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SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Susanne Gratius Die Außenpolitik der Regierung Lula Brasiliens Aufstieg von einer diskreten Regional- zu einer kooperativen Führungsmacht S 7 Mrz 2004 Berlin

Die Außenpolitik der Regierung Lula - swp-berlin.org · 5 Amado Luiz Cervo/Clodoaldo Bueno, História da Política ... 6 Celso Lafer, A identidade internacional do Brasil e a política

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SWP-StudieStiftung Wissenschaft und PolitikDeutsches Institut für InternationalePolitik und Sicherheit

Susanne Gratius

Die Außenpolitik derRegierung LulaBrasiliens Aufstieg von einerdiskreten Regional- zu einer kooperativenFührungsmacht

S 7März 2004Berlin

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ISSN 1611-6372

Inhalt

Problemstellung und Schlußfolgerungen 5

Die brasilianische Außenpolitik 7Grundzüge der Außenpolitik 7Die Ausrichtung auf die USA 8Beginn einer aktiven Nachbarschafts- und Weltpolitik 8Die Akteure: Zwischen Kontinuität und Wandel 9Die Hauptfiguren der Außenpolitik 9

Außenpolitische Ziele und Schwerpunkteder Regierung Lula 11Die brasilianische Lateinamerika-Politik 11»Kernmercosur« und Südamerika 11Vermittlung in lateinamerikanischen Problemstaaten 13Anerkannte regionale Vormachtstellung? 15Multilateralismus des Südens:Allianz der Schwellenländer 16Die Transatlantische Achse: Die USA und Europa 18Gespaltenes Verhältnis zum Partner im Norden 18Brasilien und Europa 20

Ist Brasilien eine regionale Führungsmacht? 22Potentielle Militärmacht Brasilien 22Regionale Wirtschaftsmacht 23Mittlerer Entwicklungsstand mit großem Gefälle 24Stabile, aber defekte Demokratie 26Selbstbewußte globale Außenpolitik 27Kooperative regionale Führungsmacht 28

Abkürzungen 29

SWP-BerlinDie Außenpolitik der Regierung Lula

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Problemstellung und Schlußfolgerungen

Die Außenpolitik der Regierung Lula.Brasiliens Aufstieg von einer diskreten Regional-zu einer kooperativen Führungsmacht

Brasilien spielt als Wortführer der Schwellenländerund als stabilste Demokratie Südamerikas eine zuneh-mend wichtige Rolle in der Welt. Unter der Regierungvon Luiz Inácio »Lula« da Silva ist der schlafende Riesedes Kontinents zu neuem Leben erwacht und profiliertsich als eine aktive Macht des Südens. Der neue Macht-anspruch wurde erstmals im September 2003 inCancún deutlich, als Brasilien einen Block der Schwel-len- und Entwicklungsländer anführte, dessen Ver-handlungsposition dazu beitrug, daß die Minister-konferenz der Welthandelsorganisation (WTO)scheiterte. Auch die USA und die EU, mit denen dasLand im Rahmen des Mercosur über Freihandels-abkommen verhandelt, müssen Brasilien als inter-nationalen Partner stärker zur Kenntnis nehmen.Denn in wirtschaftlicher Hinsicht ist das Schwellen-land Brasilien ein potentieller Konkurrent der Indu-striestaaten und als Regionalmacht ein entscheiden-der Baustein des multipolaren Systems.

»Dies ist das Land des neuen Jahrtausends«. Mitdieser optimistischen Verheißung trat Lula da Silvaam 1. Januar 2003 die Präsidentschaft im größtenStaat Lateinamerikas an. Für viele war der Wahlsiegdes ehemaligen Metallarbeiters und langjährigenGewerkschaftsführers ein Schreckensszenario, der dieBörsenwerte drückte und das »Länderrisiko« Brasiliensin die Höhe trieb. Heute hofieren selbst ehemaligeSkeptiker und Gegner den Präsidenten. IWF-DirektorHorst Köhler zeigte sich von der neuen Regierungbeeindruckt, Georg W. Bush lobte Lulas Wirtschafts-reformen, und der amerikanische FinanzministerSnow sprach von einer »wunderbaren Entwicklung«.

Erstmals wurde einem brasilianischen Präsidentensowohl internationale Anerkennung als auch einebreite Unterstützung in der eigenen Bevölkerungzuteil. Durch diesen Vertrauensvorschuß verfügt Lulaüber einen großen Handlungsspielraum, den ernutzte, um seiner Regierung Glaubwürdigkeit nachinnen und außen zu verschaffen. Mit Hilfe einer ge-schickten Koalitionsbildung überwand Lula die vonseinem Amtsvorgänger Fernando Henrique Cardosonicht bezwungene Hürde der Steuer- und der Renten-reform, die im Kongreß mehrheitlich verabschiedetwurden. In der Außenwirtschaftspolitik erzielte die

Problemstellung und Schlußfolgerungen

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Regierung Fortschritte bei der Vertiefung des Merco-sur und bei den Verhandlungen über eine Handels-liberalisierung mit der Andengemeinschaft. Außen-politisch forcierte Lula den Aufbau einer Lobby derSchwellenländer, indem er eine Allianz mit Indienund Südafrika einging.

Lange Zeit galt Brasilien in Südamerika als passiveRegionalmacht, gekennzeichnet durch eine ausge-prägte Selbstisolation und eine zwar sehr professionellorganisierte, aber diskrete Außenpolitik. Jetzt deutenviele Zeichen darauf hin, daß Brasilien einen außen-politischen Wandel in Richtung einer Führungsrollein Südamerika und einer stärkeren internationalenProfilierung vollzogen hat. Beispiele dafür gibt esviele: Die Regierung reaktiviert den Mercosur mittelsder strategischen Partnerschaft mit Argentinien, ver-mittelt bei innenpolitischen Konflikten in den süd-amerikanischen Krisenstaaten Bolivien und Vene-zuela, gründet zusammen mit Indien und Südafrikadie Gruppe der Drei (G-3) und machte seinen Einflußin der Gruppe der 20 geltend, um die Position desSüdens gegenüber den Industrieländern zu stärken.

Unter Präsident Lula ist sich Brasilien der eigenenGröße und des enormen wirtschaftlichen Potentialswieder bewußt geworden. Langfristig hängt das Ge-wicht Brasiliens in der Welt jedoch davon ab, ob es derRegierung gelingt, das Land wirtschaftlich zu stabi-lisieren und zugleich eine Politik der Umverteilungzu betreiben, die das extreme Einkommensgefälle imLand verringert. Durch den von Lula in Aussicht ge-stellten sozialen Wandel, den er gleichermaßen aufder globalen Bühne vertritt, würde sich auch das inter-nationale Prestige Brasiliens erhöhen. Andernfallswäre Brasilien dazu verdammt, ein »ewiges Schwellen-land« zu bleiben.

Vor dem Hintergrund des sich abzeichnendenaußen- und innenpolitischen Strukturwandels inBrasilien will diese Studie vier Fragen beantworten:(1) Welche Rolle kann und wird Brasilien in Latein-amerika und auf internationalem Parkett spielen?(2) Gibt es eine neue Außenpolitik unter Lula und,wenn ja, mit welchen geographischen und inhalt-lichen Schwerpunkten? (3) Ist Brasilien eine regionaleFührungsmacht und an welchen internen und exter-nen Kriterien läßt sich dies festmachen? (4) WelcheKonsequenzen hat die neue Außenpolitik für Brasi-liens zentrale Partner, insbesondere aber für die EUund Deutschland?

Obwohl Brasilien mit Abstand der bedeutendsteeuropäische Wirtschaftspartner in Lateinamerika undder eigentliche Machtfaktor in Südamerika ist, kommt

der brasilianische Wissenschaftler Franklin Trein zuder ernüchternden Einschätzung, daß Brasilien inBrüssel »keine Spitzenposition« einnimmt. Hierfürgibt es viele Gründe: der Charme der brasilianischenDiplomatie ist vielleicht zu diskret, Lula pflegt vor-rangig die Beziehungen zu Staaten der eigenen Regionund zu den Schwellenländern, die Verbindungen nachEuropa haben eher historischen als aktuellen Wert,und die Verhandlungen zwischen der EU und demMercosur über ein Assoziationsabkommen waren bis-lang ebensowenig erfolgreich wie der Freihandels-prozeß mit den USA. Dennoch ist Brasilien für Europaund Deutschland ein strategischer Partner in Latein-amerika. In zweierlei Hinsicht könnte sich Brasilienals eigentliches Verbindungsglied zwischen Europaund Südamerika erweisen:1. Brasilien als demokratischer Stabilitätsfaktor: Angesichts

der Wiederkehr von Populisten und Krisenszena-rien in Lateinamerika kann Brasilien als größteDemokratie und Regionalmacht im chronisch insta-bilen Andenraum eine Anker-Funktion erfüllen undein stabiles Gegengewicht bilden, indem das Landordnungspolitische Aufgaben wahrnimmt und �im Zusammenspiel mit Europa � in Problemstaatenwie Kuba, Venezuela oder Kolumbien zwischen denpolitischen Akteuren vermittelt. Wie die EU plä-diert auch Brasilien in Kolumbien und Venezuelafür eine demokratische Konfliktlösung durch Ver-handlungen und Dialog. Vereinzelt kam es schonzu multilateralen Kooperationen: in der von Bra-silien einberufenen »Freundschaftsgruppe Vene-zuela« sind neben den USA auch Portugal undSpanien eingebunden. Bei anderen lateiname-rikanischen »Problemfällen« wäre eine engereKooperation zwischen Europa und Brasilien eben-falls wünschenswert.

2. Brasilien als Vorbild für sozialen Wandel: Wenn LulasExperiment der Umverteilung gelingt, könnteBrasilien auch für andere Staaten der Region dieRolle eines neuen Entwicklungsmodells spielen.Die soziale Ungleichheit ist im Mai 2004 das Haupt-thema des europäisch-lateinamerikanischen Gipfel-treffens in Mexiko. Die brasilianische Erfahrung isthier eine ebenso wichtige Referenz wie die vonEuropa geprägte soziale Marktwirtschaft. Auchdieser Bereich eröffnet ein neues Feld der Zusam-menarbeit.Vor diesem Hintergrund ist ein wirtschaftlich,

politisch und sozial stabiles sowie internationalhandlungsfähiges Brasilien im europäischen unddeutschen Interesse.

Grundzüge der Außenpolitik

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Die brasilianische Außenpolitik

Brasilien ist als Land mit zehn Außengrenzen � durchFranzösisch-Guyana auch mit der EU �, als fünftgröß-ter Flächenstaat der Erde und elftgrößte Wirtschafts-macht schon durch seine schiere Dimension eineRegionalmacht. Mit einer größeren Wirtschafts-leistung als Indien oder Rußland gehört Brasilienzur Gruppe der bedeutendsten Schwellenländer.

Brasilien ist der eigentliche Rivale der USA in denAmerikas und der Koloß im Süden des Kontinents:40% der Lateinamerikaner sind Brasilianer, das Landerbringt über ein Drittel der regionalen Wirtschafts-leistung und macht die Hälfte der Fläche Lateinameri-kas aus. Seit jeher wird Brasilien deshalb eine »natür-liche Berufung« für die Übernahme der regionalenFührung zugeschrieben.1

Anders als die USA im Norden ist Brasilien für denSüden des Kontinents zwar noch kein politischerund wirtschaftlicher Stabilitätsanker, aber immerhinein Garant für Kontinuität und Fortschritt in einerRegion, die von politischen und wirtschaftlichenKrisen geschüttelt wird. Kein lateinamerikanischesLand weist seit den achtziger Jahren eine vergleich-bare demokratische Entwicklung ohne populistischeZwischenspiele auf, kein anderer Staat der Regionblickt wie Brasilien auf eine Geschichte nahezu ohnetraumatische Brüche zurück und in keinem anderenLand Lateinamerikas gibt es eine ähnlich strategischausgerichtete Außenpolitik.

Grundzüge der Außenpolitik

Brasilien ist das lateinamerikanische Land, dessenAußenpolitik sich seit Anfang des 20. Jahrhundertsdurch hohe Professionalität, Qualität und Traditionauszeichnet.2 Henry Kissinger charakterisiert dasdiplomatische Corps als »Latin America�s most effec-tive foreign service � well trained, multilingual, pur-suing the Brazilian national interest with a combi-nation of charm, persistance, and a careful assessment

1 Vgl. Sergio Danese, Liderazgo brasileño, in: Foreign Affairsen español (Mexico DF), (Herbst/Winter 2001) 3.2 Vgl. Le Monde (Paris), 2.7.2003, S. 3.

of international realities«.3 Das Itamaraty,4 das brasi-lianische Außenministerium in Brasilia, betreibt achtAußenstellen im Inland und bildet seine Diplomatenan der eigenen Diplomatenschule aus, dem angesehe-nen Instituto Rio Branco. Diese institutionalisierteStruktur garantiert die Kontinuität und langfristigeAusrichtung der Außenpolitik, weitgehend unbeein-flußt von politischen Parteien und der Couleur derjeweiligen Regierungen.

Dennoch zeichnete sich Brasiliens Rolle in Latein-amerika durch Selbstbezogenheit und relative Isola-tion aus.5 Der Hang zur Autarkie ist zurückzuführenauf die historische Sonderrolle Brasiliens in derRegion, auf die unterschiedliche Sprache, die »latein-afrikanische Identität« und die Größe des Staats-gebiets. Seit der Redemokratisierung 1985 betreibtBrasilien eine dialogorientierte und kooperativeAußenpolitik, ohne militärischen Druck anzuwenden.Demokratie und Integration sind seitdem wichtigeaußenpolitische Ziele. Gemäß Artikel 4 der Verfassungist die brasilianische Regierung verpflichtet, in derinternationalen Politik zehn Geboten bzw. Grund-prinzipien zu folgen: Wahrung der nationalen Unab-hängigkeit, Achtung der Menschenrechte, Selbst-bestimmung der Völker, Nichtintervention, Gleichheitzwischen den Staaten, Verteidigung des Friedens,friedliche Konfliktbeilegung, zwischenstaatliche Ko-operation für humanitären Fortschritt, Gewährungpolitischen Asyls sowie Verurteilung von Terrorismusund Rassismus.

Für Brasilien ist es unerläßlich, eine aktive Nach-barschaftspolitik zu betreiben oder � in den Wortendes ehemaligen Außenministers Celso Lafer6 � ein»Bewußtsein unseres Umfelds« zu entwickeln. Tradi-tionell hat Brasilien auf dem amerikanischen Konti-nent die engsten Beziehungen zu den USA im Nordenund zu Argentinien im Süden. In den vergangenen

3 Does America Need a Foreign Policy? Toward a Diplomacyfor the 21st Century, New York 2001, S. 101.4 Nach dem gleichnamigen Platz in Brasilia.5 Amado Luiz Cervo/Clodoaldo Bueno, História da PolíticaExterior do Brasil, Brasilia: Editoria Universidade de Brasilia,2002.6 Celso Lafer, A identidade internacional do Brasil e a políticaexterna brasileira: pasado, presente e futuro, São Paulo 2001.

Die brasilianische Außenpolitik

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zwanzig Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt derAußenpolitik von den USA auf Argentinien. BrasiliensStellung in der Region veränderte sich nachhaltigdurch die Gründung des Wirtschaftsblocks Mercosurim Jahre 1991. Dem Mercosur ging eine engere bila-terale Zusammenarbeit mit dem langjährigen RivalenArgentinien voraus. Mitte der achtziger Jahre hattenJosé Sarney und Raúl Alfonsín, die ersten demo-kratisch gewählten Präsidenten nach dem Ende derMilitärdiktaturen, diese Zusammenarbeit eingeleitet.Als Wirtschaftsmacht des Mercosur � mit einem Anteilvon 63% des BIP und 75% der Bevölkerung des Blocks �hat Brasilien in Südamerika inzwischen deutlich anProfil gewonnen.

Die Ausrichtung auf die USA

Während das Verhältnis zu Argentinien bis in dieachtziger Jahre von Mißtrauen und gegenseitiger Riva-lität geprägt war, unterhielt Brasilien traditionellenge und gute Beziehungen zu den USA. Sie grün-deten unter anderem darauf, daß die USA im Jahre1822 als erstes Land die Unabhängigkeit Brasiliensanerkannten, in der Folge zum Hauptabnehmer brasi-lianischen Kaffees wurden und somit zum wichtigstenHandelspartner im 19. Jahrhundert.

