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BEATRICE PRIMUS Die Buchstaben unseres Alphabets: Form – Entwicklung – Funktion Die ältesten Vorgänger unserer Buchstabenschrift wurden im 2. Jahrtausend v. Chr. im Nahen Osten von den Phöniziern und anderen altsemitischen Völkern entwickelt. Auf der phönizischen Schrift basieren nach einigen Wandlungen die Alphabete der griechischen, etruskischen und römischen Kultur. Auch das kyril- lische Alphabet gehört zu dieser Schriftfamilie. Andere Entwicklungszweige führen uns zur hebräischen, arabischen und indischen Schrift. Das römische Al- phabet besitzt noch heute mit wenigen Änderungen Gültigkeit für uns und hat sich fast weltweit verbreitet. Im Folgenden sollen die wesentlichen sprachbezogenen Merkmale unserer Buchstaben in ihrer historischen Entwicklung bis zum modernen römischen Al- phabet illustriert und erläutert werden. 1 Während die paläographischen und kul- turhistorischen Aspekte dieser Entwicklung in der bisherigen Forschung gründ- lich untersucht wurden, blieb ihre sprachwissenschaftliche Seite weitgehend un- beachtet. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive sind die sprachbezogenen Strukturmerkmale der Buchstabenformen wichtiger als ihre kulturhistorische Einordnung, der natürliche Ablauf und die Kontinuität der Schriftentwicklung bemerkenswerter als die kulturhistorisch bedingten Umbrüche. Aus diesem Grund werden wir mit den paläographisch und kulturhistorisch traditierten Schriftbezeichnungen und Einordnungen sparsam umgehen. Als roten Faden der sprachbezogenen Entwicklung halten wir vorwegnehmend fest, dass die Schrift die komplexe Sprachstruktur immer genauer und systematischer abbildet. 1 Für wertvolle Hinweise und fachliche Unterstützung bei der Fertigstellung dieses Beitrags – den ich MADELEINE BRADLEY widme – bedanke ich mich bei URSULA BREDEL, SUSANNE BÜRKLE, ANTJE CASARETTO, MARCO GARCÍA GARCÍA, JOSÉ LUIS GARCÍA RAMÓN, SILVIA KUTSCHER, JÜRGEN HAMMERSTAEDT, FRIEDERIKE NAUMANN-STECKNER, HANS JOACHIM ZIEGELER und ARNULF ZÖLLER.

Die Buchstaben unseres Alphabets: Form – Entwicklung ... · Die Buchstaben unseres Alphabets: Form – Entwicklung – Funktion 49 Die Gesetzestafeln von Gortyn dokumentieren auch

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BEATRICE PRIMUS

Die Buchstaben unseres Alphabets: Form – Entwicklung – Funktion

Die ältesten Vorgänger unserer Buchstabenschrift wurden im 2. Jahrtausend v. Chr. im Nahen Osten von den Phöniziern und anderen altsemitischen Völkern entwickelt. Auf der phönizischen Schrift basieren nach einigen Wandlungen die Alphabete der griechischen, etruskischen und römischen Kultur. Auch das kyril­lische Alphabet gehört zu dieser Schriftfamilie. Andere Entwicklungszweige führen uns zur hebräischen, arabischen und indischen Schrift. Das römische Al­phabet besitzt noch heute mit wenigen Änderungen Gültigkeit für uns und hat sich fast weltweit verbreitet.

Im Folgenden sollen die wesentlichen sprachbezogenen Merkmale unserer Buchstaben in ihrer historischen Entwicklung bis zum modernen römischen Al­phabet illustriert und erläutert werden.1 Während die paläographischen und kul­turhistorischen Aspekte dieser Entwicklung in der bisherigen Forschung gründ­lich untersucht wurden, blieb ihre sprachwissenschaftliche Seite weitgehend un­beachtet. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive sind die sprachbezogenen Strukturmerkmale der Buchstabenformen wichtiger als ihre kulturhistorische Einordnung, der natürliche Ablauf und die Kontinuität der Schriftentwicklung bemerkenswerter als die kulturhistorisch bedingten Umbrüche. Aus diesem Grund werden wir mit den paläographisch und kulturhistorisch traditierten Schriftbezeichnungen und Einordnungen sparsam umgehen. Als roten Faden der sprachbezogenen Entwicklung halten wir vorwegnehmend fest, dass die Schrift die komplexe Sprachstruktur immer genauer und systematischer abbildet.

1 Für wertvolle Hinweise und fachliche Unterstützung bei der Fertigstellung dieses Beitrags – den ich MADELEINE BRADLEY widme – bedanke ich mich bei URSULA BREDEL, SUSANNE BÜRKLE, ANTJE CASARETTO, MARCO GARCÍA GARCÍA, JOSÉ LUIS GARCÍA RAMÓN, SILVIA KUTSCHER, JÜRGEN HAMMERSTAEDT, FRIEDERIKE NAUMANN-STECKNER, HANS JOACHIM ZIEGELER und ARNULF ZÖLLER.

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1. Die phönizische Schrift

Die Entstehungszeit der phönizischen Schrift verliert sich im Dunkel der Ge­schichte, da die Zeitspanne zwischen ihrer Entstehung und den ältesten Funden unbekannt ist. Zu diesen Funden gehört der in das 11. Jh. v. Chr. eingeordnete Sarkophag des Königs Ahirom aus Byblos im heutigen Libanon.

Die phönizische Schrift zeigt bereits einige wesentliche Merkmale, die sich bis zu unserer modernen Schrift erhalten haben. Die kleinsten isolierbaren Schriftzeichen stellen Sprachlaute dar und sind in einer horizontalen Zeile ange­ordnet. Auch einige moderne Buchstabenformen sind bereits angedeutet. Abb. 1 zeigt die ersten fünf Buchstaben des phönizischen Alphabets mit dem dazugehö­rigen Lautwert in phonetischer Umschrift und der hebräischen Bezeichnung als einzig überlieferten nah verwandten Buchstabennamen:2

phönizische Buchstaben

b g d h phonetische UmschriftAleph Beth Gimel Daleth He hebräischer Buchstabenname

Abb. 1: Phönizische Buchstaben

Die phönizische Schrift unterscheidet sich von ihren späteren Abkömmlingen in zwei grundlegenden Eigenschaften. Ein wesentlicher Unterschied ist die linksläufige Zeilen- und Buchstabenorientierung: Die Buchstaben reihen sich von rechts nach links an und sind in der Regel selbst nach links gerichtet.

