31
Nationale Kapodistrias Universität Athen Philosophische Fakultät Fachbereich für Deutsche Sprache und Literatur Seminar: DLA64: Realismus, Naturalismus, Fin de Siécle Leitung. Prof. A. Antonopoulou WS 2009/10 Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke“ Gerhart Hauptmann: „Die Ratten“ Analyse und Vergleich vorgelegt von: Felix Romanik Matrikelnummer: 1565 2008 00104 E-Mail: [email protected]

Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

Nationale Kapodistrias Universität Athen Philosophische Fakultät

Fachbereich für Deutsche Sprache und Literatur

Seminar: DLA64: Realismus, Naturalismus, Fin de Siécle

Leitung. Prof. A. Antonopoulou

WS 2009/10

Die Charaktere in

Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke“ Gerhart Hauptmann: „Die Ratten“

Analyse und Vergleich

vorgelegt von:

Felix Romanik

Matrikelnummer: 1565 2008 00104 E-Mail: [email protected]

Page 2: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[2]

1.) Inhaltsverzeichnis

Vorwort ............................................................................... 3

Die Großstadt Berlin und der Naturalismus ................................ 4

Holz / Schlaf: Die Familie Selicke ............................................. 6

Hauptmann: Die Ratten ....................................................... 13

Die Charaktere im Vergleich .................................................. 25

Résumée und Schlusswort ................................................... 30

Literaturverzeichnis ............................................................. 31

Page 3: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[3]

1.) Vorwort

Für die vorliegende Arbeit habe ich mir vorgenommen, nach einer kurzen Einführung in die Großstadtthematik am Beispiel Berlins zur Zeit des Naturalismus, zwei der wichtigsten Werke dieser Strömung, nämlich „Die Familie Selicke“ von Arno Holz und Johannes Schlaf (Uraufführung 1890, Freie Bühne Berlin) sowie „Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann (Uraufführung 1911, Berlin, Lessingtheater) kurz inhaltlich vorzustellen, um sodann deren Hauptcharaktere zu analysieren und im Anschluss diese mitein-ander zu vergleichen.

Charakteristisch ist für beide Werke, dass sie im kleinbürger-lichen Milieu des Berlin zur Zeit der sogenannten Moderne, also des ausgehenden 19. Jahrhunderts spielen. Die deutsche Haupt-stadt war zur damaligen Zeit auch gleichzeitig das industrielle Zentrum im Reich mit großer wirtschaftlicher Not und allen da-raus folgenden Problemen sozialer Art unter den ›kleinen Leuten‹.

Dieser Umstand und die minutiöse Darstellung in den Stücken prädestiniert diese, uns als Zeitdokumente zu dienen, durch die wir einen Einblick in die damalige Gesellschaft bekommen und so im komparatistischen Vergleich charakteristische Eigenschaften der Berliner Kleinbürger zu extrahieren können.

Page 4: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[4]

2.) Die Großstadt Berlin und der Naturalismus

Die Stadt Berlin, in deren Großraum bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts rund drei Millionen Menschen lebten, galt als die „sauberste Stadt der Welt“ und gab - bei einem Jahresetat von rund 330 Millionen Mark - 37 Millionen für Schulen und weitere ganze sechs Millionen für Straßenreinigung aus. Die Große Straßenbahn transportierte 550 Millionen Fahrgäste und ihre gesamte Gleislänge hätte bis Frankfurt gereicht. Die aktuelle Ausgabe des Straßenverzeichnisses in Großquart-Format umfasste 6000 Seiten und wog 25 Pfund1.

Berlin war, neben München und Wien2, das wichtigste Zentrum des Naturalismus im deutschen Sprachraum. Das Großstadt-thema wurde von den Naturalisten aufgenommen, ja, das durch die Industrialisierung hervorgerufene Elend inspirierte sie zu einem Stil, den wir später den ›Naturalismus‹ nennen sollten: dessen getreue Darstellung rief in weiterer Folge die Expressio-nisten auf den Plan3. Nicht zufällig nahm die literarische Moderne hier ihren Ausgang: das deutsche Reich hatte seine bislang größte Ausdehnung erreicht und als Hauptstadt war Berlin erst-mals nun Weltstadt im Range von Paris und London geworden4, allein schon weil sich ihre Bevölkerungszahl verdreifacht hatte5, was mit einer Konzentration der Modernisierungsprozesse wie Industrialisierung (mit einhergehender Proletarisierung6) und Emanzipation der Frau an diesem Ort einherging. Durch eine 1 Anonym: Berlin für Kenner (1912). In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte und Peter

Sprengel. Stuttgart 1987, S 95ff. 2 Zu nennen sind insbesondere Christine Frederik alias Ada Christen (1844-1901) als Schöpferin der

ersten naturalistischen Gedichte in deutscher Sprache überhaupt. Ein Stück von Marie von Ebner-

Eschenbach (1830-1916) war das erste einer Autorin, das auf der ›Freien Bühne‹ in Berlin aufgeführt

wurde (vgl. Kanz, S. 353). Mit ihrem kritischen Auge auf soziale Fragen wie jene der Situation des

Bahnarbeiters auf dem Semmering oder dem tschechischen Dienstmädchen in Wien ist sie aber wohl

eher der Strömung der ›Arbeiterliteratur‹ zuzuordnen. Karl Emil Franzos (1848-1904) stellte u.a. die

soziale Lage der Bevölkerung Galiziens zur Debatte (vgl. Görlich, Romanik, S. 488 f.). 3 vgl. Sprengel, Peter 1988. S. 244f.

4 Berühmt war zu dieser Zeit auch ihr Nachtleben, und mit einigem Stolz meinte man nun, sich nicht

hinter jenem anderer Metropolen wie vor allem Paris verstecken zu müssen. 5 vgl. Kanz, S. 346.

6 So entspricht dem 4. Stand auch die 4. Bahnklasse in der Paul John zwischen Hamburg und Berlin pendelt.

Page 5: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[5]

steigende Frauenquote in den Fabriken nämlich wuchs beim weiblichen Geschlecht auch ein neues Selbstbewusstsein: die tradierten Geschlechterrollen wurden infrage gestellt7, man sah nicht mehr ein, warum Frauen vom Wahlrecht oder den Univer-sitäten ausgesperrt bleiben sollten8. Dazu in einem gewissen Widerspruch stand das misogyne Frauenbild der Naturalisten: nicht nur Arbeiterinnen oder ›einfache Mädels‹ kamen auf die Bühne, nein auch vor der Darstellung von Prostitution, Alkohol- und Drogensucht schreckte man nicht mehr zurück9. Dieser neue Wahrheitsanspruch ist unter anderem auch Fortschritten in der Wissenschaft geschuldet, in einer Art Gegenbewegung wurde das Perverse und bislang Tabuisierte gleichsam ins Rampenlicht ge-rückt, was vom konservativen Publikum als „Thierlautkomödie10“ verunglimpft wurde, dem Kaiser missfiel, und die Zensurbehörde auf den Plan rief.

Welches sind die naturalistischen Elemente, die wir in beiden Stücken anzutreffen erwarten dürfen? Neben den Figuren der Handlung, die dem einfachen Milieu entstammen finden wir als Schauplätze auch jene Orte, wo sich diese Figuren in der Regel aufhalten: in unserem Fall sind das ihre Wohnungen im Berliner Norden, dem Arbeiterviertel und wir treffen auch die authentische Sprache in der sie kommunizieren, den Berliner Dialekt.

Krankheit - Sucht - Lebensmüdigkeit ist ein weiterer naturalis-tischer Themenkreis, der in beiden Stücken anzutreffen sein wird.

7 siehe später, ebenfalls bei „Die Ratten“, wo Frau John das eigentliche Familienoberhaupt ist.

8 vgl. Kanz, S. 349.

9 ebd. S. 350.

10 vgl. Scheuer, 1988. S. 69.

