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MAGAZIN | 276 | © 2004 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2004, 38, 276 – 280 KURIOS, SPANNEND, ALLTÄGLICH... | Die Chemie der Lakritzschnecke – Teil 2 Im letzten Heft verfolgten wir den Weg vom Süßholz (Glycyrrhiza glabra) bis zur Lakritzschnecke. Obwohl seit Jahrhunderten in der Volksmedizin bei Magenbeschwerden und Erkrankungen der oberen Luftwege bewährt, konnte der Wirkstoff der Lakritze, die Glycyrrhe- tinsäure [1], erst 1936 in reiner Form isoliert und charakterisiert wer- den. Die sich anschließende Strukturaufklärung war fast ein Alleingang von Leopold Ruzˇicˇka und seiner Arbeitsgruppe. Begleiten wir ihn auf seinem mühsamen Weg von der Summenformel C 30 H 46 O 4 bis zur Strukturformel. Vergleichen wir dann, wie Chemiker heute die Struktur eines so komplexen Naturstoffs mit Hilfe spektroskopischer Methoden bestimmen. Die Summenformel C 30 H 46 O 4 der Glycyrrhetinsäure war 1936 endgül- tig gesichert [2], der Aufbau des Koh- lenstoffgerüsts lag allerdings völlig im Dunkeln, nur die funktionellen Gruppen ließen sich durch chemi- sche Reaktionen nachweisen: eine Carboxylgruppe, eine sekundäre Hydroxylgruppe und eine α, β-unge- sättigte Ketogruppe. Dies erscheint aus heutiger Sicht recht dürftig, aber unterschätzen wir nicht Ruzˇicˇka (Abbildung) und seine Zeitgenossen. Zunächst berechneten sie die Dop- pelbindungsäquivalente (DBÄ) der Glycyrrhetinsäure. Bei diesem heute etwas aus der Mode gekommenen Molekülparameter vergleicht man die Anzahl der Wasserstoffatome der Glycyrrhetinsäure (C 30 H 46 O 4 ) mit derjenigen des gesättigten Kohlen- wasserstoffs gleicher Kohlenstoffzahl (C 30 H 62 ) [3]. Die Differenz von 16 Wasserstoffatomen entspricht acht DBÄ. Da Glycyrrhetinsäure eine CC- und zwei CO-Doppelbindungen (in der Keto- und Carboxylgruppe) enthält, verbleiben fünf DBÄ für den C 26 H 44 -Rest: das Molekülgerüst der Glycyrrhetinsäure muss pentacyc- lisch sein [4]. Zur weiteren Klärung der chemi- schen Struktur wurde Glycyrrhe- tinsäure mit elementarem Selen 50 Stunden auf 350°C trocken (!) erhitzt. Dieses heute fast vergessene Dehydrierungsverfahren hatte sich schon bei der Strukturaufklärung der Abietinsäure 1 [5] bewährt (Abbil- dung 1). Bei dieser rabiaten, aber doch kontrollierten Reaktion blieb vom Originalmolekül wenig übrig: die vorhandenen Ringe wurden aber nicht vollständig zerstört, sondern nur bis zum stabilen aromatischen Ringsystem dehydriert. Substituen- ten, die der energetisch begünstigten Aromatisierung im Wege standen, wurden glatt abgespalten. Das aus 1 entstandene Reten 2 bewies die Struktur des tricyclischen Grund- gerüsts der Abietinsäure. Die Dehydrierung von Glycyrrhe- tinsäure mit Selen lieferte den Koh- lenwasserstoff 1,8-Dimethylpicen 3, so dass die Struktur des Grund- Leopold Ruz ˇicˇka (1887 – 1976) Die Dehydrierung von 1 mit Selen bei 350°C lieferte nach Abspaltung der ge- minal und qua- ternär gebundenen Substituenten den aromatischen Koh- lenwasserstoff Re- ten 2. Die analoge Umsetzung mit Gly- cyrrhetinsäure führte zum 1,8-Di- methylpicen 3, wo- durch die Struktur des pentacyclischen Grundgerüsts der Glycyrrhetinsäure aufgeklärt war. ABB. 1 | ABBAU VON ABIETIN- UND GLYCYRRHETINSÄURE