Eine weitere Charakteristik der phönizischen Schrift ist, dass die 22 Buchsta­ben nur Konsonanten und zwei Halbvokale darstellen. So bezeichnete Aleph nicht wie sein griechischer Nachfolger Alpha den Vokal [a], sondern den laryn­galen Verschlusskonsonanten []. Auch He gab den laryngalen Reibe- bzw.

2 Die hebräischen Buchstabennamen folgen dem akrophonischen Prinzip: Der erste Laut des Buchstabennamens entspricht dem Lautwert des Buchstabens. Im laufenden Text wer­den Sprachlaute und Lautfolgen in eckigen Klammern, Buchstaben und Buchstabenfolgen in spitzen Klammern in der Schriftart Arial notiert.

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Hauchlaut [h] wieder und nicht den Vokal [e]. Allerdings wurden bereits im Phönizischen bestimmte Konsonantenbuchstaben gelegentlich für Vokale gebraucht.3

Beide Merkmale, linksläufige Zeilenführung und die Abwesenheit spezieller Buchstaben für Vokale, charakterisieren auch moderne semitische Schriften.

2. Die frühe griechische Schrift

Wann die Griechen das phönizische Alphabet übernahmen und den Bedürf­nissen ihrer Sprache anpassten, ist aufgrund der spärlichen Überlieferung nicht genau zu ermitteln. Die ältesten Funde stammen aus dem 8. Jh. v. Chr. und zeigen eine bereits weit entwickelte griechische Schrift in verschiedenen lokalen Varianten:4

Eine der wichtigsten griechischen Entwicklungen ist die schon in der phöni­zischen Schrift angelegte Verwendung von Vokalbuchstaben. Phönizische Buchstaben, die im Griechischen keine Lautentsprechung hatten, wurden syste­matisch zur Bezeichnung von Vokalen umgedeutet. So war beispielsweise der laryngale Verschlusslaut im Altgriechischen nicht vorhanden und daher konnte Alpha im Vokal [a], dem zweiten Laut im phönizischen BuchstabennamenAleph eine neue Verwendung finden. Eine vergleichbare Uminterpretation er­fuhr auch das phönizische He, das zum Vokalzeichen für [e] wurde. Das Ergeb­nis dieser bereits im Phönizischen sich andeutenden und von den Griechen kon­sequent fortgesetzten Entwicklung ist ein vollständiges Alphabet, in welchem prinzipiell alle Sprachlaute eine eigene Buchstabenentsprechung haben können.

Die Änderung der Zeilen- und Buchstabenorientierung war eine weitere Etappe, die schließlich zur uns heute bekannten rechtsläufigen Schrift führte. Aus der Epoche der ältesten alphabetischen Inschriften bis zur überregionalen Etablierung des „ionischen“ Alphabets (ca. 800 bis 400 v. Chr.) sind linksläufi­ge, rechtsläufige und abwechselnde Schreibweisen überliefert. Die letzte, als Boustrophedon bezeichnete Anordnung findet man auf archaischen, in lokalen (epichorischen) Alphabeten geschriebenen Inschriften, z. B. den Gesetzestafeln

3 Vgl. dazu FRIEDRICH / RÖLLIG (1999, §§ 102-104) sowie COULMAS (2003, Kap. 6).4 Vgl. auch CASARETTO et al. in diesem Band.

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von Gortyn auf Kreta (5. Jh. v. Chr.). Abb. 2 zeigt einen Ausschnitt dieser Tafeln mit einer Umschrift im griechischen Standardalphabet.5 Die wechselnde Zeilenführung wird neben der Umschrift durch Pfeile angedeutet.

Τ Ο Ν Δ Ι Κ Α Σ Τ Α Ν Ο Τ Ι Μ Ε Ν Κ Α Τ Α →

Μ Α Ι Τ Υ Ρ Α Ν Σ Ε Γ Ρ Α Τ Τ Α Ι Δ Ι Κ Α Δ Δ ←

Ε Ν Ε Α Π Ο Μ Ο Τ Ο Ν Δ Ι Κ Α Δ Δ Ε Ν Α Ι Ε →

Abb. 2: Gesetzestafeln von Gortyn, 5. Jh. v. Chr.

Der Boustrophedon hat für Schreiber und Leser den Vorteil, dass am Zei­lenende kein Zeilensprung gemacht werden muss, der die Lautfolge unterbricht. Schreiber und Leser fahren, am Ende der Zeile angelangt, mit der nächsten Zeile genau dort fort, wo die vorherige endete. Es entsteht eine zeilenweise wechseln­de Schreib- und Leserichtung, ähnlich dem Wenden des Ochsens beim Pflügen (vgl. griech. βοῦς ,Ochsen‘, στρέφω ,wenden‘). Der Nachteil der wechselnden Zeilenrichtung ist, dass sie eine wechselnde Buchstabenorientierung erzwingt, so dass jeder vertikal asymmetrische Buchstabe auch über ein Spiegelbild verfü­gen muss.6

5 Der umfangreiche, im Kretischen (einem dorischen Dialekt) verfasste Text befindet sich an der Nordwand des Odeions und gilt als ältester Gesetzescodex Europas. Abbildung, Umschrift und Übersetzung wurden mit der freundlichen Erlaubnis des Lizenzträgers, JOST GIPPERT (Universität Frankfurt), verwendet. Seine Übersetzung des abgebildeten Textes lautet: Der Richter soll, wenn aufgrund von Zeugenaussage zu urteilen vorgeschrieben ist oder aufgrund von Reinigungseid, urteilen wie [es vorgeschrieben ist].

