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Redaktionelle Vorbemerkung (zu den Artikeln Ro ¨sler und Schepens) Am 10. November 2009 ja ¨hrte sich zum 50. Mal der Todestag des bedeutenden Philolo- gen Felix Jacoby, der durch die Nationalsozialisten ins Exil getrieben worden war. Sein Name wird vor allem mit dem großen Werk der Edition der Fragmente der griechischen Historiker (FGrH) auf immer verbunden sein. Zum Gedenken an seine Person und sein Wirken fand an diesem Tag ein Kolloquium in der Humboldt Universita ¨t statt, wo Felix Jacoby promoviert worden war. Ein Besuch in seinem Wohnhaus in Finkenkrug, das 71 Jahre zuvor Nazibanden heimgesucht hatten, schloß die Veranstaltung ab. Sie wurde gemeinsam organisiert vom Deutschen Archa ¨ologischen Institut (Projekt FGrH V, Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrke) und vom Institut fu ¨r Klassische Philologie der Humboldt Universita ¨t (Prof. Dr. Wolfgang Ro ¨sler), mit tatkra ¨ftiger Unterstu ¨tzung durch Veronica Bucciantini (Berlin/Firenze) und Olaf Schlunke (Freiburg). In diesem Rahmen wurden folgende Vortra ¨ge gehalten, die zu Person und Werk Jacobys neue Informationen bieten. KLIO 92 2010 2 Brought to you by | University of Connecticut Authenticated | 137.99.31.134 Download Date | 6/7/14 9:41 PM

Die Debatte über die Struktur der Fragmente der griechischen Historiker

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Page 1: Die Debatte über die Struktur der Fragmente der griechischen Historiker

Redaktionelle Vorbemerkung(zu den Artikeln Rosler und Schepens)

Am 10. November 2009 jahrte sich zum 50. Mal der Todestag des bedeutenden Philolo-gen Felix Jacoby, der durch die Nationalsozialisten ins Exil getrieben worden war. SeinName wird vor allem mit dem großen Werk der Edition der Fragmente der griechischenHistoriker (FGrH) auf immer verbunden sein. Zum Gedenken an seine Person und seinWirken fand an diesem Tag ein Kolloquium in der Humboldt Universitat statt, wo FelixJacoby promoviert worden war. Ein Besuch in seinem Wohnhaus in Finkenkrug, das71 Jahre zuvor Nazibanden heimgesucht hatten, schloß die Veranstaltung ab. Sie wurdegemeinsam organisiert vom Deutschen Archaologischen Institut (Projekt FGrH V, Prof.Dr. Hans-Joachim Gehrke) und vom Institut fur Klassische Philologie der HumboldtUniversitat (Prof. Dr. Wolfgang Rosler), mit tatkraftiger Unterstutzung durch VeronicaBucciantini (Berlin/Firenze) und Olaf Schlunke (Freiburg). In diesem Rahmen wurdenfolgende Vortrage gehalten, die zu Person und Werk Jacobys neue Informationen bieten.

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Guido Schepens (Leuven)

Die Debatte uber die Strukturder „Fragmente der griechischen Historiker“*1

Bevor ich das im Titel angekundigte Thema behandle, mochte ich zu Beginn meines Bei-trages zur Jacoby-Gedenkfeier einen Blick auf den Menschen Jacoby in seinen letztenLebensmonaten ermoglichen. Ich habe hierfur ein Foto (Appendix A, Abb. 1) und einigeAusschnitte aus seinen Briefen aus dieser Zeit ausgewahlt, die mir zu diesem Zweck ge-eignet erscheinen. Das Foto zeigt ein vielleicht untypisches Bild von Felix Jacoby: Er sitztruhig genießend auf der Terrasse des Hotels Quisisana in Baden-Baden.1 Es gibt andereDarstellungen –– wie zum Beispiel die Zeichnung, die anlaßlich der Feier seines 25-jahri-gen Dienstjubilaums als Professor Ordinarius am 23. Januar 1932 in den Kieler NeuestenNachrichten erschien (Appendix A, Abb. 2)2 –– , die das Bild vom anspruchsvollen Ge-

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* Leicht veranderte und mit Anmerkungen versehene Fassung meines Beitrags zur „Gedenkfeier aus Anlaßdes 50. Todestages von Felix Jacoby“, die am 10.11.2009 an der Humboldt-Universitat Berlin stattfand. Ichdanke den beiden Organisatoren, Herrn Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrke und Herrn Prof. Dr. WolfgangRosler, fur die Ausrichtung und die freundliche Einladung. Ich habe die Form des mundlichen Vortragesgrundsatzlich beibehalten. Wenn mein Deutsch nicht immer den Auslander verrat, so ist dies meinem Kolle-gen Herrn Prof. Dr. Stefan Schorn zu verdanken.

1 Schon vor seiner Emigration aus Deutschland (im Fruhjahr 1939) hielt sich Jacoby regelmaßig zur Kur inBaden-Baden auf (so z. B. auch in den Tagen des Novemberpogroms 1938, als ihn seine „zufallige Abwe-senheit“ –– wie Jacoby anlaßlich der Wiedergutmachung im Jahr 1956 notierte –– „vor einer Verhaftungdurch die 5 Rowdies“ rettete; siehe E. Mensching, Texte zur Berliner Philologie-Geschichte. VI: Felix Jacoby[1876––1959] und Berliner Institutionen 1934––1939, Nugae zur Philologie-Geschichte II, Berlin 1989, 5––59,besonders 45). An die Tradition ihrer Ferien- und Kuraufenthalte in Suddeutschland knupften die Jacobysim Sommer 1951, also noch wahrend der Oxforder Jahre, wieder an. Vgl. A. Wittram, Fragmenta. Felix Jacobyund Kiel. Ein Beitrag zur Geschichte der Kieler Christian-Albrechts-Universitat (Kieler Werkstucke, Reihe A:Beitrage zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte 28), Frankfurt am Main 2004, 138.Vom leitenden Arzt im Sanatorium Quisisana, „zu dem“ –– so Jacoby in seinem Schreiben an Bloch vom28. August 1951 –– „ich vertrauen habe u. mit dem ich personlich eng befreundet bin“ –– , erhoffte er sichLinderung verschiedener gesundheitlicher Beschwerden, doch fuhrte die Behandlung nicht immer zum ge-wunschten Ergebnis. Zugleich war der Aufenthalt am Kurort immer wieder eine Gelegenheit fur Treffenmit Freunden und Kollegen aus Deutschland, die dorthin zu Besuch kamen. Nur in den Jahren 1955 und1956 kam es nicht zu einem Ferienaufenthalt in Baden-Baden. 1955 zogen es die Jacobys vor, „garkeineerholung einzuschieben“, weil sie die Druckfahnen fur Brill rechtzeitig fertigstellen wollten (Brief an Blochvom 8. Februar 1956). Im Sommer nach dem Tod seiner Frau (am 21. Marz 1956) verzichtete Jacoby aufdiese Ferienreise, „weil ich ungern allein reise u. niemand recht habe, den ich mitnehmen konnte“ (Brief anBloch des 11. August 1956).

2 Aus den Kieler Neuesten Nachrichten (Sonnabend/Sonntag 23. und 24. Januar 1932). Die Initiative zu dieserFeier ging von Jacobys Kollegen und Freund Julius Stenzel (1883––1935), Professor fur Philosophie an derChristian-Albrechts-Universitat Kiel, aus; siehe hierzu Wittram (Anm. 1) 54––55. Funfundzwanzig Jahre spa-ter, in seinem Dankesbrief anlaßlich der Gluckwunsche zu seinem 50-jahrigen Dienstjubilaum an die Philo-sophische Fakultat der Universitat Kiel, weist Jacoby eigens darauf hin, wie lebhaft ihm die Feier des Jahres

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lehrten3 und seine ausgesprochen mannliche, kraft- und temperamentvolle Personlichkeit,die „vielleicht nicht ohne einige Ecken und Scharfen“4 war, sicherlich treffender vermit-teln. Aber im Rahmen der heutigen Gedenkfeier ist das mildere Bild auch das angemes-senere, da es im September 1959, kaum zwei Monate vor Jacobys Tod, aufgenommenwurde.

Was Jacoby wahrend der letzten Monate seines Lebens, ja bis ganz wenige Tage vorseinem Tod beschaftigte, welche Freuden und Sorgen ihn erfullten, davon konnen wiruns wenigstens annahernd dank seines Briefwechsels mit Herbert Bloch, Professor ander Harvard University, eine Vorstellung machen. Nach einer ersten Begegnung im Jahr1938 in Berlin pflegten beide einen regen, fast ununterbrochenen Briefwechsel, der seitMai 1948 noch weiter intensiviert wurde, nachdem Jacoby ihm die Fortsetzung seinerFragmentsammlung fur die Zeit nach seinem Tode anvertraut hatte.5 Die Briefe –– bisjetzt unveroffentlicht und nur teilweise transkribiert –– befinden sich im wissenschaftli-chen Nachlaß Felix Jacobys, der im Sommer 2003 von Harvard nach Leuven transferiertwurde. Mit ihrem Mix aus fachlichen und privaten Themen stellt diese Korrespondenz ––278 nicht selten langere Briefe –– eine reiche Quelle nicht nur fur diejenigen dar, die sichuber die wissenschaftliche Tatigkeit Jacobys und seine Meinung uber andere Vertreterseines Faches ein Bild verschaffen wollen, sondern auch fur diejenigen, die am Menschenjenseits der Forschung interessiert sind, an seiner Haltung und seinen Ansichten in ver-schiedenen Situationen seines Lebens, besonders wahrend seiner Zeit in Oxford(1939––1956)6 und nach seiner Ruckkehr nach Deutschland (1956––1959). Auffallig istder mit der Zeit immer vertraulicher werdende Ton, der den ,alten‘ Jacoby7 hier und dazu recht interessanten autobiographischen Ruckblicken auf Werk und Leben veranlaßt:auf ein Leben, von dem er sagt, daß es „sich so anders gestaltet hat als wir [gemeint ist,meine Frau und ich‘] erwarteten.“8

Ich mochte an dieser Stelle vor allem drei Briefe aus Jacobys letztem Lebensjahr vor-stellen. Es sei aber auch noch ein Auszug aus dem ruhrenden Brief hinzugefugt, in dem

1932 „in der Erinnerung lebt“ (Brief vom 23. Januar 1957, Dekanatsarchiv der Philosophischen Fakultat derChristian-Albrechts-Universitat Kiel, hier zitiert nach dem Ausschnitt in Wittram [Anm. 1] 152).