Die Chemie der Lakritzschnecke — Teil 2

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K U R I OS , S PA N N E N D, A L LT Ä G L I C H . . . |Die Chemie der Lakritzschnecke – Teil 2

Im letzten Heft verfolgten wir den Weg vom Süßholz (Glycyrrhizaglabra) bis zur Lakritzschnecke. Obwohl seit Jahrhunderten in derVolksmedizin bei Magenbeschwerden und Erkrankungen der oberenLuftwege bewährt, konnte der Wirkstoff der Lakritze, die Glycyrrhe-tinsäure [1], erst 1936 in reiner Form isoliert und charakterisiert wer-den. Die sich anschließende Strukturaufklärung war fast ein Alleingangvon Leopold Ruz icka und seiner Arbeitsgruppe. Begleiten wir ihn aufseinem mühsamen Weg von der Summenformel C30H46O4 bis zurStrukturformel. Vergleichen wir dann, wie Chemiker heute die Struktureines so komplexen Naturstoffs mit Hilfe spektroskopischer Methodenbestimmen.

Die Summenformel C30H46O4 derGlycyrrhetinsäure war 1936 endgül-tig gesichert [2], der Aufbau des Koh-lenstoffgerüsts lag allerdings völligim Dunkeln, nur die funktionellenGruppen ließen sich durch chemi-sche Reaktionen nachweisen: eineCarboxylgruppe, eine sekundäre Hydroxylgruppe und eine α, β-unge-sättigte Ketogruppe. Dies erscheintaus heutiger Sicht recht dürftig, aberunterschätzen wir nicht Ruzicka (Abbildung) und seine Zeitgenossen.Zunächst berechneten sie die Dop-pelbindungsäquivalente (DBÄ) derGlycyrrhetinsäure. Bei diesem heute

etwas aus der Mode gekommenenMolekülparameter vergleicht man dieAnzahl der Wasserstoffatome der Glycyrrhetinsäure (C30H46O4) mitderjenigen des gesättigten Kohlen-wasserstoffs gleicher Kohlenstoffzahl(C30H62) [3]. Die Differenz von 16Wasserstoffatomen entspricht achtDBÄ. Da Glycyrrhetinsäure eine CC- und zwei CO-Doppelbindungen(in der Keto- und Carboxylgruppe)enthält, verbleiben fünf DBÄ für denC26H44-Rest: das Molekülgerüst derGlycyrrhetinsäure muss pentacyc-lisch sein [4].

Zur weiteren Klärung der chemi-schen Struktur wurde Glycyrrhe-tinsäure mit elementarem Selen 50

Stunden auf 350°C trocken (!) erhitzt. Dieses heute fast vergesseneDehydrierungsverfahren hatte sichschon bei der Strukturaufklärung derAbietinsäure 1 [5] bewährt (Abbil-dung 1). Bei dieser rabiaten, aberdoch kontrollierten Reaktion bliebvom Originalmolekül wenig übrig:die vorhandenen Ringe wurden abernicht vollständig zerstört, sondernnur bis zum stabilen aromatischenRingsystem dehydriert. Substituen-ten, die der energetisch begünstigtenAromatisierung im Wege standen,wurden glatt abgespalten. Das aus 1entstandene Reten 2 bewies dieStruktur des tricyclischen Grund-gerüsts der Abietinsäure.

Die Dehydrierung von Glycyrrhe-tinsäure mit Selen lieferte den Koh-lenwasserstoff 1,8-Dimethylpicen 3,so dass die Struktur des Grund-

Leopold Ruzicka (1887 – 1976)

Die Dehydrierungvon 1 mit Selen bei350°C lieferte nachAbspaltung der ge-minal und qua-ternär gebundenenSubstituenten denaromatischen Koh-lenwasserstoff Re-ten 2. Die analogeUmsetzung mit Gly-cyrrhetinsäureführte zum 1,8-Di-methylpicen 3, wo-durch die Strukturdes pentacyclischenGrundgerüsts derGlycyrrhetinsäureaufgeklärt war.

