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Die besten deutschen Erzählungen Ausgewählt von Marcel Reich-Ranickiki

Die besten deutschen Erzählungen · Hochzeitstag, sondern als er nimmer kam, legte sie es weg und ... Auffassung, womit Sie mir auch in Ihrem zweiten Schreiben ge-glaubt haben schmeicheln

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Die besten deutschen Erzählungen

Ausgewählt von Marcel Reich-Ranickiki

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Aus dem gewaltigen Erzählfundus der deutschsprachigen Literatur hatMarcel Reich-Ranicki Texte ausgewählt, die bis heute nicht an Bedeu-tung, Lebendigkeit und Glanz verloren haben.

Erzählungen aus drei Jahrhunderten,von der Klassik bis zur Gegen-wart:

Von Wilhelm Hauffs Geschichte vom Kalif Storch bis Alfred DöblinsErmordungeinerButterblume,vonHeinrichBöllsWanderer, kommstdu nach Spa. . . bis Martin Walsers Selbstporträt als Kriminalroman.

Außerdem im insel taschenbuch erschienen: Die besten deutschen Ge-dichte (it 4186).

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Die bestendeutschen Erzählungen

Ausgewählt von Marcel Reich-Ranicki

Insel Verlag

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Umschlagfoto: Jamie Grill /Getty Images

Erste Auflage 2012insel taschenbuch 4185Insel Verlag Berlin 2012

© Insel Verlag Berlin 2010Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Quellennachweise am Schluß des BandesVertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Umschlag: Michael HagemannSatz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

ISBN 978-3-458-35885-5

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Johann Peter HebelUnverhofftes Wiedersehen

In Falun in Schweden küßte vor guten fünfzig Jahren und mehrein junger Bergmann seine junge, hübsche Braut und sagte zu ihr:»Auf Sankt Luciä wird unsere Liebe von des Priesters Hand geseg-net. Dann sind wir Mann und Weib und bauen uns ein eigenesNestlein.« – »Und Friede und Liebe soll darin wohnen«, sagte dieschöne Braut mit holdem Lächeln, »denn du bist mein einziges undalles, und ohne dich möchte ich lieber im Grab sein als an einemandern Ort.« Als sie aber vor Sankt Luciä der Pfarrer zum zwei-ten Male in der Kirche ausgerufen hatte: »So nun jemand Hinder-nis wüßte anzuzeigen, warum diese Personen nicht möchten ehe-lich zusammenkommen«, da meldete sich der Tod. Denn als derJüngling den andern Morgen in seiner schwarzen Bergmannsklei-dung an ihrem Haus vorbeiging,der Bergmann hat sein Totenkleidimmer an, da klopfte er zwar noch einmal an ihrem Fenster undsagte ihr guten Morgen, aber keinen guten Abend mehr. Er kamnimmer aus dem Bergwerk zurück, und sie saumte vergeblich sel-bigen Morgen ein schwarzes Halstuch mit rotem Rand für ihn zumHochzeitstag, sondern als er nimmer kam, legte sie es weg undweinte um ihn und vergaß ihn nie. Unterdessen wurde die StadtLissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört, und der Sieben-jährige Krieg ging vorüber, und Kaiser Franz der Erste starb, undder Jesuitenorden wurde aufgehoben und Polen geteilt, und dieKaiserin Maria Theresia starb, und der Struensee wurde hinge-richtet, Amerika wurde frei, und die vereinigte französische undspanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die Türkenschlossen den General Stein in der Veteraner Höhle in Ungarn ein,und der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schwe-den eroberte Russisch-Finnland, und die Französische Revolutionund der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold der Zweiteging auch ins Grab. Napoleon eroberte Preußen, und die Englän-der bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten und

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schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, unddie Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischenWerkstatt. Als aber die Bergleute in Falun im Jahr 1809 etwas voroder nach Johannis zwischen zwei Schachten eine Öffnung durch-graben wollten, gute dreihundert Ellen tief unter dem Boden,gruben sie aus dem Schutt und Vitriolwasser den Leichnam einesJünglings heraus, der ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonstaber unverwest und unverändert war, also daß man seine Ge-sichtszüge und sein Alter noch völlig erkennen konnte, als wenn ererst vor einer Stunde gestorben oder ein wenig eingeschlafen wärean der Arbeit. Als man ihn aber zu Tag ausgefördert hatte, Vaterund Mutter,Gefreundte und Bekannte waren schon lange tot, keinMensch wollte den schlafenden Jüngling kennen oder etwas vonseinem Unglück wissen, bis die ehemalige Verlobte des Bergmannskam, der eines Tages auf die Schicht gegangen war und nimmerzurückkehrte. Grau und zusammengeschrumpft kam sie an einerKrücke an den Platz und erkannte ihren Bräutigam; und mehr mitfreudigem Entzücken als mit Schmerz sank sie auf die geliebte Lei-che nieder,und erst als sie sich von einer langen heftigen Bewegungdes Gemüts erholt hatte, »es ist mein Verlobter«, sagte sie endlich,»um den ich fünfzig Jahre lang getrauert hatte und den mich Gottnoch einmal sehen läßt vor meinem Ende. Acht Tage vor der Hoch-zeit ist er auf die Grube gegangen und nimmer gekommen.« Dawurden die Gemüter aller Umstehenden von Wehmut und Tränenergriffen, als sie sahen die ehemalige Braut jetzt in der Gestalt deshingewelkten kraftlosen Alters und den Bräutigam noch in seinerjugendlichen Schöne, und wie in ihrer Brust nach fünfzig Jahrendie Flamme der jugendlichen Liebe noch einmal erwachte; aber eröffnete den Mund nimmer zum Lächeln oder die Augen zum Wi-dererkennen; und wie sie ihn endlich von den Bergleuten in ihrStübchen tragen ließ, als die einzige, die ihm angehöre und einRecht an ihn habe, bis sein Grab gerüstet sei auf dem Kirchhof.Den andern Tag, als das Grab gerüstet war auf dem Kirchhof undihn die Bergleute holten, schloß sie ein Kästlein auf, legte ihm dasschwarzseidene Halstuch mit roten Streifen um und begleitete ihn

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in ihrem Sonntagsgewand, als wenn es ihr Hochzeittag und nichtder Tag seiner Beerdigung wäre. Denn als man ihn auf dem Kirch-hof ins Grab legte, sagte sie: »Schlafe nun wohl, noch einen Tagoder zehn im kühlen Hochzeitsbett, und laß dir die Zeit nicht langwerden. Ich habe nur noch wenig zu tun und komme bald, undbald wirds wieder Tag. Was die Erde einmal wiedergegeben hat,wird sie zum zweiten Male auch nicht behalten«, sagte sie, als siefortging und noch einmal umschaute.