3 Vgl. das strenge, von Mensching (Anm. 1) 31, gewahlte Bild. In diesem Zusammenhang sei an eine Bemer-kung im Brief Nordens an Koestermann vom 10.12.1939 erinnert, wonach Jacobys Arbeitstempo im Voll-dampf-Stadium „etwas Beangstigendes“ hatte (Mensching [Anm. 1] 30).

4 So beschrieb O. Immisch im Jahr 1926 Jacobys Personlichkeit; siehe Wittram (Anm. 1) 35, die auch weitereinteressante Zeugnisse uber den Lehrer und Forscher in Kiel bietet (33––40).

5 In seinem Brief an Bloch vom 11. Mai 1948 schreibt der damals 72-jahrige Jacoby: „But I am getting old,and not very sure that I shall be able to complete the work. I would be glad to know, if you would considerto take my place. There is not much in writing, hardly more than the names of the authors and theirdistribution, and you would have a free hand.“ H. Bloch antwortete umgehend (Brief vom 17. Mai 1948)wie folgt: „Dear Mr. Jacoby, Thank you very much for your suggestion to carry on your work if you shouldnot be able to complete it. I deeply appreciate your confidence and nothing would please me more than [to]show myself worthy of your trust. I gratefully accept your proposition, hoping at the same time that youwill complete your great work in which so much has already been accomplished by you and for which Ihave so great admiration ever since my early studentdays. I shall come to Oxford early enough so that weshall have time to discuss the fate of the Historians.“

6 Zu dieser wichtigen Periode in Jacobys Leben und Schaffen sind die Informationen nicht so sparlich wieWittram (Anm. 1) 134 meint.

7 Der Ausdruck „Ihr alter Jacoby“ erscheint zum ersten Mal im Schreiben an Bloch vom 1. Marz 1948. Abdiesem Zeitpunkt schließt Jacoby seine Briefe haufig mit dieser Formel ab.

8 Brief Jacobys an Bloch vom 3. Mai 1956.

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Jacoby Anfang Mai 1956, sechs Wochen nach dem Tode seiner Frau Margarethe, seineGefuhle außert. Warum es im Rahmen dieser Zusammenkunft mehr als angemessen ist,auch der Gemahlin des großen Gelehrten zu gedenken, konnen wir nicht besser als mitden Worten ihres Mannes zum Ausdruck bringen. Ich beschranke mich darauf, die Texteeinfach vorzustellen, ohne sie zu kommentieren: das Bild, das sie vom Forscher undMenschen vermitteln, spricht fur sich.

***

DR. FELIX JACOBY BERLIN-DAHLEM 30. Septbr. 1959UNIVERSIT�TSPROFESSOR (EM.) ARCHIVSTRASSE 3 A

TELEFON 76 45 17Lieber Bloch!

ich sehe mit entsetzen, dass ich nicht einmal Ihren brief vom 15.3 beantwortet habe, ob-wohl Sie mir darin u. a. mitteilen, dass Sie die rezension des ,Supplements‘ abgeschlossenhaben, die der ,Gnomon‘ hoffentlich ohne kurzungen bringt.9 Ich habe in der letzten zeitgluck mit den rezensionen, bzw. wir haben es, wofur ich nur auf Claire Gorteman (L’An-tiquite classique 27, 1955, p. 298ff.) und J. H. Thiel (Mnemos. Ser. IV vol. 11, 1958,p. 268ff.) verweise. In der letzteren hat es [sic] mich besonders die anerkennung dessprachlichen gewandes gefreut, an die sonst niemand denkt. Ich habe immer wert daraufgelegt, trotz der unzahligen klammern und exkurse, ein anstandiges Deutsch zu schrei-ben, und glaube, dass es mir (trotz des ,trotz‘) im ganzen gelungen ist.

Dass ich solange geschwiegen habe hat den unerfreulichen grund, dass es mir in die-sem jahre gesundheitlich gar nicht gut gegangen ist –– man ist aber mit 83 (trotzAdenauer) wirklich alt und wagt sich an nichts neues mehr. Dabei liegt allerhand imschrank was ich gar zu gern abgeschlossen hatte; aber nach dem ,Diagoras‘, der wohl inden nachsten wochen ausgegeben wird, habe ich weder mut noch kraft gefunden, ande-res (besonders eine rein historische behandlung des konigs Kleomenes I, die im grundefertig ist,10 wahrend der mir eigentlich wichtigere ,Lykurg‘ nur auf zetteln vorliegt.11 Und

9 Besprechung von FGrH III b (Supplement). A Commentary on the Ancient Historians of Athens (Nos.323a––334), Vol. 1: Text, Vol. 2: Notes –– Addenda –– Corrigenda –– Index, Leiden 1954, Gnomon 31,1959, 487––499.

10 Am 26. Januar 1940 hielt Jacoby in Oxford vor der Philological Society einen Vortrag mit dem Titel „Cleo-menes I, King of Sparta.“ Der von Jacoby gelesene Text (37 Seiten + 12 Seiten Anmerkungen) ist imNachlaß erhalten.

11 In seinen Briefen außert sich Jacoby wiederholt zu dieser Untersuchung uber Lykurg, von der ein ziemlichumfangreiches Manuskript (ca. 200 Seiten) im Nachlaß vorhanden ist. Weshalb ihm das Thema so wichtigwar, erlautert Jacoby auch in dem jungst von M. Chambers publizierten Brief an Friedrich Gisinger vom1. Juli 1953: „ich glaubte, dass ein vortrag uber die ,Erfindung Lykurgs‘ (auch ohne dass man grobe par-allelen zieht) ein fur die zeitlage und die jugend wohl passendes thema ware –– eine art aufruf zur besin-nung auf die aufgabe unserer geistigen fuhrerschicht (bzw. der werdenden fuhrer) im kampfe gegen diezersetzenden und zerstorenden krafte einer antihumanen, antihumanistischen und barbarischen geistesrich-tung. Es sollte die essenz eines buchleins uber das archaische und das klassische Sparta sein, das vielleichtgeeignet ware, gangbare miss-auffassungen zu korrigieren.“ Siehe M. Chambers, Jacoby’s Fight for the Geo-graphers, in: S. Heilen e. a. (Hgg.), In Pursuit of Wissenschaft. FS W. M. Calder (Spudasmata 119), Hildes-heim/New York 2008, 123––134, besonders 132. �ber Jacobys Gedanken selber noch einen Beitrag zumWiederaufbau der deutschen Universitatslandschaft nach dem 2. Weltkrieg zu leisten, siehe auch Wittram(Anm. 1) 139––140, die in diesem Zusammenhang auf denselben Brief an Gisinger und die darin erwahnteLykurg-Untersuchung Bezug nimmt.

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gerade fur ihn ware eine neue, recht ausfuhrliche behandlung erwunscht, da die neuerenselbst die grundlegenden erkenntisse von Wilamowitz wieder verwischt haben. Die Eng-lander sind nun einmal keine freunde der historischen kritik –– wenigstens die zur zeitlebenden; und auch Wade-Gery’s artikel uber die rhetra laufen m. e. einen verkehrten mit-telweg). Der einmonatliche aufenthalt in Baden-Baden (mit allerlei netten Besuchen) hatnicht geholfen –– das wetter war prachtvoll, die wohnung mit balkon ebenfalls; aber dieverpflegung war so minderwertig und lieblos, dass ich dreiviertel verhungert vorgesternzuruckgekehrt bin und Brigitte12 muhe haben wird, mich langsam wieder aufzupappeln.

Ich schreibe auch diese wenigen zeilen nur, um Ihnen zu sagen, dass ich noch schwa-che lebenszeichen von mir gebe, und dass ich gern wusste, wo Sie jetzt sind, wie esIhnen geht, und was Sie jetzt treiben.

Mit sehr herzlichen grussen Ihr alterFJacoby

Hoffentlich erreicht Sie dieser zettel. Ich weiss nicht einmal, wo ich Sie in gedankensuchen soll –– Rom oder Harvard.13

***

DR. FELIX JACOBY BERLIN-DAHLEM 17. 10. 1959UNIVERSIT�TSPROFESSOR (EM.) ARCHIVSTRASSE 3 A

TELEFON 76 45 17Lieber Bloch!

Gestern fruh erhielt ich von Brill den sonderabzug Ihrer besprechung des Supplements14

und habe ihn seitdem uberall da uberdacht, wo Sie zusatze machen (wie ex. gr. dass Klei-demos seinem Theseus Themistokleische zuge giebt, was ja vorzuglich zu seiner allge-meinen politischen haltung passt –– ich wunschte, ich ware je dazu gekommen, die studieuber Themistokles –– als uberblick uber die athenische politik von Kleisthenes bis Perik-les –– zu schreiben, der m. e. eine solche noch immer verdient) und noch mehr naturlichwo Sie bedenken haben, die ich (leider) fast immer teilen muss, weil es dinge sinduber die ich eigentlich lange im zweifel war und z. t. noch jetzt bin, bis ich mich ent-schied –– vermutlich falsch, was (furchte ich) sicher/so gut wie sicher fur Kleidemos 15gilt. In sehr ernstem zweifel bin ich auch wieder uber das ostrakismusfragment Andro-tion 6 geraten –– ein doppeltes ,leider‘, weil ich mich mit diesem sehr lange abgequalthabe und bis heute von der richtigkeit meiner entscheidung uberzeugt war. Ich bin auch

12 Brigitte ist die ,Haustochter‘, die ihn damals auch wahrend den Ferien begleitete. Sie ist mit auf dem Bildzu sehen, das im Spatsommer 1959 in Baden-Baden (Appendix A, Abb. 1) aufgenommen wurde. Ich ver-danke diese Information Frau Dr. Gudrun Fuchs-Gomalka (Berlin).