6 Zeilen- und Buchstabenorientierung sind aus leseperzeptorischen und schreibmotorischen Gründen im optimalen Fall gleich gerichtet und bedingen sich daher gegenseitig (vgl. BREKLE 1994).

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Die Gesetzestafeln von Gortyn dokumentieren auch die scriptio continua. Diese kontinuierliche Schrift, die durch die Antike bis zum frühen Mittelalter in Gebrauch bleibt (vgl. auch Abb. 3), gibt nur Laute und ihre lineare Abfolge systematisch wieder und verzichtet weitgehend auf Zwischenräume oder andere Zeichen, die größere sprachliche Einheiten als den Laut, wie etwa das Wort oder den Satz, anzeigen.

Betrachtet man die interne Struktur der griechischen Buchstaben näher, so zeigen sich vier konstante Merkmale, die diese Buchstaben ungeachtet ihrer re­gionalen Variation7 von der phönizischen Schrift und anderen Alphabeten unter­scheiden und die Großbuchstaben unseres Alphabets bis heute charakterisieren.

Die ersten beiden Merkmale sind die systematische Etablierung eines hierar­chischen Verhältnisses der Buchstabenteile zueinander und der Vertikalität der Hauptlinie. Während einige phönizische Buchstaben, wie etwa Aleph und Daleth, eher liegen (vgl. Abb. 1 weiter oben), sind die griechischen Buchstaben durchgehend vertikal ausgerichtet. Die Buchstabenteile sind zudem hierarchisch geordnet: eine Linie, die vertikal sein muss, ist das obligatorische Hauptelement; alle anderen Elemente sind fakultativ, nicht zwingend vertikal und der Hauptli­nie als Coda untergeordnet. So besteht Jota <I>, das in der frühen Schrift aus Gortyn und anderen Regionen als geschwungene oder gezackte Form erscheint, ausschließlich aus der vertikalen Hauptlinie. Epsilon <E> und sein Spiegelbild weisen neben der vertikalen Hauptlinie drei horizontale Codas auf:8

7 Die zum Teil erhebliche regionale Variation der frühen Buchstabenformen zeigt sich auch in der Gortyn-Schrift. Hier erscheint das Iota geschwungen wie ein <S>, das Sigma <Σ> liegt um 90° gedreht auf diagonalen Schenkeln und ähnelt daher dem My, das sich aller­dings durch vier diagonale gleichlange Füße vom liegenden Sigma abhebt. Das Pi er­scheint auf den Gesetzestafeln als <C>. Das Gamma, zunächst spitzwinklig wie das phö­nizische Gimel, hatte in der Gortyn-Schrift gleichlange Schenkel, wie das spätere Lamb­da, das wiederum zunächst ungleich lange Schenkel hatte (vgl. den Überblick in JEFFERY 1990). Die älteste bekannte Normierung unserer Schriftkultur geht auf das Jahr 403 v. Chr. zurück und setzte die ionische (milesische) Variante des Alphabets als überregional verbindliche Norm durch.

8 Das Strukturprinzip der vertikalen Hauptlinie (Vexillum, Hasta) geht auf WATT (1983) und BREKLE (1994, 1999) zurück und wurde in PRIMUS (2004, 2006) weiterentwickelt.

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Das hierarchische, asymmetrische Verhältnis zwischen Hauptlinie und Coda entspricht einem grundlegenderen Sprachprinzip der hierarchischen Strukturie­rung: Wenn sich zwei Elemente miteinander verbinden, dominiert ein Element als Haupt (auch Kopf oder Kern) der Konstruktion und die anderen ordnen sich unter.

Die gleichförmige, in ein Zweilinienschema passende Länge der Buchstaben ist der dritte Wesenszug, der den Großbuchstaben bis heute erhalten blieb.

Der vierte Wesenszug der griechischen Buchstaben ist ihre Symmetrie. So zeigen beispielsweise Alpha <A> und Delta <Δ> im Gegensatz zu ihren phönizi­schen Vorgängern Aleph und Daleth vertikal gespiegelte Buchstabenteile, wäh­rend sich die Buchstabenteile von Beta <B> und Epsilon <E> im Gegensatz zu phönizisch Beth und He horizontal spiegeln. Die ausgeprägte Symmetrie und Ebenmäßigkeit der griechischen Buchstaben tragen wesentlich zu ihrer kulturell bedeutsamen und viel beachteten ästhetischen Wirkung bei.

Ungeachtet dessen sind symmetrische Zeichen aus sprachbezogener und wahrnehmungspsychologischer Perspektive problematisch. Zum einen verdun­keln sie die zugrunde liegende hierarchische Struktur der Buchstaben. So ist zum Beispiel bei <A>, <O> und <H> der zugrunde liegende Unterschied zwi­schen der Hauptlinie und den Coda-Linien nicht sichtbar. Zum anderen sind Ge­stalten, die Spiegelungen voneinander sind, wie etwa <b d> in der modernen Arial-Schriftart, wahrnehmungspsychologisch schwer auseinanderzuhalten.

Aus dieser Perspektive betrachtet sind Symmetrie und Spiegelung in der Ent­wicklung von historisch alt tradierten, hoch entwickelten Schriften als Über­gangsphänomen und in der Schrifttypologie als Wesenszug künstlich erschaffe­ner, relativ junger Schriftzeichen zu werten.9 So wird in der neueren sprachwis­senschaftlichen Schriftforschung die gegenüber dem Phönizischen erhöhte Sym­metrie der griechischen Buchstaben damit erklärt, dass sie den Übergang von der früheren linksläufigen zur späteren rechtsläufigen Zeilenführung und damit auch den Orientierungswechsel im Boustrophedon erleichtert.10

9 Vgl. dazu WIEBELT (2004). 10 Vgl. dazu BREKLE (1994).

Die Buchstaben unseres Alphabets: Form – Entwicklung – Funktion 51

Aufgrund dieser Überlegungen kann die spätere Entwicklung asymmetri­scher Buchstabenformen und die frühe Aufgabe des ohnehin spärlich belegten Boustrophedons als im System angelegte, natürliche Entwicklung eingestuft werden. Spätestens im 4. Jh. v. Chr. setzt sich die rechtsläufige Zeilenführung endgültig durch und macht den Weg frei für die Entwicklung asymmetrischer Buchstabenformen, deren zugrunde liegende hierarchische Struktur visuell klar erkennbar ist.