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Robert WalserEin unartiger Brief

Nun sei es in Ihrem Hause wieder still, schreiben Sie mir,verehrteFrau, gerade, als wenn es anders als still, als wenn es sehr laut zu-gegangen wäre, da ich mich für einige Stunden bei Ihnen aufhielt.Wir flüsterten doch ängstlich,vorsichtig und zaghaft genug mitein-ander, und worin bestand denn unsere Unterhaltung, wenn sienicht hauptsächlich darin bestand,daß wir uns in einer langandau-ernden Verlegenheit, in einem Überrascht- und Erstauntsein an-schauten? Ungefähr jede Minute fiel ein Wort, das vielleicht bloßeine gehauchte Silbe, ein kaum vernehmlicher Laut gewesen seinmochte. Erwarteten wir denn nicht jeden Moment das Auftreten,das urplötzlich sich geltend machende Erscheinen Ihres schätzens-werten Herrn Gemahls? Sprach ich in Ihrem Hause, im Zimmer,worin Sie mir das Vergnügen gewährten, Ihnen gegenüber zusitzen und den Wohlgeruch Ihres Kleides einzuatmen, eigentlichanders als in einem fort um die Anmut, die SchätzenswürdigkeitIhrer Ehre zitternd, an die ja auch Sie in einem fort dachten? VonZeit zu Zeit fielen mir irgendwann und -wo gesehene Landschaf-ten ins lebhaftest aufgestachelte Gedächtnis. Ich weiß nun natür-lich nicht, wohin sich Ihre Gedanken verloren haben mochten;von den meinigen bin ich keinen Augenblick im Zweifel,wessen Siesich in aller Lautlosigkeit und in aller Bangigkeit, die mich im tief-sten Inneren entzückte, erkühnten. Vielleicht ähnelte Ihr Denkenin meinem Beisein einem um Hilfe rufenden klagenden Gejubel.Wie merkwürdig ich mich hier übrigens ausdrücke! Schon in Ihremersten, sehr liebenswürdigen Briefe nennen Sie mich auf eine mirnicht ohne weiteres verständliche Art und Weise Ihr Licht, eineAuffassung, womit Sie mir auch in Ihrem zweiten Schreiben ge-glaubt haben schmeicheln zu müssen. Darf ich Ihnen bekennen,ich sei der Meinung,einer Dame stehe es nicht sonderlich wohl an,einem Vertreter des stärkeren Teiles der Menschheit allzu großeArtigkeiten zu sagen, obwohl ich Sie ja im übrigen ganz gut be-

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greife, denn ein Lob auszusprechen ist kürzer, bequemer undangenehmer, als einem Tadel oder irgendeiner Mißachtung Aus-druck zu verleihen, aber die Kunst der Geselligkeit, gnädige Frau,besteht darin, daß man sich im schönen, verbindungenherstellen-den Bemühen geübt hat, weder Über- noch Unterschätzung mer-ken zu lassen, was beides als Bräuche zu bezeichnen sein könn-ten,die, ich bitte um Verzeihung, nach etwas wie Unkultur duften.Wissen Sie, daß Sie mir in der Tat sozusagen ein wenig als noch ineiner gewissen Unwissenheit umhertappend vorkommen?

Ich rede sehr offenherzig, aber ich richte ja diesen Brief nicht anSie, sondern an die Öffentlichkeit, die kein so zarter Apparat ist,daß man glauben müßte, sie zerbräche vor Gekränktheit über einewomöglich etwas schonungslose Aussage. Ich halte viele gebil-detscheinende Frauen für in ziemlich umfangreichem Maß unge-bildet, und es freut mich förmlich, den Einfall gefunden zu haben,zu sagen, was mir diesbezüglich längst im Gefühl oder im Gemütschlummert. Es sei nun rund um Sie wieder alles, alles leer,und Siehätten eine Sehnsucht, ein unabweisbares Verlangen, zu mir zukommen, vor meiner Türe zu stehen, hielten Sie für angezeigt,mir zu schreiben, über welche Äußerung ich mir nicht erlaubt habe,auch nur mit einem Muskel meines Gesichtes zu zucken. Ichschaute diese Äußerung bloß,wie soll ich sagen, großen Auges an,als mache sie mich staunen,wie wenn mir diese Äußerung als etwasGemäldeartiges vorgekommen wäre. Ich halte Sie nämlich nichtfür unglücklich, also nicht für das, als was es Ihnen zu passenscheint, mir vorzukommen, obwohl ich mich vielleicht in dieserHinsicht täuschen kann. Ich halte es aber für meine Pflicht, Sienicht für unglücklich zu halten, sondern eher bloß für ein weniggelangweilt, was doch aber weiter nicht schlimm ist, das werdenSie zugeben. Haben Sie etwa den Versuch machen wollen, michsentimental zu machen? Wenn es so wäre,würde ich mir erlauben,Sie zu bitten, auf dieses Unternehmen zu verzichten, denn ich aßbeispielsweise gestern eine Speise, die mich unbefriedigt ließ, undfühlte mich deswegen dennoch nicht im seelischen Gleichgewichtangegriffen, woraus Sie sehen können, wie schwierig es ist, mich

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zu anormalisieren. Ihre Aufgabe scheint darin zu bestehen, mirMitleid mit Ihnen einzuflößen. Inwiefern Sie es nicht umgangenhaben, mich Seelenfreund zu nennen, würde ich vielleicht dasRecht haben, Sie zu bedauern, aber wenn Sie Lust haben, es IhnenVergnügen macht,wie eine Art Bettlerin vor der Türe meines Zim-mers zu stehen, so dürfen Sie dies selbstverständlich zu jederTageszeit tun. Ich erlaube Ihnen, ganze Nächte lang in der Straßeauf- und abzupromenieren, in der ich wohne; nur möchte ich Sieaufgefordert haben, sich für dies Geschäft möglichst warm anzu-ziehen, damit Sie sich nicht erkälten. Meine Meinung ist, daß manalles tun darf. Ich finde es also nicht unpassend, eher nur ein biß-chen leichtsinnig von Ihnen, sich nach einer Berührung durch michzu sehnen. Ich würde froh sein, wenn Sie sich dies alles lediglicheingeredet hätten, und wenn Sie sich, bei einigem Besinnen, voneiner Romantik zurückziehen würden, die sich mir mit unsererheutigen Wirklichkeit nicht zu vertragen scheint. Was ich beifüge,ist, daß ich Sie für eine viel zu nette, feine und artige Frau halte, füreine viel zu zarte Seele, als daß Sie fähig zu sein vermöchten, meineFreundin oder Begleiterin zu sein, denn mir würde es vielleicht ei-nes Tages einfallen, Sie dorthin zu ziehen, wo man mich mit allenRegeln der Kunst zu überlisten sucht. Sie würden in meiner Gesell-schaft zu häufig Anlaß erhalten, Standhaftigkeit zu beweisen, undes wäre unhöflich von mir, Ihnen dies zuzumuten. Warum wollenSie nicht das brave Frauchen bleiben, das Sie mit jeder Faser IhresWesens sind, und warum wollen Sie die nähere Bekanntschaft ei-nes Menschen machen, der sich schon in Gemächern aufhielt,worin an der Wand vielleicht eine Abbildung hing, auf der ein hin-gerissenes Individuum vor einem gleichsam gläsernen, gelassenenhinkniete, und der sich überall befeindet und sich im Nu wiederzum Freund macht, was mitanzusehen für Sie viel zu enervierendwäre? Ich scheine etwas wie der Starke zu sein, der auf Sie, da Siezart sind, anziehend einwirkt! Sie aber scheinen das Leben nicht zukennen; Sie blickten bis dahin nur aus sauberster Distanz in dieWelt hinein, mit deren Alltäglichkeiten ich vertraut bin, mit denenich spiele. Für Sie wäre es aber nicht dasselbe. Sollte Ihr Herr Ge-

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mahl wirklich ein so unausstehliches Etwas sein, als das ihn eineUnverheiratete sicher nicht anschauen würde? Einer ledigen Damewürde er sicher im ganzen genommen gar nicht so unlieb sein.

