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1 Sonntag, 14. Juli 2019 15.04 – 17.00 Uhr Die Berliner Philharmoniker Eine Sendereihe von Kai Luehrs-Kaiser (2) Zeitgeist: Karajan, der Schallplatten-Ingenieur Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, zu einer neuen Folge unserer Sendereihe. Am 25. September 1954 dirigierte Herbert von Karajan im Berliner Titania-Palast die Berliner Philharmoniker. Es war sein zweites Nachkriegskonzert, Wilhelm Furtwängler war noch am Leben. Damals, wenige Monate bevor Karajan das Orchester übernahm, schrieb ein Kritiker [Friedrich Herzfeld]: „Karajan ist im Grunde der alte geblieben. Er betet beim Dirigieren immer noch wie ein Heiliger und lächelt beim Verbeugen wie ein Conférencier […] Ein Triumph der Virtuosität!“ Diese Sendung soll der ersten Schaffenshälfte Herbert von Karajans in Berlin gewidmet sein. Also der Zeit der 50er bis 70er Jahre. Warum? Ganz einfach: Auf Schallplatte war es für die Berliner Philharmoniker die womöglich beste aller Zeiten. – Aber da fangen die Streitigkeiten auch schon an. Hören wir, um innerlich warmzulaufen, eine Aufnahme, die auf dem Höhepunkt der Ära Karajan entstand: die Ballett-Musik aus Verdis „Otello“. Die Aufnahme entstammt nicht der Berliner Gesamtaufnahme derselben Oper, die Karajan etwas später machte. Unser Stück wurde gesondert aufgenommen und stammt aus dem Jahr 1970/71. Es ist Mode geworden, an Karajan herumzumäkeln. Die Feinde Karajans werden auch bei dieser Aufnahme das Messer zücken. Aber sie sollen nur zuhören. Besser geht’s nicht. 1 Deutsche Grammophon LC: 00173 474 617-2 Track 016 Giuseppe Verdi Otello Ballett-Musik Berliner Philharmoniker Leitung: Herbert von Karajan 1970/71 6’34 Sie hörten die Ballett-Musik aus Giuseppe Verdis „Otello“. Es spielten die Berliner Philharmoniker. Es dirigierte Herbert von Karajan. Die Aufnahme entstand im

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Sonntag, 14. Juli 2019

15.04 – 17.00 Uhr

Die Berliner Philharmoniker Eine Sendereihe von Kai Luehrs-Kaiser

(2) Zeitgeist: Karajan, der Schallplatten-Ingenieur

Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, zu einer neuen Folge unserer Sendereihe. Am 25. September 1954 dirigierte Herbert von Karajan im Berliner Titania-Palast die Berliner Philharmoniker. Es war sein zweites Nachkriegskonzert, Wilhelm Furtwängler war noch am Leben. Damals, wenige Monate bevor Karajan das Orchester übernahm, schrieb ein Kritiker [Friedrich Herzfeld]: „Karajan ist im Grunde der alte geblieben. Er betet beim Dirigieren immer noch wie ein Heiliger und lächelt beim Verbeugen wie ein Conférencier […] Ein Triumph der Virtuosität!“ Diese Sendung soll der ersten Schaffenshälfte Herbert von Karajans in Berlin gewidmet sein. Also der Zeit der 50er bis 70er Jahre. Warum? Ganz einfach: Auf Schallplatte war es für die Berliner Philharmoniker die womöglich beste aller Zeiten. – Aber da fangen die Streitigkeiten auch schon an. Hören wir, um innerlich warmzulaufen, eine Aufnahme, die auf dem Höhepunkt der Ära Karajan entstand: die Ballett-Musik aus Verdis „Otello“. Die Aufnahme entstammt nicht der Berliner Gesamtaufnahme derselben Oper, die Karajan etwas später machte. Unser Stück wurde gesondert aufgenommen und stammt aus dem Jahr 1970/71. Es ist Mode geworden, an Karajan herumzumäkeln. Die Feinde Karajans werden auch bei dieser Aufnahme das Messer zücken. Aber sie sollen nur zuhören. Besser geht’s nicht. 1 Deutsche

Grammophon LC: 00173 474 617-2 Track 016

Giuseppe Verdi Otello Ballett-Musik Berliner Philharmoniker Leitung: Herbert von Karajan 1970/71

6’34

Sie hörten die Ballett-Musik aus Giuseppe Verdis „Otello“. Es spielten die Berliner Philharmoniker. Es dirigierte Herbert von Karajan. Die Aufnahme entstand im