Unter Baron von Rio Branco (1902�1909)7 nahm dasLand durch die Kooperation mit den USA und seinebesondere Stellung in der Region die Rolle eines Ver-mittlers zwischen den USA und Lateinamerika ein undbetrieb insofern eine regionale Außenpolitik im Schat-ten der USA. Diese Konzentration der brasilianischenAußenbeziehungen auf die Vereinigten Staatenwährte nach Ansicht vieler Autoren »bis zum Endeder fünfziger Jahre.«8

Eine kritische Haltung gegenüber den USA zeigtesich in der Außenpolitik erst seit Anfang der sechzigerJahre, in der Zeit vor der Militärdiktatur. Der damaligePräsident Joao Kubitschek9 prägte die brasilianischeDiplomatie in Sinne einer Rückbesinnung auf Latein-

7 Nach ihm wurde die 1945 gegründete brasilianische Diplo-matenschule »Rio Branco« benannt.8 Wilhelm Hofmeister/Christian Lohbauer, Die Beziehungenzwischen Brasilien und seinen Nachbarstaaten (I und II), in:Gilberto Calcagnotto/Detlef Nolte (Hg.), Südamerika zwischenUS-amerikanischer Hegemonie und brasilianischem Füh-rungsanspruch, Frankfurt a.M.: Vervuert 2002, S. 102�170(125).9 Kubitschek machte Brasilia im Zentrum des Landes anstellevon Rio de Janeiro zur Hauptstadt Brasiliens.

amerika. Seine Nachfolger Janio Quadros und JoaoGoulart (1961�1964) leiteten einen erneuten Kurs-wechsel ein: von der regionalen zur globalen Außen-politik. Brasilien wurde Mitglied in der Bewegung derBlockfreien, betrieb eine aktive »Dritte-Welt-Politik«,profilierte sich außerhalb der eigenen Region gegen-über der Sowjetunion, China und Afrika, übernahmerstmals internationale Verantwortung und distan-zierte sich gleichzeitig stärker von den USA.

Nach dem Militärputsch von 1964 nahm Brasiliendie historisch engen Beziehungen zu den USA wiederauf und kehrte bis 1985 zur sogenannten Politik desRealinhamento (etwa »Wiedereinordnung«) zurück.Unter dem Banner des »Antikommunismus« prägteGeneral Castello Branco (1964�1967) den Begriff der»brasilianischen Sonderbeziehung« zu den USA.

In den siebziger Jahren profilierte sich Brasilien alsWirtschaftsmacht auf dem Wege zu einer führendenIndustrienation. Mittels militärischer Aufrüstung, be-gleitet von einem beachtlichen ökonomischen Auf-schwung, machte General Médici (1969�1974) sogareinen Großmachtanspruch Brasiliens an der Seite derIndustrieländer geltend.10 Der amerikanische Präsi-dent Richard Nixon unterstützte diese Politik, indemer großzügig verkündete: wohin Brasilien gehe, geheauch Lateinamerika. Aber der brasilianische Führungs-anspruch in der Hemisphäre beschränkte sich weit-gehend auf Rhetorik.

Beginn einer aktiven Nachbarschafts-und Weltpolitik

Ein erneuter außenpolitischer Kurswechsel erfolgteMitte der achtziger Jahre im Zusammenhang mit derRedemokratisierung Brasiliens und Argentiniens. DieRückkehr zur Demokratie ging einher mit einer Hin-wendung nach Lateinamerika und einer aktiven Nach-barschaftspolitik. Brasilien beteiligte sich maßgeblichin der Rio-Gruppe, der 1986 gegründeten lateinameri-kanischen Interessenvertretung, und nahm im selbenJahr wieder diplomatische Beziehungen zu Kuba auf.Zugleich intensivierte Brasilien die Beziehungen zuArgentinien. Die Rückkehr zur Demokratie in beidenLändern beendete die traditionelle militärische Riva-lität zugunsten der politischen und wirtschaftlichen

10 Vgl. Stefan A. Schirm, Brasilien: Regionalmacht zwischenAutonomie und Dependenz, Hamburg: Institut für Iberoame-rika-Kunde, 1990 (Schriftenreihe, Bd. 32).

Die Akteure: Zwischen Kontinuität und Wandel

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Übersicht

Brasilianische Präsidenten und Außenpolitiker seit 1985

Präsidentschaft Außenpolitik

1985�1990 José Sarney Olavo Setúbal (1985�1986)

Roberto Abreu Sodré (1986�1990)

1990�1992 Fernando Collor Francisco Rezek (1990�1992)

Celso Lafer (1992)

1992�1995 Itamar Franco Fernando H. Cardoso (1992�1993)

Celso Amorim (1993�1994)

1995�2002 Fernando H. Cardoso Felipe Lampreia (1995�2001)

Celso Lafer (2001�2002)

2003� Lula da Silva Celso Amorim

Zusammenarbeit. Die Förderung der regionalen Inte-gration gilt seitdem als wesentliches Ziel der brasi-lianischen Außenpolitik, das 1988 sogar in der Ver-fassung verankert wurde.11

Eine eigenständige Südamerika-Politik mit demKern der argentinisch-brasilianischen Allianz inner-halb des Mercosur ist bis heute das Markenzeichen derbrasilianischen Außenpolitik. Der Mercosur war auf-grund der Verwirklichung der Zollunion und derwachsenden Handelsverflechtung bis 1998 eine Er-folgsgeschichte.12 Parallel dazu richtete die brasi-lianische Regierung ihre Außenpolitik wieder ver-stärkt international aus. In seiner achtjährigen Amts-zeit (1995�2002) führte der ehemalige Außen- undWirtschaftsminister Fernando Henrique Cardosomittels seiner Präsenz auf internationalen Foren undseines hohen Prestiges die brasilianische Außenpolitikaus dem Schattendasein heraus. Der Umweltgipfel von1995 und das erste Treffen der Staats- und Regierungs-chefs Lateinamerikas und der EU im Jahre 1999 in Riode Janeiro rückten Brasilien nach langer Zeit wiederin das Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit.

Den zweigleisigen Kurs Cardosos � Stärkung desMercosur und globale Öffnung der Außenpolitik �setzt die Regierung Lula fort, bringt aber neue Akzenteins Spiel. Ihr außenpolitischer Handlungsrahmenwird gleichermaßen von Kontinuität und Wandelbestimmt: Kontinuität besteht in der skeptischen Hal-

11 In Artikel 4 heißt es »Brasilien strebt die wirtschaftliche,politische, soziale und kulturelle Integration der VölkerLateinamerikas an«.12 Der Niedergang des Wirtschaftsblocks 1999 hatte vorwie-gend ökonomische Gründe, wie die Abwertung des Real unddie Dollar-Peso-Parität in Argentinien. Vgl. Mario EstebanCarranza, Can Mercosur Survive? Domestic and InternationalConstraints on Mercosur, in: Latin American Politics andSociety, 45 (2003) 2, S. 67�99.

tung Brasiliens gegenüber den von den USA domi-nierten Alca-Verhandlungen, hinsichtlich eines stärke-ren Multilateralismus sowie der Hinwendung zu Posi-tionen der Entwicklungs- und Schwellenländer. DerWandel betrifft die Definition neuer außenpolitischerLeitlinien und Schwerpunkte, an der verschiedeneAkteure beteiligt sind.

Die Akteure:Zwischen Kontinuität und Wandel

Die Außenpolitik ist in Brasilien eine Domäne derExekutive. Im Gegensatz zu den USA kommen inter-nationale Fragen im brasilianischen Kongreß nurselten zur Sprache.13 Dennoch wird die Außenpolitik,wie in anderen großen Demokratien auch, von mehre-ren Akteuren beeinflußt, die eigene Interessen verfol-gen. Das macht eine kontinuierliche Abstimmungüber die Ziele und Inhalte der Außenpolitik erforder-lich. Insofern ist Brasilien »ein seltenes Beispiel fürein Land, das durch offene Debatten einen Minimal-konsens sucht«.14

Die Hauptfiguren der Außenpolitik

Das Ergebnis dieses Zusammenspiels von unterschied-lichen Akteuren und Interessen ist eine von Kontinui-tät und Wandel gekennzeichnete Außenpolitik, anderen Gestaltung im wesentlichen vier Personen betei-ligt sind:

13 Vgl. Hofmeister/Lohbauer, Die Beziehungen zwischenBrasilien und seinen Nachbarstaaten [wie Fn. 8], S. 111.14 Vgl. Danese, Liderazgo brasileño [wie Fn. 1].

Die brasilianische Außenpolitik

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! Der Präsident, Luiz Inácio Lula da Silva,15 ehe-maliger Gewerkschaftsführer und Ikone der Linken,wurde nach drei vergeblichen Versuchen (1989,1994, 1998) am 25. Oktober 2002 mit einer Mehr-heit von 61,3% der Stimmen gewählt. Bei dieserWahl entschieden sich die Brasilianer auch für denWandel in der Außenpolitik. Lula, der keine Fremd-sprache spricht und dem seine Gegner geringeinternationale Erfahrung vorhalten, reiste inseinem ersten Amtsjahr in 26 Länder, in doppelt soviele wie sein Vorgänger. Auf dem globalen Parketttritt er ein für eine gerechtere Weltordnung, fürArmutsbekämpfung und ein neues multilateralesHandelssystem, das die Interessen des Südens be-rücksichtigt. Nach einer langen Phase der relativenAutarkie will der Präsident Brasilien zu einer selbst-bewußten »souveränen Nation machen, die sich deseigenen Gewichts auf der internationalen Bühnebewußt ist«.16 Dies soll nicht im Alleingang gesche-hen, sondern zusammen mit Argentinien und imRahmen eines starken Mercosur, Brasiliens außen-politischem Gravitationszentrum.

! Außenminister Celso Amorim ist ein Berufsdiplo-mat, der an der London School of Economics andPolitical Science promovierte. Er war vormals Bot-schafter in London und schon einmal Außenmini-ster unter dem Übergangspräsidenten ItamarFranco (1993�1994). Amorim verfügt über einelangjährige internationale Erfahrung in der Zu-sammenarbeit mit den Vereinten Nationen und derWTO. Der Außenminister repräsentiert eine eherpragmatisch-konservative Politik und will, wie ersagt, eine »stolze und aktive Außenpolitik« betrei-ben. Amorim ist zuständig für die Außenwirtschaft,für die Verhandlungen mit dem Mercosur, derWTO, der EU und für den Alca-Prozeß. Darüber hin-aus ist er ein überzeugter Multilateralist. Er stehtals Vertreter des Itamaraty für die Kontinuität undVerläßlichkeit der brasilianischen Außenpolitik.

! Marco Aurélio Garcia, der außenpolitische Beraterdes Präsidenten, repräsentiert eine unabhängige,linke Außenpolitik. Er ist ein enger Vertrauter desPräsidenten, war in der Arbeiterpartei PT zehnJahre lang Sekretär für internationale Beziehungen,hat einen akademischen Hintergrund und stammtaus der Stadt Porto Alegre, dem langjährigen Aus-

15 Lula gründete die Arbeiterpartei PT 1980 und war maß-geblich an der Entstehung der Gewerkschaft CUT 1983 betei-ligt.16 Antrittsrede am 1. Januar 2003.

tragungsort des Weltsozialforums. Nach Ansichtvon Garcia betreibt Brasilien unter der RegierungLula »die Politik, die Fernando Henrique Cardosohätte machen sollen«. Voraussetzung dafür seijedoch die Lösung der nationalen Probleme, zudenen vor allem die soziale Frage gehöre. Grund-lage für eine internationale Profilierung ist ihmzufolge eine »souveräne Außenpolitik« mit Schwer-punkt Lateinamerika, aber auch mit dem lang-fristigen Ziel einer multilateralen, gerechteren undsymmetrischer angelegten Weltordnung.17

! Samuel Pinheiro Guimaraes Neto, den FernandoHenrique Cardoso wegen seiner Kritik an der an-gestrebten amerikanischen Freihandelszone Alcaals Leiter des Forschungsinstituts des Itamaratyentließ, wurde unter Lula Generalsekretär fürAußenbeziehungen und ist faktisch stellvertreten-der Außenminister. Der als Vordenker angeseheneBerufsdiplomat war zweimal außenpolitischer Re-gierungsberater (1975 und 1994). Er ist ein entschie-dener Gegner des von den USA dominierten Alca-Projekts und hat sich als Autor zahlreicher Publi-kationen vor allem durch seine kritische Haltungzur Globalisierung einen Namen gemacht. Er giltebenso wie Marco Aurélio Garcia als Befürwortereiner distanzierten Beziehung zu den USA undeiner Außenpolitik mit regionaler Ausrichtung.

Neben dem außenpolitisch sehr engagierten Präsiden-ten hat Brasilien faktisch zwei Außenminister: Präsi-dentenberater Marco Aurélio Garcia und Außen-minister Celso Amorim. Garcia steht außerhalb desItamaraty und ist für schwierige außenpolitischeSonderfragen zuständig, die schnelle Reaktionen ohnelangwierige Abstimmungen erfordern, wie im Falleder Vermittlungen in Bolivien oder Venezuela. Er istLulas »linkes Aushängeschild« und repräsentiert denWandel in den brasilianischen Außenbeziehungen.Außenminister Amorim hingegen vertritt die institu-tionalisierte Außenpolitik des Itamaraty. Er steht fürpragmatische Kontinuität und eine harte Verhand-lungsposition in der internationalen Handelspolitik,insbesondere innerhalb der WTO und im Alca-Prozeß.

17 Interview mit Marco Aurelio García, 29.7.2003, BBCMonitor (London).

Die brasilianische Lateinamerika-Politik

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Außenpolitische Ziele und Schwerpunkte der Regierung Lula

Brasiliens »neue Außenpolitik« ruht auf zwei Grund-pfeilern: (1) Eine offensive und aktive Außenpolitik ininternationalen Foren einschließlich einer ständigenMitgliedschaft im Sicherheitsrat, (2) der globale undregionale »Export« von Lulas Entwicklungsmodell: einlangfristiges politisches Projekt des lateinamerikani-schen »Dritten Weges« zwischen Neoliberalismus undSozialdemokratie, gestützt auf wirtschaftliche Stabi-lität, soziale Gerechtigkeit und partizipative Demo-kratie.

Durch diversifizierte Handelsbeziehungen und eingrößeres Engagement auf der internationalen Bühnebetreibt Brasilien eine globale Außenpolitik mit regio-nalem Fokus. Der außenpolitische Minimalkonsensder Regierung Lula ist die Schwerpunktsetzung Süd-amerika, das Bekenntnis zum Multilateralismus desSüdens und Kontinuität gegenüber Schlüsselpartnernwie den USA und der EU. Die lateinamerikanische undinternationale Süd-Süd-Kooperation ist dabei das wich-tigste außenpolitische Handlungsfeld: »Brasilien suchteine strategische Beziehung zu den Entwicklungs-ländern, Afrika und Südamerika. Wie mit dem Merco-sur in Südamerika will Brasilien auch eine strate-gische Politik mit China, Indien, Rußland und Mexikodefinieren«.18 Ziel ist der Ausbau des multilateralenSystems � insbesondere der WTO und der UN � und in-nerhalb dessen der Aufbau einer Lobby der Schwellen-länder.

Tabelle 1

Handelspartner Brasiliens

Exporte Importe

2002 2003 2002 2003

1. USA USA USA USA

2. NL China Argentin. Argentin.

3. BRD Argentin. BRD BRD

4. China NL Japan Japan

5. Mexiko BRD Italien China

Quelle: Asociación Latinoamericana de Integración (ALADI), Monte-video.

18 Rede von Präsident Lula am 7. November bei seinemBesuch in Südafrika.

Indien und Südafrika spielen für Brasilien als Part-ner eines »Multilateralismus des Südens« und einergerechteren Weltordnung eine immer wichtigereRolle. Die Hinwendung zu Südafrika und zum portu-giesischsprachigen Afrika spiegelt hingegen eher einekulturelle Rückbesinnung auf die eigene Identität als»lateinafrikanisches« Land wider. Ostasien � besondersChina19 und Japan � ist für Brasilien zwar ein bedeu-tender Wirtschaftspartner mit ähnlichen Interessenin der WTO, jedoch wegen der politischen und kultu-rellen Distanz eine Region von eher geringer außen-politischer Relevanz. Brasiliens wichtigster Handels-partner ist die EU (Deutschland), gefolgt von den USA,Argentinien, China und Japan.