Darf ich Sie bitten, sich vergegenwärtigen zu wollen, daß ichmeine durchaus eigene, besondere, schöne, unschöne, liebliche,herbe Mission habe, und wie ich vor allem gern mir selber treubleibe? Sie störten mich sehr, und was Ihre Ehe betrifft, so bin ichmindestens jede Woche einmal Passiv- oder Aktivmitglied bei einerEifersuchtsaffäre. Für mich wäre das also nichts Neues. BleibenSie lieber, bitte, für mich ein fortwährendes, unauflösliches, hieund da zu Nachdenklichkeiten anlaßgebendes, hochanständiges,gutbürgerliches Rätsel. Auf mich machen Sie den Eindruck einerFrau, die sich mehr Bedeutung beimißt, als ihr gestattet zu seinscheint. Möchten Sie nicht den Schreiber dieser Zeilen sich zu den-jenigen Frauen hingezogen fühlen lassen, die sich dadurch gewis-sermaßen auszeichnen, daß sie eher in Wirklichkeit bedeutendsind, als daß es ihnen darum zu tun wäre, so zu scheinen? Dies istsicher ein sehr herzhafter, weil unartiger Brief.

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Franz KafkaEin Landarzt

Ich war in großer Verlegenheit: eine dringende Reise stand mirbevor; ein Schwerkranker wartete auf mich in einem zehn Meilenentfernten Dorfe; starkes Schneegestöber füllte den weiten Raumzwischen mir und ihm; einen Wagen hatte ich, leicht, großräderig,ganz wie er für unsere Landstraßen taugt; in den Pelz gepackt, dieInstrumententasche in der Hand, stand ich reisefertig schon aufdem Hofe; aber das Pferd fehlte,das Pferd. Mein eigenes Pferd warin der letzten Nacht, infolge der Überanstrengung in diesem eisi-gen Winter, verendet; mein Dienstmädchen lief jetzt im Dorf um-her, um ein Pferd geliehen zu bekommen; aber es war aussichtslos,ich wußte es, und immer mehr vom Schnee überhäuft, immer un-beweglicher werdend, stand ich zwecklos da. Am Tor erschien dasMädchen, allein, schwenkte die Laterne; natürlich wer leiht jetztsein Pferd her zu solcher Fahrt? Ich durchmaß noch einmal denHof; ich fand keine Möglichkeit; zerstreut, gequält stieß ich mitdem Fuß an die brüchige Tür des schon seit Jahren unbenütztenSchweinestalles. Sie öffnete sich und klappte in den Angeln auf undzu. Wärme und Geruch wie von Pferden kam hervor. Eine trübeStallaterne schwankte drin an einem Seil. Ein Mann, zusammenge-kauert in dem niedrigen Verschlag, zeigte sein offenes blauäugi-ges Gesicht. »Soll ich anspannen?« fragte er, auf allen vieren her-vorkriechend. Ich wußte nichts zu sagen und beugte mich nur,um zu sehen, was es noch in dem Stalle gab. Das Dienstmädchenstand neben mir. »Man weiß nicht,was für Dinge man im eigenenHause vorrätig hat«, sagte es, und wir beide lachten. »Holla, Bru-der, holla, Schwester!« rief der Pferdeknecht, und zwei Pferde,mächtige flankenstarke Tiere, schoben sich hintereinander, dieBeine eng am Leib,die wohlgeformten Köpfe wie Kamele senkend,nur durch die Kraft der Wendungen ihres Rumpfes aus dem Tür-loch, das sie restlos ausfüllten. Aber gleich standen sie aufrecht,hochbeinig, mit dicht ausdampfendem Körper. »Hilf ihm«, sagte

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ich, und das willige Mädchen eilte, dem Knecht das Geschirr desWagens zu reichen. Doch kaum war es bei ihm, umfaßt es derKnecht und schlägt sein Gesicht an ihres. Es schreit auf und flüch-tet sich zu mir; rot eingedrückt sind zwei Zahnreihen in des Mäd-chens Wange. »Du Vieh«, schreie ich wütend, »willst du die Peit-sche?«, besinne mich aber gleich, daß es ein Fremder ist; daß ichnicht weiß,woher er kommt, und daß er mir freiwillig aushilft,woalle andern versagen. Als wisse er von meinen Gedanken, nimmt ermeine Drohung nicht übel, sondern wendet sich nur einmal, immermit den Pferden beschäftigt, nach mir um. »Steigt ein«, sagt erdann, und tatsächlich: alles ist bereit. Mit so schönem Gespann,das merke ich, bin ich noch nie gefahren, und ich steige fröhlichein. »Kutschieren werde aber ich, du kennst nicht den Weg«, sageich. »Gewiß«, sagt er, »ich fahre gar nicht mit, ich bleibe beiRosa.« »Nein«, schreit Rosa und läuft im richtigen Vorgefühl derUnabwendbarkeit ihres Schicksals ins Haus; ich höre die Türketteklirren, die sie vorlegt; ich höre das Schloß einspringen; ich sehe,wie sie überdies im Flur und weiterjagend durch die Zimmer alleLichter verlöscht, um sich unauffindbar zu machen. »Du fährstmit«, sage ich zu dem Knecht, »oder ich verzichte auf die Fahrt, sodringend sie auch ist. Es fällt mir nicht ein, dir für die Fahrt dasMädchen als Kaufpreis hinzugeben.« »Munter!« sagt er; klatschtin die Hände; der Wagen wird fortgerissen, wie Holz in die Strö-mung; noch höre ich, wie die Tür meines Hauses unter dem An-sturm des Knechts birst und splittert, dann sind mir Augen undOhren von einem zu allen Sinnen gleichmäßig dringenden Sausenerfüllt. Aber auch das nur einen Augenblick, denn, als öffne sichunmittelbar vor meinem Hoftor der Hof meines Kranken, bin ichschon dort; ruhig stehen die Pferde; der Schneefall hat aufgehört;Mondlicht ringsum; die Eltern des Kranken eilen aus dem Haus;seine Schwester hinter ihnen; man hebt mich fast aus dem Wagen;den verwirrten Reden entnehme ich nichts; im Krankenzimmer istdie Luft kaum atembar; der vernachlässigte Herdofen raucht; ichwerde das Fenster aufstoßen; zuerst aber will ich den Kranken se-hen. Mager, ohne Fieber, nicht kalt, nicht warm, mit leeren Augen,