3. Die spätere griechische Schrift und die römische Schrift

Über die Strukturentwicklung der Großbuchstaben in der römischen Zeit bis in die Gegenwart ist nur noch wenig zu sagen. Die Großbuchstaben (Majuskeln) behalten ihre in der griechischen Schrift entwickelten Strukturmerkmale bei: ihre Vertikalität, ihre ebenmäßige Länge und, in geringerem Umfang, auch ihre Symmetrie.

Die Veränderungen der römischen Capitalis – so der Name der perfektionier­ten römischen Großbuchstabenschrift – betreffen nur Einzelfälle und hatten Vor­gänger in regionalen Varianten der griechischen Schrift und in der etruskischen Schrift. Folgende griechisch-römischen Buchstabenpaare illustrieren diese Ver­änderungen:

Γ – C, Δ – D, Λ – L, Π – P, P – R, Σ – S

Die Einführung der vertikalen Asymmetrie bei <D, L, P>, die Hauptlinie und Coda sichtbar trennt, sowie die Rundung von <C, D, P, S> halten wir als Leit­faden fest.

Rundung und Asymmetrie charakterisieren auch die späteren Kleinbuchsta­ben (Minuskeln) und können in eine umfassendere Tendenz zur Kursivierung eingeordnet werden. An der Kursivierung, die die römische wie griechische

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Schrift in einer vergleichbaren Weise erfasst, sind mehrere, sich gegenseitig bedingende Faktoren beteiligt: der Beschreibstoff, die Funktion des Textes (die Textsorte) und schreibökonomische Gesichtspunkte.11

Die Rolle des Beschreibstoffes zeigt sich darin, dass gegenüber der oben er­wähnten zurückhaltenden Kursivierung der bevorzugt in Stein gemeißelten rö­mischen Capitalis die auf Papyrus angebrachte Schrift deutlich kursiver ist. Abb. 3 zeigt ein griechisches Papyrusfragment aus dem 1. Jh. v. Chr., das dem bedeutenden Werk Über Götter von Apollodor und somit einer gehobenen Text­sorte zugeschrieben wird:12

Ε Κ Τ Α Σ Τ Ο Υ Δ Ι Ο Σ Φ Α Ν Τ Ι Κ Ε Φ Α Λ Α Σ 1 3

Α Π Ο Λ Ε Σ Α Ι Π Ρ Α Τ Ι Σ Τ Α Π Α Ν Τ Ω Ν

Abb. 3: Griechisches Apollodor-Fragment auf Papyrus, 1. Jh. v. Chr.

11 Die Kursive wird gelegentlich auch als Kurrentschrift bezeichnet. In der Paläographie un­terteilt man kursivierte Schriften in jüngere und ältere Kursive (vgl. BISCHOFF (1986: 78f.) und BREKLE (1994: 181f.)). Allerdings erfasst diese rein zeitliche Klassifizierung nicht die oben erwähnte Tatsache, dass bei der Entwicklung der Kursive mehrere, zeitlich nicht synchron auftretende Faktoren eine Rolle spielen.

12 Vgl. Kölner Papyri (1980, III, 21-32) für Umschrift, Datierung und Einordnung dieses Kölner Papyrus (P 126). Das abgebildete Fragment lautet in der Übersetzung: Sie sagten, dass [Athene], aus dem Haupt des Zeus [entsprungen], als erste von allen in der gegen Kronos stattfindenden Schlacht den Pallas tötete. Wir bedanken uns bei ANTJE CASARETTO für die Übersetzung und bei JÜRGEN HAMMERSTAEDT für die freundliche Unterstützung bei der Beschaffung und Dokumentation der in Abb. 3 und Abb. 5 gezeigten Papyri.

13 Der 7. und der 8. Buchstabe der ersten Zeile wurden im Original von <ω> zu <OY> ver­bessert.

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Klar erkennbar ist neben der geringfügigen Beugung aller Linien die gerun­dete minuskelähnliche Form von Epsilon, Omega und Alpha sowie das verein­fachte gerundete Sigma <C>, das in der kyrillischen Schrift weiterbesteht. Be­merkenswert ist auch die Verlängerung der Hauptlinie des Phi und die damit an­gedeutete Durchbrechung des Zweilinienschemas, die bei den späteren Klein­buchstaben systematisch fortgesetzt wird.

Mit Bezug auf die Funktion des Textes lassen sich in der römischen und griechischen Antike zwei parallele Entwicklungen feststellen. In Texten mit öffentlich bedeutendem Inhalt gibt es die konservativeren Monumentalschriften, kalligraphisch sorgfältig ausgeführte und streng normierte Majuskelschriften wie die römische Capitalis, die in der bisherigen Forschung gut untersucht und viel beachtet wurden. In den spärlich erhaltenen, nicht-öffentlichen Zeugnissen begegnen uns spontane und daher innovative Alltagsschriften, in denen die Kursivierung und Entwicklung der Minuskeln vorangetrieben wird. Diese kulturhistorisch weniger beachteten Alltagsschriften setzten die spektakulärste Entwicklung unseres Alphabets seit seiner Entstehung in Gang: seine Aufteilung in zwei korrespondierende, funktional distinkte Buchstabeninventare, in denen die Minuskeln die Rolle der Normalschrift und die Majuskeln die Funktion der Auszeichnungsschrift übernehmen.14

Die Vorläufer der modernen Kleinbuchstaben begegnen uns in flüssigen Alltagsschriften als Wandkritzeleien aus Pompeji und Herculaneum, als in feuchtem Ton eingeritzte Sprüche oder als Privatbriefe, Zeugenaussagen und Quittungen auf Papyrus. Vgl. Abb. 4 und 5:

14 Die Großbuchstabenschrift wird nach dem 8. Jh. fast nur noch als Auszeichnungsschrift für Titel, Prologe, Zitate oder Hervorhebungen eingesetzt (vgl. BISCHOFF 1986: 78f.).

