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I m Gegensatz zu Tiergeschichten über Tiger, Wölfe und Affen sind spannende Berichte über Pflanzen eher sel- ten. Nutzpflanzen wie Reis, Weizen und Soja oder Symbole wie die deutsche Eiche erreichen einen gewissen Bekannt- heitsgrad, allerdings stehen hier wirtschaftlicher Nutzen und ökologische Erwägungen im Vordergrund der Diskus- sion. Wenn es jedoch um literarischen Ruhm über Zeiten und Kontinente hinweg geht, besetzt eine kleine Ödland- pflanze, die Alraune, ohne Zweifel die erste Position. Ihre mystische Verklärung verdankt sie ihren gefühlsverstärken- den Inhaltsstoffen aus der Klasse der Alkaloide. Priester, Zauberer und Druiden unserer Vorfahren dürften Experten im Gebrauch der Zauberwurzel gewesen sein. Hier steht die Alraunewurzel in einer Tradition mit anderen psycho- aktiven Pflanzen wie Kokablättern und dem Betel (siehe Tabelle). Da außerdem die gegabelte, bis zu 60 Zentimeter lange Wurzel an das Beinpaar des Menschen erinnert und schwer aus dem Boden zu ziehen ist (Abbildung 1), waren die Voraussetzungen für eine Legendenbildung optimal. Geht man den Geschichten um die Mandragora nach, so findet sich die früheste Stelle bei Pythagoras (etwa 580 bis 500 v. Chr.), der die Mandragora als anthromorph – men- schenähnlich – bezeichnet haben soll. Botanisches über das Nachtschattengewächs Mandragora officinarum Der Gattungsname Mandragora setzt sich aus den griechi- schen Begriffen mandra für Stall und agora für „Versamm- lungsplatz“ zusammen, was darauf hindeutet, dass die Al- raune früher in der Nähe von Stallungen und öffentlichen Plätzen zu finden war. Allerdings könnte der Name auch aus dem persischen Wort mardom abgeleitet sein, das „Zauber bewirkend“ bedeutet. Die Griechen und Römer bezeichneten sie als Circea, nach der Zauberin Circe. In Griechenland waren die Früchte der Mandragora der Göt- tin Aphrodite geweiht, die daher den Beinamen Madragori- tis trug. Der Artname officinarum weist auf ihre Verwen- dung als Heilpflanze hin [9]. Seit der Antike ist die Blütenpflanze Alraune (Mandragora officinarum) als Droge und als Objekt von Mythen und Sagen bekannt. Literaten von Shakesspeare bis Rowlings hat das Nachtschattengewächs über die Jahrhunderte hinweg faszi- niert. Lange bevor es technisch machbar wurde, greift die phantastische Literatur Themen wie das Klonen auf und scheint sie auf überraschende Weise vorauszuahnen. Damit hat sie eine wichtige Funktion in der öffentlichen Auseinander- setzung um die Folgen von Wissenschaft und Technik. Science & Fiction Die Alraune oder die Sage vom Galgenmännlein HANS G ÜNTER G ASSEN | S ABINE MINOL DOI:10.1002/biuz.200610318 302 | Biol. Unserer Zeit | 5/2006 (36) © 2006 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim ABB. 1 Geheimnisvoll, begehrt und gefürchtet: die Alraune.

Die Alraune oder die Sage vom Galgenmännlein: Science & Fiction

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Page 1: Die Alraune oder die Sage vom Galgenmännlein: Science & Fiction

Im Gegensatz zu Tiergeschichten über Tiger, Wölfe undAffen sind spannende Berichte über Pflanzen eher sel-

ten. Nutzpflanzen wie Reis, Weizen und Soja oder Symbolewie die deutsche Eiche erreichen einen gewissen Bekannt-heitsgrad, allerdings stehen hier wirtschaftlicher Nutzenund ökologische Erwägungen im Vordergrund der Diskus-sion.