Die Ende der achtziger Jahre formulierte These,Brasiliens Außenpolitik sei vor allem Außenwirt-schaftspolitik,20 gilt nicht mehr. Denn das jeweiligeökonomische Gewicht der einzelnen Handelspartnerentspricht nicht ihrer Position in den Außenbezie-hungen, die inzwischen vorwiegend nach politischenKriterien ausgerichtet sind: An erster Stelle steht derMercosur, an zweiter die USA, an dritter die EU und anvierter die neue Allianz mit Afrika.

Die brasilianische Lateinamerika-Politik

»Kernmercosur« und Südamerika

Der Mercosur und im Kern die Allianz mit Argen-tinien ist das zentrale Projekt der Regierung Lula. Inseiner Antrittsrede am 1. Januar 2003 sagte der Präsi-dent: »Die außenpolitische Priorität meiner Regierungist die Schaffung eines politisch stabilen, wohlhaben-den und vereinten Südamerikas, auf der Grundlagevon demokratischen Prinzipien und sozialer Gerech-tigkeit. Um dies zu erreichen, müssen wir uns ent-schlossen für die Revitalisierung des Mercosur ein-setzen«. Das impliziert ein anderes, am europäischen

19 China ist Brasiliens wichtigster Absatzmarkt in Asien.Brasilien nahm bereits 1974 diplomatische Beziehungen zurVolksrepublik auf, die Handelsbeziehungen intensiviertensich aber erst in den neunziger Jahren.20 Schirm, Brasilien: Regionalmacht zwischen Autonomieund Dependenz [wie Fn. 10], S. 30.

Außenpolitische Ziele und Schwerpunkte der Regierung Lula

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Vorbild ausgerichtetes Integrationsmodell mit derKonzentration auf die soziale und politische Dimen-sion der Zusammenarbeit und einen gewissen Ver-zicht auf nationale Souveränität. Brasilien rückteunter Lula erstmals von seiner traditionellen undsogar in der Verfassung verankerten Position derNichteinmischung und absoluten Souveränitäts-wahrung ab. Das wird an drei Merkmalen der brasi-lianischen Außenpolitik deutlich: an der engen Ab-stimmung mit dem argentinischen Nachbarn, an derAkzeptanz supranationaler Institutionen im Mercosurund an der Einflußnahme auf innenpolitische Ent-wicklungen in Südamerika.

Vergleichbar mit der deutsch-französischen Zusam-menarbeit in der EU liefert die Partnerschaft zwischenArgentinien und Brasilien wichtige Integrations-impulse. Grundlage für die Wiederbelebung desMercosur war die Anfang 2003 definierte »strategischeAllianz« der beiden Länder. Im »Konsens von BuenosAires« vereinbarten der argentinische Präsident NestorKirchner und Lula am 16. Oktober unter anderem dieReaktivierung des Mercosur, »nicht nur als Handels-block, sondern auch als Raum für Werte, Traditionenund eine gemeinsame Zukunft«, sowie die Stärkungdes Multilateralismus als Gegengewicht zum Unilate-ralismus der USA.21 Seit der RegierungsübernahmePräsident Kirchners im Frühjahr 2003 demonstriertArgentinien den politischen und wirtschaftlichenSchulterschluß mit Brasilien. Zwischen Kirchner undLula besteht Übereinstimmung in folgenden Punkten:mehr Ressourcen für die Sozialpolitik, Stärkung dernationalen Industrien und gemeinsame Verhand-lungspositionen gegenüber den USA, der EU undinnerhalb der WTO. Der Konsens zwischen beidenRegierungen ermöglichte eine Reihe von Fortschrittenim Integrationsprozeß:! Brasilien stellte Argentinien einen Kredit von einer

Milliarde Dollar bereit.! Beide Länder kündigten an, bilaterale Institute für

Sozial- und Wirtschaftsfragen zu schaffen.! Es entstanden supranationale Institutionen: Tech-

nisches Sekretariat in Montevideo, Revisionsgerichtin Asunción, Ausschuß ständiger Vertreter des Mer-cosur unter Leitung des argentinischen Ex-Präsiden-ten Eduardo Duhalde;22 künftig soll ein Mercosur-Parlament geschaffen werden.

21 »Consenso de Buenos Aires«, Buenos Aires, 16.10.2003.22 Durch diesen Posten wurde er von seinem einstigen poli-tischen »Zögling« Kirchner aus der nationalen argentinischenPolitik abgezogen, auch mit dem Hintergedanken, diesemnicht im Wege zu stehen.

! Brasilien initiierte den Aktionsplan »Mercosur2006«, der den Aufbau einer Zollunion im Laufvon drei Jahren23 und das Ziel vorsieht, Kriterienfür eine künftige Währungsunion zu definieren.Weil der Handel innerhalb des Mercosur an den

brasilianischen Im- und Exporten24 nur einen Anteilvon weniger als 7% hat, ist er für Brasiliens Wirtschaftnicht zentral. Der Mercosur dient Brasilien vorwie-gend im Zusammenhang mit einer regionalen undkontinentalen Entwicklungs- und Verhandlungsstra-tegie: Wirtschaftlich ist er ein Instrument, um diebrasilianische Idee der Süd-Süd-Kooperation zu ver-wirklichen, politisch erweitert er die eigene Verhand-lungsmacht. Darüber hinaus ist die von Lula betriebe-ne Stärkung des Mercosur ein Element reaktiverPolitik im Interesse einer »Verteidigung« gegen einevon den USA dominierte Alca.25 Es liegt im brasiliani-schen Interesse, den Mercosur nicht nur zu vertiefen,sondern ihn auch zu erweitern. Insofern sind die Aus-richtung auf den Mercosur und die außenpolitischeSchwerpunktverlagerung auf Südamerika komple-mentäre Strategien. Durch die bilaterale Allianz mitArgentinien will Brasilien den Mercosur � vergleichbarder Idee eines »Kerneuropas« � zu einem Magneten fürdie Integration ganz Südamerikas ausbauen.

Die Aufnahme des politisch und wirtschaftlichstabilen Chile als gleichberechtigten Partner in denMercosur ist im argentinischen und brasilianischenInteresse. Chile unterzeichnete 1996 mit dem Merco-sur ein Assoziationsabkommen. Das Land ist hinterArgentinien der bedeutendste Handelspartner Brasi-liens in Lateinamerika. Allerdings steht Chile demBeitritt des von Brasilien dominierten und vergleichs-weise protektionistischen Mercosur reserviert gegen-über. Statt Mitglied im Mercosur zu werden, unter-zeichnete Chile Freihandelsabkommen mit der EUund den USA. Auch aufgrund der unterschiedlichenWirtschaftspolitik26 ist in nächster Zeit kein Beitritt zuerwarten.

23 Etwa 90% der Waren sind bislang in die ZollunionMercosur einbezogen.24 Der Handel ging innerhalb des Mercosur zwischen 2001und 2002 von 20% auf nur 11% zurück.25 Vgl. Marco Aurélio Garcia, Brazilian Future, in: OpenDemocracy, 17.7.2003.26 Die chilenische Wirtschaft ist weitaus stärker liberali-siert als die brasilianische. Zudem hat Chile einen einheit-lichen Außenzoll von 6%, der Mercosur hingegen nochimmer Außentarife von bis zu 20%.

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Die Integration der Andengemeinschaft ist einelangfristige brasilianische Strategie.27 Geplant ist eineFreihandelszone zwischen dem Mercosur und derAndengemeinschaft, auf die sich beide Ländergruppenin einem Abkommen vom 16. Dezember 2003 einig-ten. Hinter dem Plan steht ein wirtschaftliches Inter-esse, da der Mercosur als Markt in seiner jetzigen Kon-stellation für Brasilien zu klein und auf den ohnehinindustrialisierten Südteil des Landes begrenzt ist. Ausbrasilianischer Perspektive bietet der Mercosur nurdann eine effiziente Entwicklungsstrategie, wenn esgelingt, angrenzende Länder zu assoziieren, um denbrasilianischen Nordosten zu erschließen. Vor allemdas Amazonasgebiet, das durch Grenzen mit Kolumbi-en, Peru und Venezuela geteilt ist, die Hälfte des brasi-lianischen Territoriums ausmacht und ein Drittel allerRegenwälder der Welt umfaßt, ist durch seine enor-men Ressourcen ein Raum des gemeinsamen wirt-schaftlichen Interesses.

Bisher ist die Andengemeinschaft mit einem Anteilvon weniger als 2% am brasilianischen Außenhandelwirtschaftlich kaum relevant. Deshalb sollen durchgemeinsame Infrastrukturprojekte parallel zu denbevorstehenden Freihandelsverhandlungen die Vor-aussetzungen für eine wirtschaftliche Verflechtunggeschaffen werden. Diesem Ziel und der engerenpolitischen Abstimmung in der Region diente imAugust 2000 der erste Südamerika-Gipfel in Brasilia.Die Treffen der von Hugo Chávez als »Zwölf Apostelder Integration« bezeichneten südamerikanischenPräsidenten haben sich als reguläres Forum in dersüdlichen Hemisphäre bewährt. Die Staatschefs ver-einbarten eine Reihe gemeinsamer Projekte im bisherkaum erschlossenen Anden- und Amazonasraum. Ko-ordiniert werden die Infrastrukturvorhaben von dereigens geschaffenen IIRSA.28 Die Institution hat ihrenSitz in Brasilia und wird finanziert von regionalenEntwicklungsbanken wie der InteramerikanischenEntwicklungsbank (Banco Interamericano de Desarrollo,BID) und der Corporación Andina de Fomento (CAF).

Dahinter steht eine Zukunftsvision für die gesamteRegion. Unter brasilianischer Federführung sollen derAnden- und Amazonasraum an den »harten Kern«, denMercosur, angebunden werden. In gewisser Weise ver-gleichbar mit der Politik der EU gegenüber den ost-europäischen Kandidaten zielt Brasilien darauf ab, die

27 Das Projekt eines vereinten Südamerika wurde erstmalsim Oktober 1993 vom damaligen Staatschef Itamar Francoformuliert.28 Iniciativa para la Integración de la InfraestructuraRegional Suramericana.

instabilen Andenländer auf einen künftigen Beitrittzum Mercosur vorzubereiten. Im Sinne dieser Heran-führungsstrategie ist zunächst die Assoziation mittelseines Freihandelsabkommens und ein engerer poli-tischer Dialog geplant.! Wirtschaftliches Engagement: Erste Schritte zur

Anbindung der Andenstaaten an den Mercosurwaren 1996 die Assoziation des Mercosur mitBolivien und Chile und im August 2003 mit Peru.29

Ein Leitmotiv war dabei auch die Öffnung desMercosur zum pazifischen Raum. Chile und Perugehören beide der Apec an.

! Politisches Engagement: Es besteht in der Ein-flußnahme Brasiliens auf Bolivien, Kolumbien undVenezuela mit dem Ziel, diese Problemstaaten zustabilisieren. Beispielhaft hierfür sind die Grün-dung der Gruppe der Freunde Venezuelas unterbrasilianischer Federführung, die Unterstützungeines Friedensprozesses in Kolumbien und dieVermittlung bei der Regierungskrise in Bolivien.

Vermittlung inlateinamerikanischen Problemstaaten

Unter Lula hat Brasilien seine Haltung revidiert,interne politische Angelegenheiten den Nachbar-staaten zu überlassen. Neu ist das brasilianischeAngebot, zwischen den verhärteten innenpolitischenFronten in Kolumbien und Venezuela zu vermitteln,neu auch die Einmischung während der Regierungs-krise in Bolivien und das Engagement im politischisolierten Kuba. Die Position der brasilianischen Regie-rung gegenüber Fidel Castro und Hugo Chávez istdurchaus ambivalent: Auf der einen Seite übt Lulamäßigenden Einfluß auf die Präsidenten Kubas undVenezuelas aus. Auf der anderen Seite besteht zubeiden Linksregierungen eine geringe ideologischeAffinität, die gegen eine neutrale Rolle Brasiliens inden beiden Ländern spricht. Ähnliches gilt für Kolum-bien. Aufgrund seiner Weigerung, die linken Guerilla-gruppen FARC und ELN als terroristische Vereinigun-gen anzuerkennen, hat sich Brasilien im Gegensatz zuden meisten Staaten des Kontinents nicht zugunstender Regierung Uribe positioniert. Ob das brasiliani-sche Engagement in diesen lateinamerikanischen Pro-blemstaaten konfliktregulierend wirkt, hängt davonab, ob die Regierung auf die ideologische Ausrichtung

29 Der Assoziationsvertrag wurde am 25. August unterzeich-net.

Außenpolitische Ziele und Schwerpunkte der Regierung Lula

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der linken Regierungspartei PT mehr Wert legt als aufden Grundsatz der diplomatischen Neutralität.

Annäherung an Kuba. Die brasilianische Regierunghat enge historische Verbindungen zum kubanischenStaats- und Parteiapparat. Präsidialamtschef JoséDirceu, der faktisch die Rolle eines Premierministersspielt, verbrachte die Zeit während der brasilianischenMilitärdiktatur im kubanischen Exil. Lula pflegt mitFidel Castro seit vielen Jahren eine Männerfreund-schaft. Sein Berater für soziale Themen, der Befrei-ungstheologe Frei Betto, führte Mitte der achtzigerJahre ein langes, später veröffentlichtes Interview mitFidel Castro. Aufgrund der historischen Sympathienfür die kubanische Revolution lehnt die RegierungDruckmittel und Sanktionen als Strategie zur Demo-kratisierung Kubas ab. Außenminister Celso Amorimzufolge sei die beste Form des Umgangs mit Kuba,einschließlich Fragen der Menschenrechte, »nichtIsolation, sondern Kooperation«.30 Um die Zusammen-arbeit zu stärken, reiste Lula Ende September 2003nach Kuba, begleitet von einer bedeutenden brasi-lianischen Unternehmerdelegation. Der Moment warschlecht gewählt: Nach der Repressionswelle und seitder erneuten Anwendung der Todesstrafe im Frühjahr2003 war Castro international isoliert. Sogar dieBeziehungen mit Kubas wichtigem WirtschaftspartnerEuropa hatten einen historischen Tiefstand erreicht.In dieser Situation instrumentalisierte Fidel Castroden Besuch Lulas, des »Freundes Kubas und des Revo-lutionsführers«,31 zur Stärkung seiner Legitimationnach innen. Auch ökonomisch war der Besuch fürKuba hilfreich: Beide Länder unterzeichneten zwölfbilaterale Abkommen (u.a. einen Vertrag über Erdöl-förderung). Außerdem stellte Brasilien einen Export-kredit in Höhe von 400 Millionen Dollar in Aussicht.

Engere Beziehungen zu Venezuela. Bis vor kurzemhaben sich beide Länder kaum beachtet. Mit einemAnteil von weniger als 2% am Gesamthandel beiderLänder spielt Wirtschaftskooperation im brasilianisch-venezolanischen Verhältnis kaum eine Rolle. Es be-steht aber Interesse an verstärkter Kooperation imErdölsektor, der für beide Partner von strategischerBedeutung ist. Präsident Chávez möchte Brasilien undArgentinien als Partner für sein Projekt eines latein-amerikanischen Erdölunternehmens »Petroamérica«gewinnen. Eine Assoziation oder ein Beitritt des Erdöl-

30 Zit. nach O Estado de São Paulo, 19.9.2003.31 Zit. nach Granma (Havanna), 27.9.2003.

staates Venezuelas zum Mercosur ist für Brasilienauch im Sinne der erwünschten Integration des nörd-lichen Südamerikas von Vorteil.

Um sich international zu profilieren, startete dieneue Regierung Lula am 24. Januar 2003 ihre ersteaußenpolitische Initiative und gründete die »Freund-schaftsgruppe Venezuela« mit dem Ziel, den OAS-Gene-ralsekretär César Gaviria zu unterstützen. Mitgliederder Gruppe sind Brasilien, Chile, Mexiko, Portugal,Spanien und, im Anschluß an Konsultationen mit derRegierung Bush, auch die USA. Die von Chávez beab-sichtigte Aufnahme weiterer Staaten wie Frankreich,Rußland oder China scheiterte am Einspruch derbrasilianischen Seite. Die »Freundschaftsgruppe Vene-zuela« war maßgeblich am Zustandekommen derbeiden Verträge über eine friedliche Konfliktlösungzwischen Regierung und Opposition im Februar undMai 2003 beteiligt, hat seither aber an Bedeutungverloren.