ABB. 1 | ABBAU VON ABIETIN- UND GLYCYRRHETINSÄURE

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gerüsts mit seinen fünf Sechsringenaufgeklärt war (Abbildung 1).

1939 erhielten Ruzicka und Mar-xer bei der stufenweisen Reduktionvon Glycyrrhetinsäure das β-Amyrin[6], ein im Arbeitskreis Ruzickaschon seit Jahren untersuchter Pflan-zeninhaltsstoff [7] (Abbildung 2).β-Amyrin ergab bei der Dehydrierungmit Selen u.a. ein Hydroxypicen 4, sodass sowohl ß-Amyrin als auch dieGlycyrrhetinsäure eine OH-Gruppein 3-Stellung haben mussten [8].Mehr noch:Abbaureaktionen bewie-sen eine Doppelbindung zwischen C12 und C13, so dass für die in derGlycyrrhetinsäure enthaltene kon-jugierte Ketogruppe nur die 11-Posi-tion möglich sein konnte.

Ruzicka vermutete, dass Glycyr-rhetinsäure (C30H46O4) ein Triterpen[10] mit sechs Isopreneinheiten war.Versuchen wir seinen Gedanken beider Aufstellung einer zunächst hypo-thetischen Strukturformel zu folgen:Das bis dahin gesicherte Kohlenstoff-Grundgerüst (Abbildung 2) zeigte inden Ringen A, B und C eine enge Ver-wandtschaft zur Abietinsäure 1. Unterder Annahme identischer Ringe Aund B beider Säuren führte die An-wendung der Isoprenregel zur Struk-turformel 5 [11] (Abbildung 3).

In den folgenden Jahren arbeite-ten Ruzicka und seine Mitarbeiter in-

tensiv an der Bestätigung oder Wider-legung der Strukturformel 5 undtatsächlich standen alle Untersuchun-gen damit im Einklang. Ungeklärtblieb jedoch, welche Position derCarboxylgruppe zukam. Die entschei-dende Reaktionssequenz gelangRuzicka 1943 [12]. Bei der Oxidationdes Methylesters der Deoxoglycyr-rhetinsäure mit Selendioxid wurdedie Doppelbindung angegriffen undes entstand ein zweifach ungesättig-tes 1,4-Diketon. Ruzicka wollte durchalkalische Verseifung aus demMethylester die freie Carbonsäure ge-winnen (Abbildung 4). Dies gelangaber nicht, denn die entstandene Säu-re spaltete spontan Kohlendioxid ab.Solch leichte Decarboxylierungen imAlkalischen sind für β-Ketocarbonsäu-ren charakteristisch [13]. Es existiertenur eine Möglichkeit für eine Car-boxylgruppe in ß-Stellung zu einerKetogruppe: C-20. Die Konstitutionder Glycerrhetinsäure war aufgeklärt(Abbildung 5, links)! Zu einer voll-ständigen Strukturaufklärung gehörtjedoch auch die Bestimmung derKonfigurationen aller neun stereoge-nen Kohlenstoffatome. Dies gelangdurch eine Vielzahl von chemischenAbbaureaktionen erst 1955. Danachist Glycyrrhetinsäure eine 3β-Hy-droxy-11-oxoolean-12-en-30-säure.Die neun stereogenen Kohlenstoff-

atome haben die Konfigurationen[25]: 3β, 5α [H], 8β, 9α [H], 10β, 14α,17β, 18β [H], 30β.

Wie würden heute Chemiker dieStruktur der Glycyrrhetinsäureaufklären? Neben der hochaufgelösten Massen-spektrometrie wird heute zur Struk-turaufklärung organischer Verbindun-gen vor allem die NMR-Spektros-kopie (nuclear magnetic resonance)eingesetzt. Die physikalischen Grund-lagen können hier nur oberflächlichbehandelt werden (s. infokasten S.278), so dass der interessierte Leserauf einführende Darstellungen ver-wiesen werden muss [14].