Wenn es jedoch um literarischen Ruhm über Zeitenund Kontinente hinweg geht, besetzt eine kleine Ödland-pflanze, die Alraune, ohne Zweifel die erste Position. Ihremystische Verklärung verdankt sie ihren gefühlsverstärken-den Inhaltsstoffen aus der Klasse der Alkaloide. Priester,Zauberer und Druiden unserer Vorfahren dürften Expertenim Gebrauch der Zauberwurzel gewesen sein. Hier stehtdie Alraunewurzel in einer Tradition mit anderen psycho-aktiven Pflanzen wie Kokablättern und dem Betel (siehe Tabelle). Da außerdem die gegabelte, bis zu 60 Zentimeterlange Wurzel an das Beinpaar des Menschen erinnert undschwer aus dem Boden zu ziehen ist (Abbildung 1), warendie Voraussetzungen für eine Legendenbildung optimal.Geht man den Geschichten um die Mandragora nach, sofindet sich die früheste Stelle bei Pythagoras (etwa 580 bis500 v. Chr.), der die Mandragora als anthromorph – men-schenähnlich – bezeichnet haben soll.

Botanisches über das NachtschattengewächsMandragora officinarum

Der Gattungsname Mandragora setzt sich aus den griechi-schen Begriffen mandra für Stall und agora für „Versamm-lungsplatz“ zusammen, was darauf hindeutet, dass die Al-

raune früher in der Nähe von Stallungen und öffentlichenPlätzen zu finden war. Allerdings könnte der Name auchaus dem persischen Wort mardom abgeleitet sein, das„Zauber bewirkend“ bedeutet. Die Griechen und Römerbezeichneten sie als Circea, nach der Zauberin Circe. InGriechenland waren die Früchte der Mandragora der Göt-tin Aphrodite geweiht, die daher den Beinamen Madragori-tis trug. Der Artname officinarum weist auf ihre Verwen-dung als Heilpflanze hin [9].

Seit der Antike ist die Blütenpflanze Alraune (Mandragora officinarum) als Droge und als Objekt von Mythen und Sagenbekannt. Literaten von Shakesspeare bis Rowlings hat dasNachtschattengewächs über die Jahrhunderte hinweg faszi-niert. Lange bevor es technisch machbar wurde, greift diephantastische Literatur Themen wie das Klonen auf undscheint sie auf überraschende Weise vorauszuahnen. Damithat sie eine wichtige Funktion in der öffentlichen Auseinander-setzung um die Folgen von Wissenschaft und Technik.

Science & Fiction

Die Alraune oder die Sage vom GalgenmännleinHANS GÜNTER GASSEN | SABINE MINOL

DOI:10.1002/biuz.200610318

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A B B . 1 Geheimnisvoll, begehrt und gefürchtet: die Alraune.

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Das Wort Alraune stammt aus dem Germanischen. So be-deutet runa „Geheimnis“ oder „flüstern“ und steht im Alt-hochdeutschen für Angstträume, Kobold oder mystischesWesen. Im Mittelalter wurde die Alraune auch Galgen-männlein oder Drachenpuppe genannt.

Heute findet man die Alraune oder Mandragora offi-cinarum im östlichen Mittelmeerraum, in Klein- und Zen-tralasien bis in den Himalaya auf Schuttplätzen und brach-liegenden Feldern. Die Alraunen gehören zu den mehr-jährigen Nachtschattengewächsen. Ihre Gattung bestehtaus vier Arten: Gemeine Alraune, Herbst-Alraune, Turk-menische Alraune und Himalaya-Alraune. Alle haben einedicke, knollige und tief gespaltene Wurzel. Die sehr kräf-tigen, circa vier Zentimter dicken Seitenwurzeln könnenbis zu 60 Zentimeter lang werden. Die Blattrosette zeigtdunkelgrüne Blätter von runzliger Oberfläche, die sich amRande kräuseln. Die im Mai erscheinenden drei bis vierZentimeter großen, violetten Blüten wachsen aus der Rosette heraus (Abbildung 2). Die gelben bis rötlichen,stark duftenden Früchte sind apfelförmig. Daher mag auchdie im Mittelalter gebräuchliche Bezeichnung „Liebesapfel”für die Früchte der Alraune kommen [8].

Heilpflanze mit psychogener Wirkung Die Alraune oder Mandragora gehört zu den ältesten Heil-pflanzen, die wir kennen. Vor 4000 Jahren wurde sie be-reits von den Ägyptern als Schlaf- und Schmerzmittel sowieals Liebestrank verwendet. Die Pflanze wurde in der Litera-tur des alten Ägyptens im so genannten Papyrus Ebers un-ter dem Namen „dja-dja“ erwähnt, als Grabbeigabe in denPyramiden gefunden und schmückte das Gewand des Tut-Ench-Amun [1].