Page 6: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[6]

3.) Holz / Schlaf: Die Familie Selicke

Das Stück spielt an einem einzigen Abend, einem Heiligen Abend11, an einem einzigen Ort: der Wohnung der Familie Selicke im Norden Berlins. Einheit der Zeit und des Ortes sind somit gewährleistet. Die ganz und gar nicht ›selige‹ Familie steht somit in direktem Kontrast mit dem Ereignis: in der ›heiligen‹ Nacht, in der Jesu Geburt gedacht wird, stirbt das Nesthäkchen Linchen.

Ein Regulator (Wanduhr) steht als Symbol für den Sekundenstil12. Der Aufbau des Stücks in drei Akten ist symmetrisch.

3.1. Handlung

Wie schon zeitgenössische Kritiker feststellten, ist „Die Familie Selicke“ ein handlungsarmes Stück13. Der Ablauf ist daher schnell erzählt:

Szene1:

Die Familie Selicke wartet am Heiligen Abend darauf, dass Vater Selicke nach Hause kommt. Das Warten wird ihnen lang, sie wissen weder wann er kommen wird noch, ob er vielleicht Ge-schenke bringen wird. Währenddessen kommt der alte „olle“ Kopelke, von Albert Selicke, 18 Jahre, als „Quacksalber“ verun-glimpft, um nach dem tuberkulosekranken Linchen, 8 Jahre, zu sehen.

Herr Wendt, Theologiestudent und Untermieter, hat gute Neuig-keiten: er ist als Pastor berufen worden und wird daher die Familie am Folgetag verlassen. Tochter Toni, 22 Jahre, nützt die Zeit des Wartens und bessert Mäntel aus: „ein kleiner Neben-verdienst“.

Wendt, der in Toni verliebt ist und ja jetzt in geordnete berufliche Verhältnisse kommt, versucht sie zu überreden, mit ihm zu kommen, sie aber bricht in Tränen aus.

11

Das Vorwort der 1. Ausgabe ist auf den 24. Dezember 1889 datiert (vgl. Scheuer 1988, S. 68). 12

ebd. S. 72. 13

ebd. S. 73.

Page 7: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[7]

Szene2:

Frau Selicke sitzt neben Linchen und strickt, Toni näht. Die Kleine wacht kurz auf und ist ganz munter, sodass sie Frau Selicke Hoff-nung auf baldige Gesundung gibt.

Es ist schon zwei Uhr, als der Vater betrunken heimkommt, er ist erst gut gelaunt, grölt aber gleich darauf, dass er die ganze Familie umbringen würde, was die Kinder im Nebenraum hören können. Er spottet über seine humpelnde Frau und verflucht sie. Später schläft er im Sitzen ein, Linchen, vom Lärm wach gewor-den, verstirbt vor den Augen ihrer Mutter. Selicke wird geweckt und bricht ob der Todesnachricht zusammen.

Szene3:

Morgengrauen, draußen hört man die ersten Kinder lärmen. Frau Selicke weint, Herr Selicke küsst geistesabwesend das tote Kind. Nur Toni behält weitestgehend die Contenance. Wendt kommt herein, zur Abreise bereit, noch einmal versucht er, Toni zu über-reden, da bricht sie nun doch in Tränen aus und wünscht sich den Tod. Sie erklärt Wendt, wie gutherzig ihre geliebten Eltern wären und dass sie diese nicht alleinelassen könne.

Auch Kopelke kommt, er ist erschüttert und verlässt die Szene wieder. Toni bringt Wendts Köfferchen, er verabschiedet sich mit „Ich komme wieder!“.

3.2. Charaktere

3.2.1. Frau Selicke

Ihre Rolle ist es zu dulden und zu ertragen. Sie ist definitiv keine emanzipierte Frau, sondern vollkommen in der ›klassischen‹ Rollenzuteilung gefangen. Zu ihrer persönlichen Misere, die Frau eines Trinkers zu sein, gesellt sich noch ein Fußleiden, das ihr zusätzlich so sehr zu schaffen macht, dass sie sich manchmal den Tod wünscht.

Sie liebt ihre Kinder und sorgt für sie, doch sind Kinder nicht ihre Existenzberechtigung. Der Tod der jüngsten Tochter trifft sie, wie

Page 8: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[8]

es jede Mutter treffen würde. Ihren Mann fürchtet sie, er jagt ihr Todesangst ein, doch sie erträgt es, denn einerseits ist sie - auch wenn die Familie verschuldet ist - finanziell von ihm abhängig aber andererseits wohl auch nicht willensstark genug, um gegen ihren Mann aufzubegehren. Wie wir gleich sehen werden, ist Herr Selicke selbst sehr schwach, Frau Selicke hätte also durchaus eine Chance, ›den Spieß umzudrehen‹, doch paralysiert vor Angst wagt sie nicht einmal einen Gedanken daran14.

3.2.2. Eduard Selicke

ist durch seine ›naturgegebene‹ Rolle zwar in der dominanten Position, doch sieht er sich genauso sehr als ›Opfer‹, wie seine Frau. ›Aus Dummheit‹ hätte er geheiratet und müsse sich nun permanent Vorwürfe von ihr anhören15. Er - so sein Selbstbild - würde für alle sorgen und ernte dafür nur Undank. Auch wenn ihn alle Familienmitglieder fürchten („Bin ich denn der reine

Tyrann?“, S. 48), ist er doch DER stabilisierende Faktor. Sohn Walter kann nicht schlafen, wenn der Vater nicht zuhause ist, auch Töchterchen Linchen sagt - kurz vor ihrem Tod - „Ach, 's ist man gut, dass Papa da is!“ (S. 49): man möchte meinen, sie habe mit dem Sterben auf ihn gewartet.

Es scheint, Herr Selicke poliert sein mickriges Ego damit auf, dass er seine Familie heruntermacht: die Frau wegen ihres Fuß-leidens, Sohn Walter wegen seiner Ängstlichkeit,... seiner Tochter Toni, der einzigen (außer vielleicht dem kleinen Walter), die ihn mehr liebt als fürchtet, wirft er vor, ihr noch „auf dem Halse“ zu liegen...

3.2.3. Toni

ist der wohl interessanteste Charakter des Stückes. Der Zuseher bleibt im Unklaren, ob sie weise ist, oder bloß die Augen vor der Realität verschließt. Toni sieht offenbar nur das Gute im Men-

14

Es bietet sich hier der bekannte Vergleich mit dem „Kaninchen vor der Schlange“ an, das

vor lauter Angst vergisst, wegzulaufen. 15

Wie sonst wäre zu erklären, dass er meint: „Aus nichts muss eine Hausfrau was machen können“ (S. 48)

Page 9: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[9]

schen, daher ist sie auch diejenige, die Alle gegen Alle verteidigt. Sie verfügt über ein gewisses diplomatisches Geschick und sieht sich als Mediator: sie redet der Mutter zu, weniger stur zu sein, und dem Vater auf halbem Wege entgegenzukommen (was diese aber ablehnt), sie legt beim Vater ein gutes Wort für die Mutter ein, doch auch dieser will nichts davon wissen. Ihr Antrieb liegt offenbar darin, dass sie beide Eltern von ganzem Herzen liebt und sich nichts sehnlicher wünscht, als dass sie mit diesen Men-schen in einem friedlichen Zuhause zusammenleben kann. Es ist daher auch vollkommen stringent, wenn sie Gustav den Laufpass gibt und bei ihren Eltern bleibt, denn es sind diese die Menschen, die sie liebt, wenn es ihr auch von diesen nicht leicht gemacht wird (aber beweist sich wahre Liebe nicht gerade darin, dass sie sich gerade unter schwierigen Bedingungen unter Beweis stellt?).

Es gibt jedoch noch eine andere Lesart: man kann Toni durchaus als unreifes, kleines Mädchen interpretieren, die einfach Angst vor Veränderungen hat und lieber in der unheilvollen Situation daheim ›bei Vati und Mutti‹ bleibt, anstatt sich dem Ruf des Lebens (der früher oder später ja kommen muss!) zu fügen.

