Die Arbeitslosen Von Marienthal Geschichte Und Ergebnisse Einer Grundlegenden Untersuchung

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  • "Die Arbeitslosen von Marienthal" - Geschichte und Ergebnisse einer grundlegenden Unter-suchung

    Paul Neurath

    Vortrag auf der Alfred Dallinger Tagung des Instituts fr Arbeiterbildung in Marien-thal am 10. April 1991

    1. Einleitung

    Es ist ein merkwrdiges Erlebnis fr einen Soziologen, ber eines der klassischen Werke der modernenSoziologie, "Die Arbeitslosen von Marienthal", von Lazarsfeld, Jahoda und Zeisel, hier in Marienthalselbst zu sprechen, wo das Werk vor genau 60 Jahren entstanden ist. Und es ist darber hinaus frmich persnlich ein besonderes Erlebnis, weil das Werk in meinem eigenen Leben eine sehr ent-scheidende Rolle gespielt hat. Erst einmal damit, da ich, als ich das Buch noch hier in Wien 1934 zumersten Mal las, von da an endlich genauer wute, was ich mit meinem bis dahin etwas vagen Wunsch,Soziologie zu studieren, wirklich anfangen wollte: Studien wie diese machen zu knnen. Nur hatte ichkeine blasse Ahnung, wo und wie man so etwas lernen knnte. Bestimmt nicht hier in Wien, wo ichdamals gerade Jus studierte, weil es das Fach als solches hier an der Universitt noch gar nicht gab.

    Es war dann, und das ist meine zweite Verbindung mit dem Werk, eine merkwrdige Verkettung vonpersnlichen Schicksalen und Zuflligkeiten, da ich es sieben Jahre spter, gerade bei einem derAutoren von "Marienthal", bei Paul Lazarsfeld in New York lernen sollte, wo ich in den frhen 40erJahren an der Columbia Universitt sein Schler und gleichzeitig einer seiner Forschungsassistentenwar.

    Das Buch - heute, wie gesagt, einer der Klassiker der soziologischen Literatur - wre der Welt beinaheverloren gegangen, weil es schon im Mai 1933, nur wenige Monate nach seinem Erscheinen, und bevornoch der Groteil der Auflage in den Buchhandel gekommen war, auf dem Scheiterhaufen der groenBcherverbrennung landete.

    Es gab dann erst 1960 eine neue deutsche Auflage, der in den nchsten etwa 20 Jahren zwei weiteredeutsche, eine englische, eine amerikanische, und eine franzsische und schlielich 1983 noch einekoreanische Ausgabe folgte. Die letztere besorgte ein ehemaliger Schler von mir, Prof. Hung-TakLee, in Seoul, Sd-Korea.

    Das Buch hat, obwohl streng wissenschaftlich und unpolitisch geschrieben, eine politische Geschichte.Die Autoren, alle drei ttig an der von Lazarsfeld gegrndeten Wirtschaftspsychologischen Forschungs-stelle in Wien, eigentlich ein Marktforschungsinstitut, waren gleichzeitig politisch sehr aktive Sozialisten,die gerne mit ihrem sozialpsychologischen Wissen, auch etwas fr die Arbeiterschaft Ntzliches bei-getragen htten.

    Nun waren damals erst 12 Jahre vergangen, seit die Arbeiter mit der Revolution von 1918 auch den8-Stundentag erkmpft hatten - damals noch in einer 48-Stunden Woche. Da meinten sie, da es

  • ntzlich sein knnte, zu untersuchen, was die Arbeiter mit der so gewonnenen Freizeit anfingen.Vielleicht konnte man ihnen helfen, sie besser zu gestalten.

    Mit dieser Idee gingen sie zu Otto Bauer, dem damaligen Fhrer der sterreichischen Sozialde-mokratie. Der schlug die Hnde ber dem Kopf zusammen: "Freizeit wollt ihr untersuchen, wenn das,was die Menschen brauchen, Arbeit ist? Warum untersucht ihr nicht lieber die Wirkung langdauernderArbeitslosigkeit?" Und er sagte ihnen auch gleich, wo sie das am besten tun konnten: hier, inMarienthal.

    Dazu ist daran zu erinnern, da die groe Wirtschaftskrise der Dreiigerjahre, die mit dem groenBrsenkrach in New York im Oktober 1929 begonnen hatte, damals schon seit ber einem Jahr invollem Gang war. Wir erleben zwar gerade jetzt wieder eine Zeit steigender Arbeitslosenzahlen mit zurZeit in sterreich knapp ber 200.000 Arbeitslosen, das sind etwa 6,5% der Erwerbsttigen; das istaber, so hart das klingen mag, noch verhltnismig wenig, verglichen mit den Zahlen von damals.Damals gab es auf dem Tiefpunkt in sterreich ber 600.000 Arbeitslose; in Deutschland ber 6Millionen, in Amerika zwischen 13 und 15 Millionen, und so durch alle Industriestaaten immer mit 20%bis zu 25% aller Erwerbsttigen oder rund 10% der ganzen Bevlkerung.

    hnlich war es in den Agrarstaaten. Nur konnten dort vor allem die groen Zucker-, Kakao-, Kaffe-,Baumwolle-, Jute-, usw. Plantagen nicht so rasch zugesperrt werden, wie anderswo die Fabriken, weilerst noch die Felder abgeerntet werden muten. Aber wohin mit den Produkten, wenn diese nichtmehr in den gewohnten Mengen verkauft werden konnten? Damals wurden halbe Ernten entwederwieder eingepflgt, oder verbrannt, oder ins Meer geschttet. Zu meinen schrecklichsten Erinnerungengehrt neben dem Verbrennen von Weizen, whrend anderswo Menschen hungerten, da es damalsin Brasilien eine Maschine gab, die rohe Kaffebohnen mit flssigem Teer zu Straenbelag verarbeitete.