Auch im Alten Testament, in der Genesis, werden dieFrüchte der Alraune erwähnt. Rahel entwendet Ruben,dem Sohn Leas, eine Alraune, um ihre Unfruchtbarkeit zuheilen. Im Lied Salomons zieht die wunderschöne Sulamitmit ihrem Geliebten hinaus in die Natur, an den Ort, wo dieAlraunen ihren Duft verströmen. Dort schenkt sie ihm ihreLiebe. Sie hofft, dass der Duft der Alraunen die Liebesglutihres Partners anheizt und andauern lässt. Die Wirkung alsAphrodisiakum dürfte wesentlich zu dem zeitlosen Ruhmder Alraune beigetragen haben [9].

In der Antike beschreiben die beiden Griechen Theo-phrast und Dioscurides die heilende Wirkung der Mandra-gora bei Gallenbeschwerden, Schlangenbissen und als Nar-kosemittel. Dioscurides empfahl einen Wein aus den Rin-den der Wurzel, der den Patienten in Schlaf fallen lässt,sodass er beim Brennen und Schneiden der Chirurgen we-niger Schmerzen empfindet. Auch sie preisen die Mandra-gora als Aphrodisiakum an, allerdings sei sie nur wirksam,wenn beim Ernten besondere Riten beachtet werden. Hil-degard von Bingen widmet der Alraune ein ganzes Kapitelin ihrem Werk „Causae et Curae“. Bei guter Heilanwen-dung, jedoch nicht bei Zauberei, soll die Pflanze gegen se-xuelle Begehrlichkeiten helfen. Mit in das Bett genommen,hinreichend erwärmt und von Gebeten begleitet, lindere

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A B B . 2 Die Alraune hat eine Blattrosette mit bis zu 40 Zen-timeter langen, dunkelgrünen Blättern. Sie sind am Rand gekräuselt, ihre Oberfläche ist runzelig. Die drei bis vier Zen-timeter großen, violetten Blüten wachsen aus der Rosetteheraus. Bild: Botanischer Garten, TU Darmstadt.

TA B . P S YC H OA K T I V E P F L A N Z E N U N D I H R E W I R KU N G

Aloe vera Barbadensis Miller ImmunsystemAlraune Mandragora officinarum AphrodisiakumAptenia Aptenia cordifolia PsychedelikumBetelnuss Areca catechu ZNS, euphorisierendBilsenkraut Hyoscyamus niger Sedativum, giftigCanna Sceletium tortuosum Erhöhte WahrnehmungCoca Erythroxylum coca LeistungssteigerungDamiana Turnera diffusa PotenzsteigerungMeerträubel Ephedra nevadensis KreislaufstimulanzFeuersalbei Salvia splendens SedativumGinseng Panax ginseng LeistungssteigerungGuarana Paullinia cupana CoffeinersatzHabichtskraut Hieracium pilosella MarihuanaersatzHolzrose Arqyreia nervosa HalluzinogenHopfen Humulus lupulus SedativumKawa-Kawa Piper methysticum AphrodisiakumKratom Mitragyna speciosa OpiumersatzPorstkraut Ledum palustre RauschmittelTollkirsche Atropa belladonna HalluzinationenDie Wirkungen der psychoaktiven Pflanzen werden in der Tabelle nur mit einem Begriff beschrie-ben. Sie sind jedoch sehr vielfältig und vor allem von der Dosis abhängig. Auch hängt ihre Wir-kung davon ab, ob die Pflanzen gekaut werden oder ob ein wässriger oder alkoholischer Auszuggemacht wird.

sie Schwermut. Heilwirkungen von Alraunenextrakten ver-setzt mit einem guten Schuss an Aberglauben beschreibenausführlich die Kräuterbücher des 15. und 16. Jahrhun-

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derts wie etwa Matthiolis „Kreuterbuch“, das 1563 in Pragpubliziert wurde. 1830 verwendete der japanische ArztSeishu Hanaoka einen anästhetisierenden Extrakt der Al-raune als Narkotikum in der Chirurgie [9].

Aberglauben und FaktenIm Lichte der modernen Pharmakologie stellt sich nun dieFrage, ob die Geschichten um das Aphrodisiakum und dasSchmerzmittel „Alraune“ nur Aberglauben waren.