13 Bloch war Anfang August 1957 mit seiner Familie nach Rom abgereist, wo er fur die Jahre 1957––1959 diePosition eines „Professor-in-Charge of the School of Classical Studies of the American Academy in Rome“innehatte. Wann genau er im Sommer 1959 in die USA zuruckkehrte, wußte Jacoby offensichtlich nicht. Erschickte seinen Brief am 30. September noch an die romische Adresse, sicherheitshalber mit der Bitte„please forward, if necessary“. Bloch erhielt die Sendung einen Monat spater in den USA. Fur Naheres zurPerson und Karriere von Herbert Bloch (Berlin 1911––Cambridge Ma. 2006) sei auf den ,Obituary‘ und aufdie ,Remembrances‘ im „Special Memorial Issue“ von Nota Bene (Harvard University) 12.2, 2007, 2––9verwiesen.

14 Es geht um die Besprechung im Gnomon, von der schon im Brief vom 30. September 1959 die Rede war(siehe oben, Anm. 9).

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jetzt noch nicht vollig vom gegenteil uberzeugt, [. . .] Aber das ist gar nicht, was ichIhnen sagen wollte . . . Was ich beabsichtigte war ausschliesslich der ausdruck meineraufrichtigen bewunderung . . .

Ich darf also auch sagen, dass Sie mir mit dieser Besprechung –– die ja auch zeitlich amende meiner much chequered career steht, eine wirklich grosse freude gemacht haben,mit der ich nur die empfindungen vergleichen kann, die ich hatte als vor fast 40 jahrenWilamowitz [. . .] die beiden ersten teile in der DLZ anzeigte. Nehmen Sie diese zeilen(hastig hingeworfen und schlecht geschrieben; aber es geht mir augenblicklich thatsachlichnicht gut, und doch konnte ich mit ihnen nicht warten, bis sie womoglich gar nicht mehrhatten geschrieben werden konnen) so auf wie sie gemeint sind und seien Sie herzlich,bedankt‘ (wie die Schweizer sagen) und gegrusst von Ihrem alten und wackeligen

FJacoby

***

Ich fuge hier noch den allerletzten Brief an Bloch an, den Jacoby am 1.11., also 9 Tagevor seinem Tod, schrieb und worin er u. a. versucht, sich noch an den Inhalt des vonihm verloren gewahnten Briefes zu erinnern.

Berlin-Dahlem 1.11.59Archivstr. 3 A

Lieber Bloch!

schonsten dank fur Ihre zeilen vom 25.10, auf die hin ich doch Ihre ,Academy‘ an dennicht weiter geleiteten brief [. . .] erinnert habe [. . .] Das dumme ist ja, dass ich infolgemangelnder maschineller begabung keine abschriften meiner eigenen briefe habe, und in-folge mangelnden gedachtnisses auch nicht mehr weiss was ich geschrieben habe.Schwerlich allerdings uber meine gesundheit –– ein unerfreuliches thema, das ich mehr u.mehr zu beruhren vermeide (die im alter haufigen folgen eines an sich nicht gefahrlichenlungenemphysems –– d. h. also oftere und recht schmerzliche anfalle von bronchitis etc.).Wahrscheinlich schrieb ich aber, dass der ,Diagoras‘ endlich gedruckt ist und –– nacherledigung der letzten paar verweise –– in den nachsten tagen ausgegeben werden soll (sogott will, wird man bei dem betrieb auch dieser Akademie wohl sagen mussen)15 [. . .]Hermes 1959 heft 4 (Dezbr ?)16 wird dann den kurzen aufsatz ,Zwei Doppelfassungenim Juvenaltext‘ bringen, den ich –– wegen der ausgabe von Knoche (die eben erschieneneOxfordiana ist hier noch nicht zu haben), der im wesentlichen Jachmanns spuren folgt ––fur methodisch wesentlich halte. Manches andere, was ich gern wieder aufgenommenund fertig gemacht hatte (bes. Spartan. Geschichte: Lykurgfrage; Kleomenes I), wird lie-gen bleiben: mir fehlt meine bibliothek doch sehr, aber mehr noch die kraft. Wie gut,dass fur die Historiker gesorgt ist. Es ware doch schade, wenn sie ein torso blieben. Furden moment freilich werden Sie nicht nur Ihren „mittelalterlichen verpflichtungen“ die-nen mussen; ich denke mir, dass nach der langen unterbrechung auch der unterricht star-ke anforderungen an Ihre Kraft stellen wird.

Alles Gute und sehr herzliche grusse von Ihrem altenFJacoby

15 Diagoras, ' O A� Jeo| (Abh. d. Deut. Akad. Wiss. Berlin, Kl. Sprachen, Literatur u. Kunst 3), Berlin 1959.16 Zwei Doppelfassungen im Juvenaltext (3, 10––21; 7, 36––61), Hermes 87, 1959, 449––462.

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Abschließend folgt noch ein Auszug aus dem Brief vom 3. Mai 1956, den Jacoby nachdem Tod seiner Frau schrieb. Sie starb am 21. Marz 1956 in einem Berliner Krankenhaus,nur wenige Tage nachdem die Jacobys am 14. Marz von Oxford nach Berlin ubergesiedeltwaren. Es ist in der Korrespondenz mit Bloch der erste Brief, den Jacoby von seinemneuen Wohnsitz in Berlin-Dahlem, Archivstr. 3, aus schickt.

F. Jacoby Berlin-Dahlem 3. Mai 1956Archivstr. 3a

Lieber Bloch,

langst hatte ich Ihnen sozusagen officiell danken sollen fur das wahrhaft schone geburts-tagsgeschenk, das Sie mir mit der sammlung meiner historischen abhandlungen gemachthaben. Dass es nicht fruher geschehen ist, werden Sie verstehen und verzeihen: bosewochen liegen hinter mir mit ihrem Keller’schen ,hintergrund von freudlosigkeit‘, dieden menschen hindert ,zu schreiben ohne unwahr zu sein oder allzu elend zu erschei-nen‘. Es ist besonders auch die in gesprachen mit hiesigen arzten gewonnene uberzeu-gung, dass meine frau in Oxford von dem hervorragenden u. mir personlich befreunde-ten spezialisten offensichtlich ganz falsch behandelt worden ist, die mich nicht zur ruhekommen lasst: sie ware ja wohl auch bei richtiger diagnose nicht zu retten gewesen; aberman hatte ihr wohl die vielen starken schmerzen ersparen oder doch wesentlich erleich-tern konnen durch einen kontinentalen kuraufenthalt, und vermutlich auch ihr leben ver-langern konnen. Sie hatte den geburtstag erlebt17 und hatte ihre freude an den beidensammlungen (bzw. Sammlung und Abdruck) gehabt;18 das ware doch ein versohnender

17 Was Jacoby hier und spater am 22. Dezember 1958 in einer Weihnachtskarte an Bloch uber das zeitlicheVerhaltnis zwischen seinem Geburtstag und dem Sterbedatum seiner Frau Margarete am 21. Marz 1956sagt, stellt uns vor gewisse Schwierigkeiten. Rein chronologisch betrachtet –– das laßt sich mit Sicherheitfeststellen –– war seine Frau noch nicht gestorben, als Jacoby am 19. Marz Geburtstag hatte. Die Stelle imBrief vom 3. Mai 1956 konnte man daher vielleicht so verstehen, daß Frau Jacoby unter den gegebenenUmstanden –– im Krankenhaus, zwei Tage vor ihrem Tode und vielleicht nicht mehr bei vollem Bewußt-sein –– den Geburtstag nicht wirklich e r l e b t hat und erst recht nicht so erleben konnte, wie sie sich denbesonderen Tag, an dem Ihr Mann 80 wurde, vorgestellt hatte. Denn, wie Jacoby am 22.12.58 schreibt,hatte seine Frau aus seinem 80. Geburtstages „eine art feiertag“ machen wollen. Diese Interpretation wirdnun aber dadurch erschwert, daß Jacoby in derselben Weihnachtskarte schreibt: „als meine liebe frau geradeam vortage meines 80. Geburtstages [meine Hervorhebung] (aus dem sie eine art feiertag machen wollte)schliesslich doch unvermutet verschied, [. . .]“. Hat sich der Briefschreiber zweimal mißverstandlich uberdas zeitliche Verhaltnis beider Daten ausgedruckt? Oder mussen wir annehmen, daß ,Geburtstag‘ in beidenFallen verkurzend fur ,Geburtstagsfeier‘ zu verstehen ist und eine Moglichkeit, die widerspruchlichen An-gaben zu harmonisieren, darin besteht, daß die Feier nicht am eigentlichen Geburtstag, dem 19. Marz,stattfinden sollte, sondern erst am 22.? Auf den ersten Blick leuchtet es aber nicht ein, warum die Jacobysfur eine Feier, die (im Jahre 1956) an einem Dienstag stattgefunden hatte, einen Donnerstag hatten vorzie-hen sollen. Ich danke den Kollegen O. Schlunke und S. Schorn mit denen ich diese ,Crux‘ besprechenkonnte.

18 Es geht um die beiden Publikationen, die „zum achtzigsten Geburtstag am 19. Marz 1956“ von FelixJacoby herausgegeben wurden: einerseits die ,Sammlung‘ „Abhandlungen zur griechischen Geschichtsschrei-bung“, herausgegeben von Herbert Bloch (Leiden 1956), andererseits den ,Neudruck‘ der großeren Artikelaus der Paulyschen Real-Encyclopadie mit dem Titel „Griechische Historiker“ (Stuttgart 1956).

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abschluss gewesen fur ein leben das in seinem zweiten teile ziemlich ausschliesslich derbeihilfe an meiner arbeit gewidmet war.19 [. . .]