Bei einem Besuch in Caracas im August 2003 mach-te Lula auch seinen persönlichen Einfluß auf Chávezgeltend. Zwar betonte er, der Konflikt zwischen Oppo-sition und Regierung sei eine »interne Angelegenheit«Venezuelas, überzeugte aber den Präsidenten von derNotwendigkeit, die Verfassung einzuhalten und einAbberufungsreferendum zu akzeptieren, wenn sichauch die Opposition an die Regeln hält. Die Vermitt-lung Brasiliens trug zweifellos dazu bei, daß sichbeide Lager auf ein neues Verfahren für ein Abberu-fungsreferendum des Präsidenten einigten, das frühe-stens im ersten Halbjahr 2004 stattfinden könnte.Die Anbindung Venezuelas an den Mercosur dürfteerst dann anstehen, wenn die schwierigen innen-politischen Verhältnisse im Land geklärt sind.

Brasiliens Haltung im Kolumbien-Konflikt. ImMittelpunkt der Beziehungen zu Kolumbien stehenSicherheitsfragen. Brasilien hat mit dem Land einegemeinsame, 1644 km lange und nur schwerkontrollierbare Grenze. Obwohl die Präsidentenunterschiedliche politische Positionen repräsentieren,kam es im Zuge von zwei gegenseitigen Staatsbesu-chen (Álvaro Uribe im März 2003, Lula im September)zu einer Annäherung zwischen beiden Ländern inFragen der Sicherheit. Es gibt schon seit Jahren einenDialog über die Bekämpfung des Rauschgifthandelsund über Grenzprobleme. Im Juli 2003 tagte in Bogotáerstmals eine Arbeitsgruppe zur Bekämpfung von

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Kriminalität und Terrorismus.32 Brasiliens Haltung imKonflikt zeichnete sich bisher durch vorsichtige Kritikam »Plan Colombia«33 aus. Ende 2003 ergriff Brasilienerstmals eine Initiative zur Befriedung des Nachbar-staates. Die Brasilianer boten an, auf ihrem Territo-rium unter Aufsicht der Vereinten Nationen Gesprä-che zwischen FARC und kolombianischer Regierungabhalten zu lassen. Da Brasilien weder die FARC nochdie ELN als terroristische Vereinigungen einstuft, istdas Land aus Sicht der Guerillagruppen in dem seitJahrzehnten andauernden bewaffneten Konflikt einerder wenigen Staaten, die sich neutral verhalten.

Regierungskrise in Bolivien. Die blutigen Unruhenin Bolivien im Herbst 2003 berührten auch die Inter-essen der Nachbarstaaten und Mercosur-PartnerArgentinien und Brasilien. Gewissermaßen hatteBrasilien die gewaltsamen Protestaktionen in Boliviengegen die Verschiffung von Erdgas über chilenischeHäfen34 und den geplanten Verkauf an die USA undMexiko ausgelöst. Brasilien war bis vor kurzem Haupt-abnehmer von bolivianischem Naturgas, dem wich-tigsten Rohstoff des Landes. Als Brasilien Erdgas-vorkommen vor der eigenen Küste entdeckte und dieImporte aus Bolivien zurückgingen, versuchte dieRegierung, neue Märkte in den USA und Mexiko zuerschließen. Als assoziiertes Mitglied des Mercosurist Bolivien an die Demokratieklausel des Bündnissesgebunden. Insofern war die argentinisch-brasi-lianische Einmischung in die gewaltsame Auseinan-dersetzung zwischen bolivianischer Regierung undOpposition legitim. Unmittelbar vor dem Rücktrittvon Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada am 17. Ok-tober 2003 reisten Marco Aurélio Garcia und einVertreter des argentinischen Außenministeriumsnach La Paz. Ihre Vermittlungsbemühungen trugendazu bei, den Präsidenten zum Rücktritt zu bewegenund die Krise beizulegen. Während eines folgendenBesuchs in La Paz stellte Außenminister Amorim dembolivianischen Interimspräsidenten Carlos Mesa neueKredite für die Verbesserung der Infrastruktur in Aus-sicht, ferner den weiteren Kauf bolivianischen Erd-

32 Auf der Tagung wurde u.a. die Zusammenarbeit zwischenPolizei- und Sicherheitskräften beider Länder beschlossen.33 Der Plan Colombia wurde 1998 als Anti-Drogen-Programmverabschiedet, zielt jetzt aber mit Unterstützung der USA aufdie militärische Bekämpfung des »Narcoterrorismus«.34 Seitdem Bolivien im Pazifikkrieg (1879�1883) gegen Chileden Zugang zum Meer verlor, besteht ein latenter Konfliktmit dem Nachbarstaat und ebenfalls assoziierten Mercosur-Mitglied.

gases sowie einen Schuldenerlaß. Bei Gesprächenwährend des Iberoamerikanischen Gipfeltreffens, dasMitte November 2003 in Bolivien stattfand, übte Präsi-dent Lula mäßigenden Einfluß auf den indigenenOppositionsführer Evo Morales aus, indem er ihn zurEinhaltung demokratischer Spielregeln ermahnte.35

Anerkannte regionale Vormachtstellung?

Brasiliens außenpolitische Fokussierung auf Südame-rika ist eine relativ neue Politik, die Mitte der acht-ziger Jahre durch den Integrationsprozeß mit Argen-tinien ihren Anfang nahm und sich in den neunzigerJahren auf die übrigen Staaten der Region erstreckte.Die Verlagerung auf die eigene Region ist »das Ergeb-nis einer neuen Interdependenz und Integration, inder sich Brasiliens führende Rolle in Südamerika kon-solidiert«.36 Dieser Trend wird von den Nachbarn zwarüberwiegend wohlwollend, aber auch mit einer SpurArgwohn verfolgt. Einerseits wünschen sie eine brasi-lianische Führung als Stabilitätsgarantie und Gegen-gewicht zu den USA, andererseits kritisieren sie denFührungsanspruch immer wieder scharf, sobaldeigene Interessen betroffen sind (zum Beispiel derargentinische Wunsch nach einem ständigen Sitz imSicherheitsrat der Vereinten Nationen). Der Vorwurf,Brasilien betreibe einen »Subimperialismus«, ist inArgentinien, aber auch in den Andenländern hin undwieder zu hören.

Dabei akzeptiert vor allem Argentinien eine brasi-lianische Führungsrolle in Südamerika. Der privile-gierte Status als wichtigster Partner der Regional-macht mildert den Einflußverlust, den das Land nachder Finanzkrise vom Dezember 2002 erlitten hat.Wenn es um die Definition weiterer Integrations-schritte im Mercosur geht, erwartet Argentinien vonseinem bedeutendsten Handelspartner geradezu eineFührungsrolle. Diese Erwartung überlagert inzwi-schen das traditionelle Rivalitätsempfinden der Argen-tinier gegenüber Brasilien. Gleiches gilt für die Anden-länder Bolivien, Ecuador und Peru und, weniger aus-geprägt, auch für Venezuela. Hingegen erkenntKolumbien die brasilianische Führungsrolle in Süd-amerika nur in dem Maße an, in dem sie der engenAllianz mit den USA nicht im Wege steht.

35 Zit. nach BBC Monitoring (London), 18.11.2003.36 Hofmeister/Lohbauer, Die Beziehungen zwischen Brasilienund seinen Nachbarstaaten [wie Fn. 8], S. 143.

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Multilateralismus des Südens:Allianz der Schwellenländer

Bereits Lulas Amtsvorgänger, der ehemalige Depen-denztheoretiker Fernando Henrique Cardoso, hattesich als ein überzeugter Multilateralist erwiesen undBrasiliens Ansehen in der Welt gestärkt. Durch dieBeteiligung an Friedenseinsätzen und die Präsenz inzahlreichen Institutionen spielt Brasilien seit vielenJahren eine aktive Rolle in den Vereinten Nationen.Unter der Regierung Lula profiliert sich Brasilien als»strategischer Partner in der Welt der Entwicklungs-länder«37 und verfolgt dabei vier Ziele:

(1) Aufnahme Brasiliens in den Sicherheitsrat derVereinten Nationen. Seit etwa zehn Jahren strebtBrasilien einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat an.Unterschiedliche Regierungen suchten für dieses ZielVerbündete und bemühten sich darum, andereStaaten von der Notwendigkeit einer brasilianischenMitgliedschaft zu überzeugen. Auch Lula wirbt beiseinen Auslandsbesuchen unermüdlich für die Erwei-terung des Sicherheitsrates. Gleichzeitig sucht er eineInteressenallianz mit anderen Anwärtern, wie zumBeispiel Deutschland, das 2004, zur gleichen Zeit wieBrasilien, nichtständiges Mitglied des Sicherheitsratesist. Die Reform der Vereinten Nationen erörterte derbrasilianische Präsident am Rande der Vollversamm-lung im September 2003 mit Bundeskanzler GerhardSchröder, UN-Generalsekretär Kofi Annan und Frank-reichs Staatspräsident Jacques Chirac.

(2) Stärkung der Süd-Süd-Kooperation mit Indienund Südafrika. Die Regierung Lula forciert den Auf-bau eines Verhandlungs- und Interessenblocks mitIndien und Südafrika. Die drei Länder teilen eineReihe von Gemeinsamkeiten: sie sind Regionalmächte,sie sind repräsentative Demokratien, ihre Wirtschafts-leistung ist etwa gleich hoch (etwa 500 MilliardenDollar jährlich) und sie verzeichnen ein ähnlichgroßes Entwicklungsgefälle.38 Von der Notwendigkeit,gemeinsame Positionen mit Indien und Südafrika zuvereinbaren, sprach Lula öffentlich erstmals auf dem

37 Celso Amorim, Entrevista conjunta à imprensa dos Chan-celeres do Brasil, África do Sul e Índia, Brasilia, 6.6.2003(gemeinsames Interview der Außenminister Brasiliens, Süd-afrikas und Indiens).38 Brasilien und Südafrika gehören zu den Ländern mit derweltweit höchsten Einkommenskonzentration.

erweiterten G-8-Treffen39 im Juni 2003 im französi-schen Evian. Im Anschluß daran bildete sich die neueGruppe der Drei (G-3),40 die langfristig durch Rußlandund durch China, Brasiliens drittwichtigsten Absatz-markt, erweitert werden soll. Neben dem Aufbau einerAllianz von Regionalmächten geht es Präsident Lulaum eine »neue globale Handelsgeographie«41 durchverstärkten Austausch zwischen den Schwellen-ländern. Brasilien selbst hat seine Exporte in Entwick-lungsländer in den letzten fünf Jahren um 35% gestei-gert � ein doppelt so hoher Wert wie jener der Aus-fuhren in die Industriestaaten.42

Kurz nach dem G-8-Gipfel fand in Brasilia das ersteAußenministertreffen mit Indien und Südafrika statt.Während Brasilien zu Südafrika seit Mitte der sieb-ziger Jahre enge Beziehungen pflegt und stets diePolitik Nelson Mandelas und seines Nachfolgers unter-stützt hat, blieben die Beziehungen zu Indien nurschwach ausgeprägt. Der indische AußenministerYashwant Sinha war der erste hochrangige Regie-rungsvertreter, der Brasilien seit der Unabhängigkeitdes Landes besuchte. Er erklärte auf der gemeinsamenPressekonferenz in Brasilia: »Wir wollen, daß die bila-terale Kooperation zwischen Brasilien und Indien,ebenso wie die trilaterale Kooperation mit Südafrika,ein Modell für die Kooperation der Länder des Südenswird«.43 Bei einem Gegenbesuch in Indien Ende Januar2004 bekräftigte Präsident Lula die Absicht, die Bezie-hungen zu Indien auf allen Ebenen auszubauen.

Die drei Länder vereinbarten eine engere Zusam-menarbeit in der Sicherheitspolitik, im Transport-wesen und in der Wissenschafts- und Technologie-Politik. Eine trilaterale und zwei bilaterale Kommis-sionen sollen die Vorhaben umsetzen. Brasiliens neuePartner sind auch an den Mercosur angebunden: Nachdem Vorbild Südafrikas44 schloß Indien am 17. Juni2003 mit dem Bündnis ein Handelspräferenzabkom-men ab. Die drei Länder teilen auch internationaleInteressen: Sie fordern eine ständige Vertretung allerWeltregionen im UN-Sicherheitsrat und einigten sich

39 Es nahmen zwölf Vertreter von Schwellenländern teil, u.a.Brasilien, Mexiko, China, Indien und Südafrika.40 Die »alte« lateinamerikanische G-3 setzt sich aus Kolum-bien, Mexiko und Venezuela zusammen.41 In einer Rede vom 25. Januar 2004 in Indien.42 The Economist (London), 7.2.2004.43 Entrevista Conjunta do Chanceler Celso Amorim e doMinistro de Assuntos Exteriores da Índia (Gemeinsames Inter-view der Außenminister Brasiliens und Indiens), Brasilia,5.6.2003.44 Südafrika unterzeichnete am 15. Dezember 2000 ein Rah-menabkommen mit dem Mercosur.

Multilateralismus des Südens: Allianz der Schwellenländer

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auf eine gemeinsame Verhandlungsposition in derWTO. So gab die Allianz zwischen Brasilien, Indienund Südafrika den Anstoß für die Gründung derGruppe der 20.

(3) Gleichberechtigter Nord-Süd-Dialog: Ein lang-fristiges brasilianisches Ziel ist eine ausgewogenemultipolare Weltordnung. Um diesem Ziel näher zukommen, strebt Brasilien einen politischen »Gegen-pol« der Entwicklungsländer an und fordert den Ab-bau des Protektionismus der Industrieländer. Auf demWeltwirtschaftsforum in Davos und dem G-8-Treffenin Evian forderte Präsident Lula eine neue inter-nationale Handelsordnung ohne Barrieren undSubventionen. Außerdem schlug er vor, nach demVorbild des brasilianischen »Fome Zero« einen inter-nationalen Fonds zum Kampf gegen den Hungereinzurichten, der durch die weltweite Besteuerungvon Waffenverkäufen finanziert werden könne. AlsVerhandlungsführer der Schwellenländer drängtBrasilien in der WTO auf eine weltweite Handels-liberalisierung. Aus brasilianischer Sicht sind Fairneßim Handel und der Verzicht der Industrieländer aufAgrarsubventionen Voraussetzungen für die Entwick-lung der Länder des Südens.

Unter dem Motto »Abbau der Agrarsubventionenin den Industrieländern und keine Einbeziehung derSingapur-Themen«45 formierte sich in Cancún unterbrasilianischer Führung eine Gruppe von 20 Entwick-lungs- und Schwellenländern.46 Diese Allianz desSüdens, seitens Brasiliens von langer Hand vorbereitet,ist das Ergebnis der Abstimmungen mit Indien undSüdafrika. Der Kern der Gruppe (Argentinien, Brasi-lien, China, Indien und Südafrika) erwies sich inCancún als einflußreiche »Gegenmacht« des Südensgegenüber dem maßgeblich durch die EU und die USAvertretenen »Norden«.

Ob aus dieser Konstellation eine neue Bewegungdes Tercermundismo (eine aktive Dritte-Welt-Politik)unter dem Vorzeichen der Globalisierung entsteht,läßt sich noch nicht absehen. Fest steht, daß Brasiliendurchaus in der Lage ist, eine Süd-Süd-Koalition auf-zubauen. Aus diesem Blickwinkel hat das Scheiternvon Cancún für Brasilien auch einen positiven Effekt.Celso Amorim stellte nach der Ministerkonferenz fest:»Obwohl wir kein Ergebnis erzielt haben, konnten wir

45 Investitionen, Handelserleichterungen, öffentliches Be-schaffungswesen, freier Wettbewerb.46 13 lateinamerikanische, 5 asiatische und 3 afrikanischeStaaten beteiligten sich an der G-21.

Respekt für unsere Gruppe gewinnen«. Es ist nicht aus-geschlossen, daß gerade die harte Verhandlungsposi-tion der Gruppe unter brasilianischer Führung dieIndustriestaaten zu Zugeständnissen bewegt. Es kannaber auch sein, daß Brasilien in der WTO zwar dieeigene und die Position der Schwellenländer gestärkthat, dabei aber eine Neuauflage des Nord-Süd-Kon-flikts heraufbeschwor, die das multilaterale Handels-system gefährden könnte.47 Schon jetzt zeichnet sichaußerdem ab, daß die Gruppe in ihrer ursprünglichenKonstellation als dauerhaftes Forum keinen Bestandhaben wird: Zum Teil aus mangelndem Interesse, zumTeil auf Druck der USA wollen sechs lateinamerikani-sche Länder die Gruppe wieder verlassen.