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Winter 1970/71 in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem. Verdi komponierte dieses Intermezzo ursprünglich für die Pariser Erstaufführung 1894 – sieben Jahre nach der Uraufführung. Später fasste er sie zu dieser kleinen Orchestersuite zusammen. Die Aufnahme erschien ursprünglich auf einer Langspielplatte mit dem vielsagenden Titel „Karajan – Opernballette“. Karajan war durchaus kein Ballett-Freund. Übrigens auch kein leidenschaftlicher Tänzer. Das Album entstand auf dem Höhepunkt jener Ouvertüren- und Spezereien-Programme, die damals stark in Mode waren. Den Gipfel bildete „HiFi Karajan“ Vol. 1 bis 4: eine glückliche Mischung aus Können und Kommerz. Von alldem in mancher Hinsicht fragwürdigen Getue ist unsere Aufnahme noch frei. Verdis Ballett-Musik dürfte kaum je feinsinnig trudelnder, klangsinnlich differenzierter musiziert worden sein als in der soeben gehörten Aufnahme, auch wenn Karajan anfänglich militant auf die Pauke haut. Die Aufnahme bleibt immer auf Augenhöhe mit dem Theater. Eine erstaunliche Sache. In der heutigen Sendung wollen wir uns mit der großen Zeit Herbert von Karajans beschäftigen. Wir haben mit „Otello“ begonnen. Und wir werden mit der Gesamtaufnahme dieser Oper enden, die Karajan keine drei Jahre später folgen ließ. Zwischen beiden Aufnahmen hatte sich viel verändert. Die erste bildet ein Meisterstück für Karajans Kunst genialischer Energiebündelung. Die Otello-Gesamtaufnahme gilt als Höhepunkt eines gewissen Technikfetischismus. Ab Mitte der 70er schlugen die Wellen von Karajans eigener Technikbegeisterung zuweilen über seiner Kunst zusammen. Es siegte immer öfter die Hochglanzpolitik einer synthetischen Klangästhetik. Sie veranlasst uns heute zu der Feststellung: Karajans Ära war (mit fast 35 Jahren) so lang, dass sie die höchsten Höhen, die gloriosesten Kunstaufschwünge und glänzendsten Erfolge – aber auch einige dürre Tiefpunkte auf sich vereinigte. Sagen wir es ungeschönt: Karajans Ära war – zumindest auf Schallplatten und CDs – die zugleich beste und schlechteste Zeit des Orchesters. Heute wollen wir uns mit den Höhepunkten beschäftigen. Tauchen wir also ein in eine Zeit der Philharmoniker, die zu Recht heute legendenverklärt ist. Die erste Hälfte von Karajans Amtszeit beginnt nominell im Jahr seiner Vertragsunterzeichnung, 1954. Seine ganz große Zeit endete, sagen wir, irgendwo Mitte der 70er Jahre. Als relativ frühes Zeugnis der Zusammenarbeit mit den Philharmonikern gilt eine Schallplatte, die im Jahr 1960 bei der Deutschen Grammophon erschien. Sie enthielt 8 Ungarische Tänze von Johannes Brahms und 5 Slawische Tänze von Antonín Dvořák. Die Aufnahme entstand im September 1959 wiederum in der Jesus-Christus-Kirche, Karajans bevorzugtem Aufnahmeort. Die Verbindung zwischen Dirigent und Orchester währte damals bereits an die fünf Jahre. Furtwänglers Devise „Präzision lockern!“ hatte Karajan längst widerrufen. Aber mit welch grandiosen Ergebnissen! Hören Sie selbst: Antonín Dvořáks Slawischen Tanz op. 46 Nr. 1 C-Dur. Presto.

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2 Deutsche Grammophon LC: 0173 447 434-2 Track 009

Antonín Dvořák Slawischer Tanz op. 46 Nr. 1 C-Dur. Presto Berliner Philharmoniker Leitung: Herbert von Karajan 1959

3’33

III Sie hörten Dvořáks Slawischen Tanz op. 46 Nr. 1, dirigiert 1959 von Herbert von Karajan. Es spielten die Berliner Philharmoniker, schon damals ein Traumorchester. Aber noch kein so blechgestähltes und zugleich seidenfein durchgesponnenes wie in späteren Jahren. Die Gischt des Anfangs spritzt noch. Das tänzerische Ungestüm hat noch etwas vom Dorfrummel. Hier sind beinahe Bauern zum Fest versammelt. Hier tobt noch nicht – gleichsam – der Bundespresseball. Im Februar 1961 ließ Karajan Liszts Ungarische Rhapsodien Nr. 4 und 5 folgen. Im selben Jahr auch „Les Sylphides“ von Chopin (in der Orchestrierung von Roy Douglas) und eine Ballettsuite aus „Coppélia“ von Leo Delibes. Auch der erste seiner drei Beethoven-Zyklen entstand 1961/62 und war Karajans erste Berliner Großtat. Ein rhythmisch auf den Punkt gebrachter, in der Klanganmutung höchst brillanter Beethoven. Karajan hatte sich bis zu diesem machtvollen Beginn eines Schwungs von Schallplatten immerhin mehr als halbes Jahrzehnt Zeit genommen. Das ist durchaus lehrreich. Karajan hatte sehr bestimmte Vorstellungen von einer gelungenen Schallplattenaufnahme. Er dachte gleichsam unter Studiobedingungen. Also musste die Welt, musste das Orchester sich erst so verändern, dass Karajans Ziele auf ideale Weise umgesetzt werden konnten. Ein treffendes Beispiel in diesem Zusammenhang: Zu den vier Symphonien von Johannes Brahms, absolutem Standardrepertoire, bekannte sich Karajan auf der Schallplatte erst im Jahr 1978. Karajan war da bereits weit über 20 Jahre Chef der Philharmoniker. Er hatte Brahms-Symphonien längst im Konzert aufgeführt. Doch nicht einmal für Einzelaufnahmen dieser Herzstücke ging er ins Studio. Daraus folgt, wie viel Zeit die Entstehung des Karajan-Klanges im Grunde brauchte. Es zeigt, wie verantwortungsbewusst, wie behutsam man damals Schallplattenaufnahmen vorbereitete. Auch Robert Schumanns und Anton Bruckners Symphonien widmete sich Karajan erst in der 70er Jahren. Schubert und Haydn folgten zum Teil noch später. Seinem Zyklus von Wagner-Opern indes wandte sich Karajan bereits 1966 mit der Aufführung der „Walküre“ zu. Karajan schwebte ein kammermusikalischer Wagner-Ton vor. Eine durchsichtige Ästhetik der Sphären und Stimmungen. Kein robuster Parteitags-Wagner. So kam es Karajan im Grunde wohl gerade recht, auf den philharmonischem Speisezettel einen Komponisten zu setzen, der als Schlankheitskur wirken konnte. Er ist als approbiertes Heilmittel für diverse Orchester-Leiden bis heute unerreicht: Mozart.