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ohne Hemd hebt sich der Junge unter dem Federbett, hängt sich anmeinen Hals, flüstert mir ins Ohr: »Doktor, laß mich sterben.« Ichsehe mich um; niemand hat es gehört; die Eltern stehen stummvorgebeugt und erwarten mein Urteil; die Schwester hat einenStuhl für meine Handtasche gebracht. Ich öffne die Tasche undsuche unter meinen Instrumenten; der Junge tastet immerfort ausdem Bett nach mirhin,um mich an seine Bitte zu erinnern; ich fasseeine Pinzette, prüfe sie im Kerzenlicht und lege sie wieder hin. ›Ja‹,denke ich lästernd, ›in solchen Fällen helfen die Götter, schickendas fehlende Pferd, fügen der Eile wegen noch ein zweites hinzu,spenden zum Übermaß noch den Pferdeknecht.‹ Jetzt erst fällt mirwieder Rosa ein; was tue ich,wie rette ich sie,wie ziehe ich sie unterdiesem Pferdeknecht hervor, zehn Meilen von ihr entfernt, unbe-herrschbare Pferde vor meinem Wagen? Diese Pferde, die jetzt dieRiemen irgendwie gelockert haben; die Fenster, ich weiß nicht wie,von außen aufstoßen? jedes durch ein Fenster den Kopf steckenund, unbeirrt durch den Aufschrei der Familie, den Kranken be-trachten. ›Ich fahre gleich wieder zurück‹, denke ich, als fordertenmich die Pferde zur Reise auf, aber ich dulde es,daß die Schwester,die mich durch die Hitze betäubt glaubt, den Pelz mir abnimmt.Ein Glas Rum wird mir bereitgestellt, der Alte klopft mir auf dieSchulter, die Hingabe seines Schatzes rechtfertigt diese Vertrau-lichkeit. Ich schüttle den Kopf; in dem engen Denkkreis des Altenwürde mir übel; nur aus diesem Grunde lehne ich es ab zu trinken.Die Mutter steht am Bett und lockt mich hin; ich folge und lege,während ein Pferd laut zur Zimmerdecke wiehert, den Kopf an dieBrust des Jungen, der unter meinem nassen Bart erschauert. Es be-stätigt sich,was ich weiß: der Junge ist gesund, ein wenig schlechtdurchblutet, von der sorgenden Mutter mit Kaffee durchtränkt,aber gesund und am besten mit einem Stoß aus dem Bett zu treiben.Ich bin kein Weltverbesserer und lasse ihn liegen. Ich bin vom Be-zirk angestellt und tue meine Pflicht bis zum Rand, bis dorthin,woes fast zu viel wird. Schlecht bezahlt, bin ich doch freigebig undhilfsbereit gegenüber den Armen. Noch für Rosa muß ich sorgen,dann mag der Junge recht haben und auch ich will sterben. Was tue

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ich hier in diesem endlosen Winter! Mein Pferd ist verendet,und daist niemand im Dorf, der mir seines leiht. Aus dem Schweinestallmuß ich mein Gespann ziehen; wären es nicht zufällig Pferde,müßte ich mit Säuen fahren. So ist es. Und ich nicke der Familie zu.Sie wissen nichts davon, und wenn sie es wüßten, würden sie esnicht glauben. Rezepte schreiben ist leicht, aber imübrigen sich mitden Leuten verständigen, ist schwer. Nun, hier wäre also mein Be-such zu Ende, man hat mich wieder einmal unnötig bemüht,daranbin ich gewöhnt, mit Hilfe meiner Nachtglocke martert mich derganze Bezirk, aber daß ich diesmal auch noch Rosa hingebenmußte, dieses schöne Mädchen, das jahrelang, von mir kaum be-achtet, in meinem Hause lebte – dieses Opfer ist zu groß, und ichmuß es mir mit Spitzfindigkeiten aushilfsweise in meinem Kopfirgendwie zurechtlegen, um nicht auf diese Familie loszufahren,die mir jabeim besten Willen Rosa nicht zurückgeben kann. Als ichaber meine Handtasche schließe und nach meinem Pelz winke,dieFamilie beisammensteht, der Vater schnuppernd über dem Rum-glas in seiner Hand, die Mutter, von mir wahrscheinlich ent-täuscht – ja, was erwartet denn das Volk? – tränenvoll in die Lip-pen beißend und die Schwester ein schwer blutiges Handtuchschwenkend, bin ich irgendwie bereit, unter Umständen zuzuge-ben, daß der Junge doch vielleicht krank ist. Ich gehe zu ihm, erlächelt mir entgegen, als brächte ich ihm etwa die allerstärksteSuppe – ach, jetzt wiehern beide Pferde; der Lärm soll wohl, hö-hern Orts angeordnet, die Untersuchung erleichtern – und nunfinde ich: ja, der Junge ist krank. In seiner rechten Seite, in derHüftengegend hat sich eine handtellergroße Wunde aufgetan.Rosa, in vielen Schattierungen,dunkel in der Tiefe, hellwerdend zuden Rändern, zartkörnig, mit ungleichmäßig sich aufsammelndemBlut, offen wie ein Bergwerk obertags. So aus der Entfernung. Inder Nähe zeigt sich noch eine Erschwerung. Wer kann das ansehenohne leise zu pfeifen? Würmer, an Stärke und Länge meinem klei-nen Finger gleich, rosig aus eigenem und außerdem blutbespritzt,winden sich, im Innern der Wunde festgehalten, mit weißen Köpf-chen, mit vielen Beinchen ans Licht. Armer Junge, dir ist nicht zu

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helfen. Ich habe deine große Wunde aufgefunden; an dieser Blumein deiner Seite gehst du zugrunde. Die Familie ist glücklich, sie siehtmich in Tätigkeit; die Schwester sagt’s der Mutter, die Mutter demVater, der Vater einigen Gästen, die auf den Fußspitzen, mit ausge-streckten Armen balancierend,durch den Mondschein der offenenTür hereinkommen. »Wirst du mich retten?« flüstert schluchzendder Junge, ganz geblendet durch das Leben in seiner Wunde. Sosind die Leute in meiner Gegend. Immer das Unmögliche vom Arztverlangen. Den alten Glauben haben sie verloren; der Pfarrer sitztzu Hause und zerzupft die Meßgewänder, eines nach dem andern;aber der Arzt soll alles leisten mit seiner zarten chirurgischen Hand.Nun,wie es beliebt: ich habe mich nicht angeboten; verbraucht ihrmich zu heiligen Zwecken, lasse ich auch das mit mir geschehen;was will ich Besseres, alter Landarzt, meines Dienstmädchens be-raubt! Und sie kommen, die Familie und die Dorfältesten, und ent-kleiden mich; ein Schulchor mit dem Lehrer an der Spitze steht vordem Haus und singt eine äußerst einfache Melodie auf den Text:

Entkleidet ihn, dann wird er heilen,Und heilt er nicht, so tötet ihn!’s ist nur ein Arzt, ’s ist nur ein Arzt.

Dann bin ich entkleidet und sehe, die Finger im Barte, mit geneig-tem Kopf die Leute ruhig an. Ich bin durchaus gefaßt und allenüberlegen und bleibe es auch, trotzdem es mir nichts hilft, dennjetzt nehmen sie mich beim Kopf und bei den Füßen und tragenmich ins Bett. Zur Mauer, an die Seite der Wunde legen sie mich.Dann gehen alle aus der Stube; die Tür wird zugemacht; der Ge-sang verstummt; Wolken treten vor den Mond; warm liegt das Bett-zeug um mich, schattenhaft schwanken die Pferdeköpfe in denFensterlöchern.»Weißtdu«, höre ich,mir insOhrgesagt,»meinVer-trauenzudir ist sehrgering.Dubist jaauchnur irgendwoabgeschüt-telt, kommst nicht auf eigenen Füßen. Statt zu helfen, engst du mirmein Sterbebett ein. Am liebsten kratzte ich dir die Augen aus.«»Richtig«, sage ich, »es ist eine Schmach. Nun bin ich aber Arzt.Was soll ich tun? Glaube mir, es wird auch mir nicht leicht.« »Mit