Sehr herzliche grusse von Ihrem altenFJacoby

Wie viele andere Stellen aus der Korrespondenz zwischen Jacoby und Bloch zeigt auchder allerletzte Brief vom 1. November 1959, welch großen Wert Jacoby auf die Fortset-zung seiner ,Historiker‘ legte. Trotz der wiederholt von Bloch gegebenen Versicherung,er sehne sich nach nichts mehr als die Arbeit an den Historikerfragmenten in Angriff zunehmen, nachdem er einmal seine mittelalterlichen und italischen Unternehmungen zumAbschluß gebracht habe, und trotz der Mitteilungen Jacobys in den drei letzten Vorredenzu Teilpublikationen der „Fragmente“, nach denen „die furcht, dass die sammlung eintorso bleiben wurde, gegenstandslos geworden [sei]“,20 spurt man zwischen den allerletz-ten Zeilen, die er an Bloch richtete, daß ihn doch noch ein Hauch von Zweifel plagte, obdas riesige Unternehmen einst vollendet werden wurde. Daß Jacobys Nachfolger tatsach-lich aufgrund der auch in diesem Brief genannten „mittelalterlichen verpflichtungen“ seinfestes Versprechen nicht einloste, gehort jetzt zur Geschichte der Sammlung. Fur diesenahm Jacoby gerne das Wort „the fate of the Historians“ in den Mund: habent sua fata

libelli. Daß das Lebenswerk Jacobys von den historischen Katastrophen des 20. Jahrhun-derts in ganz brutaler Weise betroffen wurde, ist allgemein bekannt. Die schicksalhaftenersten 50 Jahre (die Periode zwischen dem Start des Projekts mit dem beruhmten Klio-Aufsatz von 1909 und 1959) brauchen hier nicht noch einmal besprochen zu werden,obwohl sich mithilfe der Korrespondenz zwischen Jacoby und Bloch wohl noch einigeinteressante Daten nachtragen ließen.21 Ebenso wenig habe ich die Absicht, auf die inanderer Hinsicht ebenfalls schicksalhafte 50jahrige Diadochen- und Epigonengeschichteder Fortsetzung bzw. Nicht-Fortsetzung der Fragmentsammlung einzugehen: bei dieser

19 Siehe Appendix A, Abb. 3 und 4.20 Aus der Vorrede, FGrH III B, Leiden 1950, 5*.21 Nur ein Beispiel: Hinsichtlich der Emigration Jacobys herrscht die Meinung vor, er habe diese nicht selbst

in die Wege geleitet; verschiedene andere Personen (unter ihnen Fraenkel und Wade-Gery, die tatsachlicheine bedeutende Rolle spielten) hatten sich aus eigener Veranlassung von Oxford aus fur ihn eingesetzt.Nach Mensching (Anm. 1) 48 war Jacoby also „nicht gezwungen [. . .], als Bittsteller aufzutreten.“ AuchM. Chambers, La vita e la carriera di Felix Jacoby, in: C. Ampolo (Hg.), Aspetti dell’opera di Felix Jacoby(Seminari Arnaldo Momigliano 1), Pisa 2006 und 22009, 5––29, besonders 22, scheint dieser Meinung zusein. Denn nachdem er die prekare Situation, in der sich Jacoby nach dem Pogrom von 9./10. November1938 befand, beschrieben hat, erklart er: „[. . .] si presento una possibilita di salvezza quasi miracolosa. Ilvecchio amico e collega Eduard Fraenkel si trovava gia a Oxford, [. . .] egli fu uno degli attori principalidell’evento che seguı.“ In einem Brief an Bloch (12.9.1958) teilt nun Jacoby das folgende mit: „nach dersog. Krystallnacht schrieb ich ohne grosse hoffnung nach Oxford und bekam wider alles erwarten binneneiner woche eine einladung –– der zu folgen dann freilich auch nicht leicht war, da die damaligen ,GrossenFunf‘ bekanntere leute entweder uberhaupt nicht oder nicht an beruhmte universitaten lassen wollten (wassoll man dann von uns im ausland denken‘ sagte mir wortwortlich der allerdings geistesgestorte ministerRutt). Schliesslich wurden Goldschmidt und ich gegenstand eines interministerischen tauschgeschaftes.“ Essieht also danach aus, als ob Jacobys Freunde in Oxford a u f s e i n e B i t t e h i n schnell aktiv gewordenseien. Es war verstandlicherweise zunachst nicht in Jacobys Interesse, offen daruber zu sprechen, daß er dieInitiative zur Emigration ergriffen hatte, und man kann davon ausgehen, daß „Dean and Governing Bodyof Christ Church“ ihre Einladung mit der gebuhrenden Diskretion formulierten, um eine mogliche Ausreisenicht zu gefahrden. Zum Thema der Emigration Jacobys siehe weiterhin Mensching (Anm. 1) 43––51 undWittram (Anm. 1) 117––129.

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Gedachtnisfeier sollen nicht unsere Bemuhungen, sondern Jacobys Leistung im Mittel-punkt stehen.22

***

Das Thema, das ich im Folgenden behandeln mochte, ist angekundigt als „Die Debatteuber die Struktur der ,Fragmente der griechischen Historiker‘“. Die Frage, wie das fastunubersehbare Trummerfeld der griechischen Geschichtsschreibung einigermaßen ver-messen und ubersichtlich strukturiert werden konne, ist von Jacoby bekanntlich schon zuBeginn seines Projekts, im programmatischen Klio-Aufsatz von 1909, als die eigentlichewissenschaftliche Herausforderung im Zusammenhang mit der neuen Sammlung be-schrieben worden.23 Sie stellt gleichsam die Grundfrage dar. Auf Jacobys Ringen mit ihrwirft nun eine Reihe bisher unbekannter und teils noch unveroffentlichter Texte aus sei-nem Nachlaß ein neues und, man darf wohl sagen, bisweilen uberraschendes Licht. Eshandelt sich hierbei um Dokumente, aber auch um �ußerungen in Briefen Jacobys undvon solchen seiner Kritiker. Es ist vorwiegend anhand dieser Materialien –– die wichtig-sten Stucke sind als Appendices B––D angefugt –– , daß ich das Thema hier angehenmochte.

Als Einstieg in die Diskussion mochte ich auf den eben zitierten Brief vom 17. Okto-ber 1959 zuruckkommen, und zwar auf die Stelle, an der Jacoby Bloch anvertraut, welche„wirklich große Freude“ ihm dessen Gnomonrezension am Ende seiner von Gluck undUngluck gepragten Karriere gemacht habe. Diese Freude sei nur mit der Empfindung zuvergleichen, die ihm die Lekture von von Wilamowitz Anzeige vor fast 40 Jahren bereitethabe.24 Jacoby hatte gewiß eine Reihe von Grunden, weshalb ihm Anerkennung seitensvon Wilamowitz besonders willkommen war.25 Was aber dessen Besprechung heraushebt,

22 Nur einen Punkt mochte ich hinsichtlich Bloch, dessen Verdienste um FGrH durch die Beschaffung vonGeldern fur die Publikation, durch die Hilfe bei den Korrekturen und durch die Diskussion verschiedenerhistorischer und philologischer Probleme zu Lebzeiten Jacobys keineswegs gering zu veranschlagen sind,ganz kurz streifen: auf der Basis seiner Korrespondenz mit Jacoby und aufgrund der Auskunfte, die ichselbst von ihm erhalten habe, fallt es schwer, sich der Meinung von Glenn Bowersock anzuschließen, derdie grundsatzliche Verwirrung („the fundamental confusion“), die Jacobys Projekt charakterisiere, als denHauptgrund dafur ausfindig gemacht zu haben meint, weshalb „after Jacoby’s death the impeccable scholarwho was supposed to continue the work [. . .] never found himself in a position to do so.“ (G. Bowersock,Jacoby’s Fragments and Two Greek Historians of Pre-Islamic Arabia, in: G. W. Most [Hg.], Collecting Frag-ments. Fragmente sammeln (Aporemata 1), Gottingen 1997, 173––185, besonders 174). Ich bin nach wie vordavon uberzeugt (und hoffe, dies in der Zukunft noch zu begrunden), daß sich Bloch Jacoby gegenubernicht nur ehrlich und ernsthaft, sondern auch in voller Kenntnis der Komplexitat der auf ihn zukommen-den Aufgabe engagiert hat. Sein Bekenntnis: „I profoundly regret that circumstances in my life made itimpossible for me to continue and complete Felix Jacoby’s monumental work“, verdient Glauben (brieflicheMitteilung Blochs vom 7. Juli 1992).

23 �ber die Entwicklung der griechischen Historiographie und den Plan einer neuen Sammlung der griechi-schen Historikerfragmente, Klio 9, 1909, 80––123 (= H. Bloch [Hg.], Abhandlungen zur griechischen Ge-schichtschreibung von Felix Jacoby zu seinem achtzigsten Geburtstag am 19. Marz 1956, Leiden 1956,16––64).

24 DLZ 22, 1926, 1044––1047.25 �ber Jacobys enges Verhaltnis zu U. von Wilamowitz siehe Wittram (Anm. 1) 46––52. Die doppelte Erwah-

nung von v. Wilamowitz in den soeben vorgestellten Briefen ist ein Beleg dafur, daß sein beruhmter Berli-ner Lehrer fur ihn tatsachlich, wie er sagt, einer der „zwei toten“ war, mit denen er „in dauerndem geistigenconex“ lebte (Brief von Jacoby an Otto und Jochen Stenzel des 27. Marz 1936; hier zitiert nach Wittram[Anm. 1] 51). Der andere dieser beiden ,Intimi‘ war sein Kieler Kollege Julius Stenzel, Professor fur antikePhilosophie.