    Dazu eine kleine Vignette: Etwa 40 Jahre spter fragte jemand bei einem Radiointerview MarieJahoda, ob sie damals als engagierte Sozialisten keine Skrupel gehabt htten, ihre kostbare Zeit mitMarktforschung zu vergeuden, statt etwa sinnvolle Sozialforschung zu betreiben. Worauf Marie Jahodaungefhr antwortete: "Damals, in dieser schrecklichen Zeit, wo wir unter unseren MitarbeiternDoktoren der Nationalkonomie und der Politikwissenschaft hatten, fr die das bichen, das sie beiuns als Interviewer verdienen konnten, ihr einziges Einkommen war, da hatten wir keine Zeit fr solcheSkrupel."

    Und in Marienthal war die Situation noch viel rger. Hier war - ich folge hier der Darstellung im Buch- 1830 eine Flachsspinnerei gegrndet worden, der innerhalb weniger Jahrzehnte andere Abteilungenangegliedert wurden, bis sie zu einer der grten Textilfabriken der alten sterreichisch-UngarischenMonarchie wurde, mit auf dem Hhepunkt bis zu 1200 Arbeitern. Aber, als die Fabrik mit demZusammenbruch der Monarchie den grten Teil ihrer Absatzgebiete in Ungarn und auf dem Balkanverlor, mute der Betrieb stark eingeschrnkt werden. 1926 wurde die halbe Belegschaft entlassen undim Frhjahr 1929, noch ein gutes halbes Jahr vor dem Beginn der groen Weltwirtschaftskrise, wurdeder ganze Betrieb stillgelegt, die Turbinen verkauft, ganze Hallen niedergerissen - und damit praktischder ganze Ort arbeitslos. Da aber wenige Monate darauf die Arbeitslosigkeit auch in Wien und in derganzen Umgebung einsetzte, gab es fr die Marienthaler auch keine anderen Ausweichmglichkeitenmehr - sie blieben permanent arbeitslos.

  • Das war also die Situation hier in Marienthal, von der Otto Bauer meinte, da sie hier die Folgenmassiver langdauernder Arbeitslosigkeit am besten untersuchen konnten.

    2. Die Untersuchung

    Aber nun zur Arbeit selbst: Damals wurde natrlich viel ber Arbeitslosigkeit geschrieben, aber zumeistber die Auswirkungen auf die Wirtschaft oder ber das Schicksal der einzelnen Arbeitslosen und ihrerFamilien. Den Autoren von "Marienthal" aber ging es eigentlich um etwas anderes. Was sie in derEinleitung betonten: "Vor allem ist unser Untersuchungsgegenstand das arbeitslose Dorf und nicht dereinzelne Arbeitslose" (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel, 1975, 25).

    Fr diese Art der Untersuchung gab es damals noch kaum irgendwelche Vorbilder. Zwar gab esbereits die groen Untersuchungen ber die Armut in England um die Jahrhundertwende; aber diewaren darauf ausgerichtet das bloe Ausma der Armut selbst aufzuzeigen, um das Parlament zuveranlassen, die Armengesetzgebung zu reformieren. Ebenso gab es schon die ersten amerikanischenCommunity Surveys, wie z.B. eine ber die elenden Arbeits- und Lebensbedingungen der Stahlarbeiterin Pittsburg, aber die waren auch mehr darauf ausgerichtet, die Mitbrger ber die schlimmen Zustndezu informieren, damit sie ihrerseits die lokalen Legislaturen zu Reformen veranlassen mochten.

    Noch am ehesten in die Richtung der geplanten Studie in Marienthal, ging das 1929 erschienene Buch"Middletown" von Robert und Helen Lynd. Das war der erste Versuch, das Gesamtleben einermittelamerikanischen Kleinstadt systematisch darzustellen. Aber das war noch vor der Zeit derWirtschaftskrise, also in der Hochkonjunktur, mit praktisch keiner Arbeitslosigkeit. Die Autoren von"Marienthal" muten also nicht nur vieles von der grundlegenden Begriffsbildung, sondern vor allem dasmeiste von der Methodik fr ihre Studie erst selbst entwickeln.

    Ganz am Anfang hatten sie zu entscheiden, wie sie sich selbst den Marienthalern prsentieren wrden,von denen sie ja sehr vieles, oft sehr persnliches ber ihr Leben erfahren wollten. Die htten aberkaum Verstndnis dafr aufgebracht, wenn da ein paar Wiener Wissenschaftler dahergekommenwren, um sie zu beobachten, wie etwa ein Naturwissenschaftler Mikroben unter dem Mikroskopbeobachtet. Es htte ihnen auch selbst widerstrebt, Menschen in dieser Art als Forschungsobjekte zubetrachten. Wie sie selbst schrieben: "Es war unser durchgngig eingehaltener Standpunkt, da keineinziger unserer Mitarbeiter in der Rolle des Reporters und Beobachters in Marienthal sein durfte,sondern da sich jeder durch irgendeine auch fr die Bevlkerung ntzliche Funktion in das Gesamtle-ben natrlich einzufgen hatte" (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel, 1975, 28).