Das 13C-NMR-Spektrum der Gly-cyrrhetinsäure (Abbildung 6 oben)

BAU S T E I N I S O PR E N |Ruz icka und seine Mitarbeiter untersuchten seit Beginn derZwanziger Jahre die Terpene, eine heterogene Klasse von Natur-stoffen, die in den Blüten, Blättern, Nadeln und Harzen von über2000 Pflanzenarten vorkommen. Viele Bestandteile der etheri-schen Öle, vom Maiglöckchen bis zum Kümmel, von der Orangebis zum Eukalyptus, leiten sich strukturell vom KohlenwasserstoffTerpen C10H16 ab. Ruz icka erkannte, dass nicht Terpen C10H16 ,sondern Isopren (2-Methyl-1,3-butadien C5H8) der eigentlicheGrundbaustein war. 1922 formulierte er seine Isopren-Regel, wo-nach Terpene (und auch Steroide) formal aus aneinander gereih-ten Isopreneinheiten bestehen [9].

…können durchVerknüpfungenvon Isoprenbau-steinen formalaufgebaut wer-den. In der Abie-tinsäure sindvier, in der Gly-cyrrhetinsäuresechs Isopren-bausteine ver-knüpft. Diesführt zum Struk-turvorschlag 5,wobei die sechsReste R für fünfMethyl- und eineCarboxylgruppestehen.

ABB. 2 | GLYCYRRHETINSÄURE KONNTE ÜBER … ABB. 3 | DIE KOHLENSTOFFGERÜSTE DER TERPENE …

… zwei Reaktionsstufen in ß-Amyrin überführt werden, bei dessen Dehydrie-rung mit Selen 2-Hydroxy-1,8-dimethylpicen entstand. Dadurch war die 3-Stellung der Hydroxylgruppe im ββ-Amyrin und in der Glycyrrhetinsäure be-wiesen. Weiterhin konnte die Position der Doppelbindung zwischen C12 undC13 bestimmt werden, so dass für die dazu konjugierten Ketogruppe nur diePosition 11 infrage kam.

C30H46O4

C30H50O

β-Amyrin 2-Hydroxy-1,8-dimethylpicen (44)

Glycyrrhetinsäure

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zeigt 30 Signale, davon sieben vonprimären (p), neun von sekundären(s), fünf von tertiären (t) und neunvon quartären (q) C-Atom [15]. Insge-samt sind also 44 Wasserstoffatomedirekt an C-Atome und somit zwei direkt an O-Atome gebunden. EinigeSignallagen sind so charakteristisch,dass die entsprechenden Struktur-fragmente schon mit weniger Erfah-rung praktisch abgelesen werdenkönnen [17]: eine Carboxylgruppemit einem Signal bei 181 ppm (q),eine α,β-ungesättigte Ketogruppie-rung -CO-CH=C mit Signalen bei 200 (q), 169 (q) und 128 (t) ppmund eine sekundäre Alkoholgruppe

CHOH mit einem Signal bei 79 ppm(t).Alle funktionellen Gruppen las-sen sich im 13C-NMR-Spektrum iden-tifizieren.

Im 1H-NMR-Spektrum erscheinendie sieben Methylgruppen als scharfeSinguletts (Abbildung 6 unten), esfehlt eine magnetische Wechselwir-kung (Spin-Spin-Kopplung) zu ande-ren Wasserstoffatomen [18]; alle Me-thylgruppen müssen daher an quar-tären C-Atomen gebunden sein.

Natürlich lassen sich mit einigerÜbung viele weitere Strukturinfor-mationen aus den NMR-Spektren er-mitteln, direkt führt jedoch die zwei-dimensionale (2D) NMR-Spektrosko-pie zum Ziel. Der Trick dieser Mess-technik, die vor allem auf Arbeitenvon Richard Ernst (Nobelpreis 1991)[19] beruht, besteht darin, dass in2D-NMR-Spektren nur dann Kreuzsig-nale auftreten, wenn zwischen denbetreffenden Atomkernen eine mag-netische Wechselwirkung besteht.Eine ganze Armada verschiedener2D-NMR-Techniken steht uns heutezur Verfügung [20].

