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Die Blutgasanalyse – ein altes Thema neu betrachtet W. BOEMKE, P. PICKERODT, U. KAISERS, R.C. FRANCIS Die meisten der heute gebräuchlichen Blutgasanalysegeräte bestimmen nicht mehr nur die „Oxygenierungsparameter“ Sauerstoffpartialdruck (pO2) und Sauerstoffsättigung (psO2) sowie die „reinen“ – uns aus der Henderson-Hasselbalch-Gleichung bekannten Parameter des Säure-Basenhaushalts – pH und Kohlendioxidpartialdruck (pCO2) sowie die daraus errechnete aktuelle Bikarbonationenkonzentration (HCO3 - ), sondern auch eine Reihe von Elektrolyten und nicht zu vergessen das Plasmalaktat. Die beiden letz- ten Parameter erlauben eine weitergehende Bestimmung der Ursache der sogenannten metabolischen Säure-Basen-Haushaltsstörungen, da sie sowohl für die Berechnung der Anionenlücke („anion gap“), als auch für die Interpretation des Säure-Basen-Haushalts mit Hilfe des Stewart-Modells eine wesentliche Rolle spielen [13, 22, 23, 27, 29, 31,32]. Trotz des täglichen Umganges mit Blutgasanalysedaten, wie er für den Anästhesisten üblich ist, gibt es bezüglich der Bedeutung der Anionen Lücke, besonders aber bezüg- lich des Stewart-Modells vielfach nur vage Vorstellungen. Das Ziel dieses Beitrages soll es daher sein, die Entwicklung der Interpretation des Säure-Basen-Haushaltes in seinen wichtigsten Schritten Revue passieren zu lassen und dabei die Bedeutung ausgewählter Parameter noch einmal zu rekapitulieren [32-34]. Darüber hinaus sollen die physiko-chemischen Grundlagen erläutert werden, wie sie für die Interpretation des SBH mit Hilfe der Anionenlücke und des Stewart-Modells von Bedeutung sind [4, 5, 9, 37]. Dabei müssen wir uns natürlich auf einige ausgewählte Beispiele beschränken. Henderson-Hasselbalch (1909-1916) – Die Bikarbonatpuffergleichung Die Grundlage der Henderson-Hasselbalch-Gleichung ist das Massenwirkungsgesetz. Bezogen auf eine Säure besagt das Massenwirkungsgesetz, dass das Verhältnis des Produktes von dissoziierter [Proton (H + ) + Säurerest (A - )] zu nichtdissoziierter Säure (HA) konstant ist und durch die Dissoziationskonstante Ka beschrieben wird: (Gl. 1) Dies ist die sog. Henderson-Gleichung (1908). Da die Konzentration der Wasserstoff- ionen im nanomolaren Bereich liegt, hatte Sørensen die Darstellung der Wasserstoff- ionenkonzentration als negativen dekadischen Logarithmus vorgeschlagen (aus 0,00000005 M ergibt sich so ein pH von 7,3). Hasselbalch wandte dies auf die Henderson Formel an, es resultierte die Henderson-Hasselbalch Gleichung (1916) [32,34,35]: (Gl. 2) oder für das Bikarbonatsystem: [HCO3 - ] [HCO3 - ] ph = pKa + log ––––––– = 6,1 + log ––––––––––– (Gl. 3) [CO2] CO 2 · pCO2] 127

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Die Blutgasanalyse – ein altes Thema neu betrachtet

W. BOEMKE, P. PICKERODT, U. KAISERS, R.C. FRANCIS

Die meisten der heute gebräuchlichen Blutgasanalysegeräte bestimmen nicht mehr nurdie „Oxygenierungsparameter“ Sauerstoffpartialdruck (pO2) und Sauerstoffsättigung(psO2) sowie die „reinen“ – uns aus der Henderson-Hasselbalch-Gleichung bekanntenParameter des Säure-Basenhaushalts – pH und Kohlendioxidpartialdruck (pCO2) sowiedie daraus errechnete aktuelle Bikarbonationenkonzentration (HCO3-), sondern aucheine Reihe von Elektrolyten und nicht zu vergessen das Plasmalaktat. Die beiden letz-ten Parameter erlauben eine weitergehende Bestimmung der Ursache der sogenanntenmetabolischen Säure-Basen-Haushaltsstörungen, da sie sowohl für die Berechnung derAnionenlücke („anion gap“), als auch für die Interpretation des Säure-Basen-Haushaltsmit Hilfe des Stewart-Modells eine wesentliche Rolle spielen [13, 22, 23, 27, 29, 31,32].

Trotz des täglichen Umganges mit Blutgasanalysedaten, wie er für den Anästhesistenüblich ist, gibt es bezüglich der Bedeutung der Anionen Lücke, besonders aber bezüg-lich des Stewart-Modells vielfach nur vage Vorstellungen.