Demgemäß würden alle ihre An- und Einsichten allein einer reali-tätsfremden Kleinmädchen- Schwärmerei entspringen, in der sie schlicht nicht erkennt, wie tyrannisch der Vater, wie schwach und wahrscheinlich auch emotional unreif die Mutter ist und folglich all das, was bei ihr daheim passiert, fehlinterpretiert.

Ich denke aber, dass diese Lesart nicht im Vordergrund steht. Sicher, Vater und Mutter sind nicht die reifsten Personen, doch sie sind aber auch Gefangene in Umständen, aus denen sich niemand so leicht befreien könnte. Nicht, dass man diese nicht zumindest zu einem gewissen Grade ändern könnte, doch in einer Familie, die mit weniger als dem Existenzminimum zurande kommen muss, ist der Handlungsspielraum sehr eng.

Abgesehen davon sehen wir ja, dass beide Elternteile ein Herz haben: wir sehen es, als Linchen stirbt, aber wir sehen auch, dass Vater Selicke seine Frau einmal geliebt hat, und im ange-trunkenen Zustand kommt das sogar zum Vorschein, wenn er sagt: „Da biste ja, mein süßes Weibchen“ (S. 47). Toni kann wohl (als einzige) diese Anflüge von Zuneigung und das Ringen mit den eigenen Zwängen bei den Eltern sehen und richtig deuten.

Page 10: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[10]

Andererseits: Toni braucht Gustav nicht. Ihre Liebe zu ihm - so man von einer solchen überhaupt sprechen kann - ist der zu ihren Eltern um Klassen unterlegen. Ob diese ihrer Mediation bedürfen oder nicht, diese Frage stellt sich gar nicht. Tatsache ist, dass es Toni ist, die bei ihnen bleiben möchte, denn ihre Liebe zu Vater und Mutter ist noch stärker als ihre Friedliebe.

Wenn sie das Wendt nicht auf den Kopf zusagt, sondern zuerst ein wenig sein Spiel mitspielt (Ende 1. Aufzug), um sich ihm dann umso konsequenter zu entwinden, liegt das wohl daran, dass sie - friedliebend wie sie ist - Wendt nichts Böses will. Ihr Bleiben ist aber keineswegs ein Opfer, ihr Weggehen wäre eines. Durch die Figur der Toni wird „Die Familie Selicke“ zu einer Parabel über die Macht wahrer Liebe oder, um mit Nietzsche zu sprechen: „Wer

ein WARUM hat, dem ist kein WIE zu schwer“.

3.2.4. Gustav Wendt

der Theologiestudent, der nun eine Stelle als Pastor am Land bekommen hat, möchte wohl nicht alleine fortgehen. Vielleicht schreckt ihn der Gedanke, allein in der Fremde zu sein, möchte womöglich den Trubel des vertrauten Berlin nicht gegen die Grabesstille eines entlegenen Dorfes eintauschen. Offenbar ist er, der jahrelang mit den Selickes unter einem Dach lebte, der Meinung, dass er Tochter Toni ebenso leicht gefügig machen könne, wie ihr Vater das mit ihrer Mutter zu tun pflegt. Auch mag es sein, dass er sich an Toni gewöhnt hat, an ihre gütige, liebe-volle und demütige Art, und dieses Gefühl mit ›Liebe‹ verwech-selt. Er rechnet jedoch nicht mit Tonis starkem Willen, die näm-lich ganz genau weiß, was sie will, was er entweder nicht durch-schaut oder aber verdrängt, da es seinem eigenen Streben - die geliebte Toni gleichsam zu ›entführen‹ - zuwiderläuft.

Auch hat der junge Wendt wesentlich weniger Ahnung von ›Liebe‹, als das bei Toni der Fall ist: sie hat bereits geliebte Menschen um sich, er aber noch nicht. Unfähig, Tonis Liebe zu ihren Eltern zu erkennen und zu würdigen, ist er auch nicht im Stande zu sehen, dass sie ihn nur mag, aber nicht liebt.

Gustav Wendt ist – neben dem „ollen“ Kopelke (vgl. 3.2.5.)– ein ›Bote aus der Fremde‹, er kommt gewissermaßen ›von außen‹ in

Page 11: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[11]

das Stück, nimmt an der Handlung weniger teil, als er gleichsam einer Sozialstudie beiwohnt16.

3.2.5. Der alte Kopelke

In seiner bescheidenen, selbstlosen Art gäbe er für die Familien-mitglieder ein gutes Beispiel ab, wo Harmonie und Frieden zu finden wären, doch leider nimmt ihn keiner ernst. Kopelke ist der einzige, der nicht in erster Linie an sich selbst denkt. Er möchte nur ein freundliches Wort, ein bisschen Zuwendung, vielleicht ein bisschen Dankbarkeit und Anerkennung für seine Fürsorge.

Dieser Mann hat wohl keine eigene Familie und bekanntlich ist Weihnachten in jedem Jahr die Zeit, wo Menschen einen solchen ›Mangel‹ am stärksten spüren. Zwar finden wir im Hause Selicke alles andere als das Ideal einer glücklichen Familie, doch offenbar ist er so glücklich, dort eine - wenn auch bescheidene - Rolle spielen zu dürfen, dass er sich dafür ohne Handschuhe durch den Schnee schlägt.

Dramaturgisch stellt auch er, neben Wendt, einen - für den Naturalismus typischen - ›Boten aus der Fremde‹ dar: durch ihn bringen die Autoren ihre Sozialkritik in das Stück ein (S. 16).

3.2.6. Die Jungen

Walter, 12 Jahre und Albert, 18 Jahre sind die zwei Söhne der Selickes. Während Albert vor allem durch vorlaute Sprüche auffällt, die ihm offenbar helfen, eine gewisse Distanz zu der tristen Familiensituation zu halten, ist Walter äußerst sensibel und bekommt jede Spannung, jede Stimmungsschwankung in voller Härte mit. Darauf geht aber niemand ein, und sein Vater verspottet ihn gar als „dummen Jungen“ (S. 46).

16

vgl. Kanz, S. 352.

Page 12: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[12]

3.2.7. Linchen

Obwohl nur eine Nebenfigur, dreht sich letzten Endes alles um sie. Doch das scheint nur vordergründig so, denn bei näherer Betrachtung ist - so haben wir gesehen - die ›stärkste‹ Figur jene der Toni.

Man könnte meinen, Linchen ist gar nicht so unzufrieden mit ihrer Krankheit (sie leidet an Schwindsucht17): offenbar gelang es ihr - unterbewusst - nur auf diese Weise, im streithaften und mit Hass und Alltagssorgen überladenen Trubel in ihrer Familie, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Jetzt, wo sie sterbenskrank ist, halten alle Familienmitglieder ihretwegen Maß. Man darf nicht zu laut werden, was mit sich bringt, dass sich die Eltern nicht mehr ungehemmt streiten können (Vater Selicke hat seine Frustrationen darüber ohnehin schon früher ›umgeleitet‹ und sich dem Trinken hingegeben) und das heißt wohl vor allem, dass sich Mutter Selicke mit ihren Vorwürfen zurückhalten muss - um Linchens Willen.

Zum besseren Verständnis mag man sich vorstellen wie es ihr ging, als sie noch gesund war: wahrscheinlich stand sie überall im Weg herum, wenn sie etwas anfasste, wurde es ihr wegge-nommen, wenn sie Fragen hatte, hatte niemand Zeit für Erklä-rungen, wenn sie etwas bekam, waren es ihr die Geschwister neidig. Man hört förmlich sagen „freilich, Linchen, ich hab dich lieb, doch jetzt ist keine Zeit!“.