In der Alraune oder Mandragora officinalis hat manunter anderem folgende pharmakologisch aktiven Wirk-stoffe identifiziert: Apotropin, Atropin, Cuskhydrin, Hyos-camin, Hyosein, Mandragorin, Scopolamin und Solandrin.Von einigen der Substanzen sind die Strukturformeln in Ab-bildung 3 aufgeführt.

Da es sich um optisch aktive Verbindungen handelt, ha-ben das Racemat, beziehungsweise die links- oder rechts-drehende Form oft unterschiedliche Bezeichnungen undunterscheiden sich auch in ihrer Wirkung. Besonders auf-fällig ist der dreibindige Stickstoff, wie er in ähnlicherStruktur in vielen Nervengiften wie beispielsweise Opiatenvorkommt.

Diese Substanzen sind auch aus anderen Nachtschat-tengewächsen bekannt. Atropin kennt man am besten alsgiftiges Alkaloid aus der Tollkirsche (Atropa belladonna).Es hemmt den Parasympathicus und in höheren Konzen-trationen den Sympathicus. Die auffälligen Folgen der Atro-pineinnahme sind die Erweiterung der Pupillen, trockeneSchleimhäute, Gesichtsrötung und die Erhöhung der Herz-frequenz.

Scopolamin, auch als Atroscin oder Hyoscin bezeich-net, gehört zu den Tropanalkaloiden. Es wirkt auf das Zen-tralnervensystem durch kompetitive Verdrängung desAcetylcholins an den muscarinischen Rezeptoren. In nied-riger Dosis kann es als Beruhigungsmittel eingesetzt wer-

den, bei erhöhter Dosis wirkt es halluzinogen. Im Mittel-alter war es Bestandteil von Hexensalben.

Die Solandrine gehören zu den Steroidalkaloiden, wieman sie in Tomaten findet. Sie wirken hämolytisch und ver-ändern die Oberflächenspannung von Flüssigkeiten.

Medikamente, die auf den Inhaltsstoffen der Mandra-gora officinalis basieren, sind in den üblichen Hand-büchern für Medikamente kaum noch zu finden. Die Al-

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A B B . 4 Darstellung des Erntens einer Alraune. Weil diePflanze beim Herausreißen so markerschütternd schreit, hältder Mann sich die Ohren zu. Der Hund wird die Ernte nichtüberleben. Tacuinum Sanitatis, 1390.

Atropin; Tropintropat,(±) Hyoscyamin

Hyoscyamin; (S)-Tropasäure-3endo-tropylester; (–)-Tropyltropat

Apoatropin

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Scopolamin; Hyoscin; O-(–)-Tropoylscopin, 6β,7β-Epoxy-3α-tropanyl-(S)-tropat

A B B . 3 | S T R U K T U R FO R M E L N E I N I G E R I N H A LT S TO F F E D E R A L R AU N E

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Cuskhygrin oder auch Bellardin (1,3-Bis(1-methyl-2-pyrrolidinyl)-2-propanon)

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raune als Heilpflanze taucht in diesen Kompendien nichtmehr auf [5]. In der Pharmazie wird allerdings heute nochaus der Alraune das Alkaloid Scopolamin gewonnen [10].

Nun lassen sich die medizinischen Wirkungen von iso-lierten Substanzen nur bedingt mit den Auswirkungen derEinnahme von Pflanzenteilen oder Extrakten vergleichen.Viele der in nur sehr geringen Konzentrationen vorkom-menden Substanzen sind noch nicht identifiziert. Anderekommen nicht frei vor, sondern sind an Zucker oder Pro-teine gebunden. Bei vielen Pflanzenextrakten beruht dieWirkung auf der Mischung einer Vielzahl unterschiedlicherKomponenten. Die unsachgemäße Einnahme von Berei-tungen aus Pflanzenteilen wie Wurzeln oderFrüchten der Alraune können fatale Nebenwir-kungen haben wie Fieber, Schüttelfrost undschweren Durchfall. Vergiftungserscheinungenmit Herzrhythmusstörungen oder sogar derTod durch Atemlähmung können die Folgesein.