    Andererseits aber muten sie nicht nur im Interesse der Wissenschaft strengste Objektivitt bewahren,sondern auch, weil sie sich dessen bewut waren, da ihr Bericht, auch wenn er noch so objektiv undwissenschaftlich geschrieben war, letztlich auch eine Art von politischem Dynamit werden konnte. Weiljeder zuknftige Leser sich sofort fragen mute, wie eine verantwortungsvolle Regierung solcheZustnde anstehen lassen konnte, ohne hier ernsthaft einzugreifen, obwohl die Leute ja offenbar selbstvllig schuldlos an ihrem Elend waren. Sie hatten, so lange die Fabrik bestand, fleiig dort gearbeitet;sie hatten nichts dazu beigetragen, da sie, weil mittlerweile die Wirtschaftskrise eingesetzt hatte, auchsonst nirgends mehr Arbeit finden konnten.

  • Also muten die Autoren sich von vornherein darauf einrichten, alles, was sie berichten wrden, hieb-und stichfest mit quantitativen Daten zu belegen, soda nachher niemand daher kommen und sagenkonnte, da es schon nicht gar so arg sein wrde, oder da, was sie an konkreten Beispielen zurIllustration brachten, vielleicht nur absichtlich herausgegriffene Extremflle wren, um Menschen zurKritik an der Regierung zu veranlassen. Dazu auch wieder die Autoren selbst: "Verknpft wurden dieEinzelergebnisse nach Gesichtspunkten, die letzten Endes von dem Gesamteindruck bestimmt sind, denwir whrend unseres Aufenthaltes in Marienthal gewonnen haben. Aber das subjektive Moment, dasjeder Beschreibung eines sozialen Tatbestandes anhaftet, haben wir auf ein Minimum zu reduzierengesucht, indem wir alle Impressionen wieder verwarfen, fr die wir keine zahlenmigen Belege findenkonnten" (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel, 1975, 25).

    Fr den persnlichen Kontakt mit den Marienthalern und damit, wie sie oben sagten, keiner von ihnennur als Beobachter dort auftreten konnte, veranstalteten sie z.B. eine groe Kleideraktion mit Kleidern,Schuhen, Mnteln, usw., die sie in Wien sammelten, dabei besonders viel fr die Kinder; hieltenrztliche Sprechstunden ab und rztliche Reihenuntersuchungen aller Kinder; machten einen Schnitt-musterkurs fr Frauen, damit diese z.B. aus den nicht mehr brauchbaren Kleidungsstcken der Elternnoch welche fr die Kinder zurechtschneidern konnten; einen Turnkurs fr Mdchen; eine Erziehungs-beratung fr Mtter, mit denen sie bei der Gelegenheit auch deren eigene Probleme beraten konntenund noch vieles andere. Eine ihrer Mitarbeiterinnen, Dr. Lotte Danzinger, lebte sechs Wochen lang inMarienthal und leitete dort die Kleideraktion und vieles andere.

    Selbstverstndlich sammelte sie alles, was es an ffentlichen und privaten Daten ber den Ort gab.Neben den Daten ber die Bevlkerung und den amtlichen Daten ber Arbeitslosen- und Notstands-untersttzung usw., Zahlen ber den Umsatz beim Konsumverein, beim Wirt, beim Fleischhauer;Mitgliedschaften bei den politischen und unpolitischen Vereinen, die Zahl der Entlehnungen aus derLeihbibliothek, usw. usw.

    Dazu kamen sehr detaillierte Aufzeichnungen, die einzelne Marienthaler fr sie machten, wie z.B.genaue Haushaltsbudgets und Aufzeichnungen darber, was sie zu den einzelnen Mahlzeiten gegessenhatten; oder Zeitverwendungsbgen, in denen sie jeweils durch ein paar Tage eintrugen, was sie injeder Stunde des Tages gemacht hatten; Aufzeichnungen eines Lehrers darber, was die Kinder zumGabelfrhstck mit hatten; dazu ausfhrliche Aufzeichnungen ber ihre eigenen Gesprche mit denMarienthalern; Schulaufstze; die Ergebnisse der rztlichen Untersuchungen, und vieles anderer.

    3. Einzelne Ergebnisse

    Und nun zu den wichtigsten Ergebnissen. Dabei werde ich weniger von jenen Dingen sprechen, die Siesich noch am ehesten selbst ausmalen knnen: da die Menschen schlecht ernhrt waren; da einmalVerbrauchtes, wie Kleider und Schuhe, nicht mehr nachgeschafft werden konnten, soda z.B. oftKinder bei schlechtem Wetter nicht in die Schule gehen konnten, weil sie keine Schuhe mehr hatten,usw. und mich mehr mit jenen Ergebnissen befassen, die nicht unmittelbar sichtbar sind und gelegentlichallgemeinen Vorstellungen zuwiderlaufen.

    So beginnt etwa das Kapitel "Die Zeit" wie folgt: "Wer wei, mit welcher Zhigkeit die Arbeiterschaftseit den Anfngen ihrer Organisation um die Verlngerung der Freizeit kmpft, der knnte meinen, da

  • in allem Elend der Arbeitslosigkeit die unbegrenzte freie Zeit fr den Mneschen doch ein Gewinn sei.Aber bei nherem Zusehen erweist sich diese Freiheit als tragisches Geschenk. Losgelst von ihrerArbeit und ohne Kontakt mit der Auenwelt, haben die Arbeiter die materiellen und moralischenMglichkeiten eingebt, die Zeit zu verwenden." (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel, 1975, 83)

    Es ist eine der berhmtesten Stellen in dem Buch, wie sie das dokumentierten. Zum einen beobachtetensie, mit der Uhr in der Hand, die Geschwindigkeit, mit der die Menschen die vom Fenster ausbersehbare 300 m lange Dorfstrae entlang gingen und wie oft sie dabei zu lngeren Gesprchenstehen blieben.