(4) Neue Allianz mit Afrika? Wegen der langen Zeitder Sklaverei, die erst 1888 abgeschafft wurde, sindBrasilien und Kuba die einzigen Länder des amerika-nischen Kontinents, die enge Beziehungen zu Afrikaunterhalten. Nach Nigeria gilt Brasilien als die zweit-größte »schwarze« Nation der Welt: 40% der Brasi-lianer haben afrikanische Vorfahren. Brasilien ver-steht sich als die amerikanische Brücke zu Südafrikaund zum portugiesischsprachigen Teil Afrikas.48 Alsgrößtes lusitanisches Land der Welt ist Brasilien Mit-glied der 1996 gegründeten portugiesischsprachigenStaatengemeinschaft mit Sitz in Lissabon, die alle zweiJahre Gipfeltreffen abhält, aber politisch bedeutungs-los ist.

Nach vielen Jahren der Passivität steht eine Allianzmit afrikanischen Staaten als Baustein der von Brasi-liens Außenpolitik angestrebten Süd-Süd-Achse jetztwieder auf der politischen Agenda. Lula besuchte alserster brasilianischer Präsident zusammen mit einergroßen Unternehmerdelegation im November 2003fünf afrikanische Staaten: São Tomé e Principe, An-gola, Mozambique, Namibia und Südafrika. Zwarwaren die konkreten Ergebnisse (vorwiegend sektor-bezogene bilaterale Abkommen) nicht aufsehenerre-gend, Lulas Staatsbesuche in der Region waren aberein politisches Signal für die Absicht Brasiliens, dieBeziehungen zu den afrikanischen Ländern zu festi-gen, insbesondere durch das Bündnis mit der Regio-nalmacht Südafrika im Rahmen der G-3 und durchgemeinsame Entwicklungsprojekte (z.B. die Aids-

47 Siehe Heribert Dieter, Die Welthandelsorganisation nachCancún: Hält die neue Macht des Südens an?, Berlin: StiftungWissenschaft und Politik, September 2003 (SWP-Aktuell34/03).48 Angola, Cabo Verde, Guinea-Bissau, Mozambique und SãoTomé e Principe.

Außenpolitische Ziele und Schwerpunkte der Regierung Lula

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bekämpfung) sowie generell durch den Einsatz fürkompatible Interessen des Südens im Welthandel.

Die Transatlantische Achse:Die USA und Europa

Gespaltenes Verhältnis zum Partner im Norden

Traditionell unterhielt Brasilien eine Sonderbezie-hung zu seinem einst bedeutendsten Wirtschafts-partner USA. Umgekehrt war Brasilien für die USA alsBrückenkopf in Lateinamerika über viele Jahre einähnlich wichtiger Bündnispartner wie Großbritannienin Europa. Das änderte sich erst in den achtzigerJahren, als die Demokratisierung einherging mit einerRückbesinnung der brasilianischen Außenpolitik aufdie eigene Region und auf Europa. Im Unterschied zuden meisten Staaten Lateinamerikas ist BrasiliensWarenaustausch mit den Mitgliedstaaten der EUheute größer als jener mit den USA. Zeitweilig hatteallein Spanien die USA bei den Direktinvestitionen inBrasilien überholt.

Als wichtigster bilateraler Partner spielen die USAin der brasilianischen Außenpolitik aber noch immereine größere Rolle als Europa.49 Dies ist durch histo-rische Faktoren und den Einfluß der USA auf demamerikanischen Kontinent bedingt, aber auch auf dieAusrichtung der brasilianische Außenpolitik nachpolitischen Kriterien zurückzuführen. Zudem habendie USA als Vetomacht im IWF einen erheblichen Ein-fluß auf die Bedingungen für den Schuldendienst unddamit indirekt auf die Entwicklung der brasiliani-schen Wirtschaft.

Lulas Politik gegenüber den USA ist von Pragmatis-mus und Kontinuität gekennzeichnet. Ein Indiz dafürist, daß die neue Regierung Rubens A. Barbosa, denlangjährigen Botschafter in Washington, nicht aus-gewechselt hat. Im Mittelpunkt der bilateralen Agendader beiden größten Länder des Kontinents stehtweiterhin die Kontroverse über ein Freihandelsabkom-men (Alca), das im Januar 2005 von 34 Staaten unter-zeichnet werden soll. Brasilien und die USA teilen sichzwar bis zum Abschluß der Verhandlungen den Vor-sitz, sie haben sich aber in den entscheidenden The-

49 Siehe hierzu Paulo Roberto De Almeida/Rubens AntonioBarbosa (Hg.), Brazil and the United States in a ChangingWorld: Political, Economic and Diplomatic Relations inthe Regional and International Contexts, Washington, D.C.:Embaixada do Brasil, Juni 2003.

men wie Zugang zu den Märkten, Agrarsubventionenoder Investitionsregeln bislang nicht einigen können.

Das Treffen der amerikanischen HandelsministerEnde November 2003 in Miami brachte kaum Fort-schritte in den multilateralen Verhandlungen. Es wartrotz der Bekundung, man habe einen Kompromißerzielt, ein ähnliches Fiasko wie Cancún, bei dem sichwiederum Brasilien durchsetzte. In der Abschluß-erklärung einigten sich die 34 Staaten auf die ur-sprüngliche Idee Brasiliens, ein allgemeines Rahmen-abkommen zu schaffen. Daraufhin kündigten die USAan, den Alca-Prozeß im Zuge bilateraler Freihandels-abkommen nur mit willigen Partnern fortzuführen,zu denen Brasilien aus Sicht der USA nicht zählt. Diebrasilianische Regierung favorisiert eine »Alca light«,die den Minimalkonsens zwischen allen Länder wider-spiegelt, und plädiert darüber hinaus für ein weiter-gehendes Freihandelsabkommen zwischen den USAund dem Mercosur. Ob sich die USA darauf einlassenwerden, ist bislang unklar. Der Konflikt um die Alcakonnte auch auf dem amerikanischen Sondergipfel immexikanischen Monterrey im Januar 2004 nichtentschärft werden. So weigerte sich die brasilianischeRegierung zum Ärger der USA, das Thema Alca auf dieTagesordnung zu setzen und sich auf den Abschluß-termin 2005 festlegen zu lassen.

Als Land mit einer bedeutenden nationalen, jedochinternational nur in einigen Branchen wettbewerbs-fähigen Industrie kann Brasilien durch ein kontinen-tales Freihandelsabkommen mit den USA weniggewinnen, aber viel verlieren.50 Beide Länder sind inzahlreichen Branchen Konkurrenten und tragen seitvielen Jahren einen Handelsstreit über Orangensaft,Zucker und Stahl aus. Auch politisch könnte Brasiliendurch die Alca in Südamerika Einfluß verlieren. Zu-dem basiert Brasiliens Integrationsprojekt Mercosurauf europäischen Vorstellungen von Integration, dieüber den Freihandel hinausgehen. Für Brasilien stelltsich also die Frage, warum das Land seine Dominanzim Mercosur zugunsten einer Mitgliedschaft ineinem Bündnis riskieren soll, in dem die USA domi-nieren würden.51

50 Siehe Susanne Gratius, Sackgasse ALCA? Das ameri-kanische Freihandelsprojekt zwischen Bilateralismusund Monroe-Doktrin, Berlin: Stiftung Wissenschaft undPolitik, August 2003 (SWP-Studie 33/03).51 Vgl. Walter Mattli, The Logic of Regional Integration,Cambridge 1999, S. 163.

Die Transatlantische Achse: Die USA und Europa

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Aus amerikanischer Sicht hingegen »lohnt es sichnicht, eine Alca ohne Brasilien zu unterzeichnen«.52

Ohne Brasilien sei die Alca kaum mehr als das »Ge-schenkpapier« für bereits bestehende Freihandels-abkommen mit den USA (zum Beispiel im Rahmender Nafta, mit Chile und mit Zentralamerika). Unklarist der Status Südamerikas, insbesondere der Anden-länder, von denen die meisten zwar politisch in denMercosur eingebunden, aber wirtschaftlich von denUSA abhängig sind. Auf der Konferenz der amerikani-schen Handelsminister in Miami kündigten die USAdie Aufnahme bilateraler Freihandelsverhandlungenmit Kolumbien und Peru an. Käme es zum Abschluß,dann hätten diese Länder künftig sowohl eine Frei-handelzone mit den USA als auch � im Rahmen desMercosur � mit Brasilien.

Unabhängig vom gegenwärtigen Handelsstreit, derdie bilateralen Beziehungen belastet, steht hinter demTauziehen auch Rivalität zwischen den Schwergewich-ten des Kontinents.53 Sichtbar wurde dies zuletzt, alsbeide Länder ihre Einreisebestimmungen verschärf-ten. Weil die Brasilianer ebenso wie die übrigenLateinamerikaner in den USA den verschärften Grenz-kontrollen unterliegen, müssen jetzt auch alle US-Bürger bei der Einreise nach Brasilien ein Visum be-antragen und sich fotografieren lassen.54 Gleichzeitignutzt Brasilien das momentane Desinteresse Washing-tons � aufgrund der anstehenden Präsidentenwahlund der außenpolitischen Priorität für den NahenOsten �, um sich in Lateinamerika schärfer zu profi-lieren.

Vor allem in der Südamerika-Politik beziehenWashington und Brasilia politisch unterschiedlichePositionen. Während Präsident Bush Regierungen undGruppen unterstützt, die den USA nahestehen (wieden kolumbianischen Staatschef Álvaro Uribe, denehemaligen bolivianischen Präsidenten Sánchez deLozada oder die Opposition in Venezuela), fördertBrasilien linke, US-kritische Regierungen, die inimmer mehr Ländern der Region die Macht über-nehmen. Deutlich wurde die brasilianische Einfluß-nahme in letzter Zeit mehrfach: Mitten im argen-tinischen Präsidentschaftswahlkampf bevorzugte

52 So der amerikanische Ökonom Jeffrey Schott, zit. nachThe Economist (London), 7.2.2004.53 Handelsbeauftragter Robert Zoellick über Brasilien:»Brasilien ist wie die USA. Es ist ein Land von kontinentalerGröße« (Press Conference, Montreal, 30.7.2003).54 Den Ausschlag für die neuen Einreisebestimmungen gabein richterliches Urteil in Brasilien, das die Gleichbehand-lung verlangt.

Präsident Lula demonstrativ den Kandidaten NéstorKirchner während dessen Besuches in Brasilia. InVenezuela stärkt er Chávez den Rücken, und inBolivien befürwortete er den Rücktritt von Sánchezde Lozada, dessen Nachfolger den USA etwas wenigerfreundlich gegenübersteht.

Trotz aller Differenzen und eines gewissen gegen-seitigen Mißtrauens ist Lulas USA-Politik aber auchvon gutem Willen und von Dialogbereitschaft geprägt.Dies stellte der Präsident bei seinem zweiten Zusam-mentreffen55 mit George W. Bush im Juni 2003 inWashington unter Beweis. Beide Länder einigten sichauf eine »engere und qualitativ stärkere Partnerschaft«durch regelmäßige Konsultationen auf Minister- undVerwaltungsebene in nahezu allen Politikbereichen,von der Außenpolitik bis zur Wirtschafts- und Vertei-digungspolitik. Zwar brachte der Gipfel wenig kon-krete Ergebnisse in der bilateralen Zusammenarbeit,statt dessen kam es aber zu einer vorsichtigen Annähe-rung der Regierungen. In Brasilia wertete man diesenStaatsbesuch als Erfolg.56

Insgesamt ist das Verhältnis zwischen den Regie-rungen in Washington und Brasilia gekennzeichnetvon relativer Distanz, gegenseitiger Akzeptanz auf derinternationalen Bühne und Rivalität in Südamerika.Die USA respektieren zwar unterschiedliche brasilia-nische Positionen in internationalen Foren (beispiels-weise im Irak-Krieg) und erkennen Brasilien als »Mini-Hegemon« im Mercosur an, nicht aber als Führungs-macht in Südamerika. Dort sucht Washington eigenewirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessendurchzusetzen, wie den Kampf gegen den »Narcoterro-rismus«. Vor allem in der Andenregion wird Brasilienvon den USA als potentieller Rivale mit nur bedingtkompatiblen Instrumenten und Zielen wahrgenom-men. Dies gilt auch für die amerikanische Freihandels-zone Alca. Die Differenzen beider Länder in der kon-tinentalen Sicherheits- und Handelspolitik sprechengegen eine bilaterale strategische Allianz. Wahrschein-licher ist eine friedliche Koexistenz auf der Grundlageeiner pragmatischen, aber begrenzten Zusammen-arbeit.57

55 Als bereits gewählter, aber noch nicht amtierender Präsi-dent war Lula schon im Dezember 2002 nach Washingtongereist.56 Marco Aurélio Garcia sprach von einer »sehr positivenEntwicklung der Beziehungen« (zit. nach Agencia Brasil[Brasilia[, 29.7.2003).57 Vgl. hierzu Stefan A. Schirm, Macht, Interessen und Ideenin der US-Politik gegenüber Brasilien, in: Calcagnotto/Nolte,Südamerika zwischen US-amerikanischer Hegemonie und

Außenpolitische Ziele und Schwerpunkte der Regierung Lula

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Brasilien und Europa

Während sich Brasiliens kulturelle Beziehungen zuEuropa auf die einstige Kolonialmacht Portugal kon-zentrieren, sind Deutschland als größter Außen-handelspartner und Spanien als bedeutendster In-vestor seine wichtigsten europäischen Wirtschafts-partner. Als jeweils stärkste Wirtschaftsmächte sindBrasilien und Deutschland die Verhandlungsführerdes künftigen Assoziationsabkommens zwischen derEU und dem Mercosur.

Assoziationsabkommen Mercosur–EU. Seit 1999verhandelt der Mercosur mit der EU über ein durchKooperation und politischen Dialog erweitertes Frei-handelsabkommen, wie es Chile und Mexiko mit derEU bereits unterzeichnet haben. Drei Hindernissestehen einer raschen Einigung im Weg:1. Der Mercosur ist der bedeutendste Agrarexporteur

Lateinamerikas.58 Seine Exporte nach Europa sindzu fast 50% landwirtschaftliche Produkte, die mitden subventionierten heimischen Erzeugnissender EU konkurrieren. 14% des Warenaustausches �darunter Rindfleisch, Zucker, Getreide und Wein �werden als »sensibel« eingestuft. Hier müssen län-gere Übergangsfristen definiert werden.

2. Die EU will neben Warenaustausch auch Regeln fürInvestitionen, Dienstleistungen und öffentlichesBeschaffungswesen in das Abkommen aufnehmen.In diesen sensiblen Bereichen hat der Mercosuraber bisher nicht einmal eine gemeinsame Politikvereinbart.

3. Erst ab 2006 wird der Mercosur eine vollständigeZollunion mit gemeinsamen Tarifen für alle Im-porte sein. Deshalb erfordert ein inter-regionalesAssoziationsabkommen mit Europa zuvor einekomplexe Konsensbildung innerhalb des Mercosur.Dies gilt umgekehrt auch für die EU, die im Mai2004 zehn neue Mitgliedstaaten aufnimmt, dieeinem künftigen Abkommen mit dem Mercosurzustimmen müssen.Trotz dieser Hürden, die den Verhandlungsprozeß

verzögern, stehen die Chancen für eine inter-regionaleAssoziation relativ gut. Nach der gescheiterten WTO-Ministerkonferenz in Cancún wollen die USA und dieEU nun zügig bilaterale Freihandelsabkommen mit

brasilianischem Führungsanspruch [wie Fn. 8], S. 245�260.58 Ein Fünftel der brasilianischen Beschäftigten arbeitenin der Landwirtschaft; Brasilien ist der weltweit viertgrößteAgrarexporteur (Neue Zürcher Zeitung, 10.2.2004).

einzelnen Partnern bzw. Ländergruppen abschließen.In Lateinamerika konkurriert die EU mit den USA umdas eigentliche wirtschaftliche Schwergewicht Merco-sur. Brasilien nutzt diese Situation und spielt die EUund die USA gegeneinander aus. So ist aus Sicht vonAußenminister Amorim »Monogamie beim Handelsehr ungesund. Wir sind deshalb für Polygamie«.59

Eine engere Anbindung Brasiliens an Europa scheintmomentan plausibler als ein Freihandelsvertrag mitden USA. EU und Mercosur einigten sich im Novemberin Brüssel auf einen konkreten Zeitplan, der eineinter-regionale Assoziation für Ende 2004 vorsieht,also noch vor dem geplanten Abschluß der Alca-Ver-handlungen. Die EU unterhält zum Mercosur insoferneine Sonderbeziehung, als ein inter-regionales Abkom-men zwischen zwei Zollunionen in Aussicht steht, dasals Süd-Süd-Nord-Kooperation charakterisiert werdenkann. Aus der Perspektive des Mercosur und Brasiliensbietet ein solches Abkommen neben der Öffnung deserweiterten europäischen Marktes den Vorteil, vomeuropäischen Know-how auf dem Gebiet der Integra-tion zu profitieren.