Legenden um die Alraune Nach einer frühchristlichen Geschichte war die Al-raune, die in der roten Erde des Paradieses wuchs, ur-sprünglich eine Vorstudie für die Konzeption desMenschen. Sie wurde jedoch wieder verworfen,nachdem Gott den Adam geschaffen hatte.Deshalb sind wundertätige Alraunen auch soschwer zu finden, da sie in der roten Erde desGarten Edens wachsen, den man am Ende desRegenbogens suchen muss [9].

Der General und Geschichtsschreiber Fla-vius Josephus (37 bis 95 n. Chr.) berichtet, dassin einem Tal nahe dem Toten Meer eine wunder-same Pflanze wachse, die nachts ein leuchtendes ro-tes Licht ausstrahle und sich entferne, sobald manversuche, ihr näher zu kommen. Nur mit einem Gussaus Urin oder Menstruationsblut könne man sie zumBleiben bewegen.

Die meisten Geschichten ranken sich um das Erntender Alraune. Dies mag seinen Grund darin haben, dass ihreverzweigten Wurzeln tief ins Erdreich ragen und bei demVersuch, sie aus dem Erdreich zu ziehen, von ihrer Blatt-rosette abreißen [1]. Von all den Beschwörungszeremonienzum Gewinnen einer Zauberalraune ist die folgende Ge-schichte am schönsten: Der Alraunensammler muss sich zu-erst die Ohren verstopfen, da er sonst aufgrund der mark-erschütternden Schreie der Pflanze tot umzufallen droht.In einer hellen Mondnacht soll er die Wurzel von einemschwarzen Hund ausgraben lassen und sich selbst in siche-rem Abstand aufhalten. Hilfreich ist auch, die Hundeleinean die Pflanze zu binden und in einiger Entfernung einStück Fleisch zu legen. Um an das Fleisch zu kommen, sollder Hund dann die Alraune herausreißen (Abbildung 4).

Ein weiterer Grund für diese Beschaffungslegendenwar wohl auch, dass im Mittelalter der Handel mit Alraunenbestraft wurde. Ein späteres Verbot des Ausgrabens stammt

von Herzog Maximilian von Bayern aus dem Jahre 1611:„Kein Ausgraben und keine Hexerei.“

Vom 16. Jahrhundert an wurden geschnitzte Alraunenals pflanzlicher Talisman genutzt und sollten als Amulettihren Träger gegen bösen Zauber und Verwundungenschützen. So könnte die Heilige Johanna von Orleans ihreSiege über die Engländer einem Alraunenmännchen ver-danken. Auch Wallenstein, der große Feldherr, soll eineMandragora besessen haben.

Zu dieser Zeit blüht auch der Handel mit falschen Al-raunen, so den Wurzeln der Zaunrübe, des Blutwurzes oderdes Knabenkrauts. Noch 1950 wurde in Bayern ein Prozess

gegen eine Zigeunerin geführt, die einer Bäuerineine falsche Alraune, eine Zaunrübe, verkaufthatte.

Lange galt die Alraune als Glücksbringer undals Beschützer von Haus und Herd. WeißeAlraunen galten dabei als männlich, schwarzeAlraunen als weiblich (Abbildung 5). Eine neu

erworbene Alraune sollte man erst in Wein badenund dann in rote Seide und einen schwarzen Samt-

umhang kleiden. Danach bewahrte man sie in einemedlen Kästchen auf. Gefüttert werden sollte sie vonZeit zu Zeit mit Hostien oder Fastenspeichel.

Die Alraune in der Welt der LiteratenSchriftsteller, angefangen von Grimmelshau-sen, über Hans Sachs, Shakespeare, Goethe,

Klabund, Achim von Arnim, Heine und JamesJoyce hin zu Joanne K. Rowlings haben sich

mit der Alraune oder Mandragora befasst [2].So geht Shakespeare in seinem Drama „Ro-

meo und Julia“ auf die makabre Ernteprozedur ein:„Weh’, wenn ich zu früh erwachen sollte, wenn

mich ein ekelhafter Dunst umqualmt, wenn’s quält,als grübe man Alraunchen aus, bei deren Ton derMensch von Sinnen kommt.“ In „Antonius und Cleo-

patra“ sagt Cleopatra zu ihrer Dienerin: „Gib mir Mand-ragora zu trinken, dass ich die Kluft der Zeit durch-schlafe, wo mein Antonius fort ist“.