    Es zeigte sich, da die Frauen im Durchschnitt etwa 1 1/2 mal so rasch gingen und nur halb so oft zulngeren Gesprchen stehen blieben wie die Mnner. Weil eben die Frauen, zum Unterschied von denmeisten Mnnern, immer noch eine Menge sinnvoller Ttigkeiten zu verrichten hatten. Vor allem soetwas wie drei Mahlzeiten, und wenn das nicht mehr ging, wenigstens zwei Mahlzeiten am Tag auf denTisch zu stellen, alle mglichen Hausarbeiten zu verrichten Kleider und Wsche, so gut es ging,zusammenflicken, usw. Auf die Strae gehen bedeutete darum fr Frauen zumeist irgendeineBesorgung machen, wie z.B. eine Kleinigkeit zum Essen beim Kaufmann besorgen gehen - Vorrats-wirtschaft gab es ja schon lange nicht mehr; oder die Kinder in die Schule bringen, usw. Whrend frdie Mnner "auf der Strae sein" zumeist nur mehr bedeutete, nicht allein zu Hause zu sitzen, sondernallein oder mit anderen auf der Strae herumzustehen oder spazieren zu gehen, nur um die Zeittotzuschlagen.

    Zum anderen aber waren es die Zeitverwendungsbgen. So heit es etwa bei einem: 9-10 zu Hausegewesen; 10-11 an der Ecke des Hauses gestanden; 11-12 gegessen; 12-1 geschlafen; 1-3 nach derFischa spazieren; 3-4 bin zum Treer gegangen; (Anmerkung der Autoren: der Kaufmann Treer ist 300Schritte weit weg); 4-5 um Milch gegangen; usw. (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel, 1975, 85) oder beieinem anderen die inzwischen berhmt gewordene Eintragung: "10-11 einstweilen wird es Mittag";11-12 (Leer); 12-1 1 Uhr wird gegessen, da die Kinder erst aus der Schule kommen, usw. (Jahoda,Lazarsfeld & Zeisel, 1975, 84).

    Nachdem sie alle diese Eintragungen in den verschiedenen Zeitverwendungsbgen sorgfltig in einerTabelle zusammenfaten, stellten die Autoren lapidar fest: "Das Nichtstun beherrscht den Tag": KleineBeschftigungen wie mit dem Radio oder Basteln machen kaum 2 % der Zeit aus (Jahoda, Lazarsfeld& Zeisel, 1975, 88).

    Um festzustellen, da langdauernde Not die Menschen zermrbt, dazu htte es weiter keinersorgfltigen Untersuchung bedurft. Auch nicht um festzustellen, da nicht alle Menschen auf die gleicheNotlage gleich reagieren - die einen halten lnger durch und bleiben womglich noch durch lange Zeitoptimistisch, whrend andere frher aufgeben und verzweifeln. Die Autoren waren aber nicht so sehrdaran interessiert, zu untersuchen, wie sehr Unterschiede in der Haltung allenfalls von Unterschiedenin den Persnlichkeiten der Einzelnen bestimmt wurden, sondern daran, wie offenbar Unterschiede inder Haltung weitgehend durch ja immer noch bestehende Unterschiede im Einkommen bestimmtwurden - sofern man Arbeitslosen- bzw. Notstandsuntersttzung noch als "Einkommen" bezeichnenkann.

    Dazu zunchst einige bersichtszahlen:

  • Marienthal hatte damals, im Herbst 1931, als die Untersuchung begann, knapp unter 1500 (1461)Einwohner in knapp unter 500 (478) Familien, von denen 93 noch mindestens ein Familienmitglied inArbeit hatten, - etwa die Hlfte davon (56) in Orten der Umgebung, 15 in Wien und 22 im Ort selbst,darunter der Brgermeister, der Gemeindesekretr, 3 Gendarmen, der Fleischhauer, der Wirt, 6 Mannbei Aufrumungsarbeiten in der Fabrik und ein paar andere; 18, zumeist ehemalige Eisenbahner, lebtenvon Abfertigungen oder Pensionen. Alle anderen, 367 von 478 Familien, waren total arbeitslos. Diemeisten bezogen noch Arbeislosen- oder Notstandsuntersttzung. 9 Familien waren entweder schontotal ausgesteuert oder hatten berhaupt keinen Anspruch auf Untersttzung. wovon sie lebten? DerBericht sagt lakonisch "vom Betteln und Stehlen".

    Der nachstehende Absatz mag eine Andeutung von der Situation geben: "Selbst die Behrdenversuchen in Marienthal nicht mehr, den Schein aufrecht zu erhalten, als ob man von der Untersttzung,die man bekommt, oder sogar nicht bekommt, leben knnte. Wenn Katzen und Hunde verschwinden,fllt es den Besitzern gar nicht mehr ein, eine Anzeige zu erstatten. Man wei, da sie von irgendjemandem gegessen wurden und forscht nicht nach den Namen...selbst bei kleinen Kohlendiebsthlenauf der Bahn drckt man beide Augen zu..." (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel, 1975, 41/42)

    Nach einer im Buch sehr detailliert beschriebenen Skala teilten die Autoren die insgesamt 478Marienthaler Familien ein, in etwa 1/4 (112), die noch "ungebrochen" waren, etwa 2/3 (330), die"resigniert" und 11, die "verzweifelt" und 25, die bereits vllig "apathisch" waren.