Aber jetzt, wo die Kleine krank ist, dreht sich also alles um sie: sofern sie einen Wunsch hat, wird man ihn nach Möglichkeit erfüllen und wenn sie plappern möchte, hört ihr bestimmt jemand zu. Alle sind optimistisch und wollen ihr Mut machen, dass es ihr möglichst bald wieder gut gehe. Aber welchen Vorteil hätte sie davon gehabt, je wieder gesund zu werden? Ist es voll-kommen verständlich, wenn sie lächelnd sagt „Kranksein ist hübsch!“ (S. 37)?

Man kann sogar sagen: Linchen ist das ›Christkind‹ in dieser Familie, denn sie brachte ein bisschen Ruhe in das Haus18 der

17

vgl. Kanz, S.351. 18

vgl. die Szene, als sie von Onkel und Tante spricht, die sich niemals zankten (S. 40).

Page 13: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[13]

Selickes: zuerst mit ihrer Krankheit, aber noch mehr durch ihren Tod, der den Antipoden zu Christi Geburt darstellt.

4.) Hauptmann: Die Ratten

„Die besten Geschichten schreibt das Leben“ (Sprichwort)

In diesem Stück finden wir die Einheit des Ortes nur teilweise ge-wahrt (alle fünf Szenen spielen in derselben Mietskaserne, jedoch in unterschiedlichen Stockwerken: im zweiten Stock bzw. unter dem Dach), die Einheit der Zeit überhaupt nicht: allein zwischen erstem und zweitem Akt vergehen Monate. Vielleicht auch deshalb gilt „Die Ratten“ als Werk des ausgehenden Naturalis-mus, der Sekundenstil kommt hier praktisch nicht mehr zum Tragen.

Hauptmann hatte ja nachweislich bei der Konzeption des Stückes auf zwei reale voneinander unabhängige Ereignisse zurückge-griffen und teilweise auch Autobiographisches aufgenommen.

4.1. Handlung

Szene 1:

Frau John, eine durch Kinderlosigkeit geprägte und daher stark in ihrem Selbstwert beeinträchtigte Kleinbürgerin, hat ihr Kind, das sie erst Ende Zwanzig bekommen hat, nach bereits acht Tagen durch Krankheit (Diphterie) wieder verloren. Sie entdeckt in einem schwangeren und daher verzweifelten polnischen Dienst-mädchen, der charakterschwachen Pauline Piperkarcka ihre Chance, doch wieder zu einem Kind zu kommen, zumal sich diese mit Gedanken trägt, sich selbst, dem Kind und vielleicht auch dem Kindsvater Leids anzutun. Sie beschwört Pauline, ihr das Kind zu verkaufen.

Page 14: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[14]

Szene2:

Das Kind wurde geboren - wie wir erfahren auf dem schmutzigen Dachboden unter Ratten und Mäusen - und befindet sich jetzt in der penibel sauberen und ordentlichen Wohnung der Familie John in einem brandneuen Kinderwagen. Als die Nachbarstochter Selma mit ihrem kranken Brüderchen zu Besuch kommt, wird sie von Frau John vor die Tür gesetzt. Der ›Handel‹ mit dem Dienst-mädchen steht auf der Kippe, als diese hereinschneit, das Geld auf den Tisch legt und verlangt, ihr Kind zu sehen. Piperkarcka hat ein starkes Druckmittel: sie hat die Geburt am Standesamt angemeldet und ist somit ›Vater‹ Johns Anmeldung zuvorge-kommen. Frau John ist deshalb hin- und hergerissen zwischen Wut und Ohnmacht.

Szene3:

Theaterdirektor Hassenreuter gibt seinen drei Schauspielschülern - darunter Erich Spitta, der ehemalige Hauslehrer seiner älteren Tochter Walpurga, in den diese verliebt ist - in seinem Fundus unterm Dach der Mietskaserne Unterricht. Die junge Liebe zwischen Erich und Walpurga bekommt keinen Segen, denn weder will Spitta sen. einen Schauspieler zum Sohn noch Hassen-reuter einen zum Schwiegersohn. Die jungen Liebenden lehnen sich jedoch gegen ihre Väter auf.

Piperkarcka kommt mit einer Frau vom Waisenhaus, Frau Kielbacke, die einen sehr kranken und stark unterernährten Säugling trägt, herein. Sie behauptet, dies wäre ihr Kind, und dass es von Frau John vernachlässigt worden sei. Es wird jedoch auch von Johns Nachbarin, der morphinsüchtigen Prostituierten Sidonie Knobbe beansprucht. Während sich die beiden Frauen streiten, stirbt das Kind.

Szene4:

In der Wohnung der Johns erfährt Herr John von diesem Vorfall. Er, als frischer ›Papa‹, ist guter Dinge und hat soeben beschlos-sen, fortan nicht mehr nach Hamburg arbeiten zu fahren, son-dern in Berlin zu bleiben. Später kommt Frau John mit dem Kind. John konfrontiert seine Frau mit Fragen, da offenbar mit dem Kind etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, was diese schwer mitnimmt. Als ihr kleinkrimineller Bruder Bruno hereinkommt,

Page 15: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[15]

will John ihn erst rausschmeißen, geht dann aber selbst. Bruno beichtet seiner Schwester, dass er Piperkarcka nicht bloß „ein wenig bedroht“ sondern umgebracht hat. Frau John bricht unter Schuldgefühlen zusammen.

Szene5:

Hassenreuter bekommt seine Anstellung als Theaterdirektor in Straßburg wieder, und ist darob derart guter Laune, dass er die Verbindung seiner Tochter mit Erich gutheißt.

Herr John erfährt die ganze Wahrheit und will sogleich nichts mehr mit Frau und Kind zu tun haben. Da ohne Kind das Leben für Frau John endgültig sinnlos geworden ist, wählt sie den Freitod.

4.2. Charaktere

Die Hauptfigur ist hier Henriette („Jette“) John, die unter anderem als Putzfrau des Theaterdirektors und Schauspielers Harro Hassenreuter (selbst arbeitslos) ihr Geld verdient.

Als Vertreterin der kleinbürgerlichen Mutter verbindet Frau John all die ›klassischen‹ Attribute, die man sich von einer solchen erwarten kann: sie ist schlicht, sauber und ordentlich, auf den Wirkungskreis ihres Haushalts bedacht...

Für die Figur des Familienvaters finden wir zwei Repräsentanten: einerseits den ›braven Kleinbürger‹ in Gestalt des Paul John, der seiner Arbeit nachgeht, sich eine Familie wünscht, aber sonst wenig Ansprüche hat. Andererseits Harro Hassenreuter, ein Vertreter des Bildungsbürgertums, der seine Zugehörigkeit zur Oberschicht - wohl als Kompensation für die sonst verhältnis-mäßig ärmlichen Verhältnisse in denen er sich zur Zeit befindet - prahlend zur Schau stellt.

Die beiden jungen Liebenden, um die sich die Nebenhandlung des Stückes dreht, sind die erst fünfzehnjährige, aber frühreife Wal-

Page 16: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[16]

purga und ihr sechs Jahre älterer Hauslehrer, der als Sozi und Revoluzzer für sie einen ansprechenden Kontrast zur steifen Bürgerlichkeit des Vaterhauses darstellt.

Doch wollen wir uns die Hauptcharaktere etwas näher betrachten:

4.2.1. Harro Hassenreuter

ist die erste ›Vaterfigur‹ im Stück. Er wird beschrieben als etwa 50 Jahre alt, mittelgroß, glattrasiert, er brach ein Jurastudium19 ab, wurde Schauspieler20 und Theaterdirektor in Straßburg, ist verheiratet mit Therese, hat zwei? Töchter (die ältere21 ist Walpurga), lebt in Berlin, ist derzeit ohne festen Job, gibt aber Schauspielunterricht und hält sich auch durch Kostümverleih22 über Wasser23. Er wartet auf seine Wiederberufung nach Straßburg, auch, weil er sich in der großen Stadt unwohl fühlt.