434 G. Schepens, Debatte uber die Struktur der FGrH

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war ohne Zweifel die Tatsache, daß der große Berliner Philologe mit Nachdruck fur dieFreiheit Jacobys eintrat, seine Sammlung so gestalten zu durfen, wie er das wollte. DieEinwande anderer Kritiker bezeichnete von Wilamowitz in einem Brief (siehe AppendixB), den er wenige Stunden nach Empfang des Buchs an Jacoby schickte, als „dumme�berheblichkeit“.26 Er nahm darin Bezug auf die Vorrede zu FGrH II, in der sich Jacobymit zwei deutschen Historikern auseinandersetzt, die sich kritisch uber die Sammlunggeaußert hatten. Der eine hatte eine alphabetische, der andere eine chronologische An-ordnung der Autoren vorgezogen. Dazu erklart von Wilamowitz:

„Ich habe Ihre Vorrede mit Wut gelesen [. . .] Es ist ja ganzlich gleich-giltig, ob einer sieht, das hatte sich auch anders machen lassen [. . .]Wer so viel leistet, hat nicht nur das Recht seinem Urteil u[nd] seinerNeigung zu folgen, er wurde es ja sonst gar nicht durchfuhren.“

Es steht auch dank verschiedener Belege in der Korrespondenz zwischen Jacoby undBloch außer Zweifel, daß Jacoby sein ganzes Leben hindurch –– bis in die 50er Jahre ––hinsichtlich der Frage nach der Struktur seiner Fragmentsammlung besonders empfind-lich war. So schickte er am 20. September 1952 nach der Lekture von Roos’ Besprechungvon FGrH III B27 sogleich eine Nachricht an Bloch: „[. . .] da haben wir die erste (?)offentliche anerkennung, dass die anordnung nach gattungen sich als richtig erwiesenhat.“ Bemerkenswert ist die in einer Fußnote gegebene Erlauterung des Fragezeichens:„d. h. nach Wilamowitz, der von anfang an zustimmte.“ Ebenfalls erwahnenswert ist dieReaktion Jacobys auf Gommes Besprechung in Classical Review des Jahres 1953,28 in derder Rezensent die als problematisch empfundene Struktur von FGrH nochmals anhandeiniger konkreter Beispiele erortert. Hier erhofft sich Jacoby, daß diese „Quangeleienuber die disposition des ganzen werkes“ bald aufhoren, und sieht sich angesichts derKritik Gommes in seinem auch sonst nicht sonderlich positiven Urteil uber den Thuky-dides-Kommentator bestatigt.29

Die angefuhrten Stellen genugen im Grunde bereits um zu zeigen, daß die Diskussionuber die Struktur der Sammlung ein Thema war, das Jacoby bis ins hohe Alter verfolgte.Hier sei daher nur noch eine weitere Passage aus einem Brief an Bloch vom 7. Novem-ber 1950 zitiert, da sie ein anschauliches Bild vom abschatzigen Urteil Jacobys uber dievon einigen Kollegen geforderte alphabetische Reihenfolge vermittelt:

„[. . .] Ich bin sehr froh, dass Sie mit der anordnung der autoren ein-verstanden sind. meine hoffnung ist, dass der gelegentlich erhobenewiderspruch nach erscheinen von IIIC (Aegypten––Skythien) verstum-

26 A. Chavez Reino, Felix Jacoby aux prises avec ses critiques: lettres, comptes rendus et scholia Jacobiana, in:C. Bonnet/V. Krings (Hgg.), S’ecrire et ecrire sur l’Antiquite. L’apport des correspondances a l’histoire destravaux scientifiques, Grenoble 2008, 281––300 hat den Brief herausgegeben und eingehend besprochen.

27 In: Museum 57, 1952, 102––104.28 A. W. Gomme, Rez. z. Die Fragmente der griechischen Historiker, III : Geschichte von Stadten und Vol-

kern (Horographie und Ethnographie), B : Autoren uber einzelne Stadte (Lander), Nr. 297––607, hg. vonF. Jacoby, Leiden 1950, CR N. S. 3, 1953, 89––91. Bloch hat denselben Band in AJPh 74, 1953, 288––292besprochen.

29 Der Text ist auf der Ruckseite des Fotos von Jacoby zusammen mit seiner Frau auf der Terrasse des HotelsQuisisana in Baden-Baden (siehe Appendix A, Abb. 3) geschrieben. Jacoby spricht gegenuber Bloch seinenDank fur die lobende Rezension aus, die er dann mit derjenigen Gommes vergleicht: „Der unwillkurlichevergleich mit Gomme bestatigt mein urteil uber den letzteren, dessen gute zeit vorbei ist.“

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men wird. Sonst muss es bei dem bleiben, was ich in der vorrede zum2. Teil gesagt habe: die leute sind nie einverstanden, wenn man nichtnach dem alphabet geht, wo dann die sammlung mit Abas beginnt undmit Xanthos oder (Ps.-) Xenophon schliessen wurde. Ein schauderhaf-ter gedanke!“30

Die Debatte uber die Anordnung hat eine lange Geschichte, deren Ursprung, wie bereitsangedeutet, auf Jacobys Planung der Sammlung in den letzten Jahren des ersten Jahr-zehnts des vorigen Jahrhunderts zuruckgeht. Als von Wilamowitz 1903 vom TeubnerVerlag erfuhr, dieser plane eine Sammlung der Historikerfragmente, schrieb er anE. Schwartz: „eine gewaltige Sache, bei der ich mir zunachst nichts denke“.31 Nur wenigeJahre spater, am 8. August 1908, legte der junge Kieler Professor Jacoby auf dem Berli-ner Internationalen Historikerkongreß einen erstaunlich detaillierten und wissenschaftlichsorgfaltig ausgearbeiteten Plan fur eine solche Unternehmung vor, der den Titel trug:„Ueber die Entwicklung der griechischen Historiographie und den Plan einer neuenSammlung der griechischen Historikerfragmente“.32

Nach einer kurzen, aber scharf formulierten Kritik an der Muller’schen Sammlung, diedurch Unselbstandigkeit, Kritiklosigkeit, Luckenhaftigkeit, oft auch durch unbequemeund vielfach absolut willkurliche Anordnung der Autoren und Fragmente gekennzeichnetsei, unterzieht Jacoby die moglichen Anordnungsweisen einer eingehenden Betrachtungund verwirft sowohl die alphabetische als auch die Anordnung des Materials nach lokalenund chronologischen Gesichtspunkten. Als zweckmaßiges Grundprinzip schlagt er das„entwicklungsgeschichtliche Prinzip“ vor, „die Ordnung der historischen Werke nach lite-rarischen Gattungen“. Diese sei die „[. . .] allein wirklich wissenschaftlich begrundete, furdie Zwecke des Historikers wie des Literarhistorikers einzig brauchbare, auch die gele-gentliche Benutzung nicht ubermaßig erschwerende Gruppierung.“33

Jacoby verbindet dann auch seinen Editionsplan aufs engste mit seiner Sicht der Ent-wicklung der griechischen Historiographie: siehe Abb. 1.

Im Hinblick auf die weitere Besprechung der Struktur der Sammlung ist hier zweierleivon Interesse: (1) Was Jacoby 1909 beabsichtigt, ist eine reine Edition der Fragmente.Von einem Kommentar ist hier noch keine Rede.34 (2) Die „Ethnographie“ steht vor derZeitgeschichte genau an der Stelle, die ihr in Jacobys entwicklungsgeschichtlicher Kon-zeption zukommt. Sie erfullt dort die Funktion eines Bindeglieds zwischen hekataiischerPeriegese und herodoteischer Geschichtsschreibung.

Nach dem ubereinstimmenden Zeugnis der Kongreßteilnehmer erregte Jacobys Vor-trag großes Aufsehen. Die Rede ist von einer lebhaften Debatte,35 die sich nicht zuletzt

30 Eine solche Idee hatte er ubrigens schon im Klio-Aufsatz als „indiskutabel“ beiseitegeschoben: siehe Jacoby(Anm. 23) 81 Anm. 5 (= Abhandlungen, 17 Anm. 5). Vgl. auch Vorrede zu FGrH IIA, Berlin 1926, IV.

31 Brief von U. von Wilamowitz an E. Schwartz vom 9. April 1903, ediert von W. M. Calder III/R. L. Fowler,The Preserved Letters of Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff to Eduard Schwartz. Edited with Introduc-tion and Commentary (SBAW Philosophisch-historische Kl.), Munchen 1986, 54.

32 Jacoby (Anm. 23).33 Jacoby (Anm. 23) 81––83 (= Abhandlungen, 17––20).34 Es ist also nicht korrekt, wenn Bloch in seiner Vorrede zu den „Abhandlungen“ im Hinblick auf den 1909

vorgelegten Plan von einer „kommentierten Ausgabe“ spricht. Die Idee, einen Kommentar zu schreiben,taucht erst spater auf: hierzu siehe unten.

35 Die Deutsche Literaturzeitung (9/10, 1923, 226) beschreibt die Wirkung folgendermaßen: „Ein Plan, diealte Sammlung der Fragmenta historicorum Graecorum [. . .] durch ein neues, auf zehn Bande geschatztes Werk

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Abb. 1

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auf das von Jacoby befurwortete „entwicklungsgeschichtliche Prinzip“ konzentrierte, demvor allem die alphabetische und chronologische Anordnung als ubersichtlicher, verstandli-cher und bequemer entgegengehalten wurde. So außerte sich Paul Marc in der Byzantini-schen Zeitschrift:

„Aber gerade die im Vortrag so anregend und fesselnd wirkende Art,mit der Jacoby seine Disposition aus der allgemeinen Entwicklungsge-schichte der griechischen Historiographie heraus begrundet, zeigt inihrer individuellen Bedingtheit und mit ihren zahlreichen Kompromis-sen am deutlichsten die schweren Gefahren eines solchen Einteilungs-prinzips fur ein Werk, das in erster Linie praktisch und objektiv seinmuss; fur die Nachschlagewerke ist die außerlichste Anordnung, indiesem Fall die alphabetische, stets die beste, weil sie die unzweideu-tigste und allgemeinverstandlichste ist.“36

Im Nachlaß ist ein Dokument erhalten, auf dem sich Jacoby verschiedenes –– teilweisemit Bleistift, teilweise mit Tinte –– notiert hat (siehe Abb. 2). Es tragt den Titel „Planeiner Sammlung der griechischen Historikerfragmente“ und ist nicht datiert. Verschie-dene Indizien zeigen allerdings, daß wir hier Jacobys Exemplar des Handouts zu seinemVortrag am 8. August in der Berliner Philharmonie vor uns haben.

Die Erganzungen mit Tinte stellen Modifizierungen dar, die Jacoby in aller Ruhe nachdem Kongreß vornahm und die, wie wir sehen konnen, schließlich alle in der gedrucktenVersion von 1909 wiederzufinden sind. Die stichwortartigen Notizen mit Bleistift ent-standen wahrend der Diskussion nach dem Vortrag und vermitteln ein Bild von den Fra-gen, die bei dieser Gelegenheit gestellt wurden. Fragen uber die Anordnung gab es of-fensichtlich mehrere: „was fur Sinn, dass Hellanikos, Xanthos und Timaios nebeneinander stehen“ [eine kritische Frage zur gattungsmaßigen Gruppierung der Autoren];„Lokalgeschichte III. V“ betrifft eine relativ heikle Frage nach der Stelle der Lokalge-schichte: zusammen mit Ethnographie in III oder als Produkt der antiquarischen Gelehr-samkeit mit dieser in V einzuordnen? Offenbar sah sich Jacoby auch genotigt zu verdeut-lichen, daß RijekijaŁ und HerrakijaŁ etwas ganz anderes als Periegese[n] sind.