Das Ziel dieses Beitrages soll es daher sein, die Entwicklung der Interpretation desSäure-Basen-Haushaltes in seinen wichtigsten Schritten Revue passieren zu lassen unddabei die Bedeutung ausgewählter Parameter noch einmal zu rekapitulieren [32-34].Darüber hinaus sollen die physiko-chemischen Grundlagen erläutert werden, wie sie fürdie Interpretation des SBH mit Hilfe der Anionenlücke und des Stewart-Modells vonBedeutung sind [4, 5, 9, 37]. Dabei müssen wir uns natürlich auf einige ausgewählteBeispiele beschränken.

Henderson-Hasselbalch (1909-1916) – Die BikarbonatpuffergleichungDie Grundlage der Henderson-Hasselbalch-Gleichung ist das Massenwirkungsgesetz.Bezogen auf eine Säure besagt das Massenwirkungsgesetz, dass das Verhältnis desProduktes von dissoziierter [Proton (H+) + Säurerest (A-)] zu nichtdissoziierter Säure(HA) konstant ist und durch die Dissoziationskonstante Ka beschrieben wird:

(Gl. 1)

Dies ist die sog. Henderson-Gleichung (1908). Da die Konzentration der Wasser stoff -ionen im nanomolaren Bereich liegt, hatte Sørensen die Darstellung der Wasser stoff -ionen konzentration als negativen dekadischen Logarithmus vorgeschlagen (aus0,00000005 M ergibt sich so ein pH von 7,3). Hasselbalch wandte dies auf dieHenderson Formel an, es resultierte die Henderson-Hasselbalch Gleichung (1916)[32,34,35]:

(Gl. 2)oder für das Bikarbonatsystem:

[HCO3-] [HCO3-]ph = pKa + log ––––––– = 6,1 + log ––––––––––– (Gl. 3)

[CO2] [αCO2 · pCO2]

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Der physikalisch gelöste Anteil von CO2 ([CO2]) ist das Produkt aus dem Löslich keits -koeffizienten für CO2 im Plasma (αCO2) und dem CO2-Partialdruck (pCO2). Der numeri-sche Wert des Löslichkeitskoeffizienten richtet sich nach der gewählten Einheit fürpCO2. Wird der pCO2 in mmHg angegeben, dann ist αCO2 = 0,03 mmol × l-1 × mmHg-1,wird die Einheit kPa gewählt, dann ist αCO2 = 0,225 mmol × l-1 × kPa-1 [1 mmHg = 1 Torr= 133,3 Pa (Pascal) = 0,133 kPa, Beispiel: 40 mmHg = 5,3 kPa].

Der normale pH-Wert beträgt 7,4. Sinkt der pH-Wert unter 7,35, sprechen wir von einerAzidose, steigt er über 7,45 von einer Alkalose. pH-Werte unter 6,8 und über 7,8 sind mitdem Leben langfristig nicht vereinbar, insbesondere da die Aktivität der Enzyme und dieErregbarkeit von Nerven- und Muskelzellen pH-Wert abhängig ist (pH-Optimum).Der pH-Wert und pCO2 können im Gegensatz zur [CO2]- und [HCO3-]-Konzentrationleicht gemessen werden und die [HCO3-] somit aus der Henderson-Hasselbalch-Gleichung berechnet werden. Bei einem „normalen“ pH von 7,4 verhalten sich die fürden pH-Wert maßgeblichen Konzentrationen von [HCO3-] (24 mmol/l) und physikalischgelöstem CO2 (1,2 mmol/l) wie 20:1 (Gl. 3). Bleibt dieses Verhältnis gewahrt, dannresultiert daraus immer ein pH-Wert von 7,4! Beispiel: Fällt die [HCO3-] dann muss derpCO2 in relativ gleichem Verhältnis fallen, damit der pH-Wert unverändert bleibt.Geschieht dies nicht, dann würden es im vorliegenden Fall beispielsweise zu einer meta-bolischen (nicht-respiratorischen) Azidose kommen.

Auf den Blutgasanalyseausdrucken findet man typischerweise immer zwei Angaben zurBikarbonatkonzentration: die aktuelle und die Standardbikarbonatkonzentration, diejedoch etwas völlig Unterschiedliches bedeuten [35]! Wie aus Gl. 4 zu ersehen, führt eine Änderung des pCO2 zu einer gleichsinnigen Ände-rung des Bikarbonationenkonzentration, vice versa, und zwar aufgrund von chemischenProzessen, die nichts mit Kompensationsprozessen durch die Nieren, die Leber oder dieLungen zu tun haben.