Hassenreuter ist ein dominanter Mensch, sein Auftreten ist laut, seine Gesinnung deutsch-national24, er hat etwas ›Edles‹ an sich, ist konservativ, in klassischer Theater-Tradition, Bismarck-treu25, pflegt Beziehungen zur Obrigkeit, ist aber auch ein „pater familias“, ein Familienvater, jedoch nicht nur für seine Blutsver-wandten, sondern auch für die, die er unter seine Fittiche

19

vgl. Hauptmann, Gerhart: Die Ratten. Berliner Tragikomödie. Berlin: Ullstein 1990.,S. 102. 20

Hat in „Die Räuber“ als Karl Moor große Erfolge gefeiert und ist ein Verehrer Schillers. 21

vgl. ebd. S. 78. 22

Zwei der 5 Szenen des Stücks spielen in seinem Fundus, den er „Katakomben“ und

„Rattenparadies“ nennt. 23

Bei Tisch gibt es nur Leitungswasser zu trinken, unter der Woche trägt er abgeschabte Kleidung,

ein Zeichen der Geldknappheit (vgl. ebd. S.32). 24

Das Kind der Piperkarcka / John sind für ihn „Acht Pfund zehn Gramm frisches deutsch-nationales

Menschenfleisch“ (obwohl es halb-polnisch ist, vgl. ebd. S. 33). 25

Ratten würden die Wurzeln des Idealismus abfressen und das Deutsche Reich unterminieren.

Page 17: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[17]

genommen hat26,27 - er behandelt alle im Stück mit einer gewis-sen väterlichen Überheblichkeit28.

Generell denkt Hassenreuter wenig über die Befindlichkeiten anderer Menschen nach, sofern sie den seinen im Wege stehen29: den Schauspieler Jettel lässt er wie selbstverständlich warten, Alice behandelt er wie ein liebes Spielzeug. Über seine Frau, die Probleme hat sagt er, es ginge ihr gut, seine Pferdebahn ist wichtiger, als Erich, der sich ihm anvertraut30...

Er wirkt durch seine mangelnde Anteilnahme auch etwas naiv, lacht (auch ohne Grund) und flucht31 viel und gerne und sieht das Leben meist heiter. Daher geht er auch fremd (hat eine Affäre mit Alice Rütterbusch) ohne einen Gedanken daran zu ver-schwenden, ob das in Ordnung ist. Hassenreuter hat gewisser-maßen zwei Gesichter und lebt in zwei Lebenswelten32: gegen Spittas Vater verteidigt er zwar die Schauspielkunst, würde aber selbst seine Töchter nicht an Schauspieler verheiraten.

Sein Redestil ist gehoben, er spricht hochdeutsch („trompeten-haft“), lässt aber immer fremdsprachige (meist lateinische aber auch französische und englische) Floskeln einfließen. Er wirkt stark und mächtig und ist von sich und seinen Fähigkeiten so sehr eingenommen, dass er oft nicht mitbekommt, was um ihn herum geschieht33, sieht sich aber als ›gehetztes Wild‹ und hätte so viel durchgemacht!

Die Konzeption der Figur geht auf eine reale Person (Alexander Heßler) zurück. Hassenreuter repräsentiert das komische, ironische Element im Stück, ist wertend und kommentierend und 26

So schenkt er Frau John einen Milchdestillationsapparat, da Milch zu dieser Zeit noch nicht

pasteurisiert war und Frau John - natürlich - keine eigene Milch hat. 27

Er verteidigt Spitta gegen dessen Vater (vgl. Hauptmann, S.57ff). 28

So beantwortet er nicht einmal die Briefe seiner Geliebten. 29

„Sonst richte ich [...] Selbstschüsse und Fußangeln ein“, ebd. S. 62. 30

vgl. ebd. S. 25. 31

„Rindvieh“, ebd. S. 18 „Kretin, bête imbécile“, S. 19 „Sakra!“, S. 20 , Neandertaler, S. 60, vgl. S. 78. 32

vgl. Sprengel, Peter, 1984. S. 146. 33

Meint, das Kind wäre ›Vater‹ John aus dem Gesicht geschnitten (vgl. Hauptmann, S. 33).

Page 18: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[18]

wird in der Literatur daher gerne mit der Rolle des antiken Chores verglichen.

4.2.2. Walpurga Hassenreuter

ist die 15jährige hübsche und zierliche Tochter Harros. Sie ist in Erich Spitta verliebt, schaut zu diesem auf und ist für ihn zum Äußersten entschlossen34. Zwar wird sie als verzärteltes, fragiles und schreckhaftes Mädchen mit schwachen Nerven beschrieben, die stolz auf ihren Vater ist, ihn auch fürchtet35, ihn aber dennoch herausfordert, Willensstärke zeigt, ihm auf Augenhöhe begegnet, und sich von ihm nicht brechen lässt.

4.2.3. Erich Spitta

ist 21 Jahre alt, Theologiestudent und Nachhilfelehrer von Walpurga, in die er verliebt ist. Er ist entschlossen, sein Studium abzubrechen um stattdessen Schauspieler zu werden, trotzdem er eine Brille trägt und weder Talent noch die geeignete Stimme dafür hat. Erich ist arm, unterernährt36, hat eine schlechte Körperhaltung37 und neigt zu Halluzinationen. Er meint aber, wenn es Käuze wie ihn im richtigen Leben gäbe, müsse es sie auch auf der Bühne geben: als solcher proklamiert er die naturalistische Darstellung im Theater.

Spitta ist ein Revoluzzer, ein Linker (Sozi) und damit ein Gegen-pol zu seinem Vater, dem Priester, sowie zu Hassenreuter, der ebenfalls konservativ ist. In Spitta gärt es, er will etwas Beson-deres, Großes, Dunkles38, ist - nicht nur in der Kunst - gegen das

34

ebd., S. 78. 35

Wird von H. am Ohr gezogen, als er über sie und Erich erfährt: er prophezeit ihr zu enden, wie Erichs

Schwester, ebd. S.61. Später schlägt er sie gar und sperrt sie ein (vgl. S. 78). 36

ebd. S. 77 und S. 92. 37

Hassenreuter meint, er wäre geeignet zum Sanitätsgehilfen (ebd. S. 35). 38

vgl. Hauptmann, S. 79.

Page 19: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[19]

„Gestelzte“ bzw. das Rhetorische, das Hassenreuter so liebt, ja gegen die ganze „Schillerisch-Goethisch-Weimarerische Schule der Unnatur39“. „Ein Barbier oder eine Reinmachefrau“, so sagt er „könne ebenso tragisch sein, wie „Lady Macbeth und König Lear40“, denn vor der Kunst und dem Gesetz wären alle gleich. Spitta jr., der ›Bilderstürmer‹ wird darob von Hassenreuter als „Ratte“ bezeichnet.

Später zerstreitet er sich mit seinem Vater wegen der Schau-spielerei und weigert sich, weiterhin Geld von ihm anzunehmen.

Im Stück verkörpert er das Sprachrohr des Autors, der durch ihn seine Sozialkritik (gegen die Klassengesellschaft, gegen die „Moralpfafferei“ der Kirche) einbringt41: alles in allem ist er ein Gutmensch, der keinen Unterschied nach dem Stand macht.

4.2.4. Henriette „Jette“ John (geb. Mechelke)

ist Anfang dreißig, und lebt im jenem Haus, einer Mietskaserne, wo Hassenreuter seinen Theaterfundus eingerichtet hat. Dort arbeitet sie für ihn als Putzfrau.

Drei Jahre zuvor hat sie ihren kleinen Sohn Adelbert nur acht Tage nach dessen Geburt verloren42. Jette kann somit als ›Spätgebärende‹ gelten und wir können annehmen, dass sie Probleme hatte, überhaupt schwanger zu werden. Seither hat sie Angst, als Frau und Mutter zu versagen, denn offenbar kann sie keine Kinder mehr bekommen, fühlt sich andererseits ohne Kind ›unvollständig‹, denn sie kann ihrer naturgegebenen Rolle als ›Muttertier‹ nicht nachkommen43.