Iberoamerikanische Partner Portugal undSpanien. Eine zweite, untergeordnete Ebene derBeziehungen zwischen Brasilien und Europa bildetdie Iberoamerikanische Staatengemeinschaft, derLateinamerika, Spanien und Portugal angehören. DasBündnis ist vorwiegend kultureller und entwicklungs-politischer Natur, gleichzeitig aber auch eine Platt-form für neue Initiativen der europäisch-lateinameri-kanischen Kooperation. Spanien und Portugal tretenals Interessenvermittler zwischen beiden Regionenauf. War die einstige Kolonialmacht Portugal traditio-nell Brasiliens Brücke nach Europa, beginnt inzwi-schen Spanien, diese Rolle zu übernehmen. Bei seinemStaatsbesuch in Spanien im Sommer 2003 vereinbarteLula mit dem konservativen Regierungschef José MaríaAznar eine »strategische Allianz«, die auf dem Ibero-amerikanischen Gipfeltreffen Mitte November unter-zeichnet wurde. Diese neue Partnerschaft der tradi-tionell einander distanziert gegenüberstehendenStaaten ist vor allem darauf zurückzuführen, daßSpanien neben den USA der bedeutendste ausländi-sche Kapitalanleger in Brasilien ist.

Deutschland–Brasilien. Die historisch engen Bezie-hungen zu Deutschland sind Brasiliens zweiter bila-teraler Pfeiler in Europa. Deutschland ist mit einem

59 Zit. nach El País (Madrid), 20.11.2003.

Die Transatlantische Achse: Die USA und Europa

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Anteil von 7% immerhin Brasiliens drittwichtigsterHandelspartner. Umgekehrt ist Brasilien Deutschlandsbedeutendster Wirtschaftspartner in Lateinamerika.Bei den Direktinvestitionen in Brasilien steht Deutsch-land ebenfalls an dritter Stelle, erzielt aber bei den inden letzten Jahren getätigten Neuinvestitionen nurnoch den sechsten Rang hinter Portugal.60 Bezogenauf den gesamten deutschen Außenhandel belegtBrasilien den 25. Platz. Aus den engen brasilianisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen kann somit keinZukunftstrend abgelesen werden, sie sind eher einErbe der Vergangenheit.

Fünf Millionen Brasilianer deutscher Herkunft erin-nern bis heute an die Einwanderungswellen des 19.und 20. Jahrhunderts. Im Süden Brasiliens zeugen da-von Städte wie Novo Hamburgo oder Blumenau. SãoPaulo gilt noch immer als größter deutscher Wirt-schaftsstandort außerhalb Europas. Hier wirktendeutsche Tochterfirmen, die rund 15% der brasiliani-schen Industrieprodukte herstellen, am Aufbau einernationalen Industrie mit. Die deutsch-brasilianischenHandelsbeziehungen gehen auf die dreißiger Jahrezurück. Zwischen 1934 und 1938 hatte Deutschlandeinen Anteil von 25% an den brasilianischen Im- undExporten. Maßgeblich für die damalige Allianz warenRüstungsgeschäfte und ideologische Affinitätenzwischen den Nationalsozialisten und dem nationalenProjekt des Estado Novo des brasilianischen PräsidentenGetúlio Vargas.61 In den siebziger Jahren schlossenbeide Länder ein Nuklearabkommen über den Bauvon vier Atomkraftwerken ab, das aber bis heute nichtumgesetzt wurde.

Gegenwärtig hat Deutschland keine besondersengen Beziehungen mehr zu Brasilien. Auch aufgrundder Ausrichtung deutscher Unternehmer auf Ost-europa und Rußland sind die Wirtschaftsbeziehungenzu Brasilien in den letzten Jahren deutlich lockerergeworden. Wie Lulas Staatsbesuch in Berlin im Januar2003 zeigte, begünstigt aber der sozialdemokratischeKonsens der Regierungen Lula und Schröder die poli-tische Zusammenarbeit. Beide Länder teilen eineReihe von gemeinsamen Interessen auf der inter-nationalen Bühne:

60 Peter Nunnenkamp, Ausländische Direktinvestitionen inLateinamerika: enttäuschte Hoffnungen trotz attraktiverStandortbedingungen, in: Lateinamerika Analysen (Ham-burg), 5 (Juni 2003), S. 25�61.61 Erst 1943 gab Brasilien seine Neutralität auf und erklärteauf Drängen der USA als einziges lateinamerikanisches Landseinen Kriegseintritt auf seiten der Alliierten.

! Multilaterales System: Brasilien und Deutschlandstreben einen eigenen ständigen Sitz im Sicher-heitsrat der Vereinten Nationen an und befürwor-ten eine Stärkung anderer multilateraler Institu-tionen wie der Welthandelsorganisation und desInternationalen Strafgerichtshofs.

! Umweltschutz: Deutschland ist der größte Geberund finanziert die Hälfte des Pilotprogramms zumSchutz der brasilianischen Regenwälder. Das ge-meinsame Interesse am Umweltschutz zeigte sichwährend des Umweltgipfels 1995 und vier Jahrespäter auf dem ersten, von beiden Ländern ausge-richteten europäisch-lateinamerikanischen Gipfel-treffen in Rio de Janeiro.

! Assoziationsabkommen EU–Mercosur: BeideLänder betrachten es als politisches Pioniervorha-ben und als Modell der Kooperation zwischen zweiintegrierten Ländergruppen. Als die wirtschaftlichstärksten Staaten mit der größten Bevölkerung sindBrasilien und Deutschland die wichtigsten Ver-handlungsführer im Hinblick auf das Assoziations-abkommen zwischen beiden Blöcken. Ein deutsch-brasilianischer Konsens in den besonders konflikt-trächtigen Themen (z.B. der Landwirtschaft) würdeden Einigungsprozeß beschleunigen.

Ist Brasilien eine regionale Führungsmacht?

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Ist Brasilien eine regionale Führungsmacht?

Unter der Regierung Lula hat Brasilien seine Außen-beziehungen stärker auf internationale Partner undInstitutionen ausgerichtet und sich gleichzeitig alsRegionalmacht profiliert. Ob es Brasilien gelingt, sichin Südamerika langfristig als Führungsmacht zu eta-blieren, ist nicht nur von außenpolitischen Faktorenabhängig, sondern auch von internen Bedingungenwie der wirtschaftlichen und politischen Konsolidie-rung des Landes oder aber von seiner Vorbildfunktionin der Region. Im folgenden werden Brasiliens Füh-rungsqualitäten anhand einer Reihe innen- undaußenpolitischer Kriterien bewertet:1. Militärische Fähigkeiten (gemessen an der Zahl

der Streitkräfte, der Beteiligung an internationalenMissionen und der Höhe der Verteidigungsausga-ben).

2. Wirtschaftliches Gewicht und Potential (gemessenam BIP, dem Binnenmarkt, der Investitionstätigkeitund dem Diversifikationsgrad der Handelsbezie-hungen).

3. Entwicklungsstand (gemessen an der Einkommens-verteilung, am Bildungsniveau und am Technolo-giestand).

4. Legitimation und Stabilität (gemessen an der Ein-haltung demokratischer Spielregeln, dem Gradder Partizipation und der Rechtsstaatlichkeit).

5. Grad des Selbstbewußtseins und der Globalisierungder Außenpolitik (gemessen an einer aktiven Rollein und außerhalb der eigenen Region).

Potentielle Militärmacht Brasilien

Brasilien hat nach dem Ende der Militärdiktatur ver-traglich auf die Herstellung und Verbreitung von bio-logischen, chemischen und atomaren Massenvernich-tungswaffen verzichtet. Im Unterschied zu anderenRegionalmächten wie Indien ist das Land deshalbkeine Bedrohung für die Nachbarstaaten und die Welt.Umgekehrt muß Brasilien auch keinen zwischenstaat-lichen Krieg befürchten. Dennoch ist Brasilien einepotentielle Atommacht, da das Land über bedeutendeUranvorkommen verfügt und derzeit erwägt, das inden achtziger Jahren suspendierte Nuklearprogrammzu friedlichen Zwecken fortzusetzen.

Trotz der geringen externen Bedrohung verfügtBrasilien über eine bedeutende Militärmacht: mit314 000 Mann � 200 000 Heer, 64 000 Marine und50 000 Luftwaffe � hat Brasilien die größten Streit-kräfte Lateinamerikas. Die Höhe der Militärausgabenentsprach mit 10,7 Milliarden US-Dollar im Haushalts-jahr 200262 jener Israels oder Taiwans. In Lateiname-rika entfällt ein Drittel der Militärausgaben auf Brasi-lien, das im internationalen Vergleich mehr für seineVerteidigung ausgibt als Länder wie Spanien, Austra-lien oder Kanada.

Brasilien hat noch immer eine bedeutende Militär-industrie und war in den achtziger Jahren der elft-größte Waffenexporteur der Welt.63 Heute ist Brasilienkein bedeutender Waffenlieferant mehr und liegt miteinem Militärbudget von weniger als einem Prozentdes BIP im weltweiten Vergleich auf dem niedrigstenNiveau.64 Nach dem Ende der Militärdiktatur 1985und der Überwindung der Rivalität mit Argentinienhaben die brasilianischen Streitkräfte als politischerMachtfaktor an Bedeutung verloren. Sie erfüllen vorallem drei Aufgaben:1. Internationale und regionale Friedenssicherung:

Seit 1947 nahmen brasilianische Soldaten an mehrals 20 Friedenseinsätzen der Vereinten Nationenund der OAS teil (u.a. im Kongo, in Angola, Mozam-bique, Osttimor und Zypern). Derzeit sind 128 brasi-lianische Soldaten an UN-Missionen beteiligt.

2. Kontrolle des Amazonasgebiets und Einrichtungeines 1,4 Milliarden Dollar teuren militärischenSystems zur Kontrolle des Amazonasraums (SIVAM)sowie zur Bekämpfung des Drogenhandels, der ille-galen Goldsuche und des Terrorismus an den Gren-zen zu Kolumbien, Venezuela und Peru.65 Die Kon-trolle und Verteidigung des Amazonasraums be-

62 Laut International Institute for Strategic Studies, Depart-ment of Defense.63 Nach Angaben des Stockholm International Peace Re-search Institute (SIPRI) gingen zwischen 1985 und 1989 40%der brasilianischen Waffenexporte in den Irak.64 Kolumbien hat mit 5% am BIP den proportional größtenMilitäretat Lateinamerikas.65 Vgl. SIPRI, Survey of Military Expenditure in SouthAmerica � Background Paper for the SIPRI Yearbook 2003.

Regionale Wirtschaftsmacht

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trachtet Brasilien zur Zeit als Schwerpunkt dernationalen Sicherheitspolitik.66

3. Interne Ordnungsfunktion: Das brasilianische Mili-tär hat zwar in Städten wie Rio de Janeiro oder SãoPaulo bereits Ordnungsfunktionen wahrgenom-men, um eine Eskalation der Bandenkriege in denArmenvierteln, den Favelas, zu verhindern. SolcheEinsätze sind jedoch die Ausnahme und nicht dieRegel.Zusammengefaßt ist Brasilien keine Militärmacht

von Weltrang, aber aufgrund der Truppenstärke undder Höhe der Verteidigungsausgaben ist sein Potentialvon nicht zu unterschätzender regionaler Bedeutung.Weil die Wahrscheinlichkeit auf absehbare Zeit sehrgering ist, daß zwischenstaatliche Konflikte in Latein-amerika kriegerisch ausgetragen werden, ist dieSicherheitspolitik für Brasilien kein wirksames Instru-ment, um innerhalb der Region Führung auszuüben.Insofern dient Brasiliens Militär außer der Erfüllunginterner Aufgaben und der Beteiligung an multi-nationalen Einsätzen im Rahmen der VereintenNationen und der OAS höchstens der Profilierungals künftige Großmacht.

Regionale Wirtschaftsmacht

Mit einem Anteil von über einem Drittel an der regio-nalen Wirtschaftsleistung und dem größten poten-tiellen Binnenmarkt mit 175 Millionen Menschen istBrasilien die größte lateinamerikanische Wirtschafts-macht. Als Schwellenland, das ein enormes Wohl-standsgefälle aufweist, ist es jedoch im Unterschied zuden USA im Norden des Kontinents kein ökonomi-scher Stabilitätsanker. Brasilien gilt internationalnicht als der verläßlichste Partner. So hat Brasilienseit 1941 im Zuge verschiedener Wirtschaftsprogram-me neun unterschiedliche Währungen gehabt. Esdauerte bis 1994, bis Brasilien durch den von Wirt-schaftsminister Cardoso eingeführten »Plano Real«eine verhältnismäßig hohe Währungsstabilität er-reichte. Fünf Jahre später kam es jedoch schon wiederzur Abwertung des Real.

Zwar erhält Brasilien den größten Anteil des inter-nationalen Kapitalzuflusses nach Lateinamerika, aberdas Land belegt hinsichtlich der Standortattraktivität

66 Siehe Wilhelm Hofmeister, Brasilien und seine Nachbarn:regionaler Führungsanspruch in Südamerika, Rio de Janeiro,September 2003 (Europa América Latina, Analysen und Be-richte 13).

Tabelle 2

Brasiliens Außenhandel (in %)

Exporte Importe

2002 2003 2002 2003

EU 25 25 27,7 26,8

Deutschland 4,2 4,4 9,2 8,9

Spanien 1,8 2,1 2,1 2,8

USA 25,8 24,1 21,6 19,4

Lateinamerika 16,3 18,2 17,4 17,4

Mercosur 5,4 7,5 11,8 11,9

Argentinien 3,8 6,0 10.0 9,8

Asien 14,5 k.A. 16,9 k.A.

China 4,2 6,5 3,4 4,4

Afrika 3,9 k.A. 5,7 k.A.

Quellen: Ministério do Desenvolvimento Indústria e Comércio undSistema de Informaciones de Comercio Exterior, Brasilia.

bei ausländischen Investoren nur den vierten Ranghinter Chile, Costa Rica und Uruguay.67 Dafür, daßBrasilien ein potentieller wirtschaftlicher Risikofaktorist, sprechen auch die Auslandsverschuldung in Höhevon 210 Milliarden US-Dollar (die Pro-Kopf-Verschul-dung beträgt 1200 Dollar) und die immer noch starkeProtektion der nationalen Industrie. Außerdem befin-det sich Brasilien seit längerer Zeit in einer leichtenRezession. Das schwache Wachstum, das nach An-gaben der lateinamerikanischen Wirtschaftskommis-sion CEPAL68 im Jahre 2003 nur 0,1% betrug, schwächtandere positive Kennzeichen ab, wie zum Beispiel dieausgeglichene Außenwirtschafts- und Leistungsbilanz.Die wirtschaftliche Flaute führte zu einer hohen Ar-beitslosigkeit, die in den wichtigsten Industriestädtendes Landes offiziell 12,4% beträgt. Ein extrem hoherZinssatz von fast 26% erhöhte die private Binnen-verschuldung und blockierte Investitionen im Inland.Trotz einer rigiden Politik der Inflationsbekämpfunglag die Preissteigerungsrate 2003 bei 10%. Angesichtsder Auflage des IWF, eine restriktive Haushaltspolitikzu betreiben,69 ist auch in diesem Jahr kein höheresWachstum in Sicht. Dem strengen Sparkurs und derErfüllung des Schuldendienstes, der aus Lulas eigenenReihen als neoliberal kritisierten Politik, ist es jedochzuzuschreiben, daß es der Regierung gelungen ist, die

67 Nunnenkamp, Ausländische Direktinvestitionen in Latein-amerika [wie Fn. 60], S. 42.68 CEPAL, Balance preliminar de las economías de AméricaLatina y el Caribe, Santiago de Chile 2003.69 Um den Schuldendienst zu leisten, muß Brasilien einenHaushaltsüberschuß von 4% erzielen. 2003 lag der Überschußbei 4,5%.

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Wirtschaft zu stabilisieren und neue Investitionen insLand zu holen.