    Zum Vergleich nach dem Einkommen bercksichtigten sie, da Mnner im Durchschnitt etwas mehrverbrauchen als Frau und Kinder und berechneten das "Einkommen" nicht einfach pro Kopf, sondernpro Verbrauchseinheit pro Monat. Und zwar stellten sie fr einen Mann 1.0 Verbrauchseinheit, fr eineFrau 0.8, fr Jugendliche zwischen 14 und 21 ebenfalls 0.8 und fr Kinder unter 14 Jahren 0.6Verbrauchseinheiten in Rechnung.

    Zum besseren Verstndnis fr die nachfolgenden Angaben ber das Einkommen sei festgehalten: Um1 S bekam man damals etwa 1 1/2 kg Mehl, oder 1 kg Malzkaffe, oder 2 kg getrocknete Bohnen,oder 1/2 kg Pferdefleisch oder 2 1/2 Liter Milch, usw. Die Mieten in den Werkswohnungen rangiertenvon 3 S pro Monat fr Vorraum und Zimmer bis zu 7 S fr ZimmerKche-Kabinett. Arbeitslosezahlten fr Wohnungen von 4 S aufwrts um 1 S weniger.

    Es zeigte sich: "Ungebrochene" Familien hatten im Durchschnitt 34 S pro Verbrauchseinheit pro Monatzur Verfgung; "resignierte" hatten 30 S, die "Verzweifelten" hatten nur mehr 25 und die "apathischen"Familien hatten gar nur mehr 19 S pro Verbrauchseinheit pro Monat. Wozu der Bericht bemerkt: "DieBedeutung dieser Tabelle liegt nun nicht blo darin, da sie einen eindeutigen Zusammenhang zwischenStimmungslage und konomischer Lage im Durchschnitt ergibt. Sie lt auch abschtzen, von welchenGelddifferenzen die Haltung bereits beeinflut wird, an welcher Stelle das subjektive Gefhl derErtrglichkeit aufhrt...Schon eine Differenz von monatlich 5 S heit, nur mehr mit Saccharin kochenknnen, oder doch noch Zucker verwenden; die Schuhe in Reparatur geben knnen oder die Kinderzu Hause lassen mssen, weil sie nichts mehr an den Fen haben; heit, sich gelegentlich eineZigarette um 3g leisten knnen, oder immer nur Stummel auf der Strae aufklauben; 5 S mehr oderweniger, das bedeutet die Zugehrigkeit zu einer anderen Lebensform" (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel,1975, 96).

  • Darber hinaus mag das aber auch als eine wesentlich allgemeinere, auch heute noch gltige Erkenntnisder Marienthaler Studie anzusehen sein: da Arbeitslosenuntersttzungen berall nur durch einebestimmte, gesetzlich festgelegte Zeit ausbezahlt werden - manchmal mit in bestimmten, ebenfallsgesetzlich festgelegten Zeitabschnitten erfolgenden Krzungen, ist anzunehmen, da mit fortschreitenderVerschlechterung ihrer Lage, wenn nicht alle, so doch die meisten Betroffenen, die einen langsamer, dieanderen rascher, die oben beschriebenen Stadien durchlaufen drften: von anfnglich noch "ungebro-chen" zu "resigniert" und schlielich zu "verzweifelt" oder "apathisch".

    Dazu noch eine persnliche Erinnerung aus jener Zeit. Als ehemaliger kaufmnnischer Angestellterbezog ich, beginnend im Frhjahr 1936, eine Arbeitslosenuntersttzung von 12.50 S pro Woche, dienach Ablauf einer entsprechenden Frist von mehreren Monaten auf 8.40 S oder so hnlich reduziertwurde. Glcklicherweise trat ich noch vor der bestehenden nchsten Krzung auf 4.20 S meinGerichtsjahr als Schriftfhrer beim Wiener Gewerbegericht an, wofr ich dann 50 S im Monat bekam.

    Ein etwas jngerer Freund von mir, ein gelernter Automechaniker, aber, wie damals blich, gleich nachBeendigung der Lehre entlassen, weil der Lehrherr sich keinen ausgelernten Arbeiter leisten konnte,und der schon vor lngerer Zeit auf dem Satz von 4.20 S pro Woche angelangt war, wurde einesTages, ebenfalls ganz ordnungsgem, auf 2.10 S pro Woche gekrzt. Das htte damals fr genau 6Wiener Tramwaykarten gereicht. Da kam ich auf die gute Idee, an eine Behrde - wenn ich mich rechterinnere, war es das Bundeskanzleramt - einen Brief mit der Frage zu schreiben, wovon der jungeMann jetzt eigentlich leben sollte. Zurck kam wortlos ein Kuvert mit einem Anmeldeformular zumBundesheer.

    Eine wichtige Frage war: Was tat das alles den Kindern an?