39

ebd. S. 25. 40

Er wird später im Stück durch das Schicksal der Frau John bestätigt, ebd. S. 52. 41

ebd. S. 37 und S. 79f. 42

Er starb an Diphterie („Bräune“). 43

vgl. Sprengel, Peter 1984. S. 147.

Page 20: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[20]

In Paulines Schwangerschaft erblickt sie die einmalige Chance, dem Schicksal einen Streich zu spielen.

Frau John weiß instinktiv genau, was sie tun muss, um ihre Ziele zu erreichen: dafür manipuliert sie Personen, Dinge und Ereig-nisse und geht sogar ›über Leichen44‹: ihr gesamtes Handeln ist zielorientiert, ob es dafür Stalking braucht, Lügen, Drohung45 oder Zuwendung46, sie verliert ihr Ziel nicht aus den Augen.

Sie möchte die Erwartungen, von denen sie meint, dass sie an sie - als Frau und Mutter - gestellt werden, erfüllen und dafür geliebt werden: so näht sie heimlich Tag und Nacht Kostüme aus dem Fundus in Babykleidung um47, denn die Erfüllung der Rolle ist ihre einzige Existenzberechtigung.

Interessanterweise stellt nicht einmal ihr Mann diese Forderung an sie: ein Hinweis darauf, dass die Dinge in ihrem Kopf für sie ›realer‹ sind, als die Realität, die sie umgibt.

Im Grunde ist Frau John aber gefühlskalt, niederträchtig und grob: alles was die Idylle in ihren vier Wänden bedrohen könnte, wird vernichtet48.

Unter Stress wird sie wirr und geistesabwesend49, fällt auf die triebgesteuerte Seins-Ebene zurück und verliert dabei den Kontakt zur Außenwelt zur Gänze. Das bringt mit sich, dass sie das angenommene Kind tatsächlich als das ihre ansieht50 und - wie eine ›echte‹ Mutter - panisch wird, als man es ihr weg-

44

Das kranke Nachbarskind, das sie aus der Wohnung wirft, stirbt später und ebenso Pauline. 45

„dann bist du tot oder ich bin tot - und dann ist auch das Jungchen nicht mehr am Leben!“.

(vgl. Hauptmann, S. 45). Diese Prophezeiung bewahrheitet sich später mit dem kranken Kind der

Nachbarin. 46

ebd. S. 43f. 47

ebd. S. 103. 48

vgl. Sprengel, Peter, 1984. S. 143f. 49

Pauline ihr Kind sehen will, wird sie von Frau John erst geohrfeigt, diese ändert aber sofort darauf ihre

Strategie und umarmt sie. 50

vgl. die Szene mit der Haarlocke, Hauptmann, S. 39.

Page 21: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[21]

nehmen will51: ohne Kind kann sie nicht mehr ›sie selbst‹ sein (weil sie ihrer Mutterrolle nicht mehr gerecht werden kann). Der logische Ausweg muss für sie daher der Freitod sein, denn beides ist für sie de facto dasselbe.

Wie auch andere Figuren im Stück lebt auch Frau John in einer Zwischenwelt: einerseits ist sie über ihren Bruder Bruno mit der ›Unterwelt‹, andererseits über die Arbeit bei Hassenreuter mit der Oberschicht in Kontakt.

Ihr Redestil ist werbend, überredend52 oder barsch zurückwei-send und verurteilend: sie beschwört Pauline, in ihren Plan einzuwilligen. Sie spricht dabei den stärksten Dialekt aller Figuren53.

4.2.5. Bruno Mechelke

ist der Bruder der Frau John und zwölf Jahre jünger als sie. Er ist die ›Ratte‹ in diesem Stück: seine Physiognomie wird als „eher klein als groß [...] Stiernacken, bürstenförmiges Haar, kleiner

runder Schädel, brutales Gesicht [...]“ beschrieben: er ist mus-kulös, mit kleinen, stechenden Augen, weiters dumm und unge-hobelt - und seine Plumpheit bringt es mit sich, dass er Pauline ›aus Versehen‹ tötet, als er sie für seine Schwester ein bisschen „erschrecken“ soll.

Bruno ist ein gewissenloses Tier: nach dem Mord kommt er gut-gelaunt zu Frau John und bringt Flieder vom Tatort mit54. Dabei ist die Verbindung zwischen den beiden so stark, dass sich Frau John schuldig und als Mörderin fühlt, als ihr Bruno (unter Glok-kengeläut) beichtet, er habe Pauline umgebracht: Henriette fühlt sich für ihren kleinen ›einfältigen‹ Bruder verantwortlich, sie hat ihn großgezogen, dementsprechend tut auch er, was sie ihm sagt

51

Ihre Panik zeigt sich jedoch darin, dass sie „wie eine Nachtwandlerin“ herumgeht (ebd. S. 46f). 52

vgl. Hauptmann, S. 8ff, S43ff. 53

Aber sie beschuldigt Pauline, nicht Deutsch zu reden (ebd. S. 41). 54

ebd. S. 85.

Page 22: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[22]

und stand ihr bei, als sie ihn brauchte, sie wiederum hält ihn für einen „guten Jungen55“ und lügt auch für ihn56.

4.2.6. Paul John

von Beruf Maurerpolier, bärtig, Pfeifenraucher, ungefähr vierzig Jahre alt und somit deutlich älter, als seine Frau Henriette. John ist apolitisch, diente im Deutsch-Französischen Krieg von 187157, pendelt beruflich nach Altona (heute Hamburg58). Er ist ein ein-facher, gutmütiger und gemütlicher Kleinbürger, der sich nicht leicht beeindrucken lässt59 und die Dinge eher entspannt sieht (im Gegensatz zu seiner Frau, die alles tierisch ernst nimmt). Er trägt sich mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern, meint es aber wohl nicht sehr ernst damit.

John hat Familiensinn (seine Schwester, deren Mann Schlachter-meister ist hat bereits einen zwölfjährigen Sohn60), wünscht sich daher einerseits selbst ein Kind61, verwehrt jedoch andererseits seinem kriminellen Schwager Bruno den Zutritt zur Wohnung.

Seiner Frau hat er den Tod Adelbertchens nie zum Vorwurf gemacht, doch freut er sich sehr, wieder Vater zu sein und beschließt, dafür in Berlin zu bleiben und sogar in eine bessere Gegend zu ziehen.

55

ebd. S. 34. 56

vgl. Hauptmann, S. 96. 57

ebd. S. 84. 58

In der Freien und Hansestadt sind die Löhne besser. 59

vgl. Szene mit dem Standesbeamten, ebd. S. 28f. 60

ebd. S. 31 bzw. S. 73. 61

War sehr betroffen vom Tod seines Sohnes und weint immer noch darüber (ebd. S. 32).

Page 23: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[23]

4.2.7. Pauline Piperkarcka

ist ein polnisches62 Dienstmädchen, zwar mit einem hübschen Gesichtchen und blutjung, sonst aber obrigkeitshörig („das muss

man melden!63“) und dumm. Sie lebt anfangs bei den Eltern, dann in Untermiete und ist schwanger mit einem unehelichen Kind64, ein Umstand, der sie zur Verzweiflung bringt. Sie beschul-digt den Kindesvater, an ihrer Misere schuld zu sein - wie sie sich auch generell als Opfer sieht und stets Andere für ihre Situation verantwortlich macht. Unglücklich wie sie ist, schwankt sie zwischen den Gedanken, einerseits sich selbst das Leben zu nehmen, andererseits das Kind zur Welt zu bringen, umzubringen und es dem Kindsvater tot zu präsentieren oder aber ihm Vitriol ins Gesicht zu schütten.