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dieser Entschuldigung soll ich mich begnügen? Ach, ich muß wohl.Immer muß ich mich begnügen. Mit einer schönen Wunde kam ichauf die Welt; das war meine ganze Ausstattung.« »Junger Freund«,sage ich, »dein Fehler ist: du hast keinen Überblick. Ich, der ichschon in allen Krankenstuben, weit und breit, gewesen bin, sagedir: deine Wunde ist so übel nicht. Im spitzen Winkel mit zwei Hie-benderHacke geschaffen.Vielebieten ihreSeiteanundhörenkaumdie Hacke im Forst, geschweige denn,daß sie ihnen näher kommt.«»Ist es wirklich so oder täuschest du mich im Fieber?« »Es ist wirk-lich so, nimm das Ehrenwort eines Amtsarztes mit hinüber.« Under nahm’s und wurde still. Aber jetzt war es Zeit, an meine Rettungzu denken. Noch standen treu die Pferde an ihren Plätzen. Kleider,Pelz und Tasche waren schnell zusammengerafft; mit dem Anklei-den wollte ich mich nicht aufhalten; beeilten sich die Pferde wieauf der Herfahrt, sprang ich ja gewissermaßen aus diesem Bettin meines. Gehorsam zog sich ein Pferd vom Fenster zurück; ichwarf den Ballen in den Wagen; der Pelz flog zu weit, nur mit einemÄrmel hielt er sich an einem Haken fest. Gut genug. Ich schwangmich aufs Pferd. Die Riemen lose schleifend, ein Pferd kaum mitdem andern verbunden, der Wagen irrend hinterher, den Pelz alsletzter im Schnee. »Munter!« sagte ich, aber munter ging’s nicht;langsam wie alte Männer zogen wir durch die Schneewüste; langeklang hinter uns der neue, aber irrtümliche Gesang der Kinder:

Freuet euch, ihr Patienten,Der Arzt ist euch ins Bett gelegt!

Niemals komme ich so nach Hause; meine blühende Praxis ist ver-loren; ein Nachfolger bestiehlt mich, aber ohne Nutzen, denn erkann mich nicht ersetzen; in meinem Hause wütet der ekle Pferde-knecht; Rosa ist sein Opfer; ich will es nicht ausdenken. Nackt,dem Froste dieses unglückseligsten Zeitalters ausgesetzt, mit irdi-schem Wagen, unirdischen Pferden, treibe ich alter Mann michumher. Mein Pelz hängt hinten am Wagen, ich kann ihn aber nichterreichen, und keiner aus dem beweglichen Gesindel der Patientenrührt den Finger. Betrogen! Betrogen! Einmal dem Fehlläuten derNachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.

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Marie Luise KaschnitzLange Schatten

Langweilig, alles langweilig, die Hotelhalle, der Speisesaal, derStrand, wo die Eltern in der Sonne liegen, einschlafen, den Mundoffenstehen lassen, aufwachen, gähnen, ins Wasser gehen, eineViertelstunde vormittags, eine Viertelstunde nachmittags, immerzusammen. Man sieht sie von hinten, Vater hat zu dünne Beine,Mutter zu dicke, mit Krampfadern, im Wasser werden sie dannmunter und spritzen kindisch herum. Rosie geht niemals zusam-men mit den Eltern schwimmen, sie muß währenddessen auf dieSchwestern achtgeben, die noch klein sind, aber nicht mehr süß,sondern alberne Gänse, die einem das Buch voll Sand schüttenoder eine Qualle auf den nackten Rücken legen. Eine Familie zuhaben ist entsetzlich, auch andere Leute leiden unter ihren Fami-lien, Rosie sieht das ganz deutlich, zum Beispiel der braune Mannmit dem Goldkettchen, den sie den Schah nennt, statt bei den Sei-nen unterm Sonnenschirm hockt er an der Bar oder fährt mit demMotorboot, wilde Schwünge, rasend schnell und immer allein.Eine Familie ist eine Plage, warum kann man nicht erwachsen aufdie Welt kommen und gleich seiner Wege gehen. Ich gehe meinerWege, sagt Rosie eines Tages nach dem Mittagessen und setzt vor-sichtshalber hinzu, in den Ort, Postkarten kaufen, Ansichtskarten,die an die Schulfreundinnen geschrieben werden sollen, als ob siedaran dächte, diesen dummen Gören aus ihrer Klasse Kärtchen zuschicken,Gruß vom blauen Mittelmeer,wie geht es dir, mir geht esgut. Wir kommen mit, schreien die kleinen Schwestern, aber gott-lob nein, sie dürfen nicht, sie müssen zum Nachmittagsschlafen insBett. Also nur die Fahrstraße hinauf bis zum Marktplatz und gleichwieder zurück, sagt der Vater, und mit niemandem sprechen, undgeht der Mutter und den kleinen Schwestern nach mit seinem ar-men, krummen Bürorücken, er war heute mit dem Boot auf demWasser, aber ein Seefahrer wird er nie. Nur die Fahrstraße hinauf,oben sieht man, mit Mauern und Türmen an den Berg geklebt,den

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Ort liegen, aber die Eltern waren noch nie dort,der Weg war ihnenzu lang, zu heiß,was er auch ist, kein Schatten weit und breit. Rosiebraucht keinen Schatten, wozu auch, ihr ist überall wohl, wohl inihrer sonnenölglänzenden Haut, vorausgesetzt, daß niemand anihr herumerzieht und niemand sie etwas fragt. Wenn man alleinist, wird alles groß und merkwürdig und beginnt einem allein zugehören, meine Straße, meine schwarze räudige Katze, mein toterVogel, eklig, von Ameisen zerfressen, aber unbedingt in die Handzu nehmen, mein. Meine langen Beine in verschossenen Leinenho-sen, meine weißen Sandalen, ein Fuß vor den andern, niemand istauf der Straße, die Sonne brennt. Dort, wo die Straße den Hügelerreicht, fängt sie an, eine Schlangenlinie zu beschreiben, blaueSchlange im goldenen Reblaub, und in den Feldern zirpen dieGrillen wie toll. Rosie benützt den Abkürzungsweg durch die Gär-ten, eine alte Frau kommt ihr entgegen, eine Mumie, um Gotteswillen, was da noch so herumläuft und gehört doch längst insGrab. Ein junger Mann überholt Rosie und bleibt stehen, und Ro-sie macht ein strenges Gesicht. Die jungen Männer hier sind zu-dringliche Taugenichtse, dazu braucht man keine Eltern, um daszu wissen,wozu überhaupt braucht man Eltern,der Teufel, den siean die Wand malen, hat schon längst ein ganz anderes Gesicht.Nein,danke, sagt Rosie höflich, ich brauche keine Begleitung,undgeht an dem jungen Mann vorbei, wie sie es den Mädchen hierabgeguckt hat, steiles Rückgrat,Wirbel über Wirbel, das Kinn an-gezogen, die Augen finster niedergeschlagen, und er murmelt nurnoch einiges Schmeichelhafte, das in Rosies Ohren grenzenlosalbern klingt. Weingärten, Kaskaden von rosa Geranienblüten,Nußbäume, Akazien, Gemüsebeete, weiße Häuser, rosa Häuser,Schweiß in den Handflächen, Schweiß auf dem Gesicht. Endlich istdie Höhe erreicht, die Stadt auch, das Schiff Rosie bekommt Windunter die Leinwand und segelt glücklich durch Schattenstraßen,an Obstständen und flachen Blechkästen voll farbiger, glitzern-der, rundäugiger Fische hin. Mein Markt, meine Stadt, mein La-den mit Herden von Gummitieren und einem Firmament von Stroh-hüten, auch mit Ständern voll Ansichtskarten, von denen Rosie,