    Der rein physische Schaden war relativ einfach festzustellen; Damals war es blich, da bei schulrzt-lichen Untersuchungen der Gesundheitszustand je nachdem klassifiziert wurde als I-gut, II-mittel, oderIII-schlecht. Eine Untersuchung der insgesamt 314 Marienthaler Kinder unter 14 Jahren ergab: vonden 34 Kindern, deren Eltern noch in Arbeit standen, hatten 19 den Befund I-gut; 15 den BefundII-mittel; keines hatte den Befund III-schlecht. Von den insgesamt 278 Kindern, deren Eltern arbeitsloswaren, hatten nur 31 (=11%) den Befund I-gut; etwa die Hlfte (144=52%) hatten den BefundII-mittel; aber ber 1/3, 103 von 278 (=37%) hatten den Befund III-schlecht.

    Ein Lehrer fhrte Buch darber, was 38 Kinder tglich zum Gabelfrhstck mithatten. Am Tag nachder Auszahlung der Arbeitslosenuntersttzung hatten 36 von ihnen ein adquates Gabelfrhstck. AmTag vor der nchsten Auszahlung, 14 Tage spter, hatten nur 19 ein adquates Gabelfrhstck. Dieanderen 19 hatten nur ein Stck trockenes Brot oder gar nichts. Was auch gleich zeigt, wie sehr derRhythmus des Lebens nicht mehr, wie in normalen Zeiten, vom Ablauf der Woche bestimmt wurde,sondern vom 14-tgigen Abstand zwischen den Auszahlungsterminen der Arbeitslosenuntersttzung.

    Schwieriger war es, zu zeigen, in welchem Ausma sich die allgemeine Resignation der Eltern auf dieKinder bertrug, fr die der Bereich von Wnschen und Phantasie sichtbar enger wurde. Ein Beitragdazu kam mit Schulaufstzen: "Was ich gerne werden mchte". Es fiel auf, wie sehr die sonst blichenAbenteuerwnsche fehlten, wie "Flieger" oder "Schiffskapitn", usw. Erschreckend viele wollteneinfach "Fabriksarbeiter" werden, weil sie von ihren Eltern dauernd zu hren bekamen, wie gut es ihnen

  • gegangen war, als sie noch in der Fabrik arbeiteten. Nur einer wollte noch ein Indianerhuptlingwerden - aber er wute nicht, ob eine Stelle frei sein wrde.

    Zum selben Zweck lieen die Autoren Kinder in Marienthal und in Orten der Umgebung, die zwarauch von Arbeitslosigkeit betroffen waren, aber eben nicht so total, wie Marienthal, Schulaufstzeschreiben: "Was ich mir zu Weihnachten wnsche". Und rechneten dann einfach durch, was dieErfllung der einzelnen Wunschlisten gekostet htte. Die berraschende Antwort: in den Orten derUmgebung im Durchschnitt 36 S, in Marienthal im Durchschnitt nur 12 S. Und selbst da schrieben vielevon den Mariethaler Kindern "Wenn meine Eltern nicht arbeitslos wren, dann wrde ich mir...,wnschen".

    Und selbst von diesen, schon auf ein Drittel reduzierten Wnschen bekamen 2/3 der MarienthalerKinder nicht einmal das. Whrend in den Orten der Umgebung etwa 2/3 mindestens ebensoviel odermehr bekamen, als was sie sich gewnscht hatten.

    4. Das arbeitslose Dorf

    Und nun zum eigentlichen Gegenstand der Untersuchung: die Auswirkungen langandauernder, massiverArbeitslosigkeit auf das Gefge der rtlichen Gemeinschaft. Als Gesamtergebnis kann vorweg-genommen werden:

    Die Anteilnahme des Einzelnen an allem was auerhalb der eigenen Person oder der eigenen Familievor sich geht, im Ort oder auerhalb des Ortes, schrumpft ein. Die Menschen ziehen sich in sich selbstzurck. Der Kitt, der in normalen Zeiten die Gemeinschaft zusammenhlt, trotz aller politischen undsonstigen Gegenstzlichkeiten, die ja zumeist selbst ein Ausdruck der Anteilnahme an dieser Gemein-schaft sind, beginnt zu zerbrckeln. Zwar gingen die Menschen z.B. noch zur Wahl wie zuvor, dieWahlbeteiligung lag auch bei den Gemeinderats-, Nationalrats- und Landtagswahlen von 1929, 1930und 1932 noch immer ber 90%, auch die Verteilung auf die Parteien blieb gleich, rund 80% fr dieSozialdemokraten, 15-17% fr die Christlichsozialen, 3-6% fr kleinere Parteien, mit etwas merk-barem Anstieg fr die letzteren bei der letzten Wahl 1932.

    Aber die aktive Teilnahme am politischen und sonstigen Geschehen nahm betrchtlich ab. DieMitgliedschaft ging zwischen 1929 und 1931 bei den Sozialdemokraten um 33% zurck, beimDeutschen Turnverein um die Hlfte usw. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildeten dabei jene auchpolitisch liierten Vereine, die ihren Mitgliedern noch irgendwelche materiellen Vorteile bieten konnten,wie z.B. der Arbeiterradfahrverein, der die Vermittlung fr die Versicherung fr das in dieser Zeit nochviel kostbarere Fahrrad vermittelte, das doch noch etwas Kontakt mit der Auenwelt bedeutete; oderder Feuerbestattungsverein "Die Flamme" mit seiner Versicherung fr allfllige Begrbniskosten; oderder sozialdemokratische Verein "Kinderfreunde" oder der katholische Verein "Frohe Kindheit", diesich beide noch um die Kinder kmmerten, nachdem der Montessori-Kindergarten schon gesperrtwar, weil kein Geld mehr da war fr die Kindergrtnerin. Der Bericht fat das zusammen wie folgt:"...Mit steigender Not entwickelt sich die Mitgliedschaft bei Vereinen aus einer Gesinnungssache zueiner Interessenangelegenheit. Aber man verstehe richtig: die Gesinnung wird nicht gendert, sie verliertnur gegenber den Sorgen des Alltags an gestaltender Kraft. Es ist, als ob die kulturellen Werte, die

  • im politischen Kampf stecken erstarrt wren, oder sogar primitiveren Formen des Kampfes Platzmachten" (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel, 1975, 60/61).