Goethe lässt seinen Mephisto sagen:„Da stehen sie herum und staunenVertrauen nicht dem hohen Fund,Der eine faselt von Alraunen,Der andere von dem schwarzen Hund“

In dem Märchen der Gebrüder Grimm „Der Riese und derSchneider“ heißt es: „Der Kerl kann mehr als Äpfel braten,der hat einen Alraun im Leib. Sei auf der Hut, alter Hans,das ist kein Diener für dich.“

Heinrich Heine dichtet:„Die klügsten Waldgeister sind die AlräunchenLangbärtige Männlein mit kurzen Beinchen,Ein fingerlanges Greisengeschlecht,Woher sie stammen, man weiß es nicht recht.“

In ihren Harry Potter-Romanen verleiht J. K. Rowling denMandragoren die Fähigkeit, verzauberte Wesen wieder in

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A B B . 5 Ein Alraunenmännleinund -weiblein ausdem „Hortus sani-tatis“, Mainz 1491.

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ihre ursprüngliche Person zu verwandeln. Um sie zu die-sem Zweck zu verwenden, müssen die als äußerst hässlicheBabys beschriebenen Alraunen, denen Blätter aus demKopf heraus wachsen, mit „Ohrenschützern“ geerntet wer-den.

Die Alraune als das GalgenmännleinEtwa ab dem 18. Jahrhundert geriet die Alraune auch auf-grund ihrer Wurzelform und ihrer makaberen Entstehungs-geschichte in den Blickwinkel der Literaten. Der Volks-mund erzählt, dass die Alraune dort wachse, wo dasSperma eines gehenkten Verbrechers mit einem letzten Samenerguss den Boden benetzt.

Die Sage vom Galgenmännlein hat Hanns Heinz Ewersin dem 1911 veröffentlichten Roman „Alraune“ als Grund-lage für die Schilderung der Folgen einer künstlichen Be-fruchtung genutzt. Der Roman erlebte eine Millionenauf-lage und wurde in 25 Sprachen übersetzt. In einer mehr alsaggressiven Sprache werden am Beispiel des aus einerkünstlichen Insemination einer Hure mit Samen einesSchwerverbrechers entstandenen Kindes Alraune sowohldie Probleme des selbsternannten Schöpfers wie die seinerKreatur aufgezeigt. Das Kind und später die junge Damesymbolisieren die Legenden um die Alraune. Als fleisch-gewordener weiblicher Dämon ohne Liebe und Moral

herrscht sie über ihre männliche Umgebung. Solange sienicht begehrt wird, verhilft sie Personen in ihrer Umge-bung zu unerwartetem Reichtum. Männern jedoch, diesich in sie verlieben, drohen der finanzielle Ruin und eingrausamer Tod.

Der phantastische Roman und die Öffentlichkeit

Da viele in ihrem Fachgebiet herausragende Wissenschaft-ler unfähig oder auch unwillig sind, die sozialen Konse-quenzen ihrer Forschungen verständlich zu kommunizie-ren, übernehmen Schriftsteller des Genres „Science Fic-tion“ – zu deutsch „phantastischer Roman oder Zukunfts-roman“ – von Ovid über Jules Verne, Hanns Heinz Ewers,Alois Schenzinger bis zu David Osborn diese Rolle.

In Diskussionen über die Zukunft der Menschheit spie-len die molekularbiologische Forschung und besonders dieEntwicklungsbiologie eine zentrale Rolle. Themen wie dieGentechnik, die In-vitro Fertilisation, embryonale Stamm-zellen und das Klonen von Tier und Mensch begeistern undverängstigen. Ein Blick zurück in die Geschichte lehrt uns,dass alle Menschheitsträume schon niedergeschriebenwurden, die Techniken des dritten Jahrtausends bringen sienur von der Poesie in die Realität. Besonders die Schriftenvon Johann Wolfgang von Goethe sowie die Romane vonMary Shelley („Frankenstein“) und Aldous Huxley („SchöneNeue Welt“), sind spannend und schaffen mehr Verständnisfür die kulturellen Folgen von Naturwissenschaften als Se-rien aufwändiger Hochglanzbroschüren mit dem Gene-ralthema „Segen und Fluch der Biotechnologie“. Der so ge-nannte phantastische Roman ahnt nicht nur voraus, was dieWissenschaftler ersinnen und die Techniker realisieren,sondern er vermittelt auch ein Gefühl für die Reaktion derGesellschaft auf die Wunderwerke der Technik, besonderswenn es um das Werden und Sein des Menschen geht.