[H2O] + [CO2] ↔ [H2CO3] ↔ [H+] + [HCO3-] (Gl. 4)

Dabei führt beispielsweise eine Änderung des pCO2 um 40 mmHg (5,3 kPa) zu einemAnstieg der Bikarbonatkonzentration um 7,5 mmol/l. Die „aktuelle“ Bikarbonatkonzentration ist das Ergebnis von beidem, der aktuellenalveolären Ventilation und des aktuellen metabolischen Bikarbonatverbrauchs bzw.Bikarbonatbildung. Sie ist zu unterscheiden von der „Standard“-Bikarbonat konzen -tration, die nach Äquilibration der Blutprobe bei einem pCO2 von 40 mmHg (5,3 kPa)bei 37 °C und O2-Vollsättigung des Hämoglobins bestimmt wird. Durch die Normali -sierung der respiratorischen Komponente, ist diese nur noch Ausdruck der metaboli-schen (nicht-respiratorischen) Veränderungen der Bikarbonatkonzentration [23].

Die Basenabweichung - Das Siggaard-Andersen / Astrup Konzept (1960)Nicht-respiratorische Störungen können außer durch die Standardbikarbonationen -konzen tration auch durch die Basenabweichung („base excess“) beschrieben werden.Diese kann durch Titration einer Blutprobe mit einer starken Base (bei negativer Basen -abweichung) oder Säure (bei positiver Basenabweichung) bis zum pH von 7,4 ermitteltwerden (Randbedingungen: pCO2 40 mmHg, Temperatur 37 °C, aktuelle O2-Sättigung)oder aus dem Siggaard-Andersen-Nomogramm abgelesen werden. Heute wird sie meistvom Blutgasautomaten berechnet. Zu den für die Berechnung erforderlichen Mess -werten gehören der pH-Wert, der aktuelle pCO2 und, je nach Berechnungs methode,zusätzlich die Hämoglobinkonzentration (Hb) und die O2-Sättigung des Hämoglobins(sO2).

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Standard BasenabweichungDie wichtigsten Puffer-Basen im Blut sind Bikarbonat, Hämoglobin, Proteine und anor-ganisches Phosphat. Das heißt, nimmt die Hämoglobinkonzentration ab, resultiert eineverminderte Pufferbasenkapazität des Blutes. Das Hämoglobin erfüllt jedoch nicht nurfür das intravasale Kompartiment Pufferfunktion. Es ist an der Pufferung des gesamtenExtrazellulärraumes, also auch der proteinarmen interstitiellen Flüssigkeit beteiligt,obwohl es dort nicht vorkommt. Mechanismus: CO2 gelangt in die Erythrozyten, durchdie Reaktion mit Wasser entsteht Kohlensäure, die in H+ und HCO3- zerfällt. Das H+ wirdvom Hämoglobin gebunden, das gebildete HCO3- diffundiert zurück ins Plasma. Nur 1/3des neu gebildeten HCO3- bleibt im Plasma und 2/3 wandert in den interstitiellen Raum.Der Anstieg der Plasma-HCO3--Konzentration ist wegen der Äquilibrierung mit demInterstitium somit um ca. den Faktor 3 geringer, als durch die tatsächliche Bikarbonat -bildung zu erwarten gewesen wäre. Nun kann die aktuelle Basenabweichung – gemes-sen im Blutgasanalysator – zwangsläufig nur die in-vitro Verhältnisse der Blutprobe,ohne Berücksichtigung des Interstitiums, erfassen [23, 33]. Um die in-vivo Verhältnisseder HCO3--Diffusion ins Interstitium zu berücksichtigen, bedient man sich eines rechne-rischen Tricks, indem man sich die Pufferkapazität des Hämo globins verteilt auf dengesamten Extrazellulärraum vorstellt, und die Basen ab wei chung nicht für einen Hb von15 g/dl, sondern für einen fiktiven Hb von 5 g/dl (3 mmol/l) berechnet (Radio meter;daneben gibt es auch noch andere Möglichkeiten, die Standardbasenabweichung (SBEoder BEecf) zu berechnen).

Die Basenabweichung kann zur quantitativen Schätzung des Basendefizits oder Über-schusses des Extrazellulärraumes herangezogen werden. Geht man davon aus, dass derExtrazellulärraum einschließlich Plasmavolumen hoch geschätzt etwa 25% desKörpergewichts (KG) ausmacht, dann lässt sich der gesamte Basen-Überschuss oder -Mangel dieses „Kompartiments“ nach der üblichen Formel mit 0,3 · BE · kg KG schät-zen [23]. Ohne hier auf die Therapie näher eingehen zu wollen, sei darauf hingewiesen,dass eine metabolische Azidose (z.B. Laktazidose) nicht mit Hilfe des so berechnetennegativen BE bis zu einem pH von 7,4 korrigiert werden sollte (nur ein Drittel bis dieHälfte des errechneten Defizits ersetzen)! Sonst kann es bei der Verbesserung einer tran-sient z.B. durch ein Schockereignis beeinträchtigten Leberfunktion zu einer u.U. erheb-lichen Alkalose kommen. Der Grund hierfür ist die bei Besserung der Leberfunktionwieder einsetzende Verstoffwechselung von Laktat, bei der Wasserstoffionen verbrauchtwerden:

CH3-CHOH-COO- + H+ + 3 O2 → 3 CO2 + 3 H2O LaktatoxidationLaktat

Die Anionenlücke (Oh & Carroll 1977 [27])Die neueren „Blutgasanalysatoren“ bieten mehr als die Messung der Determinanten derHenderson-Hasselbalch-Gleichung. Insbesondere ermöglichen sie die Messung derNatrium-, Kalium-, Chlorid- und Kalziumionenkonzentration. Damit wird u.a. die „pointof care“ Bestimmung der Anionenlücke ("anion gap") möglich und damit eine Diffe -renzie rung der Ursachen metabolischer Azidosen [23, 31].