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Seit 1959 werkelte in Berlin ein anderer Dirigent an einem Zyklus sämtlicher Mozart-Symphonien mit den Berliner Philharmonikern. Dieser Dirigent war eigentlich ein Rivale. Oder besser gesagt: Er war es gewesen. Gemeint ist Karl Böhm. Ihn hatte Karajan im Rennen um die Furtwängler-Nachfolge souverän ausgestochen. Also durfte er getrost wiederkommen. Sieben Jahre lang (bis 1968) erschien Karl Böhm in regelmäßigen Abständen, um seinen tippseligen und zugleich doch großflächig monumentalen Mozart einzuspielen. Schon 1960, kurz nach Beginn dieses Zyklus, klinkte sich nun aber auch Karajan in den Mozart-Diskurs ein. Karajan hatte bereits in den 50er Jahren einige der bis heute besten Mozart-Aufnahmen schlechthin gemacht. Und zwar von Opern. Seine Londoner Gesamtaufnahmen von „Le Nozze di Figaro“ und „Così fan tutte“, beide mit Elisabeth Schwarzkopf und dem Philharmonia Orchestra, sind Aufnahmen für die einsame Insel. Und auch jetzt, einige Jahre später, atmet die früheste Mozart-Aufnahme, die Karajan mit den Philharmonikern machte, einen herrlich entspannten Geist – eine Mixtur aus stolzer Klangmanifestation und lockerer Laune. Man merkt trotzdem, wie viel Zeit seit damals vergangen ist. Ein gewisser zeremoniöser Gestus der Aufnahme würde heute kaum mehr befriedigen. Die Mitte aus musikalischer Spannung und Gelassenheit aber adelt diese Aufnahme bis heute. Hören Sie den 1. Satz: Allegro moderato aus Mozarts Symphonie Nr. 29 in A-Dur. Die Aufnahme entstand in der Berliner Grunewald-Kirche im Frühjahr 1960.

3 EMI Classics LC: 06646 5 75612 2 Track 206

Wolfgang Amadeus Mozart Sinfonie Nr. 29 A-Dur, KV 201 1. Satz: Allegro moderato Berliner Philharmoniker Leitung: Herbert von Karajan 1960

IV Das war der 1. Satz aus Mozarts Symphonie Nr. 29 in A-Dur KV 201 aus dem Jahr 1960. Karajan hat erstmals 1957 mit den Philharmonikern ein wichtiges Schallplattenprojekt realisiert. Es galt Schumanns Symphonie Nr. 4. Vielleicht kein Zufall: Ausgerechnet diese Symphonie hatte auch Wilhelm Furtwängler noch eineinhalb Jahre vor seinem Tod mit den Philharmonikern eingespielt. Man hat den Eindruck, als hätte Karajan 1957 den Vergleich mit seinem Vorgänger direkt gesucht. Wollte er ein Zeichen setzen? Karajan und Furtwängler unterschieden sich nicht allein im Temperament. Dem Mystiker und narkotischen Zauberer Wilhelm Furtwängler stand ein kälter, skrupelloser temperierter Karajan gegenüber. Er setzte auch Rhythmik und Genauigkeit. Er organisierte den Effekt. Dafür war ihm die Schallplatte ein kongeniales Instrument. – Dagegen hatte sich Furtwängler, wie

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seine Witwe Elisabeth Furtwängler später berichtet hat, vor Schallplattenaufnahmen gedrückt wo er nur konnte. Er mochte sie einfach nicht. So mag es nicht ganz gerecht sein, Furtwänglers Aufnahme der Vierten von Schumann mit derjenigen von Karajan zu vergleichen. Beide Aufnahmen entstanden am selben Ort, in der Jesus-Christus-Kirche Dahlem. Zwischen ihnen liegen nur vier Jahre. Viel geändert hatte Karajan in der Zwischenzeit an dem Orchester nicht. Und doch: Was für ein himmelweiter Unterschied! Hören wir zunächst die langsame Einleitung von Schumanns Sinfonie Nr. 4 in d-Moll, so wie sie Furtwängler im Mai 1953 dirigierte. Die Satzbezeichnung lautet: Ziemlich langsam – Lebhaft.