Weitere Fragen bezogen sich auf die Art und die zeitliche Begrenzung der in dieSammlung aufzunehmenden Texte. Den Vorschlag, auch die „Resultate der Quellenfor-schung“ zu berucksichtigen, hat sich Jacoby mit einem vielsagenden Ausrufezeichen no-tiert. Es ist uns einigermaßen gelungen herauszufinden, wer welche Fragen gestellt hat,doch will ich hier nicht auf diese Einzelheiten eingehen.37 Festzuhalten ist allerdings, wasPieper zum Ergebnis der Debatte bemerkt: sie fuhrte zu keinem Ergebnis, „obgleich dieErsten der Altertumswissenschaft ihre Erfahrungen mitteilten.“38 Unter diesen Kory-phaen seien hier besonders die Namen von Eduard Meyer und von Ulrich von Wilamo-witz hervorgehoben.

zu ersetzen, wurde von seinem Urheber, Felix Jacoby, vorgetragen und gegen zahlreiche Einwande hervor-ragender Fachgenossen mit Mut und Geschick verteidigt. Beim Fortgehen dachte wohl ein jeder, daß esschon sein mußte, wenn er es durchfuhren wurde; aber konnte es Ein Mann vollenden?“

36 P. Marc, Mitteilung, ByzZ 18, 1909, 615.37 Siehe hierzu Chavez-Reino (Anm. 26) 292––298.38 M. Pieper, OLZ 10, 1923, 483.

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Abb. 2

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Diese ganze Diskussion hat Jacoby nicht unberuhrt gelassen. Unter dem Titel „Planeiner Sammlung der Griechischen Historischen Tradition“ entwarf er 1915 fur sein Pro-jekt eine neue Struktur, durch die er „den wunschen auf moglichst mechanisch bequemebenutzbarkeit der sammlung entsprechen [wollte]“, ohne das aufzugeben, was er „furwesentlich erachte[te], namlich die vorlage des gesamten materials nach antiken gesichts-punkten geordnet.“

Es handelt sich um einen Entwurf, der vier Folioseiten umfaßt und in JacobyscherKalligraphie geschrieben ist (fur eine Transkription des Textes, siehe Appendix C).39 Wiesich auch aus der formellen Gestaltung mit ihrer fast testamentarisch anmutenden Datie-rung und Unterschrift ergibt, muß Jacoby diesem alternativen Plan einen besonderenWert beigemessen haben. Dennoch ist er außer dem Urheber, seiner Frau und EduardMeyer, der von Jacoby zu Rate gezogen wurde, nur ganz wenigen, wenn uberhaupt ir-gend jemandem, bekannt geworden.40 Auch Herbert Bloch hatte offensichtlich trotz sei-nes regen Briefwechsels mit Jacoby und seiner wiederholten Gesprache mit ihm uberbeinahe alle Probleme von FGrH zu Lebzeiten Jacobys keine Kenntnis von der Existenzdieses Dokumentes und der beiden dazugehorenden Briefe Meyers. Einen ersten Hinweisdarauf erhielt er von Jacobys Sohn Hans, mit dem Jacoby in den Jahren 1956––1959 dieBerliner Wohnung in der Archivstr. 3 teilte. Nach Jacobys Tod teilte dieser dem „vonseinem Vater bestimmten Nachfolger“ in einem Brief vom 21. November 1959 im Zu-sammenhang mit der Inventarisierung und �bersendung noch verbleibender Stucke ausdem wissenschaftlichen Nachlaß auch folgendes mit:41

„Im Nachlaß meines Vaters habe ich schließlich einen offenbar erstenPlan fur die Fragmente mit zwei Briefen von Eduard Meyer aus demJahre 1917 vorgefunden, die ich als Erinnerung zunachst personlichbehalten mochte. Falls sie etwa von wissenschaftlicher Bedeutung seinsollten, stehen sie naturlich zur Verfugung.“

Bloch gab zur Antwort (3.12.1959), daß fur ihn der Plan von 1917 [von Hans Jacobyirrtumlich als ,erster Plan‘ seines Vaters bezeichnet] und der Briefwechsel mit EduardMeyer von „großte[m] Interesse“ sei. Und er fugte hinzu: „ich darf Sie doch bitten, mirdiese leihweise zwecks Abschrift zur Verfugung stellen zu wollen, am besten nach dem1. Januar. Denn das ist sicher wichtig fur die Geschichte der FGrHist.“ Daraufhin uber-ließ Hans Jacoby Bloch den Plan und schickte ihn zusammen mit anderen Dokumentenunverzuglich ab.42 In seinem Schreiben vom 19. Dezember 1959 bestatigt Bloch ihrenEmpfang:

39 Erstpublikation und fotographische Abbildung dieses Dokumentes in ,Appendice A‘ zu meinem Beitrag Ilcarteggio Jacoby-Meyer. Un piano inedito per la struttura dei FGrH, in: Ampolo (Anm. 21), 357––395; be-sonders 382––385 (Text) und 390––393 (fig. 2––5).

40 Eduard Norden muß sicher davon gehort haben. Meyer teilte Jacoby mit, er habe mit ihm „daruber gespro-chen“.

41 Hans Jacoby macht diese Mitteilung in Anschluß an die Aufzahlung der neun in den letztwilligen Verfugun-gen seines Vaters verzeichneten Gegenstande, die nach dessen Wille an Bloch gehen sollten. Jacoby hatteanscheinend nicht die Absicht gehabt, den Plan von 1915 und die beiden Briefe Meyers Bloch zukommenzu lassen.

42 In seiner Antwort an Bloch vom 9.12.59 schrieb Hans Jacoby: „Der Plan der Sammlung der GriechischenHistoriker, der ubrigens aus dem Jahre 1915 stammt, steht Ihnen selbstverstandlich zur Verfugung. Es warmir nicht klar, daß er fur Sie wichtig sein konnte.“

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„Ihre beiden Sendungen sind unversehrt hier eingetroffen (Bande undManuskripte) sowie auch Ihr Brief vom 9. d. M. mit dem Entwurf von1915 und den beiden Briefen von Eduard Meyer von 1917. Fur allesdanke ich Ihnen warmstens. Da ich an der Geschichte der ,Fragmente‘naturlich sehr interessiert bin, ist der Entwurf von 1915 ebenso wich-tig wie die Briefe Eduard Meyers, die auf Grund erst mundlicher unddann brieflicher �usserungen Ihres Vaters seine Ansicht uber die Or-ganisation des Werkes erortern.“

Als wir diese Dokumente im Sommer 2003 im Nachlaß fanden, war es eine wirkliche�berraschung zu sehen, daß hier von Jacoby vorgeschlagen wird, die Fragmente in einemersten Teil der Sammlung in rein alphabetischer Reihenfolge zu edieren. Um diese uner-wartete Entscheidung richtig verstehen zu konnen, muß man sich allerdings bewußt ma-chen, daß der hier vorgelegte Plan aus drei einander erganzenden Teilen besteht. AusJacobys Sicht darf also die eigentliche Edition der Fragmente und ihre Prasentation inalphabethischer Reihenfolge in Teil I nicht losgelost werden von der Gesamtstruktur. In-nerhalb dieser ist der dritte Teil als das eigentliche Herz der Sammlung zu betrachten,sozusagen als ihre Kronung.

Denn in Teil III sollte das gesamte, vor allem auch das umfangreiche anonyme Mate-rial der „Griechischen Historischen Tradition“ vorgelegt werden, „im wesentlichen geord-net nach den von mir seinerzeit entwickelten principien.“ In den thematisch verschiede-nen Einzelbanden von Teil III sollten die Texte aus Teil I, mit anderen Worten dieFragmente der namentlich bekannten Historiker, teils eingeordnet, teils durch Verweisemarkiert werden. Nach diesem Plan waren die Fragmente also zweimal ediert worden:ein erstes Mal in der benutzerfreundlichen alphabetischen Reihenfolge, ein zweites Malim Kontext der gesamten griechischen historischen Tradition, gattungsgemaß und/odersachlich nach folgenden Kategorien geordnet:

1) Mythographie2) Zeitgeschichte des griech. Volkes (joimaiØ i' rsoqiŁ ai, ' EkkgmijaŁ , VqomijaŁ )3) Geschichte jasaØ e� Jmg jaiØ poŁ kei|

4) Antiquarische litteratur und Biographie [falls letztere nicht in be-sonderem band]

5) Geographie

Jacobys Prognose zufolge ware die Edition der Fragmente stricto sensu relativ schnell, indrei Jahren, zu erledigen gewesen. Die Sammlung und Ordnung der Gesamttradition inTeil III betrachtete er als eine weitaus großere Aufgabe, deren Ausfuhrung er sich vonvornherein als ,Teamwork‘, aber strikt unter seiner Leitung vorstellte.

Zwischen diesen beiden Eckpfeilern steht Teil II mit dem Titel De Historia. Er solltealles enthalten, was im Altertum uber Theorie, Technik etc. der Geschichtsschreibungsowie uber Historiker und ihre Aufgabe etc. geschrieben wurde. Diese Rubrik, die in denanderen Strukturentwurfen Jacobys entweder ganz am Anfang (1909) oder ganz am Ende(1923) der Sammlung steht, hat hier im Zentrum einen passenden Platz erhalten: einer-seits als Abschluß der Edition der Fragmente stricto sensu (denn uns sind, abgesehen vonLukians Schrift, die kaum als solche gelten kann, aus dem Altertum keine Werke uber dieTheorie der Geschichte vollstandig uberliefert) und andererseits als ,programmatische‘Basis fur die folgende Darstellung der historischen Tradition, die sich Jacoby auch hiernach „antiken Gesichtspunkten geordnet“ vorstellt.

