Be-wusstsein der sog. Gebildeten oder aus dem bisschen auf der Uni-versität zwangsmäßig gehörter Philosophie (was nicht nur fragmen-tarisch; sondern auch ein Wirrwarr der Ansichten von Leuten derverschiedensten und meist schlechtesten Schulen ist) oder aus un-kritischer und unsystematischer Lektüre philosophischer Schriftenaller Art nehmen, so stehen sie nicht minder in der Knechtschaftder Philosophie, meist aber leider der schlechtesten, und die, die ammeisten auf die Philosophie schimpfen, sind Sklaven grade derschlechtesten vulgarisierten Reste der schlechtesten Philosophien.

Die Naturforscher mögen sich stellen, wie sie wollen, sie werdenvon der Philosophie beherrscht. Es fragt sich nur, ob sie von einerschlechten Modephilosophie beherrscht werden wollen oder von ei-ner Form des theoretischen Denkens, die auf der Bekanntschaft mitder Geschichte des Denkens und mit deren Errungenschaften be-ruht.

Physik, hüte dich vor Metaphysik, ist ganz richtig, aber in einemandren Sinn81.

Die Naturforscher fristen der Philosophie noch ein Scheinleben,indem sie sich mit den Abfällen der alten Metaphysik behelfen.Erst wenn Natur- und Geschichtswissenschaft die Dialektik in sichaufgenommen, wird all der philosophische Kram - außer der reinenLehre vom Denken - überflüssig, verschwindet in der positivenWissenschaft.

81 Das heißt, wenn man die "Metaphysik" nicht im alten Sinne als philosophi-sches Denken überhaupt versteht, wie es z.B. bei Newton der Fall war, sondernals metaphysische Denkweise.

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[Dialektik] (Auszug)

[a) Allgemeine Fragen der Dialektik. Grundgesetze der Dialektik]

Die Dialektik, die sog. objektive, herrscht in der ganzen Natur,und die sog. subjektive Dialektik, das dialektische Denken, ist nurReflex der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegungin Gegensätzen, die durch ihren fortwährenden Wiederstreit und ihrschließliches Aufgehen in einander, resp. in höhere Formen, ebendas Leben der Natur bedingen. Attraktion und Repulsion. BeimMagnetismus fängt die Polarität an, sie zeigt sich an ein und dem-selben Körper; bei der Elektrizität verteilt sie sich auf 2 oder mehr,die in gegenseitige Spannung geraten. Alle chemischen Prozessereduzieren sich auf Vorgänge der chemischen Attraktion und Re-pulsion.

Endlich im organischen Leben ist die Bildung des Zellenkernsebenfalls als eine Polarisierung des lebendigen Eiweißstoffs zu be-trachten, und von der einfachen Zelle an weist die Entwicklungs-theorie nach, wie jeder Fortschritt bis zur kompliziertesten Pflanzeeinerseits, bis zum Menschen anderseits, durch den fortwährendenWiderstreit von Vererbung und Anpassung bewirkt wird.

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Bacillus subtilis prokaryotischer Einzeller

Es zeigt sich dabei, wie wenig Kategorien wie "positiv" und "ne-gativ" auf solche Entwicklungsformen anwendbar sind. Man kanndie Vererbung als die positive, erhaltende Seite, die Anpassung alsdie negative, das Ererbte fortwährend zerstörende Seite, aber eben-sogut die Anpassung als die schöpferische, aktive, positive, dieVererbung als die widerstrebende, passive, negative Tätigkeit auf-fassen. Wie aber in der Geschichte der Fortschritt als Negation desBestehenden auftritt, so wird auch hier aus rein praktischen Grün-den - die Anpassung besser als negative Tätigkeit gefasst. In derGeschichte tritt die Bewegung in Gegensätzen erst recht hervor inallen kritischen Epochen der leitenden Völker. In solchen Momen-ten hat ein Volk nur die Wahl zwischen zwei Hörnern eines Dilem-mas: entweder - oder!, und zwar ist die Frage immer ganz andersgestellt, als das politisierende Philisterium aller Zeiten sie gestelltwünscht. Selbst der liberale deutsche Philister von 1848 fand sich1849 plötzlich und unerwartet und wider Willen vor die Frage ge-stellt: Rückkehr zur alten Reaktion in verschärfter Form, oder Fort-gang der Revolution bis zur Republik, vielleicht gar der einen undunteilbaren mit sozialistischem Hintergrund. Er besann sich nichtlange und half die Manteuffelsche Reaktion als Blüte des deutschen

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Liberalismus schaffen.82 Ebenso 1851 der französische Bourgeoisvor dem von ihm sicher nicht erwarteten Dilemma: Karikatur desKaisertums, Prätorianertum und Ausbeutung Frankreichs durcheine Lumpenbande, oder sozialdemokratische Republik - und erduckte sich vor der Lumpenbande, um unter ihrem Schutz die Ar-beiter fortausbeuten zu können.

82 Anspielung auf die sklavische Unterwürfigkeit der Preußen, die die Verfas-sung annahmen, welche ihnen vom König Friedrich Wilhelm IV. am 5. Dezem-ber 1848 gleichzeitig mit der Auflösung der Nationalversammlung oktroyiert("geschenkt") wurde. An der Ausarbeitung dieser "Verfassungsurkunde für denPreußischen Staat" war der reaktionäre Minister Manteuffel entscheidend betei-ligt.

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