Zudem ist Brasilien das einzige Land Lateinameri-kas, das auf dem Weltmarkt als »global player« auftrittund über eine ausgewogene Produktions- und Außen-handelsstruktur verfügt. Lediglich Brasilien ist inBranchen wie Flugzeugbau, Stahl, Automobil- undComputerindustrie international konkurrenzfähig.Dies geht einher mit ausgewogenen Handelsbeziehun-gen, die sich gleichermaßen auf die EU, die USA,Lateinamerika und Asien richten. Insofern ist Brasilieneine regionale Wirtschaftsmacht.

Mittlerer Entwicklungsstandmit großem Gefälle

Die Kluft zwischen Arm und Reich macht Brasilien zueinem Schwellenland der Extreme. Den Angaben derWeltbank zufolge ist Brasilien das lateinamerikani-sche Land mit der ungerechtesten Einkommensvertei-lung.70 Selbst im lateinamerikanischen Vergleich weistBrasilien keinen hohen Entwicklungsstand auf. ImHuman Development Index 2003 belegte es nur Rang65 und fiel weit hinter Argentinien, Mexiko, Chileoder Uruguay zurück. Noch immer leben 13% derBrasilianer von weniger als einem Dollar täglich und27,3% von gerade einmal zwei Dollar. Armut undGewalt drücken die Lebenserwartung: Im Durch-schnitt wird ein Brasilianer nur 68 Jahre alt und stirbtacht Jahre früher als ein Kubaner.

Die Konzentration von Einkommen und Landbesitzsowie das krasse Wohlstandsgefälle zwischen demmodernen, industrialisierten Süden und dem armen,unterentwickelten Nordosten ist die eigentliche Ent-wicklungsschwäche Brasiliens. »Belindia«,71 einKontrast so groß wie zwischen Belgien und Indien �verhindert bis heute den Aufstieg des Landes zurglobalen Wirtschaftsmacht. Im brasilianischen Nord-osten sind 49% der Bevölkerung arm, im Süden nuretwa 25%.

Das Einkommens- und Sozialgefälle hat eine großeBinnenmigration bewirkt und vor allem in den süd-lichen Megastädten wie São Paulo und Rio de Janeiroeinen nahezu unkontrollierbaren Anstieg von Krimi-

70 Die reichsten 10% der Bevölkerung besitzen 46,7% desnationalen Einkommens (doppelt so viel wie in Deutsch-land!); zit. nach Reiner Radermacher, FES-Analyse Brasilien,August 2003, S. 13.71 Erfunden hat den Begriff ein brasilianischer Ökonom.

nalität und Gewalt ausgelöst.72 Wie in anderen Län-dern der Region ist der Staat auch in Brasilien schonlange kein Garant für öffentliche Sicherheit mehr. Diebrasilianischen Armenviertel »Favelas« � die meist un-mittelbar neben den Wohnbezirken der Mittel- undOberschicht liegen � sind als Brutstätte der Drogen-mafia und Austragungsort bewaffneter Konfliktezwischen verfeindeten Banden staatsfreie Räume.

Luiz Inácio da Silva gewann die Wahlen mit demVersprechen, in Brasilien einen sozialen Wandeldurchzusetzen und den Hunger abzuschaffen. DerPräsident, der einer armen Familie aus dem Nordostendes Landes entstammt, ist ein Beispiel dafür, daßsozialer Aufstieg in Brasilien möglich ist. Sein Wahl-sieg spiegelt den Mentalitätswandel der konservativenbrasilianischen Elite wider und ihre Bereitschaft, einemoderate soziale Umverteilung auf demokratischemWege zu akzeptieren. Außer für soziale Reformensteht Lula für einen neuen Regierungsstil. Um bei deneigenen Kabinettsmitgliedern den Bewußtseinswandelzu fördern, ordnete er zu Amtsbeginn einen Besuchdes Kabinetts in einer brasilianischen Favela an. DerAnschauungsunterricht vor Ort wurde durch eineReise in den Sertão, die Dürrezone im Nordosten desLandes, fortgesetzt.

Die Regierung steht vor der schwierigen Aufgabe,Armutsbekämpfung und soziale Umverteilung beistagnierenden Finanzen durchzusetzen. Der Zwangzur Begleichung der extrem hohen Außenschuldenläßt kaum Spielraum für zusätzliche Mittel. Trotz desengen Spielraums hat die Regierung für dieses Jahreine siebenprozentige Erhöhung der Sozialausgabenangekündigt. Vier Maßnahmen stehen im Mittelpunktder Sozialpolitik: der sogenannte Nullhungerplan»Fome Zero«, die Verbesserung des Bildungsstands, dieFortsetzung der Landverteilung und die Umverteilungdurch Renten- und Steuerreformen.

Ex-Präsident Henrique Cardoso bezeichnete FomeZero, den nationalen Plan zur Hungerbekämpfung,als »grandiose« Formel.73 Präsident Lula verwendetstatt des abstrakten Begriffs der Armutsbekämpfungdas konkrete und eher unpolitisch klingende WortHungerbekämpfung. Angeführt von dem Befreiungs-theologen Frei Betto startete die Regierung eine breitangelegte nationale Kampagne für »Fome Zero« undsicherte sich die Unterstützung von brasilianischen

72 Im Jahr 2002 wurden 40 000 Brasilianer ermordet.73 Zit. nach Matthias Matussek, Der Kampf um Guaribas, in:Der Spiegel, 2.6.2003, S. 120�124 (124).

Mittlerer Entwicklungsstand mit großem Gefälle

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Großunternehmern und Prominenten. Der Plan wirdhauptsächlich durch nationale und internationaleSpenden finanziert,74 während der Staat nur geringeMittel zuschießt. Das Programm kommt 1227 Kom-munen zugute, in Form von Lebensmittelkarten,Direkthilfen, Mikrokrediten und Hilfe bei der Land-verteilung; die Hilfen gehen in erster Linie an dieFrauen. Die Durchführung und Verwaltung liegt aufder kommunalen Ebene. Bisher ist die effiziente Um-setzung des Programms jedoch nicht gelungen. Büro-kratische Hürden, Kompetenzgerangel, konzeptionelleFehler und die Knappheit der staatlichen Mittel lassenwachsende Kritik am »Fome Zero« aufkommen. Teiledes Programms wurden inzwischen in ein neues Pro-gramm mit dem Namen »Bolsa Familia« integriert.75

Durch die jahrzehntelange Vernachlässigung desbrasilianischen Bildungssektors entstand einer derfür die weitere Entwicklung des Landes entscheiden-den »Flaschenhälse«.76 Mit 12,7% erreicht der Anteilder Analphabeten noch immer einen regionalenSpitzenwert, und nur sehr wenige Brasilianer gelan-gen zu einem höheren Bildungsstand. Allerdings hatsich die Situation im Bereich der Grundschulbildungin den letzten Jahren verbessert. Durch die staatlicheFörderung armer Familien gelang es der RegierungCardoso, die Einschulquote, die 1990 bei 86% lag, auf97% zu erhöhen. Lula setzt die Politik seines Vorgän-gers fort. Mit dem Programm »Brasil Alfabetizado«sollen bis zum Jahr 2006 rund 20 Millionen Brasi-lianer alphabetisiert werden. Da das Bildungsniveauim internationalen Wettbewerb eine entscheidendeRolle spielt, muß die Regierung vor allem in derWeiterbildung und der wissenschaftlichen Ausbildungim Rahmen der Förderung von Spitzentechnologiengroße Anstrengungen unternehmen, um BrasiliensStellung auf dem Weltmarkt zu verbessern. Es liegtauch am niedrigen Bildungsstand und an der gerin-gen technologischen Innovation, daß die brasi-lianische Volkswirtschaft innerhalb weniger Jahre

74 Die Food and Agriculture Organisation beteiligt sich miteiner Million Dollar an »Fome Zero«. Auch die Interamerika-nische Entwicklungsbank (BID), die Weltbank und der Papstunterstützten das Programm.75 Siehe Wilhelm Hofmeister, Warten auf den Wandel. Daserste Regierungsjahr von Präsident Lula da Silva, in: FocusBrasilien (Rio de Janeiro: Konrad-Adenauer Stiftung),(26.1.2004) 2.76 Rüdiger Zoller, Präsidenten � Diktatoren � Erlöser: Daslange 20. Jahrhundert, in: ders./Walter Bernecker/Horst Pietsch-mann, Eine kleine Geschichte Brasiliens, Frankfurt a.M.: Suhr-kamp, 2000, S. 315.

im internationalen Vergleich vom achten auf denelften Platz zurückgefallen ist.

Die Fortsetzung der von Cardoso initiierten Land-verteilung unter Lula ist für den sozialen Wandelunabdingbar.77 Die Landverteilung ist somit auch diegrößte Herausforderung für die neue Regierung undein entscheidender Gradmesser für ihren Erfolg. NachAngaben des nationalen Agrarinstituts Incra besitzen2% der Brasilianer 56% der Agrarfläche. Von 452 Mil-lionen Hektar fruchtbaren Bodens liegen 184 Millio-nen brach. Die Landfrage konnte von Cardoso nichtgelöst werden und ist auch für Lula ein Problem, weildie Großgrundbesitzer und die Bewegung der Land-losen (MST) zwei gleichermaßen einflußreiche undrivalisierende Lobbys bilden. Die Protestbereitschaftder MST und der Erwartungsdruck auf die Regierungist enorm. Joao Stédile, der Anführer der Landlosen-bewegung, kritisiert die Wirtschaftspolitik der Regie-rung Lula als Fortsetzung des Neoliberalismus undkündigte bereits einen »Krieg gegen die Großgrund-besitzer« an. Die MST steht Lulas Partei, der PT, naheund könnte dem Präsidenten durch ihre Protestaktio-nen und die Fortsetzung der Landbesetzungen gefähr-licher werden als die Kritik aus den Reihen der poli-tischen Gegner.78 Bedient die Regierung aber die Inter-essen der MST,79 riskiert sie einen politisch ebenfallsbrisanten Konflikt mit den Landeigentümern. Einerasche Lösung der Landfrage zeichnet sich somit auchunter der Regierung Lula nicht ab.

Das vierte Element des sozialen Wandel sind dieRenten- und Steuerreformen,80 die 2003 in beidenKammern des Kongresses mit deutlicher Mehrheitbeschlossen wurden. Vor allem die Rentenreformverschafft der Regierung neuen Spielraum für eineErhöhung der Sozialausgaben. Der Anteil des Budgetsfür Pensionsansprüche der brasilianischen Beamtenbeträgt 7% des BIP. Das übertrifft bei weitem denAnteil des Gesamtetats für Gesundheit und Bildung.Jetzt stehen aus brasilianischer Sicht drastische Ein-schnitte bevor: Das Rentenalter wurde um sieben

77 530 000 Familien sollen bis 2006 Land erhalten.78 Vgl. Gilberto Calcagnotto, Die brasilianische Landlosen-bewegung MST und die Regierung Lula: Zwischen Partner-schaft und Konfrontation, Hamburg 2003 (BrennpunktLateinamerika Nr. 19).79 Laut brasilianischer Verfassung kann Landbesitz in be-stimmten Fällen enteignet werden.80 Siehe hierzu Reiner Radermacher, FES-Analyse Brasilien,Bonn, August 2003.

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Jahre erhöht (von 48 auf 55 Jahre bei Frauen und von53 auf 60 Jahre bei Männern). Angesichts einer Steuer-quote von 34% des BIP sieht die Steuerreform keineErhöhung des derzeitigen Satzes vor, sondern eineReihe von Strukturveränderungen wie die geringereBesteuerung von Grundnahrungsmitteln, eine Ent-lastung für kleine und mittlere Unternehmen unddie Verteilung der Steuereinnahmen zugunsten derärmsten unter den 27 brasilianischen Bundesstaaten,für die auch ein regionaler Entwicklungsfonds ge-schaffen wird.

Das vorläufige Ende des Reformstaus stärkte LulasGlaubwürdigkeit im In- und Ausland und vergrößertseinen Spielraum auch in anderen Bereichen. Anderer-seits ist Lulas Sozialpolitik durch begrenzte Mittel unddie Sparauflagen des IWF eher von Kontinuität als vonWandel geprägt. Unabhängig von der sozialen Bilanzder Regierung Lula wird es Jahrzehnte dauern, bis esauch nur annähernd gelingt, das interne Entwick-lungsgefälle abzubauen und eine soziale Umvertei-lung zu erzielen.

Stabile, aber defekte Demokratie

Brasilien ist nicht nur die größte Demokratie Latein-amerikas, sondern zugleich eine der wenigen auf demWege der Konsolidierung. Mit Blick auf die chroni-schen Krisenherde in den benachbarten Andenländernist Brasilien in Südamerika trotz aller Defizite ein Bei-spiel für politische Stabilität. Im Gegensatz zu ande-ren Staaten der Region gab es in Brasilien nur wenigehistorische Brüche: Die Unabhängigkeit von der ein-stigen Kolonialmacht Portugal erfolgte nicht durcheinen Bürgerkrieg, sondern durch Proklamation desdamaligen portugiesischen Thronfolgers Pedro I.Selbst die über zwanzigjährige Militärdiktatur warweniger brutal als in den Nachbarländern.81 Abge-sehen von der kurzen Amtsperiode des wegen Korrup-tion zurückgetretenen Präsidenten Fernando Collorde Mello (1990�1992) hat es in der jüngeren Geschich-te des Landes auch keine populistischen Staatschefsgegeben.

Die Schattenseite langsamer politischer Umwälzun-gen und des graduellen Modernisierungsprozesses istjedoch die Verkrustung sozialer und machtpolitischer

81 So wurde ein eingeschränktes Zwei-Parteien-System eben-so aufrechterhalten wie ein in seinen Rechten eingeschränk-tes Parlament. Auch die Menschenrechtsverletzungen warenweitaus seltener als in Argentinien oder Chile.

Strukturen. Vor diesem Hintergrund markiert dieAmtsübernahme des heutigen Präsidenten, dessenLinkspartei PT jahrzehntelang die Opposition reprä-sentierte, nicht nur das erfolgreiche Ende eines gra-duellen Wandlungsprozesses zur Demokratie, sondernauch einen politischen Neuanfang. An der demokra-tischen Gesinnung des Präsidenten � dem zufolgeDemokratie zwar manchmal schwierig sei, bislangaber nichts besseres für die Ausübung der Machterfunden worden wäre82 � besteht kein Zweifel. DieBrasilianer haben dies in ihrer differenzierten Ein-schätzung der Demokratie honoriert. Im Gegensatzzum vorherrschenden Trend im übrigen Lateinameri-ka unterstützten 2003 nur 35% der Befragten dasdemokratische System, 62% aber befürworteten dieRegierung.83

Mit dem Wahlsieg Lulas erzielte die »einzige Pro-grammpartei Brasiliens«,84 die Arbeiterpartei PT, imOktober 2002 den Durchbruch auf nationaler Ebene.Im Unterschied zu den übrigen brasilianischenParteien85 weist die in zahlreichen Städten undGemeinden regierende PT eine gleichbleibende Zahlvon Mitgliedern vor. Sie ist die einzige politische Kraft,die im ganzen Land einen Apparat unterhält, einesolide Wählerbasis und die Mehrheit im Kongreß hat.Allerdings regiert sie lediglich in drei der 27 Bundes-staaten. Aus diesem Grund entschied sich Lula imRahmen einer in den eigenen Reihen umstrittenenKabinettsumbildung Ende 2003 dafür, die konserva-tive PMDB an der Regierung zu beteiligen.

Trotz des politischen Wandels und der zwanzigJahre währenden demokratischen Stabilität fungiertBrasilien in Lateinamerika weder als demokratischesVorbild noch als »regionale Ordnungsmacht«. Diebrasilianische Demokratie ist mit zahlreichen Defi-ziten behaftet. Zwar schneidet Brasilien besser als diemeisten seiner Nachbarn ab,86 aber in vielen Bundes-staaten des Landes ist die Korruption noch immerein massives Hindernis für die junge Demokratie.Brasilien kann nur mit großem Vorbehalt als demo-

82 Zit. nach »El Universal« (Caracas), 27.8.2003. Das Original-zitat stammt von Winston Churchill.83 Ilona Laschuetza, Ergebnisse des Latinobarómetro 2003,Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (Arbeitspapier).84 Zoller, Präsidenten � Diktatoren � Erlöser [wie Fn. 76],S. 312.85 Parteien in Brasilien verzeichnen eine sehr hohe Mitglie-derfluktuation: Zwischen 1994 und 1998 wechselten 40% derAbgeordneten die politische Partei.86 In der Korruptionsskala von Transparency Internationalbelegte Brasilien 2002 den 45. Platz von 102 Ländern undstand hinter Chile, Uruguay und Costa Rica an vierter Stelle.