4 Deutsche Grammophon LC: 0173 457 722-2 Track 001

Robert Schumann Sinfonie Nr. 4 d-Moll 1. Satz: Ziemlich langsam – Lebhaft Berliner Philharmoniker Leitung: Wilhelm Furtwängler 1953

2’00

V Dramatisch aufgewühlt, eisern im Klang und etwas schwerfällig in der Diktion: So präsentierte hier Wilhelm Furtwängler den Beginn von Schumanns 4. Symphonie. Es war – 1953 – die letzte Schallplattenaufnahme, die Furtwängler in Berlin verwirklichte. Der erdige Gesamteindruck, das Wühlen in einer innerlich aufgeregten Gefühlswelt, sind hier ganz typisch für den – späten – Furtwängler. Die Schallplatte zeichnet auf, was das Orchester zu sagen hat. Doch es fehlt im Grunde der Live-Eindruck. Wir selber – als Hörer – sollen emotional mit aufgewühlt werden. Wir sollen innerlich beteiligt, in die Musik hineingerissen werden. Doch welchen Sinn sollte es haben, vor den Lautsprechern eines Plattenspielers innerlich aufgewühlt zu sein. Das passt irgendwie nicht. So dürfte der Effekt typisch sein: Wir erkennen, wie großartig Furtwänglers Aufnahme gelungen ist. Und umso mehr wünschen wir uns, live dabei gewesen zu sein. Wie anders war da Karajan gestrickt! Seine Schallplatten-Aufnahmen stehen für sich. Sein Klangsensualismus ist für Aufnahmegeräte wie gemacht. Worauf er Wert legt, verträgt sich blendend mit Mikrophonen ebenso wie mit uns, die wir bequem im Sessel vor der Stereo-Anlage sitzen oder seine Aufnahmen im Radio oder im Disc-Man im Ohr haben. Karajan war ein glänzender Live-Musiker. Aber seinen Interpretationen geht auf Tonträgern im Grunde nichts verloren. Auch das hat seinen Ruhm – und seine Einkünfte – in unvergleichlicher Weise befördert. Erstaunlich, dass Karajans Medien-Talent weitgehend schon 1957 spürbar war. Hören wir aus Schumanns Vierter unter Karajan gleichfalls den 1. Satz: Ziemlich langsam – Lebhaft – aber diesmal im Ganzen. Unüberhörbar die plötzlich kristalline Härte und Klarheit des Klangs. Karajan straffe Hand, sein fester Rhythmus und sein

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rasches Vorgehen lassen keinen Zweifel an einem neuen Geist. Übrigens schafft er den 1. Satz fast eineinhalb Minuten schneller als Furtwängler. Er sollte dem Vorgänger auf mehrfache Weise davonlaufen.

5 EMI Classics LC: 06646 5 75612 2 Track 001

Robert Schumann Sinfonie Nr. 4 in d-Moll 1. Satz: Ziemlich langsam – Lebhaft Berliner Philharmoniker Leitung: Herbert von Karajan 1957

11’00

VI Das war der 1. Satz aus Robert Schumanns Sinfonie Nr. 4 d-Moll, gespielt von den Berliner Philharmonikern, dirigiert 1957 von Herbert von Karajan. Die Aufnahme markiert den Beginn einer langen, künstlerischen und finanziellen Siegesserie, die in der Schallplatten- und Orchestergeschichte ziemlich einmalig ist. Kein anderes Orchester hat unter seinem Chefdirigenten so viele Aufnahmen eingespielt wie die Berliner Philharmoniker unter Herbert von Karajan. Und vermutlich wird auch kein Orchester je wieder in diese beneidenswerte Lage kommen. Herbert von Karajan produzierte schallplattengerecht – das lässt sich an vielen Einzelheiten konkretisieren. Für Karajan als Schallplatten-Ästheten steht zunächst das Schlagwort vom „entmaterialisierten Klang“. Entmaterialisierter Klang, das bedeutet: Karajan wollte zunächst einmal alle Begleitgeräusche des Saales und der Umgebung strikt eliminieren. Nicht nur Huster oder der Hall des spezifischen Raumes waren tabu. Der Klang entsteht bei Karajan ohne Atemholen, ohne Vorwarnung aus dem Nichts. Er kommt, sozusagen, nicht aus dem Raum, sondern aus den Boxen. Kein Zeitvorlauf bei den Aufnahmen gibt den Moment des Einsetzens als Gemeinsamkeitserlebnis im Orchester wieder. Stattdessen wurden so viele Mikrofone platziert, dass man den Klang nachträglich neu abmischen konnte. Das Klangbild konnte gleichsam post factum noch einmal auseinander genommen und neu wieder zusammengesetzt werden. Das wäre beim Stand der Aufnahmetechnik zu Furtwänglers Zeiten noch ganz unmöglich gewesen. Auch Ansatzgeräusche bei der Tonbildung, Strich- und Bogenreste, erst recht das Atemschöpfen der Bläser wären niemals geduldet worden. Es gibt Dirigenten und Solisten, die bei der Arbeit schnaufen wie z.B. James Levine, mit dem Fuß aufstampfen wie Leonard Bernstein – oder mitsingen wie John Barbirolli. Und bei denen dies auch auf Schallplatten zu hören ist. Versteht sich, dass Karajan nicht zu dieser Sorte gehörte. Das wichtigste aber: Auch klangästhetisch bestand Karajan auf einem ebenmäßigen Ausgleich der Instrumente untereinander. Die Geigen klingen – jedenfalls in der Blütezeit dieser Ästhetik – nicht wie eine Gruppe von