Was ist das „anion gap“? Aus Gründen der Elektroneutralität muss die Anzahl negativer Ladungen in denFlüssigkeitsräumen des Körpers gleich der Anzahl der positiven Ladungen sein.Üblicherweise werden von den Kationen und Anionen nur die Konzentrationen derHauptvertreter bestimmt: Für die Kationen sind dies die Natriumionen und für dieAnionen die Chlorid- und Bikarbonationen:

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[Na+] + [nichtgemessene Kationen] = [Cl-] + [HCO3-] + [nichtgemessene Anionen][nichtgemessene Anionen] - [nichtgemessene Kationen] = [Na+] - ([Cl-] + [HCO3-]

Anionenlücke = [Na+] - ([Cl-] +[ HCO3-]) [mmol/l] (Gl. 5)

Beispiel: 140 mmol/l Na+ - (100 mmol/l Cl- + 24 mmol/l HCO3-) = 16 mmol/l (Tab.1)

Kationen Anionen

Elektrolyte Wert [meq/l] Elektrolyte Wert [meq/l]

Alle Kationen und AnionenKalzium 5 Proteine 15Magnesium 1,5 Organische Säuren 5Kalium 4,5 Phosphate 2Natrium 140 Sulfate 1

Chlorid 104Bikarbonat 24

Total 151 151

Anionenlücke = Natrium 140 mmol/l - (Chlorid + Bikarbonat) 128 mmol/lNormalwert = 12 mmol/l (8-16 mmol/l)

Tabelle 1: Die Anionenlücke: Verteilung von Anionen und Kationen.

Die so berechnete Anionenlücke ("anion gap") ergibt sich also als Differenz der Konzen -trationen der nichtgemessenen Anionen (hauptsächlich polyanionisches Albumin und zueinem geringeren Teil Phosphat-, Sulfat-, Laktat- und β-Hydroxybutyrationen) und derKonzentration der nichtgemessenen Kationen (z. B. K+, Mg2+, Ca2+). Es errechnet sichnormalerweise ein Wert von 8-16 mmol/l, je nachdem, ob man K+ mit in die Gl. 5 auf-nimmt, oder nicht.

Zur Vergrößerung der Anionenlücke kommt es, wenn dem Organismus Säuren exogenzugeführt werden oder im Stoffwechsel vermehrt anfallen, deren Anionen keineChloridi onen sind (Tab. 2, Abb. 1).

Anionenlücke normal Anionenlücke erhöht(Bikarbonatverlust) (ungemessenes Anion vorhanden)

– Diarrhoe – Laktazidose (Laktat)– Dünndarmsekretverlust – Urämie (Sulfate, Phosphate)– Azetazolamid – Diabetische Ketoazidose (Ketone)– Posthypokapnisch – Alkoholische Ketoazidose (Ketone)– Renal-tubuläre-Azidose – Salizylatintoxikation

(Azetoazetat, Laktat, Pyruvat)– Methanolvergiftung (Formiat)– Äthylenglykol (Äthylenoxalat)

Tabelle 2: Ausgewählte Beispiele für Azidosen mit und ohne Anionenlücke.

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Abb. 1: Graphische Darstellung der AnionenlückeBei der Nicht-AG(anion gap)-Azidose verändert sich das AG nicht, während die Bikarbonationenkonzentratin(HCO3-) ab- und die Chlorid (Cl-) Konzentration zunimmt; bei der AG Azidose steigt das AG, aber nicht die Cl--Konzentration. Die [HCO3-] nimmt ab wie bei der Nicht-AG-Azidose.