Selbstbewußte globale Außenpolitik

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kratischer Rechtsstaat bezeichnet werden: 90% derMordfälle werden niemals aufgeklärt,87 die brasilia-nische Polizei gilt in vielen Landesteilen als korrupt,ineffizient und gewalttätig; die Lage der Menschen-rechte in den Metropolen und im Nordosten desLandes ist teilweise prekär.88 Regierbarkeit und staat-liches Gewaltmonopol werden durch kriminelle Netz-werke gefährdet, die im ganzen Land operieren, vorallem aber in Rio de Janeiro und São Paulo.89 Insge-samt gesehen ist Brasilien zwar eine demokratischeFührungsmacht in Lateinamerika, aber kein Vorbildin Demokratie.

Selbstbewußte globale Außenpolitik

Nach Ansicht der Sicherheitsexpertin Monica Hirstsetzt eine Vormachtstellung in Südamerika die Verän-derung der »Seele« der brasilianischen Außenpolitikvoraus, die geprägt sei von Selbstisolation und Miß-trauen gegenüber den Nachbarstaaten.90 Die Trans-formation hat bereits eingesetzt. Wurde Brasilien inder Vergangenheit oft als introvertiertes Land odersogar als Inselstaat bezeichnet, so hat es sich in denletzten Jahren aus der Isolation mit der Absicht gelöst,die eigenen Interessen wie jene des Mercosur in derRegion und in der Welt selbstbewußter91 zu vertreten.

Unter Lula hat Brasilien den schon von PräsidentCardoso vorbereiteten Schritt zu einer regionalen Füh-rungsmacht vollzogen. Erfolgte die außenpolitischeProfilierung unter seinem Amtsvorgänger noch sehrdiskret, so geschieht sie jetzt offensiv und im Kollek-tivinteresse der Schwellen- und Entwicklungsländer.Weltbankpräsident James Wolfensohn bezeichneteLula bereits als »einen der großen Führer der Welt«.92

87 Zoller, Präsidenten � Diktatoren � Erlöser [wie Fn. 76],S. 315.88 Siehe hierzu u.a. Human Rights Watch, Brazil: Cruel Con-finement, April 2003.89 São Paulo ist gefährlicher als Bogotá: Zwei von zehn Ein-wohnern wurde in den letzten 12 Monaten Opfer einer krimi-nellen Handlung.90 Monica Hirst, La política de Brasil hacia las Américas, in:Foreign Affairs en Español (México), 1 (Herbst�Winter 2001) 3,S. 141�156.91 Der Bundestagsabgeordnete Lothar Mark spricht voneiner »selbstbewußten Außenpolitik«; Lothar Mark, DieWahrnehmung der neuen Rolle Brasiliens in Südamerika ausparlamentarischer Perspektive, in: Calcagnotto/Nolte, Südame-rika zwischen US-amerikanischer Hegemonie und brasiliani-schem Führungsanspruch [wie Fn. 8], S. 270�275 (271).92 Zit. nach BBC Monitoring (London), 18.2.2004.

Seine demokratische Legitimation und breite Anerken-nung innerhalb und außerhalb der Region haben demPräsidenten eine prominente außenpolitische Rollezugewiesen. Dabei wird er von der eigenen Bevölke-rung unterstützt. Umfragen zufolge befürworten 49%der Brasilianer ausdrücklich eine Führungsrolle ihresLandes in Südamerika.93

Durch die Übernahme regionaler Verantwortungkann Brasilien langfristig zum Stabilitäts- und Ent-wicklungsmagneten für die Region werden. Politischübt Lula als linker Politiker einen mäßigenden, demo-kratischen Einfluß auf demagogische Linkspopulistenwie Hugo Chávez in Venezuela oder Evo Morales undFelipe Quispe in Bolivien aus. In wirtschaftlicher Hin-sicht ist die von Brasilien forcierte engere Anbindungder Andenländer an den Mercosur eine sinnvolle Ent-wicklungsstrategie, die dem Ziel eines vereinten Süd-amerikas dient. Gleichzeitig ist diese Politik ange-sichts der Probleme in der nördlichen Grenzregionund der Gefahr einer Ausdehnung krimineller Netz-werke im Interesse der nationalen Sicherheit.

In internationalen Foren ist es Brasilien gelungen,durch Kooperation mit anderen Staaten eigene Posi-tionen glaubwürdig und nachdrücklich zu vertreten.Zusammen mit den neuen Partnern, den Regional-mächten Indien und Südafrika, ist Brasilien ein auf-strebendes Land mit Großmachtanspruch, dessenInteressen und Ideen im multilateralen System stär-kere Beachtung finden. Somit hat Brasilien den Auf-stieg vom »global trader zum global actor«94 vollzogen.

Diese Veränderungen sind auch darauf zurückzu-führen, daß Lulas Handlungsspielraum in der Außen-politik größer ist als in anderen Politikfeldern. Außen-politik ist die Domäne der Regierung, es gibt kauminterne Blockadekräfte, und die finanziellen Kostenfür die Profilierung nach außen sind weit geringer alsjene für die Profilierung nach innen. Aus diesen Grün-den ist die neue brasilianische Außenpolitik von Dyna-mik und einem pragmatischem Wandel zugunsteneiner engeren Süd-Süd-Kooperation gekennzeichnet.

Im Unterschied zur Außenpolitik ist die brasiliani-sche Innenpolitik durch begrenzte Ressourcen undnationale Widerstände stärker von Kontinuität be-stimmt. Scharfe Zungen im eigenen Lager kommen-tieren Lulas Bemühen, stets einen breiten internenKonsens zu suchen, mit der ironischen Bemerkung,

93 Bolívar Lamounier/Amaury de Souza, Relatório de Pesquisa.As elites brasileiras e o desenvolvimento nacional: fatores deconsenso e dissenso, São Paulo 2003, S. 27�29.94 Mark, Die Wahrnehmung der neuen Rolle Brasiliens inSüdamerika [wie Fn. 91], S. 272.

Ist Brasilien eine regionale Führungsmacht?

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die dritte Amtszeit von Cardoso ließe sich ganz gut an.Der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa be-zeichnete Lula doppeldeutig als einen »großen Prag-matiker und brasilianischen Tony Blair«.

Trotz aller Reformblockaden und Defizite habensich aber auch die internen Voraussetzungen für einebrasilianische Vormachtstellung in Südamerika ver-bessert. Der Aufstieg eines sowohl demokratisch ge-wählten als auch demokratisch gesinnten Gewerk-schaftsführers mit sozialem Sendungsbewußtsein imgrößten Staat Lateinamerikas deutet auf einen neuenEntwicklungsweg. Ziel ist es, das neue außenpolitischeSelbstbewußtsein mit wirtschaftlichem Wachstum,Demokratie und gerechterer Einkommensverteilungzu vereinbaren. Die Regierung Lula hat zumindest dieWeichen dafür gestellt, daß Brasilien seinen Ruf als»ewiges Schwellenland« verliert und, wie Stefan Zweigin den dreißiger Jahren prophezeite, doch noch ein»Land der Zukunft« wird.

Kooperative regionale Führungsmacht

Der regionale und internationale Status eines Landeswird maßgeblich von seiner Außenpolitik geprägt,aber auch von zahlreichen anderen Faktoren: vonseiner inneren Stabilität, seinem paradigmatischenVerhalten (wie im Fall der exemplarische DemokratieCosta Rica oder des lateinamerikanischen »Muster-schülers« Chile), ferner von seiner Autorität undDurchsetzungskraft über die nationalen Grenzen hin-aus sowie von der Wahrnehmung anderer Staaten inbezug auf den Grad an Legitimität, mit der das LandMacht ausübt.

Grundsätzlich stehen einem Staat zwei Bündel vonaußenpolitischen Instrumenten zur Verfügung: dieAusnutzung militärischer, wirtschaftlicher und tech-nologischer Überlegenheit (hard power) und die Ein-flußnahme durch paradigmatisches Verhalten, Koope-ration, Diplomatie und Prestige (soft power). In demersten Fall handelt es sich um klassische Machtpolitikdurch Druck oder Zwang gegenüber anderen Staaten,im zweiten um die Ausübung von »Konsensmacht«durch Überzeugung und Kooperation.95 Dement-sprechend kann sich ein Staat als Militär-, Zivil- undWirtschaftsmacht profilieren. Von der Reichweite desEinflusses hängt es ab, ob ein Land eine Weltmacht ist

95 Ernst-Otto Czempiel, Kluge Macht: Außenpolitik für das21. Jahrhundert, München: Beck, 1999.

(USA), eine Großmacht (Rußland), eine Regionalmacht(Südafrika) oder eine Subregionalmacht (Costa Rica).

Durch den ausschließlichen Einsatzes von soft powerist Brasilien eine »zivile Regionalmacht«, die sich vorallem durch seine Außenpolitik als regionale Füh-rungsmacht qualifiziert. Aufgrund der Einbindungin den Mercosur und einer engen Abstimmung mitArgentinien wird Brasilien von den Nachbarn alsRegionalmacht akzeptiert, kein anderes Land erhebtAnspruch auf diesen Status. Andererseits erfülltBrasilien nur bedingt die internen Voraussetzungenfür eine Vormachtstellung in Südamerika: Die interneStabilität ist ebenso schwach ausgeprägt wie ein para-digmatisches Verhalten. Regionale Disparitäten, Ein-kommenskonzentration, niedriges Bildungsniveauund geringe Rechtsstaatlichkeit zementieren Brasi-liens Status als Land zwischen Entwicklungs- undIndustriestaat. Deshalb wird es von den Nachbar-staaten zwar als Regional-, nicht aber als alleinige Füh-rungsmacht anerkannt.

Brasilien lehnt auch von sich aus die Profilierungim Alleingang ab. Ähnlich wie Deutschland bevorzugtes den Status als regionale Führungsmacht im Ver-bund mit anderen Staaten. Ein hegemonialer An-spruch wird kategorisch bestritten. Lula versichertebei seinem Besuch in Afrika: »Brasilien sucht eineBeziehung der Partnerschaft und auf keinen Fall eineHegemonie«. Aufgrund der dominanten Stellung derUSA kann Brasilien auf dem amerikanischen Konti-nent ohnehin keine Hegemonie werden, sondern mitHilfe des Mercosur allenfalls eine beschränkte »Gegen-macht« bilden. Durch den eingeschlagenen Weg, sichmit Argentinien im Mercosur abzustimmen, kannBrasilien als »kooperative regionale Führungsmacht«bezeichnet werden.

Integration und das Konzept der »geteilten Außen-politik« bilden das Fundament für den Ausbau derBeziehungen zwischen Brasilien und Europa, ins-besondere zu Deutschland. Bezogen auf den jeweili-gen Kontinent sind die Wege und Ziele beider Länderdurchaus ähnlich: Deutschland geht es um die Ver-tiefung und Osterweiterung der EU, Brasilien strebteine Vertiefung und Norderweiterung des Mercosuran. Gleichermaßen erfüllen sie als mittlere Mächtewichtige Funktionen im multipolaren System. Brasi-lien wie Deutschland befürworten Konsensbildung,Integration, Demokratie, Multilateralismus und globalgovernance. Schon diese Übereinstimmung hinsichtlichder politischen Werte macht Brasilien für Deutsch-land zu einem wichtigen Partner.

Abkürzungen

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Die Entwicklung der Regionalmacht Brasilien be-einflußt nicht nur die Zukunft des Mercosur, sondernhat auch Auswirkungen auf Südamerika. Die Unter-stützung der Regierung Lula und ihres Anliegens,sozialen Wandel, demokratische Konsolidierung undwirtschaftliche Entwicklung gleichermaßen voran-zutreiben, kann sich auch für Europa als Zukunfts-investition erweisen. Trotz aller Probleme ist Brasilienein Hoffnungsträger in einer Region, die erneut vonKrisen geschüttelt wird. Gelingt es Lula, sein brasi-lianisches Modell zu festigen und in die Nachbar-staaten zu projizieren, wäre dies ein Beleg dafür, daßDemokratie und Entwicklung auch in Lateinamerikakeinen unvermittelbaren Gegensatz bilden. Wenn das»Experiment Lula« jedoch scheitert, könnte das überBrasilien hinaus die gesamte Region um Jahre zurück-werfen und Populisten neuen Auftrieb geben. Auchfür Europa wäre ein chronisch instabiles Südamerikaein Szenario, das hohe Kosten verursachen würde (z.B.die Aufstockung der Entwicklungshilfe) und den eige-nen Interessen (Handel, Investitionen, Energieversor-gung, Bekämpfung des Drogenhandels) zuwiderliefe.

Mit Blick auf die künftige Gestaltung der Beziehun-gen zu Lateinamerika liegt es deshalb im europäi-schen Interesse, Brasiliens Bemühungen um mehrStabilität im eigenen Land und in Südamerika zuunterstützen. Bilateral wäre die Stärkung der auf-strebenden Führungsmacht Brasilien durch Investi-tionsförderung, Technologieexport und einen inten-siven politischen Dialog die effektivste Strategie. Aufsubregionaler Ebene ist eine engere Zusammenarbeitmit dem Mercosur die beste Plattform und die Unter-zeichnung des inter-regionalen Assoziationsabkom-mens das geeignetste Instrument, damit die EU auchin Zukunft ein strategischer Partner Brasiliens bleibt.In bezug auf die Region Lateinamerika kann die EUdurch eine Dreieckskooperation mit Brasilien eineneffizienteren und kostengünstigeren Beitrag zur Stabi-lisierung des »Krisenbogens Andenregion«96 leisten alsim Alleingang. Auch im Kolumbien-Konflikt ist einegemeinsam von Brasilien und der EU gestartete Initia-tive vorstellbar.

Brasilianische Diplomaten betonen immer wieder,daß Brasilien weit mehr ist als Karneval und Fußball.Deutschland sollte Brasilien größere Beachtungschenken, denn es ist das entscheidende Land in einerRegion, die das Auswärtige Amt wahrnimmt als

96 So der Titel einer demnächst beim Vervuert-Verlag er-scheinenden Publikation, die von Sabine Kurtenbach undAndreas Steinhauf herausgegeben wird.

»wichtigen Partner auf dem Weg zu einer Weltinnen-politik neuen Zuschnitts [...], gerichtet auf Demokra-tie, Menschenrechte und friedliche Konfliktbewälti-gung.«97 Im Rahmen des politischen Wertekonsensesbeider Ländern sollte der bilaterale Dialog intensiviertund stärker auf gemeinsame strategische Interessenausgerichtet werden: international die Reform der UN,Hungerbekämpfung und Waffenkontrolle, Stärkungdes multilateralen Systems und globale Umweltpoli-tik; regional der Kampf gegen den Rauschgifthandel,Demokratieförderung in der Andenregion undexternes Konfliktmanagement in Kolumbien; inter-regional die Beschleunigung der Handels-liberalisierung im Agrarsektor und Integrationstrans-fer zwischen dem Mercosur und der EU.

Beide Länder definieren die Stärkung des Multilate-ralismus als ein Ziel ihrer globalen Außenpolitik. Diesallein wäre Grund genug für eine engere Zusammen-arbeit in internationalen Fragen. Brasilien undDeutschland sind im Jahr 2004 gleichzeitig imSicherheitsrat der UN vertreten. Dies ist ein weiteresForum für gemeinsame Initiativen auf der globalenBühne, das es zu nutzen gilt.

Abkürzungen

Alca Acuerdo de Libre Comercio de las AméricasApec Asia-Pacific Economic CooperationBID Banco Interamericano de DesarrolloBIP BruttoinlandsproduktCAF Corporación Andina de FomentoCUT Central Unica dos TrabalhadoresELN Ejército de Liberación NacionalEU Europäische UnionFARC Fuerzas Armadas Revolucionarias de ColombiaG-3 Gruppe der DreiG-8 Gruppe der AchtG-20 Gruppe der 20IIRSA Iniciativa para la Integración de la Infraestructura

Regional SuramericanaIWF Internationaler WährungsfondsMercosur Mercado Común del SurMST Movimento dos Sem TerraNafta North American Free Trade AgreementOAS Organisation Amerikanischer StaatenPMDB Partido do Movimento Democrático BrasileiroPT Partido dos TrabalhadoresSIVAM Sistema de Vigilância da AmazôniaUN United NationsWTO World Trade Organization

97 Siehe »Lateinamerika« auf folgender Homepage:<http://www.auswaertigesamt.de>.