Zusammenfassung Die Ödpflanze Alraune oder Mandragora gehört, wenn es umMythen und Dichtung geht, zu den berühmtesten Pflanzen.Dies verdankt sie ihrem Gehalt an psychoaktiven Stoffen, diezur Liebe anregen, Schmerzen lindern und Schlaf bringen.Ihre Rolle als „Galgenmännlein“ geht auf die lange, zwei-geteilte Wurzel zurück, die an das Beinpaar eines Menschenerinnert. Hanns Heinz Ewers hat in seinem 1911 publiziertenRoman „Alraune“ die Sage vom Galgenmännlein aufgegrif-fen, um die Folgen des „Menschenmachens“ zu schildern.Sein phantastischer Roman ahnt spätere Entwicklungen vor-aus und fördert so die Diskussion über die sozialen Folgen vonWissenschaft und Technik.

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A B B . 6 Eine Zeichnung des Alraunenmännleins von dem ita-lienischen Maler Pietro de Crescenzi (1583). Diese Vorstellungvon der Alraune taucht nach 2000 wieder in den Harry Potter-Romanen auf.

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Literatur[1] H. Bächtold-Stäubli (Hrsg.), Handwörterbuch des deutschen Aber-

glaubens, Gruyter, Berlin, New York, 10 Bde., 1927-1942. [2] I. M. Battafarano, Mandragora-Alraun-Galgenmännlein: Grimmels-

hausens Auseinandersetzung mit dem Aberglauben, in: Jb.f. Volks-kunde 1984, NF 7, 179-194.

[3] T. Dingermann, D. Loew, Phytopharmakologie: experimentelle undklinische Pharmakologie pflanzlicher Arzneimittel, Wiss. Verlags-gesellschaft, Stuttgart, 2003

[4] H. H. Ewers, Alraune, Bastei Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Glad-bach, 1973.

[5] Handbuch der Medikamente, Stiftung Warentest; Berlin, 2000. [6] W. Kugel, Der Unverantwortliche: Das Leben von Hanns Heinz

Ewers, Grupello, Düsseldorf, 1992. [7] Lexikon der Biologie, Herder Verlag, Freiburg, 1987. [8] H. Marzell, Zauberpflanzen und Hexengetränke, Brauchtum und

Aberglaube, Franckh, Stuttgart, 1963.[9] E. Scholz, Alraunenfrüchte – ein biblisches Aphrodiasikum,

Zeitschr.f. Phytotherapie 1995, 16, 274-286.[10] B. M. Schuldes, Psychoaktive Pflanzen, Nachtschatten Verlag, Solo-

thurn, 2005.[11] M. Zohary, Pflanzen der Bibel, Calwer Verl., Stuttgart 1995.

Die AutorenHans Günter Gassen ist den BIUZ-Lesern als Kuratorder Zeitschrift bekannt. Er studierte Chemie an derUniversität Marburg. Nach seiner Promotion im FachBiochemie ging er zunächst für zwei Jahre in dieUSA, dann an das Max-Planck-Institut für Experi-mentelle Medizin in Göttingen. Nach seiner Habilita-tion wurde er Leiter des Fachgebietes Biochemie ander Technischen Hochschule Darmstadt. Seit April2004 ist er emeritiert. Er gründete diverse Biotech-Firmen, veröffentlichte Sachbücher und über 300Aufsätze und ist Herausgeber des „BiotechnologyJournal” .

Sabine Minol studierte in Darmstadt Chemie bis1996. Seit ihrer Promotion arbeitet sie in der Aus-und Weiterbildung und als Referentin. Seit 2004 istsie Lehrbeauftragte, seit 2005 auch wissenschaft-liche Mitarbeiterin am Institut für Biochemie der TUDarmstadt.

KKoorrrreessppoonnddeennzz::Prof. Dr. Hans Günter GassenAm Mühlberg 37 D-64354 Reinheim Email: [email protected]

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Mehr zum Themafinden Sie in demim September 2006von Sabine Minolund Hans GünterGassen erschiene-nen Titel „Die Men-schenMacher, Sehnsucht nach Un-sterblichkeit“, 300 Seiten, R 24,90,Wiley-VCH, Weinheim. ISBN352731640X.