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der Form halber, drei schreiendblaue Meeresausblicke wählt. Wei-ter auf den Platz, keine Ah- und Oh-Gedanken angesichts des Ka-stells und der Kirchenfassaden, aber interessierte Blicke auf diebescheidenen Auslagen, auch in die Schlafzimmer zu ebener Erde,wo über gußeisernen,vielfach verschnörkelten Ehebettstellen süß-liche Madonnenbilder hängen. Auf der Straße ist zu dieser frü-hen Nachmittagsstunde fast niemand mehr, ein struppiger, kleinerHund von unbestimmbarer Rasse kläfft zu einem Fenster hinauf,wo ein Junge steht und ihm Grimassen schneidet. Rosie findet inihrer Hosentasche ein halbes Brötchen vom zweiten Frühstück.Fang, Scherenschleifer, sagt sie und hält es dem Hund hin, undder Hund tanzt lustig wie ein dressiertes Äffchen um sie herum.Rosie wirft ihm das Brötchen zu und jagt es ihm gleich wiederab, das häßliche, auf zwei Beinen hüpfende Geschöpf macht sie la-chen, am Ende hockt sie im Rinnstein und krault ihm den schmut-zig-weißen Bauch. Ehi, ruft der Junge vom Fenster herunter, undRosie ruft Ehi zurück, ihre Stimmen hallen, einen Augenblick langist es, als seien sie beide die einzigen, die wach sind in der heißen,dösenden Stadt. Daß der Hund ihr, als sie weitergeht, nachläuft,gefällt dem Mädchen, nichts gefragt werden, aber Gesellschaft ha-ben, sprechen können, komm mein Hündchen, jetzt gehen wirzum Tor hinaus. Das Tor ist ein anderes als das, durch welches Ro-sie in die Stadt gekommen ist, und die Straße führt keinesfalls zumStrand hinunter, sondern bergauf, durchquert einen Steineichen-wald und zieht dann, mit vollem Blick auf das Meer, hochobenden fruchtbaren Hang entlang. Hierhinauf und weiter zum Leucht-turm haben die Eltern einen gemeinsamen Spaziergang geplant;daß sie jetzt hinter der Bergnase in ihrem verdunkelten Zimmerauf den Betten liegen, ist beruhigend, Rosie ist in einem anderenLand, mein Ölwald, mein Orangenbaum, mein Meer, mein Hünd-chen, bring mir den Stein zurück. Der Hund apportiert und belltauf dem dunkelblauen, schmelzenden Asphaltband, jetzt läuft erein Stück stadtwärts, da kommt jemand um die Felsenecke, einJunge,der Junge,deramFenster gestandenund Grimassen geschnit-ten hat, ein stämmiges, braunverbranntes Kind. Dein Hund? fragt

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Rosie, und der Junge nickt, kommt näher und fängt an, ihr die Ge-gend zu erklären. Rosie, die von einem Aufenthalt im Tessin herein wenig Italienisch versteht, ist zuerst erfreut, dann enttäuscht,da sie sich schon hat denken können, daß das Meer das Meer, derBerg der Berg und die Inseln die Inseln sind. Sie geht schneller,aber der vierschrötige Junge bleibt ihr auf den Fersen und redetweiter auf sie ein, alles, auf das er mit seinen kurzen braunen Fin-gern zeigt,verliert seinen Zauber,was übrigbleibt, ist eine Ansichts-karte wie die von Rosie erstandenen, knallblau und giftgrün. Ersoll nach Hause gehen, denkt sie, mitsamt seinem Hund, auch andem hat sie plötzlich keine Freude mehr. Als sie in einiger Entfer-nung zur Linken einen Pfad von der Straße abzweigen und zwi-schen Felsen und Macchia steil bergabführen sieht, bleibt sie ste-hen, holt aus ihrer Tasche die paar Münzen,die von ihrem Einkaufübriggeblieben sind, bedankt sich und schickt den Jungen zurück,vergißt ihn auch sogleich und genießt das Abenteuer, den Felsen-pfad, der sich bald im Dickicht verliert. Die Eltern und Geschwi-ster hat Rosie erst recht vergessen, auch sich selbst als Person,mit Namen und Alter, die Schülerin Rosie Walter, Obersekunda,könnte mehr leisten; nichts mehr davon, eine schweifende Seele,auf trotzige Art verliebt in die Sonne, die Salzluft, das Tun- undLassenkönnen, ein erwachsener Mensch wie der Schah, der leidernie spazierengeht, sonst könnte man ihm hier begegnen und mitihm zusammen, ohne dummes Gegacker, nach fern vorüberzie-henden Dampfern Ausschau halten. Der Pfad wird zur Treppe, diesich um den Felsen windet, auf eine Stufe setzt sich Rosie, befühltden rissigen Stein mit allen zehn Fingern, riecht an der Minze, diesie mit den Handflächen zerreibt. Die Sonne glüht, das Meer blitztund blendet. Pan sitzt auf dem Ginsterhügel, aber Rosies Schulbil-dung ist lückenhaft, von dem weiß sie nichts. Pan schleicht derNymphe nach, aber Rosie sieht nur den Jungen, den zwölfjähri-gen, da ist er weiß Gott schon wieder, sie ärgert sich sehr. Die Fel-sentreppe herunter kommt er lautlos auf staubgrauen Füßen, jetztohne sein Hündchen, gesprungen.

Was willst du? sagt Rosie, geh heim, und will ihren Weg fort-

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setzen, der gerade jetzt ein Stück weit ganz ohne Geländer an derFelswand hinführt, drunten liegt der Abgrund und das Meer. DerJunge fängt gar nicht wieder an mit seinem Ecco il mare, eccol’isola, aber er läßt sich auch nicht nach Hause schicken,er folgt ihrund gibt jetzt einen seltsamen, fast flehenden Laut von sich, deretwas Unmenschliches hat und der Rosie erschreckt. Was hat er,was will er? denkt sie, sie ist nicht von gestern, aber das kann dochwohl nicht sein, er ist höchstens zwölf Jahre alt, ein Kind. Es kanndoch sein, der Junge hat zuviel gehört von den älteren Freunden,den großen Brüdern, ein Gespräch ist da im Ort, ein ewiges halb-lautes Gespräch von den fremden Mädchen, die so liebessüchtigund willfährig sind und die allein durch die Weingärten und dieÖlwälder schweifen, kein Ehemann, kein Bruder zieht den Revol-ver, und das Zauberwort amore amore schon lockt ihre Tränen,ihre Küsse hervor. Herbstgespräche sind das,Wintergespräche, imkalten, traurigen Café oder am nassen, grauen, überaus einsamenStrand, Gespräche, bei denen die Glut des Sommers wieder ent-zündet wird. Warte nur, Kleiner, in zwei Jahren, in drei Jahrenkommt auch für dich eine, über den Marktplatz geht sie, du stehstam Fenster, und sie lächelt dir zu. Dann lauf nur hinterher, Klei-ner, genier dich nicht, pack sie,was sagst du, sie will nicht, aber sietut doch nur so, sie will.