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quisquit · ammat

pueros · sene ·

finem · puellas ·

rationem · sacclii ·

Abb. 4: Römischer Graffito auf einem Krugboden, 1. Jh. n. Chr.15

τωθεοσεβεστατω και ευλογηενω

πατρι μαρτριω θεοδουλος

Abb. 5: Griechischer Privatbrief auf Papyrus, 5.–6. Jh. n. Chr.16

15 Der in feuchtem Ton eingeritzte, fehlerhafte vulgärlateinische Text befindet sich auf ei­nem in Remagen gefundenen Krugboden, dessen Alter auf das 1. Jh. n. Chr. geschätzt wird (vgl. BÜCHELER 1907). Seine Übersetzung lautet: Wer Knaben und Mädchen ohne Ende liebt, der bringt die Summe des Geldbeutels nicht zurück. Wir bedanken uns bei KURT KLEEMANN, dem Direktor des Römischen Museums in Remagen, für die Bereitstel­lung des Tonfragments und der Abbildung

16 Vgl. Kölner Papyri (1978, II, 184-186) für Umschrift, Datierung und Einordnung. Der Text des Papyrus (P 110) beginnt in der Übersetzung wie folgt: Dem gottesfürchtigen und ehrwürdigen Vater Martyrios von Theodulos. Auch ältere, aus dem 2. Jh. v. Chr. überlie­ferte Alltagstexte auf Papyrus weisen bereits eine minuskelähnliche Kursive auf (vgl.

BTO
norefert ·

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Die beiden Schriftdokumente lassen trotz erheblich divergierender Buchsta­benformen die wesentlichen Strukturmerkmale einer kursiven, minuskelähnli­chen Schrift erkennen. Einige Buchstaben haben eine Hauptlinie mit Über- oder Unterlänge, die formal ein virtuelles Vierlinien- bzw. Dreibandschema erfordert und funktional folgendermaßen eingeordnet werden kann. Die Verlängerung der Hauptlinie erfasst mit wenigen Ausnahmen, wie etwa dem verlängerten Epsilon im Papyrusdokument, nur Konsonantenbuchstaben und zwar bevorzugt solche, die an Silben- und Worträndern vorkommen. Die Hauptlinie der Vokalbuchsta­ben im Silbenkern ist dagegen meistens kurz. Damit wird die Silben- und Wort­struktur graphisch deutlicher als in der Majuskelschrift durch eine Abfolge von kurzen und langen Hauptlinien angezeigt.17 Repräsentative Beispiele sind der Schreibduktus für quisquis, das erste Wort im römischen Graffito,18 und für θεοδουλος, das letzte Wort im griechischen Papyrus.

Die Aufgabe der scriptio continua und die Kennzeichnung von Worteinhei­ten durch Punkte (vgl. Abb. 4) oder Leerzeichen (vgl. Abb. 5) werden im Bei­trag von URSULA BREDEL in diesem Band näher erläutert. Die anderen überindivi­duellen Merkmale dieser kursiven Schriften sind variabler und sprachlich nicht funktional. Gegenüber der römischen Capitalis und der Majuskelkursive des Apollodor-Textes (vgl. Abb. 3 weiter oben) ist die Schriftneigung der minuskel­ähnlichen Kursive größer, die Buchstaben sind öfter miteinander verbunden und alle Linien sind stark abgerundet.

PESTMANN 1990: 55-59)17 Die Systemhaftigkeit dieser Entwicklung wurde auf rein schreibmotorischer und visuell-

perzeptiver Ebene von BREKLE (1994, 1999) herausgearbeitet. Zur silbenstrukturbezogenen sprachlichen Funktion des Kontrastes zwischen kurzer und langer Hauptlinie vgl. PRIMUS (2004, 2006).

18 Derselbe Schreibduktus für quisquis lässt sich u. a. auch im Pompejanischen Grafitto CIL, IV, 1898 nachweisen und kann somit als allgemein gültige Form gedeutet werden.

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4. Mittelalter und Neuzeit: Die karolingische Minuskel und ihre Weiterent­wicklung

Was sich in der spätantiken und frühmittelalterlichen minuskelähnlichen Kursive immer deutlicher anbahnt, entfaltet sich bereits in der zur Zeit Karls des Großen entwickelten karolingischen Minuskelschrift zu einem System, das bis auf wenige Veränderungen auch die moderne Kleinbuchstabenschrift charakterisiert.19 Abb. 6 zeigt einen Ausschnitt aus einem althochdeutschen Prosamanuskript in karolingischer Minuskelschrift:20

Abb. 6: Althochdeutscher Text in karolingischer Minuskelschrift, 11. Jh.

Die karolingische Minuskelschrift gibt die komplexe hierarchische Sprach­struktur auf mehreren Ebenen sehr genau und systematisch wieder. Besonders augenfällig ist zunächst, dass Worteinheiten regelhaft durch Leerzeichen und größere Einheiten durch Interpunktion angezeigt werden (vgl. dazu den Beitrag von URSULA BREDEL in diesem Band).