Für das zu lösende Strukturpro-blem ist das zweidimensionale CH-korrelierte NMR-Spektrum [21] amaussagekräftigsten. Hierbei bildet das13C-Spektrum eine und das 1H-Spek-trum die zweite Frequenzachse. DieMessparameter sind so gewählt [22],dass Kreuzsignale an den Schnitt-

punkten von 13C- und 1H-Signalennur auftreten, wenn die beiden C-und H-Atome über wenige Bindungmiteinander verknüpft sind. DieKreuzsignale der Signale nur einerdirekten CH-Bindung sind in Abbil-dung 7 rot, bei zwei oder drei Bin-dungen zwischen dem C- und demH-Atom schwarz dargestellt [23].

Gehen wir schrittweise vor:Schritt 1: Betrachten wir die CH-

Kreuzsignale der 1H-Methylsignalebei 0.79 und 0.99 ppm in Abbildung7. Die roten Kreuzsignale beweisen,dass die entsprechenden 13C- Signaleder direkt gebundenen C-Atome bei15.6 ppm bzw. 28.1 ppm erscheinen.Dies ergibt die folgenden zwei Struk-turfragmente:

Schritt 2: Zwischen dem 1H-Kernbei 0.79 und dem 13C-Kern bei28.1 ppm sowie dem Proton bei 0.99und dem 13C-Signal bei 15.6 ppm zei-gen Kreuzsignale eine magnetischeWechselwirkung über zwei oder dreiBindungen an, so dass beide Methyl-gruppen an einem gemeinsamen C-Atom gebunden sein müssen.An welchem? Abbildung 8 zeigt auchdas: die Protonensignale beider Me-thylgruppen zeigen ein Kreuzsignalzum quartären 13C-Signal bei39.1 ppm. Kurzum:

… der 11-Deoxygly-cyrrhetinsäure mitSelendioxid ergabein Diketon (links).Die bei der alkali-schen Esterhydroly-se entstandene Car-bonsäure spaltetspontan CO2 ab. Die-se leichte Decarbo-xylierung ist typischfür ββ-Ketosäuren,d.h. die abgespalte-ne Carboxylgruppemuss ββ-ständig zueiner Ketogruppegestanden haben.Hierfür kam nur diePosition 20 infrage.

ABB. 4 | DIE OXIDATION DES METHYLESTERS … ABB. 5 | NACH JAHREN …

N M R – DA S PR I N Z I P |Die Atomkerne des Wasserstoffs und Kohlenstoffisotops 13C(natürliches Vorkommen: 1.1%) besitzen magnetische Momente,die sich in einem äußeren Magnetfeld parallel oder antiparallelausrichten können. Zwischen beiden Orientierungen können mitelektromagnetischer Strahlung Übergänge induziert werden; dasist das NMR-Signal. In einer gegebenen Magnetfeldstärke hat je-der Atomkern einen charakteristischen Resonanzfrequenzbereich[15], z.B. beträgt bei einer Magnetfeldstärke von 11.7 Tesla dieResonanzfrequenz der 1H-Kerne 500 MHz und der 13C-Kerne 126 MHz. Für die Strukturaufklärung ist ausschlaggebend, dassdie Resonanzfrequenz von der chemischen Umgebung des Atom-kerns beeinflusst wird (chemische Verschiebung). Die beobachte-ten Unterschiede sind zwar äußerst gering, nur einige ppm (partsper million = 10-6), aber dies reicht aus, um aus der Signallageeindeutig auf die chemische Umgebung des betreffenden Atom-kerns zurück zu schließen.

Nach Jahren mühseliger Abbau- und Um-wandlungsreaktionen konnten Ruz icka undseine Gruppe die Konstitution der Glycyrrhe-tinsäure 1943 endgültig aufklären (links).

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Schritt 3: Der Anfang ist getan!Untersuchen wir die Korrelationender Protonensignale beider Methyl-gruppen bei 0.79 und 0.99 ppmweiter. Beide korrelieren mit 13C-Sig-nalen bei 54.9 und 78.8 ppm (Abbil-dung 7).