Hysterie und Angst sind die dominanten Elemente ihres Charak-ters: sie hat praktisch vor allem Angst: vor Bruno, vor den Konsequenzen, wenn sie ein uneheliches Kind großzieht, wenn sie nicht zum Standesamt geht,... Sie kommt nicht auf die Idee, dass sie ihr Leben aktiv gestalten kann (und steht damit in direktem Gegensatz zu Frau John!) sondern sieht sich stets als Spielball und Opfer: So sagt sie „es hat mich hergetrieben“, als sie zu Frau John geht, um ihr Kind zu sehen. Sogar das Geld unterm Kopfkissen war „wie eine Schlange“ und „hat mich

gepeinigt, hat mich umringt, hat mich gequetscht und meine

Wirtin hat mich gefunden, wo ich fast gestorben, der Länge nach

auf der Diele gelegen bin65“.

Wie auch Frau John ist Pauline ›nicht von dieser Welt‹, sondern verrückt und vollkommen in ihren Hirngespinsten gefangen. Sie wird später von Bruno im Streit ermordet.

62

Aus Skorzenin (ebd. S 65). 63

ebd. S. 46. 64

Von einem Instrumentenmacher namens Alois Theophil Brunner, (ebd. S. 9). 65

ebd. S. 45.

Page 24: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[24]

Ihr Redestil ist elliptisch (Pauline stammt einem kleinen polnischen Dorf, kann daher nicht richtig Deutsch) und stark dialektal, das stellt sie ebenfalls auf eine Stufe mit Frau John.

4.2.8. Selma Knobbe:

die Nachbarstochter der Familie John, zwölf Jahre alt. Sie wird von ihrer Mutter, einer drogenabhängigen Prostituierten, ver-nachlässigt, nicht einmal für regelmäßige Mahlzeiten ist gesorgt. Selma ist fürsorglich, aber verzweifelt, weil sie die Mutterrolle für ihr krankes Brüderchen übernehmen muss.

Page 25: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[25]

5.) Die Charaktere im Vergleich

5.1. Nach ihrer Rolle:

5.1.1. Der Vater

Der Vater-Figur in der „Familie Selicke“ stehen zwei Vaterfiguren bei Hauptmann gegenüber. Gemeinsamkeiten ließen sich allemal zwischen Herrn Selicke und Harro Hassenreuter finden, jedoch nicht mit Herrn John66. Selicke und Hassenreuter entstammen zwar verschiedenen Schichten, was sie jedoch verbindet ist der ungeteilte Anspruch, Oberhaupt der Familie zu sein. Das Oberhaupt bei Familie John, also die treibende Kraft, ist aber Frau John (siehe 5.2.)

5.1.2. Die jungen Liebenden

Gustav und Toni in der „Familie Selicke“ sowie Erich und Wal-burga bei den „Ratten“ stellen gewissermaßen das Hoffnungs-prinzip dar. Während sich Erich und Walpurga - gegen den Widerstand der Väter - finden, geht die Geschichte für Gustav weniger glücklich aus, für Toni liegen die Präferenzen ja anders (vgl. 3.2.3.). Doch es gibt noch größere Unterschiede, als diesen: bei den Ratten sind die jungen Leute wirklich heftig ineinander verliebt. Die junge, frühreife Walpurga begehrt sogar gegen ihren Vater auf, sollte er ihrer Verbindung zu Spitta jr. nicht zustimmen.

Auch bei der Familie Selicke sind die Eltern zwar ebenfalls ein Faktor, jedoch nur dahingehend, dass sich Toni für den Verbleib bei diesen entscheidet. Man kann jedoch nicht behaupten, dass die Zuneigung wirklich auf beiden Seiten gleich stark wäre. Toni - immerhin schon 22 Jahre - sollte nach den damaligen Verhält-

66

Dieser findet seine Entsprechung mitunter in der Figur des alten Kopelke (vgl. 5.2.).

Page 26: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[26]

nissen schon ziemlich dringend unter die Haube kommen, und sie mag vielleicht in einer Tagebucheintragung ihre Jungmädchen-fantasien auf Gustav Wendt projiziert haben, doch von heftiger Zuneigung zu ihm ist bei ihr nicht viel zu bemerken. So ist denn auch ihre erste Reaktion auf Wendts Vorschlag, mit ihr zu kommen, ablehnend, ohne dass sie dafür bessere Gründe hätte als den, dass sie die bekannte Misere einer unbekannten Situation vorzieht.

Wendt gelingt es dann doch, sie ein Stück weit zu beschwatzen, sodass sie schließlich immerhin einen heftigen Gefühlsausbruch erleidet, doch an ihrer grundlegenden Entscheidung ändert das gar nichts. Gustav Wendt wiederum denkt ausschließlich an sich selbst: zwar gibt er vor, eine Verbindung würde ökonomische Vorteile für Tonis ganze Familie bringen, doch geht er praktisch überhaupt nicht auf die psychologischen Bedürfnisse Tonis ein, sondern projiziert nur seine Vorstellungen und Wünsche auf sie.

Beide jungen Männer, Erich Spitta dabei noch vielschichtiger, als Gustav Wendt, bringen explizit Sozialkritik der Autoren in das jeweilige Stück ein.

5.1.3. Schlüsselfigur Kind

Auch hier begegnen wir der Herausforderung, der kranken Linchen bei den Selickes einerseits gleich zwei Kinder gegen-übergestellt zu sehen, zu denen sich Parallelen ziehen lassen:

Da ist einerseits das junge Adelbertchen Nr. 2 alias Aloisius Theophil um den sich bei den „Ratten“ alles dreht: Frau John kann endlich in ihrer Mutterrolle aufgehen, Herr John ist endlich Papa und verlegt seinen Lebensmittelpunkt wieder nach Berlin, Pauline aber möchte das Kind benutzen, um dessen Vater unter Druck zu setzen.

Auch um Linchen dreht sich alles: in der Selickschen Wohnung darf nicht geraucht werden, kein Lärm gemacht werden, alles muss Rücksicht nehmen auf das kranke Linchen, der gutmütige Kopelke schlägt sich durch den strengen Berliner Winter, nur um nach ihr zu sehen. Vati, Mutti, alle lieben sie, hoffen für sie,

Page 27: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[27]

bangen um sie: durch diese zentrale Position dreht sich der Familienalltag gleichsam nur um sie.

Ein krankes Kind finden wir aber auch bei den „Ratten“ und es muss gewissermaßen als ›Alter Ego‹ für das Andere herhalten: während Frau John ein gesundes Kind braucht, um ihre Mutter-rolle erfüllen zu können (Frau Selicke ist vierfache Mutter und hat diese Probleme nicht) könnte ein krankes, verwahrlostes Kind - jenes der morphinsüchtigen Nachbarin der Familie John nämlich - für Pauline Piperkarcka eigentlich vollends genügen, um ihre Ziele in Bezug auf den Kindsvater zu erreichen. Während „Die Ratten“ also um zwei zentrale Kinderfiguren kreist, ist es bei „Familie Selicke“ nur eine: gemeinsam haben sie alle, dass sie im Laufe der Stücke aus ihrer zentralen Position gelöst werden - Linchen und Helfgott Gundofried sterben, Adelbertchen Nr. 2 alias Aloisius Theophil kommt ins Heim - die Handlungen somit ohne zentrale Figuren dastehen und sich somit ins Nichts auflösen: während das für die Familie Selicke bedeutet, dass sich rein gar nichts ändert (aber vielleicht findet Frau Selicke ja jetzt den Mut, sich das Leben zu nehmen - wie oftmals beschworen), heißt das für „Die Ratten“, dass eine partnerschaftliche Verbin-dung, die auf gutem Wege war, eine richtige Familie zu werden durch Freitod zu Ende geht, eine andere Verbindung, die durch-aus ähnlich gute Chancen gehabt haben könnte (wir wissen ja gar nicht, wie der Instrumentenmacher Brunner zu Pauline stand), wird unter diesen Umständen wohl auch nicht mehr zustande kommen.