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Einzelindividuen. In einem glatten Meer von Violinen vielmehr verliert sich die Persönlichkeit der Musiker und ihrer Instrumente – zugunsten der Überpersönlichkeit des Dirigenten. Der Orchesterapparat wurde durch Verdoppelung einzelner Besetzungen künstlich vergrößert, so dass der Gesamteindruck gewaltiger, die Fehleranfälligkeit der einzelnen Musiker geringer wurde. Da Karajan auf den Einregisterklang jeder Gruppe und des Orchesters so großes Gewicht legte, sorgte er im Laufe seiner Amtszeit für die Neuanschaffung (und Finanzierung) zahlreicher neuer, teurer Instrumente. Sie gewährleisten ein glanzvolleres Erscheinungsbild des Orchesters bis heute. Durch die Gründung einer Orchesterakademie war schließlich der Musikertypus, den Karajan bevorzugte, auf Reproduktion ausgelegt. Karajan, um es bösartig auszudrücken, züchtete nach. Die Orchesterakademie indes, die bis heute besteht, hat sich weit über einen solchen Schulungsgedanken hinaus als Nachwuchsreservoir überaus bewährt. Hören Sie zur Illustration einer Ästhetik, bei welcher Karajan die Vorreiterposition innehatte und stilbildend wirkte, eine Aufnahme aus den späten 70er Jahren. Auch hier gilt Karajans Arbeit einem Komponisten, der zu Furtwänglers Erbe und besonderem Anliegen zählte: Anton Bruckner. Karajans Bruckner-Aufnahmen entstanden von 1975 bis 79. Er begann bei den späten Meisterwerken, den Symphonien 7 bis 9, und erarbeitete sich dabei die Grundlage für die früheren. Seine Aufnahme der Symphonie Nr. 9 d-Moll, der unvollendet letzten von Bruckner, wurde 1976 aufgenommen, und zwar in der Philharmonie. Für eine Riesenbesetzung wie hier war dies der einzig richtige Saal. Wir hören eine monumental aufstrebende, kathedralenhaft angewachsene Musik. Das Orchester klingt perfekt, aber keinesfalls neutral oder sterilisiert. Hier sind alle mit Gefühl und Engagement begeistert bei der Sache. Und die hat sich gelohnt. Hören Sie den 2. Satz: Scherzo. Bewegt, lebhaft aus Bruckners Neunter.

6 Deutsche Grammophon LC: 00173 429 648-2 Track 902

Anton Bruckner Symphonie Nr. 9 d-Moll 2. Satz: Scherzo. Bewegt, lebhaft Berliner Philharmoniker Leitung: Herbert von Karajan 1976

10’37

VII Sie hörten den 2. Satz aus Bruckners Neunter. Es spielten die Berliner Philharmoniker, klangoptimiert und dirigiert im Jahre 1976 von Herbert von Karajan. Es ist heute fast üblich geworden, Karajans Zenit früh anzusetzen. Also seine beste Zeit in die 50er und 60er Jahre zu legen; wogegen der blitzende Tand seiner späteren Luxusaufnahmen als oberflächlich und technisch dekadent abgetan wird. Kurz gesagt: Über Karajan wird heute viel Ungerechtes verbreitet. Zu tun hat das