Schritt 4: Die 13C-Signale bei54.9 ppm und 78.8 ppm entspre-chen zwei tertiären C-Atomen, wobeidie Signale der direkt gebundenenProtonen jeweils bei 0.68 und3.21 ppm erscheinen (Abbildung 7).Das 13C-Signal bei 78.8 ppm und dasentsprechende 1H-Signal bei3.21 ppm sind beide so stark ver-schoben, dass an dem C-Atom eineHydroxylgruppe gebunden seinmuss. Daraus ergibt sich insgesamtfolgendes Strukturfragment

Schritt 5-n: Mit viel Schmierpapierund Geduld können wir uns vonKreuzsignal zu Kreuzsignal durch dasSpektrum hangeln und sämtliche 1H-und 13C-NMR-Signale Atomen zuord-nen [24] und deren Bindungsnetz-werk bestimmen (Abbildung 8) [25].

SchlussbetrachtungVon der Süßholzwurzel bis zur La-kritzschnecke und von der Summen-formel bis zur Aufklärung des Inhaltsstoffes war ein langer Weg. Esbedurfte des chemischen Sachver-standes und der Spürnasen vieler

oben: Im 13C-NMR-Spektrum ergeben die 30 chemisch unterschiedlichen Kohlen-stoffatome jeweils ein Singulett. Die Lage der Signale in ppm (parts per million, 10-6) gibt wichtige Hinweise auf die chemische Umgebung der C-Atome. Außerhalbdes hier abgebildeten Spektralbereichs erscheinen vier weitere Signale bei 201, 182,170 und 128 ppm. unten: Die 1H-NMR-Signale im aliphatischen Spektralbereich haben unterschiedli-che Feinstruktur, die durch magnetische Wechselwirkungen zu benachbarten Was-serstoffatomen verursacht wird. Auffallend sind sieben scharfe Singuletts zwischen0.7 und 1.5 ppm, die aufgrund ihrer Intensität sieben Methylgruppen zugeordnetwerden können.

Über Kreuzsignale können 1H- und 13C-NMR-Signalpaare identifiziert werden, dieüber eine Bindung (rote Kreuzsignale) bzw. zwei oder drei Bindungen (schwarzeKreuzsignale) miteinander magnetisch in Wechselwirkung stehen (Spin-Spin-Kopp-lung). Durch sorgfältige Analyse aller Kreuzsignale kann das Bindungsnetzwerk aller Kohlenstoff- und Wasserstoffatome ermittelt werden.

ABB. 7 | ZWEIDIMENSIONALES CH-KORRELLIERTES NMR-SPEKTRUM

ABB. 6 | NMR-SPEKTREN VON GLYCYRRHETINSÄURE

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Nobelpreisträger [19], von LeopoldRuzicka, der die Konstitution aufklär-te, von Derek Barton, dessen Arbeitenüber den räumlichen Aufbau ver-knüpfter Sechsringe den Grundsteinfür die komplette Strukturaufklärunglegten und von F. Lynen und K. Bloch,die mit ihren Untersuchungen derIsoprenregel eine biochemische Basisgaben.Auch die Entwicklung derspektroskopischen Methoden, mit de-nen wir heute die Struktur komple-xer Naturstoffe wie die Glycyrrhe-tinsäure in wenigen Tagen bestim-men können, ging von klugen Köp-fen aus: F.Aston baute das erste Mas-senspektrometer, F. Bloch und E. M.Purcell die ersten NMR-Spektrometerund R. Ernst führte die mehrdimen-sionale NMR-Spektroskopie ein. EineLakritzschnecke hat es also, che-misch gesehen, wirklich in sich undwir sollten sie im wahrsten Sinne desWortes mit (chemischem) Verstandgenießen.