Die Wasserstoffionen der nichtchloridhaltigen Säure werden wie üblich u.a. durchBikarbonationen titriert. Es entsteht H2O und CO2 (s. Gl. 4). Das CO2 wird über dieLunge abgeatmet. Die Bikarbonationenkonzentration im Blut nimmt ab und es bildetsich das Natriumsalz des nichtgemessenen Säureanions. Da es sich bei dem Säureanionnicht um ein Chloridanion handelt, wird der Term (Cl- + HCO3-) in Gl. 5 kleiner (dieChloridionenkonzentration bleibt gleich, während die Bikarbonationenkonzentrationdurch die Pufferung abgenommen hat). Da auch die Natriumionenkonzentration unver-ändert bleibt, resultiert eine vergrößerte Anionenlücke (steigt z. B. der Laktatspiegel um5 mmol/l, dann ist mit einem gleich großen Anstieg der Anionenlücke zu rechnen).Die Anionenlücke wird nicht größer, wenn HCl oder Hydrochloridverbindungen demKörper zugeführt werden, oder wenn Bikarbonationen verloren gehen. In diesen Fällenbleibt der Term (Cl- + HCO3-) unverändert, weil die Abnahme der Bikarbonationen -konzentration mit einem gleichgroßen Anstieg der Chloridionenkonzentration einhergeht(hyperchlorämische metabolische Azidose).Eine unveränderte Anionenlücke findet sich daher entweder bei gastrointestinalen (z.B.Diarrhö) oder bei renalen Bikarbonationenverlusten (z.B. bei renal-tubulärer Azidoseoder bei Gabe von Carboanhydrasehemmern) oder bei Zufuhr von HCl, NH4Cl undanderen Säuren, bei denen Cl- das Anion ist.Eine Verminderung der Albuminkonzentration (polyanionisches Makromolekül) führt zueiner Verkleinerung der Anionenlücke um ca. 2.5 mmol/l pro 1 g/dl Abfall der Plasma -albuminkonzentration [10-12]. Eine Hypalbuminämie vermindert die Anzahl negativerLadungen im Extrazellulärraum. Zur Erhaltung der der Elektroneutralität kommt es zurErhöhung der Bikarbonatkonzentration im Plasma. Es kann daraus ggf. eine Alkaloseentstehen. Eine Hyperalbuminämie führt im Gegensatz dazu zu einer Zunahme negativer Ladungenund einer metabolischen Azidose durch Abfall des Plasmabikarbonats. Steigt die Konzentration der nichtgemessenen Kationen, wie dies z.B. beim multiplenMyelom (hoher Anteil polykationischer Globuline) der Fall ist, so verkleinert sich dieAnionenlücke ebenfalls. In Einzelfällen kann dadurch sogar eine negative Anionenlückeresultieren.

Das Stewart-Modell (1981) [37]Die Basenabweichung und die nicht albuminkorrigierte Anionenlücke berücksichtigenVeränderungen der Nicht-Bikarbonatpuffer im Plasma nicht. Diese Nicht-Bikarbonat -puffer sind vor allem das Albumin und das anorganische Phosphat [9, 20, 21]. Diese bei-den Faktoren finden im Stewart-Modell des Säure-Basen-Haushalts spezielle Berück -sichtigung, insbesondere bei der Adaptation nach Figge und Fencl [9, 10].

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Das Stewart-Modell zur Beschreibung der Säure-Basenhaushaltsstörungen basiert imwesentlichen auf drei physiko-chemischen Grundprinzipien [3-5,13, 20, 21, 29, 36, 37]:1) Der Elektroneutralität: Die Summe der Kationen ist gleich der Summe der Anionen2) Dem Dissoziationsgleichgewicht schwacher (unvollständig dissoziierender) Sub -

stanzen: Ka = [A-] · [H+] / [HA]3) Dem Erhalt der Masse: Die Gesamtmenge einer Substanz, d.h. die Summe aus dis-

soziierter und nicht-dissozierter Substanz ist konstant.

Der pH-Wert wird dabei von drei unabhängige Variablen bestimmt1) pCO2

2) Gesamtmenge aller schwachen Säureanionen ([ATOT] oder [A-])3) Differenz der starken Ionen [SID].

Nur diese drei unabhängigen Variablen sind nach Stewart in der Lage, den Säure-Basen-Status zu verändern, weil sie den Dissoziationsgrad von Wasser in H+ und OH- modulie-ren können. Der Einfluss dieser drei unabhängigen Variablen auf die abhängigen (!)Variablen - H+ und HCO3- - kann mit mehreren von Stewart formulierten Gleichungenbeschrieben werden (siehe Appendix), wobei die Konzentrationen der abhängigenVariablen sich so ändern, dass die Elektroneutralität stets gewahrt bleibt [4].

Im Detail:(1) pCO2Für die respiratorischen Säure-Basen-Haushaltsstörungen (Hypo- oder Hyperkapnie)behält die Henderson-Hasselbalch-Gleichung, so wie oben beschrieben, ihre Gültigkeit.

(2) Gesamtmenge aller schwachen Säure [A-]-Anionen der nicht BikarbonatpufferStewart nannte diesen Faktor ATOT. ATOT beschreibt die Summe der negativen Ladungenaller nicht vollständig dissoziierten Substanzen. Stewart setzte allerdings die Gesamt -eiweißkonzentration und nicht die Albuminkonzentration ein. Es ist aber nicht dasEiweiß sondern das Albumin, das den überwiegenden Teil der negativen Ladungen trägt,deshalb führte Fencl das Albumin neben der Phospatkonzentration zur Berechnung ein[A-] [9]:

[A-] = [[Alb] x (0,123 x pH – 0,631)] + [[Pi] x (0,309 x pH – 0,469)] (Gl. 6)[Alb] = Albumin, [Pi] = ionisiertes Phosphat. Normalwerte: Albumin = 44 g/l; Phosphat = 1,2 mmol/l; pH 7,4; [A-] 13-15 mmol/l.