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auch mit der kolossalen Länge seiner Ära. Fast 35 Jahre! Und es hat auch damit zu tun, dass die Philharmoniker selbst nach dem Tod Karajans rasch daran gingen, die Spuren seiner Ästhetik zu verwischen. Die Zeit für etwas anderes schien reif, noch dazu angeheizt durch die vielen persönlichen Querelen der späten Karajan-Zeit. Die Frage, um es einmal hart zu sagen, ist: Was hat Karajan falsch gemacht? Weshalb ist sein Stern seit seinem Tod 1989 so rasend schnell gesunken – zumindest vorübergehend. Ein Berliner Schallplatten-Antiquar erzählte mir kürzlich, er habe die ersten zehn Jahre nach Karajans Tod fast keine CD des Dirigenten verkauft. Dann besserte es sich langsam wieder. Heute wird mit den Schallplatten und CDs Karajans wieder mehr Geld verdient als mit denen Abbados, Rattles oder irgendeines anderen lebenden Dirigenten. Der Grund für die zeitweilige Zurückhaltung gegenüber Karajan besteht, knapp ausgedrückt, in folgendem: Karajan hatte zeitweilig etwas zu viel an seinen Aufnahmen herummanipuliert. Zu viele Takes wurden zu synthetisch aneinandermontiert, und riefen so den Eindruck der Künstlichkeit und des bloßen Blendwerks hervor. Karajan hatte den Bogen seiner Technik-Manie überspannt. Die Brillanz des Apparats ging mehr und mehr auf Kosten des Musikalischen. Klangbombast trat an die Stelle von musikalischer Substanz. Ein nahezu berüchtigtes Beispiel dafür stellt die Aufnahme da, die im Zentrum der heutigen Sendung stehen soll. Und die doch eigentlich nur am Rande stehen kann: die Gesamtaufnahme von Verdis Oper „Otello“. Am Eingang dieser Sendung haben wir eine Ballett-Suite zu Verdis Oper gehört, die Karajan im Jahr 1970/71 eingespielt hatte. Unsere Bewunderung war ungeteilt. Hören wir nun zum Vergleich den Beginn der Gesamtaufnahme, die Karajan im April und Mai 1973, also nur gut zwei Jahre später folgen ließ. Mit dem technischen Standard wandelt sich hier alles. Karajan hatte für seinen „Otello“ die Plattenfirma gewechselt – und war von der Deutschen Grammophon zurück zur EMI gegangen. Die Aufnahme dort ist ein Vollbad schaumiger Klangentwicklung. Eine Orgie von raffinierter Überfülle und bauschendem Luxus. Natürlich, verstehen Sie mich nicht falsch, alles auf höchstem handwerklichem und musikalischem Niveau. Auch die Besetzung stellt einen Höhepunkt der Otello-Diskographie dar – übertroffen fast nur von Karajans eigener, früherer, Wiener Aufnahme mit Mario del Monaco und Renata Tebaldi. Hätten wir heute eine Besetzung beisammen wie Karajan 1973, wir würden die Segel setzen und noch eine Otello-Aufnahme machen. Wir hören den Beginn der Oper. Es singt Chor der Deutschen Oper Berlin (Einstudierung: Walter Hagen-Groll). Unter dem Toben eines Seesturms erwarten alle die Rückkehr des venezianischen Feldherrn Otello. Sein Schiff entkommt knapp den tosenden Wellen. Otello geht an Land. Und begrüßt mit dem Ruf „Esultate“ das Volk. Das ist der Auftritt von Jon Vickers in der Titelrolle. Oder hatte die in Wirklichkeit der Dirigent? Der heißt – kein Zweifel – Herbert von Karajan. Drehen Sie die Lautstärke ruhig etwas auf.

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7 Amadeus Lirica LC: ohne AML 9718-19 Track 101, 102

Giuseppe Verdi Otello Anfang Solisten: Jon Vickers, Tenor (Otello), Mirella Freni, Sopran (Desdemona) u.a. Berliner Philharmoniker Leitung: Herbert von Karajan 1973

6’25

VIII Das war der Beginn der 1. Szene aus Verdis „Otello“ in Herbert von Karajans Einspielung aus von 1973. Die Titelrolle sang Jon Vickers. Schon den Zeitgenossen in den 70er Jahren war der Superklang dieser Aufnahme irgendwie zu viel. Hier scheint kein Orchester mit Menschen mehr am Werk. Sondern hier verschmelzen die Musiker des Orchesters zu einer hochtechnisierten Klangmaschinerie. Man scheint nur noch einen kleinen Schritt davon entfernt, die Musiker gegen Computer auszutauschen. Der Makel Mensch zeigt sich gleichsam zum letzten Mal. Trotzdem gibt es natürlich viel an der Aufnahme zu bewundern. Die klangvolle Schlagkraft der philharmonischen Armada ist stereophonisch an allen Fronten sieghaft. Was immer negativ auffallen mag, scheint eher auf eine klinische Studiosauberkeit zurückführbar. Hören wir einen zweiten Ausschnitt, in dem die Solisten besser zur Geltung kommen – und in dem sich Karajan als glänzender Begleiter und klanglicher Beleuchter schöner Stimmen fabelhaft bewährt. Der folgende Ausschnitt weckt den Sinn nicht nur für den Übergenuss an Brillanz, sondern auch dafür, wie unverwechselbar profiliert Karajan hier geraden Schrittes in die Zukunft marschiert. Bei aller donnernden, dann wieder dämmernden Gewalt wahrt die Aufnahme den Charakter einer Klanginszenierung – einer Opernaufführung auf Schallplatte. Es ist gleichsam Konserventheater in Vollendung. Ein Opernabend für zwei Stereoboxen. Was der Aufführung an Visualität, an Bühnenbild und Inszenierung fehlt, das hat Karajan einfach an Klangopulenz und Orchesterfeinschliff nachgelegt. Sie hören einen Ausschnitt, die Unterredung Otello – Jago des 2. Akts. Desdemona wird denunziert. Otello schwört Rache. Es singen wieder: Jon Vickers (Otello) und Peter Glossop (Jago). Karajan dirigiert.