DanksagungDer Firma Haribo, Bonn danke ich für die Mithilfeund Überlassung von Fotomaterial. Frau Dr. E.Vaupel, danke ich für ihre Hilfe beim Durchstö-bern der Bibliothek des Deutschen Museums inMünchen und Dr. K.-H. Hellwich (BeilsteinGmbH, Frankfurt) für die Klärung der schwieri-gen Fragen der Nomenklatur. Mein besondererDank gilt Dr. A. Schäfer, FU Berlin, der in vielenStunden die NMR-Spektren gemessen und aus-gewertet hat und dies nach Überlassung vonnur zwei Beuteln Lakritzenschnecken als Dank.

Literatur[1] Das sehr süß schmeckenden Glycyrrhizin

(auch als Glycyrrhizinsäure bezeichnet)ist der eigentliche Inhaltsstoff derLakritze. Im Glycyrrhizin ist das Disac-charid 2-O-(β-D-Glucopyranosyluron-säure)-D-glucuronsäure glykosidisch mitdem Aglykon Glycyrrhetinsäure (auch alsGlycyrrhetin bezeichnet) verknüpft.

[2] L. Ruzicka und H. Leuenberger, Helv.Chim. Acta, 11993366,19, 1402.

[3] Diese einfache Berechnung der DBÄ istnur für Verbindungen der Elemente C, Hund O zulässig.

[4] Bei der Bildung einer Doppelbindungoder eines Ringes werden formal zweiWasserstoffatome abgespalten, z.B.Hexan = C6H14 , Hexen = C6H12 ,Cyclohexan = C6H12 . Deswegenentspricht jede Ringbildung einem DBÄ.

[5] Abietinsäure ist Bestandteil desBaumsaftes verschiedener Nadelbäume.

Abb. 8 > Alle 1H-und 13C-NMR-Sig-nale können Ato-men zugeordnetwerden [24] undderen Verknüp-fungen und damitdas gesamte Bin-dungsnetzwerkaufgeklärt wer-den. Durch An-wendung speziel-ler NMR-Mess-techniken gelingtauch die Bestim-mung der räumli-chen Anordnun-gen aller Sub-stituenten. DieNMR-spektrosko-pische Untersu-chungen bestäti-gen die allein aufchemischen Ab-baureaktionenberuhende Struk-turformel in Abb. 5.

18.7

45.4

32.8

61.8

2.33

23.4

26.5

1.36

5.68

169.5

128.4

1.10

1.63

1.38

1.17

1.0

16.3

39.1

37.1

78.8

15.6

54.9

28.1

39.1

0.68

3.23

0.990.79

1.120.95

2.77

200.5

181,6

40.943.8

30.9

28.4

1.98

1.39

1.20

1.6

1.92

27.2

17.5

1.6

1.6

1.42 1.57

48.2

28.5

26.4

37.7 1.38

1.42

0.82

2.17

2.0

1.82

31.8

HO

H

H

H

HH

H3CH

O

HH

H

H

H3C COOH

H

H

H

H

CH3

H

HH

H

CH3

CH3

H

HHH

H3C CH3

H

43.2

Dublett aufspalten. Solche Feinstrukturensind an vielen der anderen 1H-Signalen im1H-NMR-Spektrum zu erkennen.

[19] Ausgezeichnete Einführungen in dieArbeitsgebiete von Nobelpreisträgernhaben diese selbst geschrieben:http://www.nobel.se/chemistry/laureates/index.html

[20] H. Friebolin und G. Schilling, Chem.unserer Zeit 11999944, 28, 88; Two-Dimensional NMR-Spectroscopy, W. R.Croasmin und R. M. K. Carlson (eds.),11999944, VCH, Weinheim.

[21] Die CH-korrelierten Spektren wurden mitder HMQC (Hetero Multiple QuantumCorrelation) Technik gemessen.

[22] Aufmerksame Leser ahnen, dass die„Messtechnik“ viel komplizierter ist, alses hier erscheint. Tatsächlich treibt einekomplizierte Abfolge von Hochfrequen-zpulsen während der Messung mit den1H- und 13C-Magnetisierungen ein ver-wirrendes Spiel, dessen pfiffige Choreo-graphie sich leider nur mit solidenquantentheoretischen Kenntnissenoffenbart.