19 Eine gute paläographische Übersicht dieser Entwicklung bietet SCHNEIDER (1999).20 Der Schreiber dieses Manuskripts, Otloh von St. Emmeram, ist einer der besten

Kalligraphen des 11. Jhs. Wir bedanken uns bei der Staatsbibliothek München für die Be­reitstellung des Manuskripts (Clm 14490, Blatt 162r) und seiner Abbildung. Die möglichst buchstabengetreue Übersetzung des abgebildeten Textes lautet: Durch deine heilige Ge­burt und deine Leiden und durch das heilige Kreuz, durch das du alle Welt erlöstest, und durch deine Auferstehung und durch deine Himmelfahrt, auch durch die Gnade und den Trost des heiligen Geistes. Mit diesem tröste mich und stärke mich gegen alle Versuchun­gen, gegen alle Verlockungen des bösen Feindes.

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Was die Buchstabenstruktur betrifft, so haben sich drei funktionale Parameter fast vollständig entwickelt. Der erste, bereits weiter oben erwähnte Parameter trennt Buchstaben mit kurzer Hauptlinie von solchen mit langer Hauptlinie. Die­ser Kontrast wird in der karolingischen Minuskelschrift viel systematischer als in der spätantiken Kursive für die graphische Wiedergabe der Silbenstruktur ein­gesetzt. Vokalen, die den Silbenkern konstituieren, entsprechen durchweg Buch­staben mit kurzer Hauptlinie. Konsonanten, die im Silbenrand platziert sind, werden in der Regel durch Buchstaben mit langer Hauptlinie repräsentiert. Als anschauliche Beispiele greifen wir die Wörter heiliga in der ersten Zeile und leidigin in der letzten Zeile der Abb. 6 heraus. Die drei Silben dieser Wörter werden visuell durch drei Abschnitte erfasst, die jeweils mit langen Buchstaben beginnen und mit kurzen Buchstaben enden.21

Einen weiteren bemerkenswerten Schritt in der genaueren Wiedergabe der Lautstruktur erreicht die karolingische Minuskelschrift dadurch, dass die artiku­latorischen Eigenschaften des Lautes, den ein Buchstabe repräsentiert, aus den Buchstabenteilen und der Art ihrer Zusammenfügung erschlossen werden kön­nen. Diese Systematik folgt dem grundlegenderen Sprachprinzip der Komposi­tionalität. Diesem Prinzip zufolge muss die Funktion bzw. die Bedeutung kom­plexer Spracheinheiten (vgl. Blumengarten versus Gartenblumen) nicht zusätz­lich gespeichert werden; sie kann aus der Bedeutung der Teile und der Art ihrer Zusammenfügung erschlossen werden.

Um dies besser nachvollziehen zu können, werden wir die zwei Parameter der Artikulation, die Artikulationsart und den Artikulationsort, einführen und die buchstabenbezogene Analyse zunächst mit der modernen, geläufigen Arial-Schriftart illustrieren. Die angegebenen Lauteigenschaften der Buchstaben beru­hen auf ihrer sprachenübergreifend gültigen, aus dem Lateinischen übernomme­nen Standardaussprache.

Die Artikulationsart beruht auf dem Öffnungsgrad der Artikulatoren bei der Produktion des betreffenden Lautes und fällt für Konsonanten und Vokale natur­gemäß unterschiedlich aus. Bei geschlossenen Konsonanten, den Verschluss-, Nasen- und Liquidlauten wie etwa [p t k m n l r], sind die Artikulatoren im

21 Die Bedeutung der Schreibsilbe für den Schriftspracherwerb sowie für den Lese- und Schreibprozess ist in der neueren linguistischen Schriftforschung sehr gut herausgearbeitet (vgl. z. B. WEINGARTEN (2004) und die dort referierten Forschungsergebnisse).

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Mundraum fest miteinander verbunden. So schließen sich bei der Artikulation des [t] Zungenspitze und Zahndamm fest aneinander. Dies geschieht intermittierend beim rollenden Zungenspitzen-[r]. Bei geschlossenen Vokalen wie [i] und [u] ist die Kiefer- und Zungenstellung hoch und der Mundraum daher relativ geschlossen.

Die offene Artikulationsart charakterisiert bei Konsonanten die Reibelaute, wie [f v s j], bei deren Produktion sich die Artikulatoren annähern, ohne sich fest zu schließen. Bei offenen Vokalen, wie [a e o], ist die Kiefer- und Zungenstel­lung tiefer und der Mundraum offener als bei den geschlossenen Vokalen.

Die Artikulationsart wird im System der Kleinbuchstaben durch die Unter­scheidung zwischen gerader und gerundeter Hauptlinie repräsentiert. Eine gera­de Hauptlinie symbolisiert die geschlossene Artikulationsart. Vgl. <b i k l m n p q r t u>. Eine gerundete Hauptlinie zeigt die offene Artikulationsart an. Vgl. <a e f j o s v w>.

Bei dieser Analyse sind zwei Faktoren zu berücksichtigen. Zum einen sind Rundungen an der Grundlinie zu nennen. Sie dienen der Buchstabenverbindung und stehen für sprachbezogene Funktionen nicht zur Verfügung. So ist die gera­de obere Linie des <i l t> und nicht die unten gerundeten Linien der Varianten <i l t> für die Wiedergabe der geschlossenen Artikulationsart ausschlaggebend.

Zum anderen sind diagonale Linien wie bei <v w> sprachlich nicht funktio­nal. Dies liegt daran, dass der Schreibwinkel zwischen geraden und geneigten Schriften zu stark variiert. Diagonale Linien sind zugrunde liegend meistens ge­rundete Linien, so auch bei <v w>, deren Rundung in den Schulschrift-Varian­ten <v w> klar erkennbar ist.

Der zweite artikulatorische Parameter trennt vordere und hintere Artikulati­onsorte. Einen vorderen, vor dem Gaumen im Lippen- und Zahndamm-Bereich liegenden Artikulationsort haben die Konsonanten [p b m n t s l r] und die Voka­le [i e]. Einen hinteren Artikulationsort, der am Gaumen und weiter hinten im Mundraum liegt, haben die Konsonanten [j k g] und die Vokale [a o u].