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Es sei noch bemerkt, daß Jacoby im Rahmen dieses großangelegten Plans zum erstenMal uber sein Vorhaben spricht, den Fragmenten einen Kommentar beizufugen. DieserKommentar sollte knapp gehalten sein und im wesentlichen dazu dienen, die Stellung derbetreffenden Nachricht innerhalb der Gesamttradition erkennen zu lassen. HermannDiels, der Lehrer und mit seinen „Fragmenten der Vorsokratiker“ auch das Vorbild Jaco-bys, soll diesen davor gewarnt haben, durch Einschluß eines Kommentars das Risiko ein-zugehen, seine Arbeit nicht beenden zu konnen. Am Ende seiner allerletzten Vorrede hatJacoby diese „dustere Prophezeiung“, die sich bewahrheitet hat, nochmals in Erinnerunggerufen.43

Wie detailliert Jacoby die Arbeit an diesem erweiterten Projekt bereits geplant hatte,geht u. a. aus dem Layoutentwurf einer Seite fur diese neue Edition hervor, von der ichhier nur einen Ausschnitt zeige (Abb. 3). Er macht deutlich, daß er sich sogar schon uberEinzelheiten des Drucks Gedanken gemacht hatte.

Diese Skizze macht den Vorschlag, den „Kommentar wohl am besten unter der seite“–– unter dem „krit. apparat“ und in „petit“ –– zu drucken, „also nicht in besonderenbanden und nicht unter jedem autor. das blattern ist zu unbequem.“ Wir hatten es wohlalle begrußt, wenn die Edition nach dieser Vorstellung durchgefuhrt geworden ware, und

Abb. 3

43 F. Jacoby, Vorrede zu FGrH III C, Leiden 1958, 7*. In seinem Nachruf auf Felix Jacoby schreibt A. An-drews dazu treffend: „[. . .] his decision to provide this with a comprehensive commentary was of deepimportance in the history of scholarship, but its very completeness was an obstacle to his finishing the workhimself.“ (Times 20.11.1959).

442 G. Schepens, Debatte uber die Struktur der FGrH

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nicht wie jetzt mit dem Kommentar und den Noten zum Kommentar in separaten Ban-den.

Daß Jacoby ernsthaft in Erwagung zog, seine Fragmentsammlung in dieser Form zurealisieren, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß er den Rat Eduard Meyers einholte. Derberuhmte Berliner Althistoriker wurde damals von Jacoby –– und nicht von ihm allein–– als der sicherste Fuhrer durch das historische und philologische Arbeitsfeld betrach-tet.44 Jacoby und Meyer haben ihre Gedanken uber die Organisation des Werkes in vierEtappen ausgetauscht. Am Anfang steht eine mundliche Unterredung, die etwa imMarz/April 1917 stattfand. Der Grund, weshalb es erst so spat zu einem Gesprachuber den Plan vom November 1915 kam, war die Einberufung Jacobys zum Kriegs-dienst; diese erfolgte wenige Tage nach der Redaktion des alternativen Plans.45 Auf diedringende Bitte der Kieler Universitat hin wurde Jacoby dann fur das Wintersemester1916 etwa bis Mitte April 1917 vom Militardienst beurlaubt.46 Das Gesprach mit Meyer,dessen Brief vom 12. April 1917 an Jacoby und Jacobys Antwort vom 14. April 1917datieren in diesen Zeitraum. Soweit mir bekannt ist, ist keine Antwort Jacobys auf Mey-ers letzten Brief vom 30. April erhalten. Das kann, muß aber nicht unbedingt durchden Umstand zu erklaren sein, daß die Universitat keine weitere Unabkommlichkeitsbe-scheinigung fur Jacoby bekommen konnte; er wurde jedenfalls in der zweiten April-halfte wieder eingezogen. Der Text der beiden Briefe Meyers (siehe Appendix D) wurdevor einigen Jahren in den Akten des Toulouser Kolloquiums „S’ecrire et ecrire sur l’An-tiquite. L’apport des correspondances a l’histoire des travaux scientifiques“ von mir undJ. Bollansee herausgegeben und kommentiert.47 Jacobys Antwort vom 14. April 1917wurde 1991 von J. Lansky zusammen mit vier anderen Briefen Jacobys an Meyer verof-fentlicht.48

�ber den Inhalt des Gesprachs zwischen Meyer und Jacoby liegen keine genauen In-formationen vor. Aus dem sich anschließenden Briefwechsel wird allerdings deutlich,daß Meyer die Ideen seines Gesprachspartners außerst alarmierend fand. So ist es be-zeichnend, daß er es war, der im Anschluß an das Gesprach die Initiative zur brief-lichen Korrespondenz ergri ff. Sein Schreiben vom 12. April beginnt mit folgenden Wor-ten:

„Ich mochte noch einmal auf die Frte hist. gr. zuruckkommen. DasGesprach, das wir daruber gefuhrt haben, ist mir noch vielfach durchden Kopf gegangen, und ich habe auch mit Norden daruber gespro-chen. Die Sache ist so wichtig, und es hangt von der Anordnung soviel ab, dass man sie nicht reiflich genug erwagen kann.“

44 In seinem Brief an Eduard Meyer vom 5. August 1928 schreibt Jacoby: „[ich] bin jedesmal wieder glucklich,ein mir nur obenhin bekanntes gebiet an der hand des sichersten fuhrers durchwandern zu durfen undmich ganz besonders an Ihrem unbeirrbaren bon sens in rebus historicis, aber auch philologicis zu erfreuen.“Siehe J. Lansky, Funf Briefe Felix Jacobys an Eduard Meyer, in: Eduard Meyer (1855––1930). Zu Werk undZeit, Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universitat zu Berlin, Reihe Geistes- und Sozialwissen-schaften 40.9, 1991, 61––69, besonders 67.

45 Die Einberufung kann ubrigens den konkreten Anlaß zur Erstellung dieses Plans dargestellt haben; sieheG. Schepens/J. Bollansee, La difficile structure de FGrHist. F. Jacoby et E. Meyer s’ecrivent a propos d’unplan inedit de 1915, in: Bonnet/Krings (Anm. 26) 261––279, besonders 271 Anm. 35.

46 Fur Einzelheiten uber den Militardienst Jacobys sei auf Wittram (Anm. 1) 79––82 verwiesen.47 Schepens/Bollansee (Anm. 45).48 Lansky (Anm. 44).

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Meyer wiederholt dann seine schon mundlich ausgesprochene Warnung.

„Ich mochte nun noch einmal warnen, nicht irgend ein Princip alsLeitstern zu nehmen und mit unerbittlicher Consequenz durchzufuh-ren –– was dabei herauskommt, davon ist die Behandlung der romi-schen Kaiser bei Pauly Wissowa ein abschreckendes Beispiel [. . .] –– ,sondern die praktischen Erwagungen und die Bedurfnisse der Benut-zer. Und es ergeben sich meines Erachtens eine Anzahl von Gesichts-punkten ganz von selbst.“

Hier ist nicht der Ort, um im Einzelnen auf den Gedankengang Meyers einzugehen. DieGrundaussage seines Briefes ist aber klar: Jacobys Vorhaben, die fragmentarischen grie-chischen Historiker in alphabetischer Reihenfolge zu publizieren, ist fur ihn ein abscheu-licher Gedanke. Meyer bekniet seinen jungeren Kollegen mit allen moglichen Mitteln ––auch mit dem zweifachen Hinweis auf die Meinung von Jacobys Freund Norden –– , dieseEntscheidung ruckgangig zu machen. Der Brief belegt Meyers hervorragende Kenntnisder griechischen Historiographie und sein vor allem durch praktische Erwagungen gelei-tetes Herangehen an das Problem der Anordnung der Historiker: diese solle grundsatz-lich nach Sachgruppen erfolgen, so daß Zusammengehoriges zusammensteht.

Im Bewußtsein, bei dieser ernsten Angelegenheit eine (Mit)verantwortung zu tragen,schließt Meyer mit den Worten:

„Ich musste Ihnen diese Ausfuhrungen schreiben, da die Sache zu wich-tig ist und zu viel verdorben werden kann, wenn sie verkehrt angefasstwird; und das ware m. E. der Fall, wenn Sie Sich fur die alphabetischeAnordnung entscheiden wurden –– ein Gedanke der mich geradezu ent-setzt hat. Ich sollte meinen, wenn Sie Sich, von allem anderen abgesehn,einmal ernstlich in den Standpunkt des Benutzers hineinversetzen, stattin den des Herausgebers, mussen Sie das selbst erkennen.“

Liest man die Argumentation Meyers, so drangt sich die Frage auf, ob er uber Jacobysneues Projekt wirklich vollig im Bilde war. Wahrscheinlich hatte er wahrend des Ge-sprachs nicht die vier Folioseiten zu lesen bekommen, und wahrscheinlich hatte sich Ja-coby mit einem relativ vagen Hinweis begnugt, etwa von der Art, wie wir ihn in seinerbrieflichen Antwort finden:

„seitdem habe ich meinen plan ja insoweit schon geandert, als ich zu-nachst die eigentlichen u. benannten fragmente zusammenfassen, die un-benannte tradition ausscheiden und besonderem teile vorbehalten will.“

Meyer scheint indes zu glauben, daß Jacoby die im Klio-Aufsatz dargelegten Grundprin-zipien fur die Anordnung ganzlich aufgegeben habe. Er argumentiert jedenfalls, als obsich Jacobys Plan ganz auf den ersten Teil des Triptychons beschranke.

Jacoby beantwortet Meyers Schreiben postwendend am 14. April. Jacobys interessanterBrief wurde, wie bereits erwahnt, von J. Lansky veroffentlicht, der allerdings das Haupt-anliegen des Schreibers nicht zutreffend deutete.49 Ohne Kenntnis des Plans von 1915

49 Lansky (Anm. 44) 61––69 ist der Ansicht, daß Jacoby hier auf Kritiken eingehe, die damals gegen seine imKlio-Aufsatz gemachten Vorschlage zur Strukturierung der Fragmentsammlung formuliert worden seien,und daß er abermals das von ihm befurwortete entwicklungsgeschichtliche Anordnungsprinzip verteidige.