    Die frher sehr aktive Theatergruppe verlor Mitglieder, weil unter dem Druck der Not die Menschenbegreiflicherweise das Interesse am Theaterspielen verloren. die Entlehnungen aus der Arbeiterbibli-othek gingen zurck, obwohl die auch frher schon geringe Leihgebhr inzwischen lngst abgeschafftwar. Die Arbeiterzeitung, frher das politische Um und Auf dieser so sehr sozialdemokratischenGemeinde verlor mehr als die Hlfte ihrer Leser, obwohl der Preis fr Arbeitslose drastisch reduziertwar. Es war einfach ein Rckgang des Interesses an allem, was in der Auenwelt vor sich ging. Wozuder Bericht bemerkt:

    "Der Rckfall von der hheren kulturellen Stufe der politischen Auseinandersetzung auf die primitivereder individuellen gegenseitigen Gehssigkeit ist fast aktenmig zu belegen. Wir denken dabei an dieanonymen Anzeigen, die wegen unbefugter Gelegenheitsarbeit trotz Bezug der Arbeitslosenunterstt-zung erstattet wurden" (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel, 1975, 61).

    Wobei das Bemerkenswerte, abgesehen vom Ansteigen der Zahl der anonymen Anzeigen selbst, diees in einer so kleinen Gemeinde in normalen Zeiten so gut wie gar nicht geben kann, vor allem dasrapide Anwachsen des Anteils der unberechtigten Anzeigen ist: 1928/29, das war das letzte Jahr vorder groen Wirtschaftskrise - aber schon mit betrchtlicher Arbeitslosigkeit in Marienthal - gab esinsgesamt erst 9 solcher Anzeigen, von denen 3 unberechtigt waren. Nur zwei Jahre spter, 1930/31,das war das letzte Jahr vor der Studie, gab es schon 28 solcher Anzeigen, von denen schon 21unberechtigt waren.

    Das in politischer Hinsicht wohl interessanteste Ergebnis war ein - wenn auch gewi sehr lokalbegrenzter - Betrag zur groen Diskussion, die damals vor allem in den politischen Parteien gefhrtwurde: ob die massive Arbeitslosigkeit der Wirtschaftskrise die Arbeiter eher radikalisieren oder eherapathisch machen wrde? Wobei ersteres wohl am meisten den radikalen Parteien auf der Linken undauf der Rechten, den Kommunisten und den Nationalsozialisten zugute gekommen wre.

    Die Antwort fr Marienthal war, zumindest bis zum Jahr der Studie, 1932, eindeutig:Sie wurden, sieht man von einigen Ausnahmen ab, im wesentliche apathisch. Allerdings warnen dieAutoren selbst davor, dieses sehr lokale Ergebnis unmittelbar zu generalisieren, weil Marienthal geradein dieser Hinsicht viel zu sehr ein Sonderfall war: eine sehr kleine Industriegemeinde, etwas abseits vomgroen Verkehr, mit, seit die Arbeitslosigkeit begonnen hatte, nur relativ wenig Kontakt zu Wien. Undvor allem: totale Arbeitslosigkeit, soda jeder Arbeitslose um sich herum praktisch immer wiederandere Arbeitslose sehen konnte, was die ganze Situation um so viel aussichtsloser machte. Nochdazu, wo die Arbeitslosigkeit in Marienthal schon so viel frher begonnen hatte, so da die Arbeits-losen selbst das sozusagen als das besondere Schicksal von Marienthal empfanden und nicht so sehrals einen Teil der allgemeinen Wirtschaftskrise. Whrend anderswo es zwar ebenfalls sehr vielArbeitslosigkeit gab, aber die Arbeitslosen eben doch nur etwa 20-25% der Arbeitnehmerschaftausmachte, soda beinahe jeder Arbeitslose um sich herum weiter Menschen in Arbeit sehen konnte,was die Gesamtsituation weniger unvernderbar erscheinen lie. Was wiederum manche - wenn auch,das sei noch einmal betont, nicht allzuviele - dazu veranlassen konnte, sich radikalen Parteienanzuschlieen, die versprachen, diese Situation zu bekmpfen und wieder fr Arbeit zu sorgen. Wieviel

  • davon Propaganda oder Illusion sein mochte, konnten die meisten Arbeitslosen wohl kaum rechtbeurteilen.

    Wozu noch kam, da der Beitritt zu einer kmpfenden Gruppe, ganz gleich ob auf der politischenLinken oder auf der politischen Rechten, fr den Einzelnen wieder menschliche Kontakte bedeutete,die er beim Ausscheiden aus dem Betrieb verloren hatte. Gleichwohl taten das nur verhltnismigwenige. Fr das Gros der Arbeitslosen war wohl eher typisch, was die Marienthal Studie so deutlichzeigte: weitgehendes Zurckziehen in die eigene Schale, Sichabkapseln von allem, was auerhalb derunmittelbar eigensten Sphre vor sich geht.