Der Artikulationsort wird im System der Kleinbuchstaben durch die Unter­scheidung zwischen einer kanonischen und einer nicht-kanonischen Orientie­rung der Hauptlinie und der Coda symbolisiert. Die kanonischen Formen fügen sich der rechtsläufigen Zeilenrichtung und bilden möglichst geschlossene geo­

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metrische Figuren. Eine kanonische Hauptlinie ist nicht-gerichtet wie etwa bei <l i> oder bildet einen rechts offen Bogen wie etwa bei <f s>. Wir erinnern dar­an, dass die Rundung des <s> an der Grundlinie nicht zählt. Kanonische Codas sind nicht gerichtet wie bei <t f> oder rechts platziert und der Hauptlinie zuge­wandt, wie bei <b e m n p r v w>. Kanonische Buchstabenformen signalisieren einen vorderen Artikulationsort.

Eine nicht-kanonische Hauptlinie bildet einen links offen Bogen wie bei <j g>. Nicht-kanonische Codas sind links platziert wie bei <a g o q u>22 oder wen­den sich von der Hauptlinie ab, wie bei <k>. Nicht-kanonische Buchstabenfor­men symbolisieren einen hinteren Artikulationsort.

Die artikulationsbezogene Systematik der modernen Kleinbuchstaben wird in Abb. 7 zusammengefasst.23

ArtikulationsortArtkulationsart

vordere Laute / kanonische Buchstabenform

hintere Laute / nicht-kanonische Buchstabenform

geschlossene Laute / gerade Hauptlinie b i l m n r p t k q uoffene Laute / gerundete Hauptlinie e f s v w a j o

Abb. 7: Buchstabenmerkmale und ihre phonologische Funktion im modernen römischen Al­phabet

Sieben der 26 Buchstaben, die das moderne Kernalphabet bilden, wurden in die Synopse in Abb. 7 nicht aufgenommen. Dies sind <c d g h x y z>. Sie kön­nen aus zwei Gründen nicht klar eingeordnet werden. Der erste Grund ist, dass

22 Die hier vorgestellte Systematik der Kleinbuchstaben liefert wichtige heuristische Ent­scheidungskriterien, wenn ein Buchstabe, was oft vorkommt, mehrere Zerlegungsmög­lichkeiten erlaubt. So analysieren wir <o> systemkonform als Buchstaben, der aus zwei vertikalen Halbkreisen besteht, wobei der rechte Halbkreis die Hauptlinie bildet. Alle an­deren Analyseoptionen ergäben einen systemwidrigen Buchstaben. Eine Bestätigung er­fahren unsere Buchstabenzerlegungen und ihre Merkmalsbeschreibung durch die unab­hängig begründeten Ergebnisse von BERKEMEIER (1997).

23 Vgl. PRIMUS (2004, 2006) für eine ausführlichere Diskussion.

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die Buchstabenform nicht alle funktionalen Parameter berücksichtigt. Dies be­trifft zunächst den Buchstaben <d>, dessen linksseitige Coda für die Wiederga­be des vorderen Konsonanten [d] ungeeignet ist. Auch <y>, den wir zugrunde liegend als <u> mit langer gerader Hauptlinie analysieren, gehört zu dieser Gruppe, sofern er, wie im Standardfall, den vorderen Vokal [y] wiedergibt. Die lange Hauptlinie passt nicht in das System der ansonsten durchweg kurzen Vo­kalbuchstaben und die linksseitige Coda gibt den vorderen Artikulationsort nicht angemessen wieder.

Der zweite Grund für eine schwierige Einordnung liegt im uneindeutigen Lautwert des betreffenden Buchstabens. Die Buchstaben <x> und <z> geben in vielen Sprachen Lautfolgen, also [ks] bzw. [ts] oder [dz], wieder. Der Buchstabe <h> symbolisiert einen außerhalb des Mundraums im Kehlkopf artikulierten Laut, der phonologisch einen Sonderstatus hat. Schließlich haben die Buchsta­ben <c> und <g> in mehreren Sprachen beginnend mit dem Lateinischen einen in Abhängigkeit vom nachfolgenden Vokal wechselnden Lautwert. Man verglei­che z. B. den Anfangslaut [s] in cent mit [k] in cours im Französischen.

Kehren wir nun zur karolingischen Minuskelschrift zurück, um die wichtigsten, weitgehend systemverstärkenden Veränderungen bis zur modernen Schrift zu erfassen.

Die in der Neuzeit eingeführte Unterscheidung zwischen <i> und <j> verläuft systemkonform. Dem vorderen geschlossenen Vokal [i] muss eine kurze gerade Hauptlinie entsprechen, so dass die Buchstabenform <i> bis auf den neu einge­führten diakritischen Punkt erhalten bleibt. Für den weiter hinten artikulierten Reibelaut [j] hat sich systemkonform die Buchstabenform <j> durchgesetzt, die eine lange, gerundete und nach links, also nicht-kanonisch gerichtete Hauptlinie aufweist.

Die Buchstabenpaare <u> und <v> bzw. <w> sind ebenfalls systemkonform getrennt worden. Diese Entwicklung ist bei Otloh für <uu> versus <w> bereits eingeleitet, wie <wider> gegenüber <uuider> in der letzten Zeile der Abb. 6 illustriert. Beim Buchstaben <u> schließt sich einer kurzen geraden Hauptlinie linksseitig und daher nicht-kanonisch die gerundete Coda an. Diese Form ist für die Wiedergabe des hinteren geschlossenen Vokals [u] optimal und musste nicht

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geändert werden. Für die Wiedergabe der Reibelaute [f] und [v] haben sich systemkonform Buchstabenformen mit gerundeter Hauptlinie entwickelt. Dies ist in kursiven Schulschrift-Varianten wie <v w> am deutlichsten erkennbar.

Die Verlängerung des <t>, die sich bei Otloh in der Ligatur <ſt > bereits an­bahnt, ist als Symbol des Silbenrandes und der Verschlussbildung beim entspre­chenden Laut [t] systemkonform. In das System passt auch die Begradigung der Hauptlinie von <d>, die für die Wiedergabe des Verschlusslautes [d] zwingend ist.