Die Berücksichtigung des pH ist wegen des pH-Wert abhängigen Dissoziationsgradesdes Albumins und des Phosphats für die Berechnung der Gesamtladung notwendig.

(3) Die Differenz der starken Ionen - „Strong Ion Difference“ (SID)Unter der „Strong Ion Difference“ (Abb. 2) versteht man die Differenz zwischen denstarken (vollständig dissoziierten) Kationen (Natrium, Kalium, Calcium und Magnesi -um) und den starken Anionen (Chlorid, Laktat). Dabei wird unterschieden zwischen dermessbaren (apparenten) [SIDa] = Differenz der starken Kationen und Anionen:

[SIDa] = [[Na+] + [K+] + 2 x [Ca2+] + 2 x [Mg2+]] – [[Cl-] + [Laktat-]] (Gl. 7)(Dimensionen: mmol/l)

und der effektiven (tatsächlichen) Differenz (SIDe) [9]:[SIDe] = [HCO3-] + [A-] (Gl. 8)(Dimensionen: mmol/l; pCO2 mmHg; zu [A-] siehe Gl. 6)Normalwerte: [SIDa] 45 meq/l, [SIDe] 39 meq/l

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Lücke der starken Ionen = „Strong Ion Gap“ (SIG)Die „Lücke der starken Ionen“ (SIG) beschreibt die metabolische Säure-Basen-Haushaltsstörung quantitativ (Abb. 2). Nicht-gemessene-Anionen (Abkür -zung SIG oder [XA-] ) sind z.B. Ketone, Format, Salicylat, Anionen von im Rahmen vonIntoxikation zugeführten Säuren, Sulfate (z.B. bei Nierenversagen) usw. Laktat wirdheutzutage meist mitgemessen und ist daher in der Abb. 2 innerhalb von [XA-] extra auf-geführt.

[SIG] = [XA-] = [SIDa] – [SIDe] (Gl. 9)Normalwert 6 ± 2 mmol/l

Abb. 2: Ionogramm nach StewartElektroneutralität im Plasma: die Summe der positiven Ladungen (Kationen) ist gleich der Summe der negati-ven (Anionen), dargestellt durch die gleiche Höhe der Säulen. Nicht dargestellt sind die Ionen, die nur inmicromolaren oder nanomolaren Konzentrationen im Plasma vorliegen (OH-, CO32-, H+). Alb- und Pi- reprä-sentieren die negativen Ladungen des Albumins und anorganischen Phosphats. XA- = ungemessene starkeAnionen, da Laktat heute meist gemessen wird, ist es innerhalb von XA- noch einmal abgegrenzt worden; SIDe= effektive Differenz der starken Ionen; SIDa = apparente (messbare) Differenz der starken Ionen (nach Fenclet al. 2000).

Ein positiver SIG-Wert ist ein Indiz für die Anwesenheit ungemessene Anionen imPlasma. Wenn im Plasma keine ungemessenen starken Anionen vorhanden wären, wäre[SIDa] = [SIDe] und die [SIG] damit 0. Ungemessene Anionen finden sich aber zu einemgeringen Teil natürlich auch beim Gesunden, daher ist die [SIG] auch beim Gesundenleicht positiv (5-8 mmol/l). Ein einheitlicher Referenzwert für die [SIG] existiert nicht,und muss mit den vor Ort üblichen Bestimmungsmethoden und deren Varianzen für diein die Gleichung eingehenden Parameter erhoben werden [13].Da die Anionenlücke üblicherweise die Konzentrationen von Ca2+, Mg2+ und Laktatunberücksichtigt lässt, spiegelt die [SIG] die Konzentration der ungemessenen Anionenbesser wieder, als die Anionenlücke.

Um die Auswirkungen von Änderungen der Elektrolyte Natrium und Chlorid, desAlbumins, Laktats und der nicht-gemessenen-Anionen auf die aktuelle Basenabweichung(ABE) ab schätzen zu können, haben Gilfix et al. [16] folgende Gleichungen vorgeschla-gen, die als „BE subsets“ bezeichnet werden [13, 14, 16]:– Die Effekte eines Wasserüberschusses oder -mangels werden geschätzt mit

BENa = 0.3 x ([Na+]–140) [mmol/l] (Gl. 10)die 140 stehen für die normale Plasma-Natrium-Konzentration von 140 mmol/l.,wobei die Konstante 0,3 sich aus BENa = (42 x ([Na+] – 140)) / 140 ergibt, wobei 42 mEq/l = SID.