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8 Amadeus Lirica LC: ohne AML 9718-19 Track 118 – 119

Giuseppe Verdi Otello 2. Akt, Unterredung Otello – Jago (Ausschnitt) Solisten: Jon Vickers, Tenor (Otello) Peter Glossop, Bariton (Jago) u.a. Berliner Philharmoniker Leitung: Herbert von Karajan 1973

9’21

IX

Sie hörten Jon Vickers als Otello und Peter Glossop im 2. Akt von Verdis „Otello“. Herbert von Karajan dirigierte seine Gesamtaufnahme aus dem Jahr 1973. Erstaunlich sind hier zweifellos die Extreme exzessiver Gefühlsentäußerung, zu denen Karajan seine Solisten animiert. Raubtierhaft aggressiver, dabei verzweifelter hat Otello auf Schallplatte kaum je geklungen. Und auch die Philharmoniker geben hier selbstverständlich ihr Bestes. Sie waren von der Mission Karajans zu dieser Zeit offenbar überzeugt. Warum auch nicht? An Radikalität und (einer vielleicht falsch verstandenen) Modernität ist dieses Dokument kaum zu überbieten. Verlassen wir diese „Otello“-Aufnahme nun einen Moment, um Karajan an einem anderen Schauplatz zu beobachten. Seine Repertoireauswahl galt manchem Beobachter als akademisch und wenig originell. Diese Auffassung ist im Grunde unsinnig. Karajan war subjektiv und wählerisch in seinem Musikgeschmack. Die Moderne fasste er selten an. Wenn er es aber tat, wie im Fall Schönbergs, Arthur Honeggers oder Schostakowitschs, so kam stets etwas höchst Eigenständiges dabei heraus. Dmitri Schostakowitsch war für Karajan selbstverständlich ein Zeitgenosse. Aufgeführt hat Karajan nur Schostakowitschs 8. und 10. Symphonie. Letztere dirigierte in Anwesenheit des Komponisten in Moskau 1969. Schostakowitsch war bei dieser Gelegenheit angeblich den Tränen nah. Bis Karajan eine Aufnahme der 10. Symphonie wagen sollte, vergingen noch einmal fast 12 Jahre. Im Januar 1981 entstand so die einzige Schostakowitsch-Aufnahme Karajans. Er hatte die grellen Kontraste geschlichtet, den gesamten Glanz seines Orchesters projiziert, so dass der elegische Duktus etwas Blitzendes, eine kühle Pracht ausstrahlte. Das Ergebnis ist eigentümlich in seiner Mischung aus Strahlkraft und Ernst, Reichtum und Krisenbewusstsein. Wiederum ist es Musik für Mikrofone. Und gerade deshalb sind wir CD- und Radiohörer viel näher dran als bei den Aufnahmen Furtwänglers oder anderer Zeitgenossen. Interessant bleibt ja, dass Karajans Verhalten beim Aufnehmen von Musik zwar oft bekrittelt, aber nie mehr über Bord geworfen wurde. Seit Karajan war es nurmehr eine Frage der Mittel, nicht des Ziels, dass man optimal für aufgestellte Mikrophone spielen sollte – und nicht etwa an ihnen vorbei.

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Das Allegro, den 2. Satz aus Schostakowitschs Symphonie Nr. 10 e-Moll op. 93 hören Sie jetzt in der Aufnahme unter Herbert von Karajan aus dem Jahr 1981. Auch sie verströmt das Selbstbewusstsein eines Mannes, der seinen Willen durchsetzte. Und dem man umso interessierter folgte. 9 Deutsche

Grammophon LC: 00173 00289 477 5909 Track 002

Dmitri Schostakowitsch Symphonie Nr. 10 e-Moll op. 93 2. Satz: Allegro Berliner Philharmoniker Leitung: Herbert von Karajan 1981

4’16

X

Das war ein Ausflug an die Grenze sowohl des Repertoires wie der Hoch-Zeit des Dirigenten Herbert von Karajan. Sie hörten den 2. Satz: Allegro aus der 10. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch. Die Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern stammt aus dem Jahr 1981. Kurz darauf brachte die Krise zwischen Dirigent und Orchester die philharmonische Harmonie nachhaltig aus dem Takt. Der Zeitgeist, den Karajan jahrzehntelang mitbestimmt hatte, überholte ihn doch zuletzt. Im Konzert feierte er nach wie vor größte Erfolge. Auch der Geldsegen blieb ihm und dem Orchester treu. Hören wir zum Abschluss Ausschnitte aus „Otello“ die idyllisch beginnende, sich finster beziehende und grausam entladende Mordszene aus dem 4. Akt. Karajan findet zu überirdischer Leuchtkraft ebenso wie zu finsterem Terror. Doch über allem strahlen: die Solisten. Es sind noch einmal Jon Vickers (Otello), seine Desdemona ist Mirella Freni. Als Emilia, nur kurz zu hören: Stefania Malagù. 10 Amadeus Lirica

LC: ohne AML 9718-19 Track 214

Giuseppe Verdi Otello 4. Akt (Ausschnitt) Solisten: Jon Vickers, Tenor (Otello), Mirella Freni, Sopran (Desdemona) u.a. Berliner Philharmoniker Leitung: Herbert von Karajan 1973

5’43

XI

Das war ein Ausschnitt aus „Otello“: die Mordszene aus dem 4. Akt. Es sangen: Mirella Freni (Desdemona), Stefania Malagù (Emilia) und Jon Vickers (Otello). Herbert von Karajan dirigierte 1973 eine der nur fünf Verdi-Gesamtaufnahmen, die es von den Berliner Philharmonikern überhaupt gibt. Und er dirigierte in einer solch klanglichen Perfektion, wie sie auf der Opernbühne niemals, aber auch im Schallplattenstudio fast nur unter seiner Federführung zu hören war.