Nicht daß der Junge, der Herr des äffigen Hündchens, sich indiesem Augenblick an solche Ratschläge erinnert hätte, an dengroßen Liebes- und Sommergesang des Winters,und die zwei,dreiJahre sind auch noch keineswegs herum. Er ist noch immer derPeppino, die Rotznase, dem seine Mutter eins hinter die Ohrengibt,wenn er aus dem Marmeladeneimer nascht. Er kann nicht wiedie Großen herrisch auftreten, lustig winken und schreien, ah,bella, jetzt wo er bei dem Mädchen, dem ersten, das ihm zugelä-chelt und seinen Hund an sich gelockt hat, sein Glück machen will.Sein Glück, er weiß nicht,was das ist, ein Gerede und Geraune derGroßen, oder weiß er es doch plötzlich, als Rosie vor ihm zurück-weicht, seine Hand wegstößt und sich, ganz weiß im Gesicht, andie Felswand drückt? Er weiß es, und weil er nicht fordern kann,

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fängt er an zu bitten und zu betteln, in der den Fremden verständ-lichen Sprache,die nur aus Nennformen besteht. Zu mir kommen,bitte, mich umarmen, bitte, küssen bitte, lieben bitte, alles ganzrasch hervorgestoßen mit zitternder Stimme und Lippen, überdie der Speichel rinnt. Als Rosie zuerst noch, aber schon ängstlich,lacht und sagt: Unsinn, was fällt dir ein, wie alt bist du denn über-haupt? weicht er zurück, fährt aber gleich sozusagen vor ihrenAugen aus seiner Kinderhaut, bekommt zornige Stirnfalten undeinen wilden, gierigen Blick. Er soll mich nicht anrühren,er soll mirnichts tun, denkt Rosie und sieht sich, aber vergebens, nach Hilfeum, die Straße liegt hoch oben, hinter den Felsen, auf dem Zick-zackpfad ihr zu Füßen ist kein Mensch zu sehen, und drunten amMeer erstickt das Geräusch der Brandung gewiß jeden Schrei.Drunten am Meer, da nehmen die Eltern jetzt ihr zweites Bad,wo nur Rosie bleibt, sie wollte doch nur Ansichtskarten für ihreSchulfreundinnen kaufen. Ach, das Klassenzimmer, so gemütlichdunkel im November, das hast du hübsch gemalt, Rosie, diesenEichelhäherflügel, der kommt in den Wechselrahmen, wir stellenihn aus. Rosie Walter und dahinter ein Kreuz, eure liebe Mitschü-lerin, gestorben am blauen Mittelmeer, man sagt besser nicht,wie.Unsinn, denkt Rosie und versucht noch einmal mit unbeholfenenWorten, dem Jungen gut zuzureden, es hätten aber auch beholfe-nere in diesem Augenblick nichts mehr vermocht. Der kleine Pan,flehend, stammelnd, glühend, will seine Nymphe haben, er reißtsich das Hemd ab, auch die Hose, er steht plötzlich nackt in dergrellheißen Steinmulde vor dem gelben Strauch und schweigt er-schrocken, und ganz still ist es mit einemmal, und von druntenhört man das geschwätzige, gefühllose Meer.

Rosie starrt den nackten Jungen an und vergißt ihre Angst, soschön erscheint er ihr plötzlich mit seinen braunen Gliedern, sei-nem Badehosengürtel von weißer Haut, seiner Blütenkrone umdas schweißnasse schwarze Haar. Nur daß er jetzt aus seinem gol-denen Heiligenschein tritt und auf sie zukommt und die langenweißen Zähne fletscht, da ist er der Wolf aus dem Märchen, einwildes Tier. Gegen Tiere kann man sich wehren, Rosies eigener

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schmalbrüstiger Vater hat das einmal getan, aber Rosie war nochklein damals, sie hat es vergessen, aber jetzt fällt es ihr wieder ein.Nein, Kind, keinen Stein, Hunden muß man nur ganz fest in dieAugen sehen, so, laß ihn herankommen, ganz starr ins Auge, siehstdu, er zittert, er drückt sich an den Boden, er läuft fort. Der Jungeist ein streunender Hund, er stinkt, er hat Aas gefressen, vielleichthat er die Tollwut, ganz still jetzt, Vater, ich kann es auch. Rosie,die zusammengesunken wie ein Häufchen Unglück an der Fels-wand kauert, richtet sich auf, wächst, wächst aus ihren Kinder-schultern und sieht dem Jungen zornig und starr in die Augen,vieleSekunden lang, ohne ein einziges Mal zu blinzeln und ohne einGlied zu bewegen. Es ist noch immer furchtbar still und riechtnun plötzlich betäubend aus Millionen von unscheinbaren, honig-süßen, kräuterbitteren Macchiastauden, und in der Stille und demDuft fällt doch der Junge wirklich in sich zusammen, wie einePuppe, aus der das Sägemehl rinnt. Man begreift es nicht, mandenkt nur, entsetzlich muß Rosies Blick gewesen sein, etwas voneiner Urkraft muß in ihm gelegen haben, Urkraft der Abwehr, sowie in dem Flehen und Stammeln und in der letzten wilden Gestedes Knaben die Urkraft des Begehrens lag. Alles neu, alles ersterwacht an diesem heißen, strahlenden Nachmittag, lauter neueErfahrungen, Lebensliebe, Begehren und Scham, diese Kinder,Frühlings Erwachen, aber ohne Liebe, nur Sehnsucht und Angst.Beschämt zieht sich der Junge unter Rosies Basiliskenblick zurück,Schritt für Schritt, wimmernd wie ein kranker Säugling, und auchRosie schämt sich, eben der Wirkung dieses Blickes, den etwa voreinem Spiegel später zu wiederholen sie nie den Mut finden wird.Am Ende sitzt der Junge, der sich, seine Kleider in der Hand, raschumgedreht hat und die Felsenstiege lautlos hinaufgelaufen ist, nurdas Hündchen ist plötzlich wieder da und bellt unbekümmert undfrech, der Junge sitzt auf dem Mäuerchen, knöpft sich das Hemdzu und murmelt vor sich hin, zornig und tränenblind. Rosie läuftden Zickzackweg hinab und will erleichtert sein, noch einmal da-vongekommen, nein, diese Väter, was man von den Vätern dochlernen kann, und ist im Grunde doch nichts als traurig, stolpert

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zwischen Wolfsmilchstauden und weißen Dornenbüschen, tränen-blind. Eure Mitschülerin Rosie, ich höre, du warst sogar in Italien,ja danke, es war sehr schön. Schön und entsetzlich war es, und amUfer angekommen, wäscht sich Rosie das Gesicht und den Halsmit Meerwasser, denkt, erzählen, auf keinen Fall, kein Wort, undschlendert dann, während oben auf der Straße der Junge langsamnach Hause trottet, am Saum der Wellen zum Badestrand, zu denEltern hin. Und so viel Zeit ist über all dem vergangen, daß dieSonne bereits schräg über dem Berge steht und daß sowohl Rosiewie der Junge im Gehen lange Schatten werfen, lange,weit vonein-ander entfernte Schatten, über die Kronen der jungen Pinien amAbhang, über das schon blassere Meer.