[23] Es handelt sich nicht um willkürlicheEinfärbungen, sondern beide Kreuzsignal-Typen können durch Messung unter-schieden werden: die Kopplungskon-stante zwischen direkt gebundenen C-und H-Atomen beträgt ca. 130 Hz,während die Kopplungen über zwei unddrei Bindungen zwischen 2 und 10 Hzliegen, also eine Größenordnung ge-ringer sind. Zwischen Kopplungen überzwei oder drei Bindungen hinweg kannnicht ohne weiteres unterschiedenwerden.

[24] Durch unsere Messungen muss eine indiesem Zusammenhang allerdingsunbedeutende Signalzuordnungkorrigiert werden: die 13C-Signale von C8 und C14 müssen gegenüber denLiteraturangaben vertauscht werden, vgl.H. Duddeck et al, Org. Magn. Reson.11997788, 11, 130.

[25] In höheren Terpenen (und Steroiden)werden Substituenten oberhalb derRingebene mit der Chiffre β und derenBindungen zum Grundgerüst mitdurchgezogenem Strich charakterisiert.Substituenten unterhalb der Ringebenewerden mit der Chiffre α charakterisiertund mit dem Grundgerüst übergestrichelten Linien verbunden.

[6] L. Ruzicka und A. Marxer, Helv. Chim.Acta 11993399, 22, 195.

[7] Fortschritte der Chemie OrganischerNaturstoffe Bd. VII, B. Becker et al. 11995500,Springer Verlag, Berlin.

[8] Warum Glycyrrhetinsäure bei derDehydrierung kein Hydroxypicen ergab,ist auch heute noch rätselhaft.

[9] L. Ruzicka, Experimentia, 11995533, 9, 357.[10] C.F. Brieskorn, Pharm. unserer Zeit, 11998877,

16, 161. [11] An dieser Stelle wird stark vereinfacht,

denn Ruzicka schlug im Laufe seiner Un-tersuchungen mehrere Strukturformelnfür die Glycyrrhetinsäure vor. Über dievielen Irrungen und Wirrungen bei derStrukturaufklärung der Glycyrrhetinsäureund anderer Triterpene siehe: TheTerpenes Vol. V, J. Simonsen und W.C.J.Ross, 11995577, Cambridge University Press.

[12] L. Ruzicka, O. Jeger und M. Winter, Helv.Chim. Acta 11994433, 26, 265.

[13] Im Alkalischen bildet sich aus der Säure R-CO-CR2-COOH das Anion R-CO-CR2-COO-. Eine CO2-Abspaltung daraus istenergetisch begünstigt, da das ent-stehende Carbanion R-CO-CR2

- mit demEnolat R-CO-=CR2 in Mesomerie steht unddadurch resonanzstabilisiert wird.

[14] J. Rudolph, Chem. unserer Zeit 11996677, 1,76 und 116; Ein-und mehrdimensionaleNMR-Spektroskopie, H. Friebolin, 11999999 ,Wiley-VCH, Weinheim.

[15] Nicht alle Atomkerne haben ein mag-netisches Moment, so sind z.B. 12C und16O magnetisch inaktiv und können NMR-spektroskopisch nicht vermessen werden.

[16] Diese Informationen liefern DEPT-Spek-tren (Distortionless Enhancement byPolarization Transfer), in denen 13C-Signale von primären, sekundären odertertiären C-Atomen unterschiedenwerden können.

[17] Das Puzzle einer Strukturaufklärung kannauf unendlich verschiedene Weisenzusammengefügt werden. Der Weghängt von der Erfahrung und dem Wissendes Auswertenden ab. In der hiergewählten Vorgehensweise wollten wirdas Ziel möglichst direkt erreichen. Vieledem Fachmann ins Auge springendespektroskopische Feinheiten bliebendabei unbeachtet.

[18] Wäre eine Methylgruppe Teil einesStrukturelements CH3-CH, würden dieSignale der Methylgruppe zu einem

Autor dieser Rubrikist Prof. Klaus Rothvon der FreienUniversität Berlin.E-Mail: [email protected]