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Die Mehrzahl traditioneller Dirigenten, die heute noch Schallplatten machen, ist ihm in vielen Grundsätzen gefolgt. Auch die extremsten Klangorgien sind, rückwirkend betrachtet, beeindruckende Zeugnisse eines künstlerischen Mega-Willens – und natürlich eines Orchesters, das nach dem Willen des Meisters zum treffsichersten Präzisionsinstrument geworden war. Die Berliner Philharmoniker sind – unter allen Aufnahmen, die es gibt – nirgendwo besser zu hören, nirgendwo entschiedener zu bestaunen als in den besten Aufnahmen, die sie in den Jahren seiner Alleinherrschaft unter Herbert von Karajan gemacht haben. Hören wir zum Schluss der heutigen Sendung zwei Aufnahmen, deren prägnante Frische, deren musikalischer Witz und orchestraler Glanz bis heute kaum übertroffen wurden. Das erste der beiden Stücke ist aus dem heute gebräuchlichen Kanon nahezu verschwunden. Hier steht es für die Tatsache, dass Karajan zwischen seriöser Klassik und operettiger Unterhaltungsmusik keine Grenze gelten ließ. In der Suite aus Jacques Offenbachs „Gaîté Parisienne“, arrangiert von Manuel Rosenthal, trieb er die Philharmoniker zur klanglichen Weißglut. Und die Zuhörer zum Lachen. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1972, sozusagen vom Höhepunkt der Partywelle, die auf diese Weise auch vor den Berliner Philharmonikern nicht haltgemacht hat. Sie hören einen Ausschnitt. Viel Spaß – mit Herbert von Karajan. 11 Deutsche

Grammophon LC: 00173 423 215-2 Track 012-016

Jacques Offenbach/Manuel Rosenthal „Gaîté Parisienne“ 15. Allegro vivo, 16. Cancan. Allegro, 17. Polka, 18. (ohne Bezeichnung), 22. Vivo Berliner Philharmoniker Leitung: Herbert von Karajan 1972

5’52

XII

Das war ein Ausschnitt aus der von Jacques Offenbach komponierten, von Manuel Rosenthal zusammengestellten “Gaîté Parisienne“, dirigiert von Herbert von Karajan auf der Höhe seines Könnens. Im Jahr 1972. Zum Schluss der heutigen Sendung, die ganz und gar Herbert von Karajan als Schallplatten-Fex gewidmet war, kommen wir zu einem Komponisten, bei dem man mit Karajan (beinahe) nicht fehlgehen konnte: Richard Strauss. Mit der Aufnahme des vierten der Vier letzten Lieder von Strauss begegnen wir einem weiteren Puzzlestein, durch den eine Einspielung zur typischen Karajan-Aufnahme wird: die Wahl seiner Solisten. Karajan schätzte instrumental geführte Stimmen, die sich in das Orchester einfügen, als seien sie selbst ein Instrument. Eine gewisse Rückstufung der Solisten zu Repräsentanten seines eigenen Apparates mag daran erkennbar sein. Karajan würdigte sozusagen die Bereitschaft eines Solisten, zum Rädchen in seinem Getriebe zu werden. Dann aber bot er diesem Rädchen gerne die Möglichkeit, groß herauszukommen.

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Eine Sängerin, die Karajans Ideal in hohem Maße entsprach, war Gundula Janowitz. Der lyrische Sopran wurde von Karajan schon in den mittleren 60er Jahren in Brahms’ „Deutschem Requiem“ besetzt. Später sang sie bei ihm auch Wagner-Partien (herausragend Sieglinde in der „Walküre“). Gundula Janowitz sang für Karajan die Vier letzten Lieder von Strauss mit einem knabenhaften Engelston. Betörend in der glockenhaften Jenseitigkeit. Schlicht durch ein vibratoarmes Brio. Die Aufnahme zeigt auch, wie radikal Karajan Tempo-Fragen entscheiden konnte – gerade unter Studio-Bedingungen. Gundula Janowitz hat berichtet, bei der ersten Anspielprobe habe Karajan ein so rasches Tempo für das letzte Lied „Im Abendrot“ gewählt, dass die Sängerin beschwichtigend die Hand hob und ihm bedeutete: „Bitte, halbes Tempo“. Auch so noch ist die Aufnahme die vielleicht rascheste, die von dem Stück existiert. Hören Sie diesen weiteren Höhepunkt im Schallplattenleben des Herbert von Karajan – zum Abschluss für heute. „Im Abendrot“ von Richard Strauss. Text von Joseph von Eichendorff. Gundula Janowitz singt. Herbert von Karajan begleitet. Es spielen, wer sonst, die Berliner Philharmoniker. Auf Wiederhören bis zum nächsten Mal. 12 Deutsche

Grammophon LC: 00173 447 422-2 Track 006

Richard Strauss Vier letzte Lieder „Im Abendrot“ (Text: Joseph von Eichendorff) Gundula Janowitz, Sopran Berliner Philharmoniker Leitung: Herbert von Karajan 1974

7’04