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Max FrischDer andorranische Jude

In Andorra lebte ein junger Mann, den man für einen Juden hielt.Zu erzählen wäre die vermeintliche Geschichte seiner Herkunft,sein täglicher Umgang mit den Andorranern, die in ihm den Judensehen: das fertige Bildnis, das ihn überall erwartet. Beispielsweiseihr Mißtrauen gegenüber seinem Gemüt, das ein Jude, wie auchdie Andorraner wissen, nicht haben kann. Er wird auf die Schärfeseines Intellektes verwiesen, der sich eben dadurch schärft, notge-drungen. Oder sein Verhältnis zum Geld,das in Andorra auch einegroße Rolle spielt: er wußte, er spürte,was alle wortlos dachten; erprüfte sich, ob es wirklich so war,daß er stets an das Geld denke,erprüfte sich, bis er entdeckte,daß es stimmt, es war so, in der Tat,erdachte stets an das Geld. Er gestand es; er stand dazu, und dieAndorraner blickten sich an, wortlos, fast ohne ein Zucken derMundwinkel. Auch in Dingen des Vaterlandes wußte er genau,was sie dachten; sooft er das Wort in den Mund genommen, ließensie es liegen wie eine Münze, die in den Schmutz gefallen ist. Dennder Jude, auch das wußten die Andorraner, hat Vaterländer, dieer wählt, die er kauft, aber nicht ein Vaterland wie wir, nicht einzugeborenes, und wiewohl er es meinte, wenn es um andorrani-sche Belange ging, er redete in ein Schweigen hinein,wie in Watte.Später begriff er, daß es ihm offenbar an Takt fehlte, ja, man sagtees ihm einmal rundheraus, als er, verzagt über ihr Verhalten, gera-dezu leidenschaftlich wurde. Das Vaterland gehörte den andern,ein für allemal, und daß er es lieben könnte, wurde von ihm nichterwartet, im Gegenteil, seine beharrlichen Versuche und Werbun-gen öffneten nur eine Kluft des Verdachtes; er buhlte um eineGunst, um einen Vorteil, um eine Anbiederung, die man als Mittelzum Zweck empfand auch dann, wenn man selber keinen mög-lichen Zweck erkannte. So wiederum ging es, bis er eines Tagesentdeckte, mit seinem rastlosen und alles zergliedernden Scharf-sinn entdeckte, daß er das Vaterland wirklich nicht liebte, schon

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das bloße Wort nicht, das jedesmal, wenn er es brauchte, ins Pein-liche führte. Offenbar hatten sie recht. Offenbar konnte er über-haupt nicht lieben, nicht im andorranischen Sinn; er hatte die Hitzeder Leidenschaft, gewiß, dazu die Kälte seines Verstandes, unddiesen empfand man als eine immer bereite Geheimwaffe seinerRachsucht; es fehlte ihm das Gemüt, das Verbindende; es fehlteihm, und das war unverkennbar, die Wärme des Vertrauens. DerUmgang mit ihm war anregend, ja, aber nicht angenehm, nichtgemütlich. Es gelang ihm nicht, zu sein wie alle andern, und nach-dem er es umsonst versucht hatte, nicht aufzufallen, trug er seinAnderssein sogar mit einer Art von Trotz, von Stolz und lauernderFeindschaft dahinter,die er,da sie ihm selber nicht gemütlich war,hinwiederum mit einer geschäftigen Höflichkeit überzuckerte;noch wenn er sich verbeugte,war es eine Art von Vorwurf, als wäredie Umwelt daran schuld, daß er ein Jude ist –

Die meisten Andorraner taten ihm nichts.Also auch nichts Gutes.Auf der andern Seite gab es auch Andorraner eines freieren und

fortschrittlichen Geistes,wie sie es nannten, eines Geistes, der sichder Menschlichkeit verpflichtet fühlte; sie achteten den Juden,wie sie betonten, gerade um seiner jüdischen Eigenschaften willen,Schärfe des Verstandes und so weiter. Sie standen zu ihm bis zuseinem Tode, der grausam gewesen ist, so grausam und ekelhaft,daß sich auch jene Andorraner entsetzten, die es nicht berührthatte, daß schon das ganze Leben grausam war. Das heißt, sie be-klagten ihn eigentlich nicht, oder ganz offen gesprochen: sie ver-mißten ihn nicht – sie empörten sich nur über jene, die ihn getötethatten, und über die Art, wie das geschehen war, vor allem dieArt.

Man redete lange davon.Bis es sich eines Tages zeigt, was er selber nicht hat wissen kön-

nen,der Verstorbene: daß er ein Findelkind gewesen,dessen Elternman später entdeckt hat, ein Andorraner wie unsereiner –

Man redete nicht mehr davon.Die Andorraner aber, sooft sie in den Spiegel blickten, sahen

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mit Entsetzen, daß sie selber die Züge des Judas tragen, jeder vonihnen.

Du sollst dir kein Bildnis machen, heißt es, von Gott. Es dürfteauch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Men-schen, das, was nicht erfaßbar ist. Es ist eine Versündigung, diewir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlaß wiederbegehen –

Ausgenommen wenn wir lieben.

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Inhalt

Johann Wolfgang GoetheDie Sängerin Antonelli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Die wunderlichen Nachbarskinder . . . . . . . . . . . . . 22

Johann Peter HebelKannitverstan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30Unverhofftes Wiedersehen . . . . . . . . . . . . . . . . . 33Drei Wünsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

E. T. A. HoffmannRitter Gluck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Heinrich von KleistAnekdote aus dem letzten preußischen Kriege . . . . . . . 51

Jacob und Wilhelm GrimmHänsel und Gretel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53Die Bremer Stadtmusikanten . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Wilhelm HauffDie Geschichte von Kalif Storch . . . . . . . . . . . . . . 63

Eduard von KeyserlingDie Soldaten-Kersta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

Marie von Ebner-EschenbachKrambambuli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

Arthur SchnitzlerDer Tod des Junggesellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Frank WedekindDie Schutzimpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

Rainer Maria RilkeDie Turnstunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

Robert WalserEin unartiger Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

Alfred DöblinDie Ermordung einer Butterblume . . . . . . . . . . . . . 132

Franz KafkaEin Hungerkünstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

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Ein Landarzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156Vor dem Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162Das Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

Lion FeuchtwangerHöhenflugrekord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Ernst BlochFall ins Jetzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Bertolt BrechtDer Augsburger Kreidekreis . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Elisabeth LanggässerSaisonbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

Marie Luise KaschnitzLange Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Elias CanettiDie Verleumdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Wolfgang KoeppenEin Kaffeehaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

Max FrischDer andorranische Jude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

Wolfgang HildesheimerDas Ende einer Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Heinrich BöllWanderer, kommst du nach Spa . . . . . . . . . . . . . . . 228

Wolfdietrich SchnurreDas Manöver . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

Wolfgang BorchertDas Brot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

Ilse AichingerSpiegelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Siegfried LenzDer Verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

Martin WalserSelbstporträt als Kriminalroman . . . . . . . . . . . . . . 270

Franz FühmannDas Judenauto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

8 Inhalt

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Günter KunertAlltägliche Geschichte einer Berliner Straße . . . . . . . . 286

Thomas BernhardDie Mütze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

Gabriele WohmannWiedersehen in Venedig . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Uwe JohnsonJonas zum Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

Peter BichselDer Mann mit dem Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . 316

Peter HandkeDas Umfallen der Kegel von einer bäuerlichen Kegelbahn 320

Christoph HeinDer neuere (glücklichere) Kohlhaas . . . . . . . . . . . . 331

Christoph RansmayrPrzemysl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

Quellennachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

9Inhalt