    Zu meinen Erinnerungen aus jener Zeit gehrt, da z.B. whrend der Wiener Februarkmpfe 1934eine betrchtliche Anzahl von Arbeitslosen wie in jeder anderen Woche auf die Arbeitsmter stempelngingen oder sich ihre Untersttzung abholten, - insbesondere auch in Ottakring, whrend unweit davonheftigst gekmpft wurde.

    Liest man in der Marienthal-Studie die Berichte einzelner Arbeiter, dann taucht immer wieder auf, dadie Arbeitslosen neben der wirtschaftlichen Not am meisten den Verlust ihrer eigenen Menschenwrdeals ntzliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft beklagten. Was auch von spteren Studienimmer wieder besttigt wurde.

    Besonders eindrucksvoll behandelt das Problem Marie Jahoda in ihrem 1983 erschienenen Buch"Wieviel Arbeit braucht der Mensch?". Dort berichtet sie unter anderem darber, wie ein von Qukernin England zwischen 1936 und 1938 fr etwa 400 seit Jahren arbeitslose Bergarbeiter eingerichtetesSelbsthilfeprojekt letzten Endes vor allem an diesem Aspekt scheiterte: es war eingerichtet als eineProduktionsgenossenschaft, in der die Mitglieder allerlei Lebensbedarf erzeugen und dann zumSelbstkostenpreis plus einem geringen Aufschlag zur Deckung der Verwaltungskosten fr den eigenenBedarf - aber nicht zum Weiterverkauf - kaufen konnten. Sie durften weiter ihre Arbeitslosenunterstt-zung beziehen - deren Kaufkraft auf die Art um etwa 1/3 erhht wurde - bekamen aber darber hinauskeine Lhne. Soda viele von ihnen, besonders die Jngeren, sich, sehr zu Unrecht natrlich, von denwohlmeinenden Qukern ausgebeutet fhlten und die Arbeit nicht ernst nahmen und es zu allerleiUnzukmmlichkeiten kam. Was offenbar zeigte, da selbst sinnvolle Beschftigung allein noch nichtgengt - es fehlte die gesellschaftliche Anerkennung der Arbeit, die, selbst dort, wo Menschen wirklichausgebeutet werden und oft zu elenden Lhnen arbeiten mssen, Bestandteil der Gesamtsituation ist,in der gesellschaftlich als notwendig anerkannte Arbeit mit gesellschaftlich anerkannten, wenn auchallenfalls elenden Lhnen bezahlt wird.

    In spteren Jahren in Amerika bemerkte Lazarsfeld gelegentlich, da es einer der wichtigsten Aspektevon Arbeitsbeschaffungsprogrammen des New Deal in Amerika war, da dabei zwar nicht hohe, aberdoch regulre Lhne bezahlt wurden und nicht sozusagen Arbeitslosenuntersttzung, fr die man ebenarbeiten mute, was oft bei Arbeitsbeschaffungsprogrammen in Europa der Fall war - ausgenommenbrigens gewisse Arbeitsbeschaffungsprogramme in Schweden, die ebenfalls regulre Lhne bezahlten.Jahoda allerdings betont, da bei diesen Arbeitsbeschaffungsprogrammen des New Deal wegen derhohen Kosten mitten in der Wirtschaftskrise bestenfalls etwa 4 Millionen der damals insgesamtzwischen 13 und 16 Millionen Arbeitslosen beschftigt werden konnten.

  • Dieser Aspekt der Arbeitslosigkeit, der also nicht durch bloe Arbeitsbeschaffung in Arbeits-programmen an sich berwunden werden kann, solange sie nicht mit regulren, gesellschaftlich alssolchen anerkannten Lhne verbunden sind, weil nur, wenn es dabei auch die letzteren gibt, sich dieMenschen in ihrer Menschenwrde besttigt finden, hat gewi auch in unserer Zeit seine Gltigkeit. Ersollte darum vor allem von Gewerkschaften stndig im Auge behalten werden, wenn sie in unserer Zeitwiederum rasch um sich greifender Arbeitslosigkeit entweder mit ihren Regierungen ber zweckmigeManahmen zur Bekmpfung der Arbeitslosigkeit verhandeln oder mit den Regierungen darber imStreit liegen. Sowohl in ihrem eigenen Interesse als Vertreter der Arbeiterschaft, wie im Interesse derMenschenwrde der unmittelbar von der Arbeitslosigkeit Betroffenen.

    Diesen Aspekt besonders klargelegt und hervorgehoben zu haben, halte ich neben der eindrucksvollenDokumentation der materiellen Not und der Feststellung, da zumindest in Marienthal langdauerndetotale Arbeitslosigkeit nicht zu Radikalisierung, sondern zu Apathie fhrte, fr das wichtigste Ergebnisder Untersuchung ber "Die Arbeitslosen von Marienthal", an deren Entstehung vor genau 60 Jahrenhier in Marienthal wir uns heute erinnern.

    Anmerkung

    "Die Arbeitslosen von Marienthal". Ein soziographischer Versuch. Paul F. Lazarsfeld, Marie Jahoda,Hans Zeisel. S. Hirzel, Leipzig 1933. (Die Zitate folgen der Taschenbuchausgabe im Suhrkamp Verlag,Frankfurt 1975)

    Otto Neurath Professor fr Soziologie und Statistik am Queens College der City University of NewYork und Honorarprofessor der Universitt Wien, z.Z. (1991/92) als Gastprofessor am Institut frSoziologie der Universitt Wien.