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– Einfluss des Chloridplasmakonzentration (Überschuss assoziiert mit Azidose,Mangel mit Alkalose) auf den BE (BECl):

zuerst muss eine Korrektur für „freies Wasser“ erfolgen:[Cl-Na-korrigiert] = [Cl-] x ([Na+]normal / [Na+]),

dann

BECl = 102 – [Cl-]Na korrigiert [mmol/l] (Gl. 11)

die 102 stehen für die normale Cl--Konzentration von 102 mmol/l, [Na+]normal = 140mmol/l.

– Einfluss der Albuminkonzentration auf den BE (BEAlb): Albumin ist eine nicht vola-tile schwache Säure (Hypoalbuminämie wirkt z.B. alkalotisch):BEAlb = (0,148 x pH – 0,818) ([Alb]normal – [Alb]aktuell) [mmol/l] (Gl. 12)wobei Albnormal = 42 g/l und die negativen Ladungsträger des Albumins pH-Wertabhängig sind.

– Einfluss der Laktatkonzentration auf den BE (BELaktat) ist 1:1. Da die normalePlasma-Laktatkonzentation 1 mmol/l beträgt, ergibt sich:BELaktat = 1 – [Laktat]gemessen [mmol/l] (Gl. 13)

– Alle verbleibenden Änderungen des BE, die nicht durch Änderungen des freienWassers, Chlorids, Albumins oder Laktats verursacht wurden, sind somit Ausdruckungemessener Anionen:BEungemessene Anionen = BE – (BENa + BECl + BEAlb + BELaktat) [mmol/l] (Gl. 14)

Story et al. [39] hat den Einfluss der Natrium und Chlorid, sowie der Albumin konzen -tration in zwei einfachen „bedsite“ Formeln zusammengefasst. Lassen sich die Verände -rungen in der Basenabweichung durch die Summe der BE subsets (a + b) nicht hinrei-chend erklären, so müssen ungemessene Anionen vorliegen (näheres bei [13]):a) [Na+] – [Cl-] – 38 = Natrium- und Chlorideffekt auf den BE (mmol/l)b) (42 – [Albumin (g/l)]) / 4 = Einfluss der Albuminkonzentration auf den BE (mmol/l)

Interpretation der SBH-Störungen nach Stewart

Da nach Stewart sowohl [HCO3-] als auch [H+] Variablen sind, deren Wert durch dieunabhängigen Variablen pCO2, SID und [A-] bestimmt wird, ergibt sich eine andereSicht auf die Ursachen einer SBH-Störung als wir sie von der konventionellen SBH-Interpretation gewohnt sind [28, 29]:– Die NaCl-induzierte Dilutionsazidose wäre durch den Anstieg der [Cl-] bedingt, nicht

durch den Abfall der [HCO3-].– Eine Hypalbuminämie wäre Grund für eine metabolische Alkalose, nicht der dadurch

bedingte Anstieg der [HCO3-]. – Der Anstieg der Natriumkonzentration und nicht das zugeführte Bikarbonation wäre

die eigentliche Ursache der Alkalose bei einer Natriumbikarbonatinfusion.

Störungen des SBH nach Stewart sind in Tab. 3 dargestellt. Eine Azidose entwickelt sichnach Stewart durch einen Anstieg des pCO2, von [A-] oder eine Erhöhung der Körper -temperatur, sowie durch einen Abfall der [SID] (apparent oder effektiv). Eine metaboli-sche Azidose kann verursacht werden durch eine Überproduktion organischer Säuren

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(z.B. Milchsäure, Ketosäuren, Ameisensäure, Salizylsäure, Schwefelsäure), den Verlustvon Kationen (z.B. bei Diarrhoe) Dysregulation im Elektrolythaushalt (z.B. RenalTubuläre Azidose), und die exogene Zufuhr von Anionen (z.B. im Rahmen von Vergif -tungen). Eine Alkalose ist die Folge eines Abfalls des pCO2, von [A-], oder der Körper -temperatur, oder resultiert aus einem Anstieg der [SID] [5]. Beispielsweise würde derübermäßige Verlust von Chloridionen beim Erbrechen zu einer metabolischen Alkaloseführen.

Tabelle 3: Die Störungen des Säure-Basen-Haushalts nach StewartAbkürzungen: [Alb] = Konzentratin des Serum-Albumins; [Phosphat] = Konzentration des anorganischenPhosphats; SID = Strong Ion Difference; [XA-] = Konzentration der nicht gemessenen Anionen, wobeiPhosphat in [XA-] nicht enthalten ist, da es als nicht volatile schwache Säure für sich allein dargestellt wird;[Na+] = Serum-Natrium-Konzentration; [Cl-] = Serum-Chlorid-Konzentration.