Die Verdrängung des langen <ſ> zugunsten des kurzen <s> ist für die Wie­dergabe von s-Lauten, die eine ausgeprägte Silbenrandfunktion haben, system­widrig. Diese Änderung verstärkt jedoch eine Nebentendenz: gerundete Hauptli­nien neigen zur Kürze, wie <c s v w x> demonstrieren.

Zusammenfassend halten wir fest, dass die moderne Minuskelschrift die spe­zifische Aufgabe einer Buchstabenschrift, die Lautstruktur möglichst genau und systematisch wiederzugeben, besonders gut erfüllt. Drei Aspekte der Buchsta­benformen, die bereits in der karolingischen Minuskelschrift regelhaft hervortre­ten, stehen im Dienst dieser Aufgabe. Buchstaben mit langen und kurzen Haupt­linien sind auf Vokale und Konsonanten so verteilt, dass sie die Silbenstruktur möglichst genau repräsentieren können. Der Kontrast zwischen runder und gera­der Hauptlinie entspricht der Unterscheidung zwischen offener und geschlosse­ner Artikulationsart. Schließlich dient die Hauptlinien- und Coda-Orientierung der Wiedergabe eines vorderen oder hinteren Artikulationsortes.

5. Zusammenfassung

Die in diesem Beitrag nachgezeichnete Entwicklung unserer Alphabetschrift verläuft von einer einfachen linearen Abfolge unsystematisch strukturierter Buchstaben zu Schriften, die die komplexe Sprachstruktur immer genauer und systematischer abbilden. Damit wird aus der Perspektive der neuronalen Schrift­verarbeitung eine schnellere und effizientere Erfassung der sprachlichen Infor­mation durch den Leser erreicht. Diese Entwicklung manifestiert sich im Einzel­nen durch mehrere ineinandergreifende, kontinuierliche Entwicklungsstränge, die im Hinblick auf die Buchstabenformen in ihrer Chronologie wie folgt zu­sammengefasst werden können:

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● Mit der bereits im Phönizischen angelegten und im Griechischen fortge­setzten Einführung der Vokalbuchstaben können prinzipiell alle Sprach­laute eine eigene Buchstabenentsprechung haben.

● Die im Griechischen entwickelte Symmetrie und ebenmäßige Länge der Buchstaben wird im Zuge der Kursivierung der Schrift, die von einer ma­juskelnahen Kursive über eine minuskelähnliche Kursive zur karolingi­schen Minuskelschrift führt, kontinuierlich zurückgedrängt. Das symboli­sche, lautfunktionale Potenzial asymmetrischer Buchstabenformen entfal­tet sich parallel dazu.

● Die im Griechischen eingeführte Vertikalität unserer Buchstaben und die spätere Aufgabe der ebenmäßigen Buchstabenlänge sind wichtige Voraus­setzungen für die Entwicklung eines vertikalen, die Silbenstruktur reprä­sentierenden Kontrastes zwischen langen und kurzen Buchstaben-Hauptli­nien.

● Die unterschiedliche, rechts- oder linksläufige Orientierung asymmetri­scher Buchstabenformen wird für die Wiedergabe eines vorderen oder hinteren Artikulationsortes immer systematischer eingesetzt.

● Die Kursivierung eröffnet die Option, runde und gerade Hauptlinien zu unterscheiden. Diese Unterscheidung symbolisiert mit steigender Gesetz­mäßigkeit eine offene oder geschlossene Artikulationsart.

● Spätestens in der karolingischen Minuskelschrift haben sich die genann­ten Korrelationen zwischen interner Buchstabenstruktur und Lautstruktur verallgemeinert. Die spätere Entwicklung beseitigt lediglich einige systemwidrige Fälle.

Die Aufgabe der scriptio continua und die Entwicklung der Interpunktion ist eine andere Facette dieser im Dienst des effizienten Lesens stehende Ausdiffe­renzierung der Schrift, die im Beitrag von URSULA BREDEL in diesem Band behan­delt wird.

Mit Bezug auf grundlegendere Sprachprinzipien kann man diese Schriftent­wicklung in eine allgemeinere sprachwissenschaftliche Argumentation fassen. Die elementaren Wesenszüge von Sprache erfasst die moderne Schrift, indem sie selbst nach universellen Sprachprinzipien strukturiert ist. Nach dem Prinzip der hierarchischen Strukturierung haben sich Buchstabenteile in übergeordnete

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Hauptlinie und untergeordnete Coda entwickelt. Nach dem Prinzip der Kompo­sitionalität ergibt sich die Funktion komplexer Sprach- wie Schrifteinheiten, zu denen aufgrund unserer Analyse auch die Buchstaben gehören, kompositionell aus der Funktion ihrer Teile und der Art ihrer Zusammenfügung. So ergibt sich die Lautfunktion eines Buchstabens, wie in diesem Beitrag gezeigt, aus den Lautfunktionen seiner Teile und der Art ihrer Zusammenfügung.

Die hier gezeigten Schriftentwicklungen folgen sehr allgemeinen, abstrakten Gesetzen. Solchen Gesetzen gehorchen Sprach- und Schriftbenutzer reflexartig und unbewusst. In diesem Sinne können die hier aufgedeckten Entwicklungen als natürlich eingestuft werden. Wie aus dieser Perspektive erwartet, finden die hier aufgezeigten Schriftentwicklungen ihren Ursprung in den spontaneren und daher natürlicheren Alltagsschriften, um von dort auf die kalligraphischen, strenger normierten Schriften überzugehen. Was in der älteren Forschung als großartige Erfindung einer besonders schöpferischen Kultur gefeiert wurde, wie etwa die Vokalbuchstaben und die karolingische Minuskel, zeigt sich bei nähe­rer Betrachtung als eine Stufe in einer kontinuierlichen natürlichen Entwicklung, die sich viel früher als gemeinhin angenommen in der Alltagskultur anbahnt.

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