5.2. Nach ihrem Charakter:

Wie wir in 5.1. gesehen haben, ist die Mann-Frau-Rollenver-

teilung bei Familie John genau umgekehrt zu jener bei Familie Selicke. Frau John bzw. Herr Selicke repräsentieren das domi-nante, ›männliche‹ Prinzip, die treibende Kraft in der Familie, während Frau Selicke bzw. Herr John eher das duldende, passive Prinzip verkörpern.

Page 28: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[28]

Das Familienglück scheint bei Johns etwas heiler, als bei Selickes, doch bringt das Stück die Wahrheit ans Licht: während sich die Familie John durch den Freitod der Frau John auflöst, bleibt der Familienverband der Familie Selicke gewisserweise intakt. Es stellt eine gewisse komparatistische Herausforderung dar, dass der Familie Selicke bei den „Ratten“ gleich zwei Familien gegenüberstehen, denn zu beiden finden wir gewisse Parallelen. Während sich bei Hauptmann beide Familien verändern - Familie John löst sich de facto auf, Familie Hassenreuter willigt in die Verbindung von Tochter Walpurga und Spitta jr. ein - bleibt die Familie Selicke faktisch unverändert. Tochter Toni zieht das Gewohnte dem Neuen, die Selbstlosigkeit dem Egozentrismus vor und stellt sich damit in direkte Opposition zu Walpurga; gemein-sam haben die beiden Töchter jedoch, dass sie sich als einzige trauen, sich mit ihren Väter zu konfrontieren. Sowohl bei Familie John, als auch bei Familie Selicke ›stirbt‹ ein Kind67, und beide Kinder stellten das einzig Positive am jeweiligen Familienleben dar. Der ›entwendete‹ Ziehsohn der Frau John ›stirbt‹ nicht im eigentlichen Sinn, er kommt lediglich ins Kinder-heim, doch für die tragischen Auswirkungen auf den Johnschen Familienverband macht das keinen Unterschied. Nicht viel anders bei Familie Selicke: die kleine Linchen war die Einzige der sich - ob oder gerade wegen ihres jungen und unschuldigen Alters und ihrer schlechten gesundheitlichen Verfassung - alle Familienmitglieder gleichermaßen positiv zuwandten: Vater Selicke konnte sich von seiner weichen Seite geben, Mutter Selicke brachte die Geduld auf, die sie für ihren Mann nicht mehr aufbrachte und hatte einen Grund, weiterzu-leben, Tochter Toni durfte sich ›gebraucht‹ fühlen.

67

Im übertragenen Sinn sterben sogar alle drei Kinder.

Page 29: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[29]

Frau Selicke ist verzweifelt und lebensmüde. Ihre Kinder sind ihr eine Last, dabei lebt sie in ständiger Angst und sieht keinen Ausweg aus ihrer Situation. Sehr ähnlich ergeht es Pauline Piperkarcka bei den „Ratten“. Sie steht völlig im Schatten ihres Mannes und somit ergibt sich auch eine Parallele zu Frau Hassenreuter. Gustav Wendt traktiert Toni mit seinen Überredungskünsten und provoziert bei ihr einen Gefühlsausbruch. Sein Ziel ist es, Toni zu seiner Frau zu machen und ihre ablehnende Haltung kann ihn nicht beirren: er akzeptiert ein ‚nein‘ nicht als Antwort, wie wir am Schluss des Stückes sehen, wo er sagt: „ich komme

wieder!“ In dieser Zielorientiertheit gleicht Gustavs Charakter stark dem der Frau John, die ihrerseits Pauline Piperkarcka beschwatzt, ihr ihr Kind zu überlassen: auch Frau John lässt nicht locker, bis sie das Kind bekommt, mit den uns bekannten Folgen. Zwar wissen wir nicht, ob und wann Gustav wiedergekommen ist, um Toni heimzuführen, doch dürfen wir annehmen, dass auch er nicht locker lassen würde, bis er sein Ziel erreicht hat: und wenn das Argument der wirtschaftlichen Absicherung für Tonis Familie nicht wirkt, so wird er sich andere Mittel und Wege einfallen lassen. Der alte Kopelke hat in der Familie Selicke zwar nicht viel zu sagen, doch ist er gewissermaßen ihr ›Guter Geist‹, weil er sich um ein Kind kümmert, das nicht seins ist. Eine nicht ganz unähn-liche Funktion erfüllt Herr John in seiner eigenen Familie, wo er auch hinter seiner Frau zurücksteht.

Page 30: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[30]

6.) Résumée und Schlusswort

Wie wir sehen konnten, sind die Charaktere in beiden Stücken sehr reich an Facetten, es lassen sich zahlreiche Parallelen ziehen, und diverse Charakterelemente auch in den einzelnen Figuren des jeweils anderen Stücks wiederfinden.

„Die Familie Selicke“ hat zwar weniger handlungstragende Figuren, als „Die Ratten“, und auch nur einen Handlungsstrang, charakteristisch ist dabei, dass letztere auch eine Familie der Oberschicht zeigt, deren Charakteristika sich bei näherer Betrachtung von denen des Kleinbürgertums gar nicht so stark unterscheiden. So finden wir in beiden Stücken einen autoritären, aber letztlich doch eher schwachen, Familienvater - und durch den Vergleich der beiden Stücke miteinander erkennen wir, dass es Patriarchen ganz unabhängig von der Schichtzugehörigkeit geben kann.

Vor allem aber sind die beiden Hauptfiguren - charakteristischer-weise für die emanzipatorischen Tendenzen der Zeit und wohl nicht zufällig beides Frauen - sehr gut und vielschichtig her-ausgearbeitet, nachvollziehbar und glaubwürdig gezeichnet: in beiden Fällen zeigen sie zwei Gesichter, in beiden Fällen ent-scheiden sie sich zugunsten ihrer Eigeninteressen. Einmal im Falle der Toni, die bei „Familie Selicke“ als positiv konnotierte Figur zwischen den Fronten der Interessen ihres Anwärters Gustav Wendt und ihrem ureigensten Bedürfnis, bei ihrer Familie zu sein, steht - im anderen Fall, jene der Henriette John, die weniger ihrem Herzen, als ihrem Instinkt folgt und infolgedessen scheitert.

Page 31: Die Charaktere in Holz / Schlaf: „Die Familie Selicke ...monologue.gr/uni/Arbeiten/HA-DLA64-Naturalismus-(Antonopoulou).pdf · In: Berliner Moderne 1885-1914. Hsg. von Jürgen Schutte

[31]

7.) Literaturverzeichnis

Görlich, Ernst Joseph und Felix Romanik: Geschichte Österreichs. Innsbruck: Tyrolia 1976.

Hauptmann, Gerhart: Die Ratten. Berliner Tragikomödie.

Berlin: Ullstein 1990.

Holz, Arno und Johannes Schlaf: Die Familie Selicke. Drama in

drei Aufzügen. Stuttgart: Reclam 2005.

Kanz, Christine: Die literarische Moderne (1890-1920).

In: Deutsche Literaturgeschichte. Sechste überarbeitete Auflage. S.342-386. Stuttgart: Carl Ernst Poeschl Verlag GmbH. 2001.

Kindlers Neues Literaturlexikon. Bde. 7 Gs-Ho & 8 Ho-Jz.

München: Kindler 1988.

Scheuer Helmut: Arno Holz / Johannes Schlaf: Die Familie Selicke

(1890). In: Reclam-Interpretationen: Dramen des Naturalismus. Stuttgart: Reclam 1988.

Sprengel Peter: Gerhart Hauptmann: Die Ratten (1911).

In: Reclam-Interpretationen: Dramen des Naturalismus. Stuttgart: Reclam 1988.

Sprengel, Peter: Gerhart Hauptmann Epoche - Werk - Wirkung.

In: Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte. München: C. H. Beck 1984.