An dieser Stelle kann nicht weiter auf Details eingegangen werden. Zur weiterenVertiefung der Materie und für praktische Anwendungsbeispiele sind die Übersichtsarti-kel von Rehm et al. [29] und Funk et al. [13], sowie beispielsweise die englischsprachi-gen Reviews von Corey [4, 5] und Kellum [20, 21] sowie die Arbeit von Fencl et al. [9]sehr zu empfehlen. Darüber hinaus existiert ein sehr instruktives Computerprogrammmit numerischer und graphischer Darstellung (Ionogramm) der konventionellen und derim Stewart-Modell wesentlichen Parameter („AcidBasicsII“ mit „Gamblegram“) vonWatson [41]. So kann man sich beispielsweise leicht die Auswirkungen der Änderungder Proteinkonzentration auf den pH vor Augen führen. Zum Herunterladen des Pro -gramms muss man sich unter http://ppn.med.sc.edu/watson/Acidbase/Acidbase.htmanmelden.

Das Stewart Model: Pro und Contra

Beim Stewart-Model handelt es sich um ein komplexes chemisch-mathematischesModell, das am besten unter Nutzung eines Computers angewandt wird. Es ist zu beden-ken, dass sich - durch die Vielzahl der z.B. für die Berechnung der SID erforderlichenParameter - Messfehler bei der Bestimmung von Einzelparametern unter Umständenaddieren können, was letztlich zu falschen diagnostischen Schlüssen Anlass geben kann[24, 44]. Auf die Qualität der Einzelmessungen ist daher großer Wert zu legen [28]!Bisher gibt es keine Analysatoren, die eine „point of care“ Diagnostik des SBH mit demStewart-Verfahren erlauben (Magnesium-, Albumin- und Phospatbestimmungen sind imOperationsbereich oder auf der Intensivstation üblicherweise nicht möglich).

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Durch das wissenschaftliche Interesse am Stewart-Ansatz wird dieses diagnostische Tooljedoch zunehmend weiterentwickelt. So hat Wooten [42, 43] ein Mehrkompartimenten-Modell entwickelt, dass die Figge-Fencl-Gleichungen um die Hämoglobinkonzentrationerweitert und so das Stewart-Modell von den Verhältnissen im Plasma auf die Verhält -nisse im Blut erweitert, vergleichbar mit der Basenabweichung [42].

Es gibt Hinweise dafür, dass durch die Anwendung des Stewart-Modells auch ein klini-scher Nutzen resultieren kann, der den der üblichen Säure-Basen-Haushalts-Inter pre -tation ergänzt und erweitert [8, 13, 15, 17-19, 25, 26, 30, 38, 40]. So beschreiben dieÄnderungen der unabhängigen Variablen (pCO2, [A-], SID) die Störung des SBH nichtnur quantitativ sondern auch qualitativ, d.h. sie geben direkte Hinweise auf die Ursachen(Albuminkonzentration, Elektrolytveränderungen) und ermöglichen die Interpretationvon SBH-Störungen über die Information, die aus der Bikarbonat konzen tration und dieBasenabweichung gezogen werden können hinaus [1, 2, 8]. So eröffnen sie beispiels-weise eine andere Denk- und Herangehensweise für Krankheiten, bei denen der Chlorid-Transport gestört sein könnte, z.B. die Renale Tubuläre Azidose (gesteigerte renale Cl--Rückresorption) oder das Bartter Syndrom (Alkalose durch verstärkte Cl--Ausschei -dung) [4, 6, 7]. Komplexe SBH-Störungen scheinen mit dem Stewart-Modell darüberhinaus leichter interpretierbar zu sein [9, 14].

Heute lautet daher die Antwort auf die Frage ob man die klassische SBH-Analyse oderdie Analyse nach Stewart bevorzugen soll, nicht „entweder die eine oder die andere“,sondern „sowohl die eine, als auch die andere“, je nach Komplexität des Problems [21,22, 28]!

Appendix

Die fundamentalen Gleichungen des Steward-Modells [nach 41].(1) Wasser Dissoziation

[H+] x [OH-] = K´w

wobei K´w das sogenannte Ionenprodukt des Wassers ist

(2) Dissoziation schwacher Säuren[H+] x [A-] = KA x [HA]

(3) Erhaltung der Masse[HA] + [A-] = [ATOT]Wobei [ATOT] die Gesamtkonzentratinn der schwachen Säuren ist.

(4) HCO3--Bildung[H+] x [HCO3-] = KC x pCO2

wobei die kombinierte Gleichgewichts- und Löslichkeitskonstante KC den pCO2

mit der [HCO3-] verbindet.

(5) Carbonat (CO32-)-Bildung[H+] x [CO32-] = K3 x [HCO3-]wobei K3 die Konstante der Dissoziation von HCO3- nach CO32- darstellt.

(6) Elektrische Neutralität[SID] + [H+] – [HCO3-] – [A-] – [CO32-] – [OH-] = 0wobei [SID] die Differenz der starken Ionen ist.

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