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mußte es fur jeden Interpreten unverstandlich sein, Jacoby in der Rolle eines Befurwor-ters der alphabetischen Anordnung zu begegnen.50 In erster Linie, so argumentiert Jaco-by, musse man an den gelegentlichen Benutzer denken, der sonst seinen Weg in derSammlung verliere. Andererseits schade die allereinfachste Anordnung der Fragmentedem „spezialisten nicht, der sowieso kaum etwas daran hat wenn er zwar die Alexander-historiker, die Atthidographen, die Persika etc. zusammen hat, aber nicht die ohne namengehende tradition uber Persien, Athen, Alexander. Die benannten fragmente“, so fahrtJacoby fort, „sind im verhaltnis zur gesamtmasse der tradition so wenig, dass es nichtviel darauf anzukommen scheint, wenn der fachmann auch sie nicht unmittelbar zusam-men hat.“ Im Anschluß daran betont er, daß die Wahl seines Anordnungsprinzips imZusammenhang mit dem Gesamtplan zu beurteilen sei, worin die „Sammlung der Frag-mente ja nur vorarbeit sein soll fur die der tradition, wo man alles zusammen hat.“ Jaco-by fuhrt in seiner Apologie sogar die starksten Argumente seiner einstigen Kritiker an,indem er die Subjektivitat und Relativitat aller entwicklungsgeschichtlichen Theorien un-terstreicht: „nehmen Sie wieder Diels! er giebt eine ordnung, die die geschichte der philo-sophie widerspiegeln soll. jetzt kommt Reinhardt u. will die grundlage in ganz wesent-lichen punkten erschuttern.“

Trotzdem gesteht Jacoby ein, daß Meyers Brief seinen „ohnehin nicht sehr festen ent-schluss von neuem erschuttert“ habe. Schon durch das Gesprach war er „wieder in zwei-fel geraten“. Da Meyers Vorschlage bis zu einem gewissen Grad seiner ursprunglichenAnsicht entsprechen, schlagt Jacoby folgende, aus funf Hauptteilen bestehende Anord-nung vor:

I Genealogie (unter Einschluß des ganzen Hekataios)II Ethnographie und HorographieIII ZeitgeschichteIV ChronographieV alle ubrigen Autoren.

Diese Anordnung in funf großeren Abteilungen ist in Jacobys Augen „gewiss nicht ide-al“, sie tragt jedoch im wesentlichen den Forderungen Meyers Rechnung, „ohne allzusehrder praxis die prinzipien zu opfern“.

In seiner Antwort begrußt Meyer, daß sich Jacoby in allen wesentlichen Punkten seinerAuffassung angeschlossen habe:

„Es freut mich sehr, dass Sie soweit auf meine Auffassung eingehn. Inallem wesentlichen sind wir ja einig –– auf Einzelheiten kommt esnicht an –– , und so hoffe ich, dass Sie an den Grundzugen des jetztvon Ihnen aufgestellten Plans festhalten werden.“

Sein Schreiben endet mit einer energischen Aufforderung an Jacoby:

„Doch genug davon. Es wird mich aber freuen, wenn wir, wie Sie inAussicht stellen, hier auch einmal in Ruhe uber diese Dinge sprechenkonnen. Hoffentlich kommt bald die Zeit dazu und konnen Sie das

50 Jacoby scheint zunachst großen Wert darauf gelegt zu haben, Meyer noch einmal, und diesmal vielleichtetwas klarer und systematischer als er dies bei ihrem Gesprach getan hatte, zu verdeutlichen, warum ver-schiedene �berlegungen „fur die allereinfachste Anordnung der Trummer“ sprechen.

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grosse Werk, dessen Durchfuhrung fur Sie eine Pflicht ist, der Sie Sichnicht mehr entziehn durfen, bald ernstlich in Angriff nehmen!“

Abgesehen von der Plausibilitat seiner Argumentation war ein weiterer Grund, weshalbMeyer in der Anlaufphase von FGrH Einfluß auf die Gestaltung der Sammlung nehmenkonnte, gewiß auch der Umstand, daß er Vorsitzender des Fachausschusses fur alte undorientalische Philologie der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft war. Auf finan-zielle Unterstutzung von dieser Seite war Jacoby fur die Durchfuhrung seines großenWerkes angewiesen.51

Es hat den Anschein, als ob mit der Diskussion zwischen Jacoby und Meyer einewichtige, vielleicht sogar entscheidende Episode aus der lebhaften Geschichte der De-batte uber die Anordnung von FGrH zum Abschluß oder doch wenigstens zum vorlaufi-gen Abschluß kam.

Beim Erscheinen des ersten Bandes von FGrH im Jahr 1923 legte Jacoby ohne jedeRechtfertigung einen Strukturplan fur seine Sammlung vor, der gegenuber den zehn Tei-len des Plans von 1909 nur noch sechs Unterabteilungen umfaßte:

I: Geschichte der Sagenzeit (Genealogie und Mythographie)II: Universal- und Zeitgeschichte. ChronographieIII: Geschichte von Volkern und Stadten (Ethnographie und Horogra-

phie)IV: Antiquarische Geschichte und BiographieV: GeographieVI: Unbestimmbare Autoren. Theorie der Geschichtsschreibung. Au-

toren- und Sachregister.52

Auf die Frage Blochs,53 warum er diese �nderungen vorgenommen habe, erwidert Jacobyin einem Brief vom 10. Juli 1955 kurz und ausweichend:

„Prinzipiell kann ich nur sagen, dass ich leider versaumt habe, in derVorrede zu Teil I auf den Klio-aufsatz hinzuweisen und die modifizi-rung des dort p. 123 gegebenen planes (10 teile statt der neuen 6) na-her zu begrunden.“

Vergleicht man die Entwurfe miteinander (Abb. 4) so zeigt sich, daß der modifiziertePlan aufs engste mit den �berlegungen der Jahre 1915––1917 zusammenhangt. Diedabei entstandenen Entwurfe nehmen in Umrissen den 1923 veroffentlichten Plan vor-weg.

51 �ber die Schusselposition Meyers innerhalb der „Notgemeinschaft“ siehe W. Unte, Eduard Meyer und dieNotgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, in: W. M. Calder III/A. Demandt (Hgg.), Eduard Meyer. Le-ben und Leistung eines Universalhistorikers, Leiden/New York/København/Koln 1990, 505––537, beson-ders 510––517. Tatsachlich wurde Jacobys Werk von der Notgemeinschaft substantiell unterstutzt. So wer-den im „Bericht der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaften“ von 1922 bei der Aufstellung derDruckkostenzuschusse fur Einzelprojekte Jacobys ,Fragmente‘ mit 45.000 Mark aufgefuhrt –– nach den51.000 Mark fur Wilckens Urkunden der Ptolemaerzeit die zweitgroßte Summe. Siehe Lansky (Anm. 44) 61und Anm. 3.

52 Vorrede zu FGrH I, Berlin 1923, VII.53 Bloch stellte Jacoby diese Frage im Zusammenhang mit seiner Durcharbeitung des Klio-Aufsatzes von

1909 fur dessen Neudruck in den „Abhandlungen“ (Brief vom 4. Juli 1955).

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1915 1917 1923

I: Mythographie I: Genealogie (unterEinschluß des ganzenHekataios)

I: Geschichte der Sagenzeit

II: Zeitgeschichte desgriechischen Volkes(joimaiØ i' rsoqiŁ ai,' EkkgmijaŁ , VqomijaŁ )

II: Ethnographie undHorographie

II.: Universal- undZeitgeschichte.Chronographie

III: Geschichte jasaØ e� Jmg

jaiØ poŁ kei|

III: Zeitgeschichte III: Ethnographie undHorographie

IV: Antiquarische litteraturund Biographie

IV: Chronographie IV: AntiquarischeGeschichte und Biographie

V: Geographie V: Alle ubrigen Autoren V: Geographie

VI: UnbestimmbareAutoren. Theorie derGeschichtsschreibung.Autoren- und Sachregister

Die �nderung in den verschiedenen Planen hinsichtlich der Teile II und III stellt keines-wegs ein nebensachliches Detail dar: sie illustriert vielmehr Jacobys Verlegenheit um furdie –– im Jacoby’schen Sinne entwicklungsgeschichtlich inkonsequente, aber durch sach-liche �berlegungen bestimmte –– Kombination von Ethnographie und Horographie einepassende Losung zu finden. Was Jacoby anno 1923 als Plan der Sammlung prasentiert, istzweifellos zu einem nicht unbeachtlichen Teil durch die Diskussionen nach 1909 undnicht zuletzt auch durch die Vorschlage Meyers mitbestimmt worden. Ausgehend vonden Bedurfnissen eines Historikers hat dieser auf eine in inhaltlicher und sachlicher Hin-sicht praktische Anordnung der Fragmente hingewirkt anstelle der von Jacoby als idealbetrachteten –– durch form- und entwicklungsgeschichtliche Kriterien bestimmten ––Gruppierung. Wie sehr sich Jacoby uber den Unterschied zwischen seiner philologischenund Meyers ,historischer‘ Herangehensweise im klaren war, zeigen allein schon die imKlio-Aufsatz formulierten Bemerkungen an die Adresse der Historiker, die die Gattungs-unterschiede in der geschichtlichen Literatur vernachlassigen, unter denen Meyer explizitgenannt wird.54 Durch ihr Gesprach und ihren brieflichen Gedankenaustausch einigtensich Jacoby und Meyer schließlich auf einen gemeinsamen Nenner. Dieser wird von Jaco-by bezeichnenderweise in einer Weise formuliert, die seine Bereitschaft zeigt, hinsichtlichdes entwicklungsgeschichtlichen Prinzips gewisse Kompromisse einzugehen: „Die samm-lung“, so lautet das Fazit, „soll ein anschauliches bild geben vom bestande und moglichstauch von der entwicklung der historischen literatur.“

Abb. 4

54 Siehe Jacoby (Anm. 23) 32––33, mit Anm. 49 und 50.

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Nun stellte aber die aus sachlichen und praktischen �berlegungen gebotene Vereini-gung der beiden großen Erscheinungsformen der Lokalgeschichtsschreibung in e i n e mWerkteil –– Schriften uber griechische Stadte und Volker und solche, die sich mit nicht-griechischen Staaten und Volkern [„Ethnographien“ in Jacobys Terminologie] beschafti-gen –– Jacoby vor das Problem der Einordnung dieses Teils in die Gesamtstruktur vonFGrH. Der Ethnographie wegen mußte dieser Teil v o r der Zeitgeschichte an der Stellestehen, da er in Jacobys entwicklungsgeschichtlicher Vision die Funktion eines Bindegliedszwischen Periegese und herodoteischer Geschichtsschreibung erfullt. Aufgrund der Ho-rographie hingegen mußte dieser Teil entsprechend der von Jacoby postulierten Entwick-lung der griechischen Historiographie aber erst n a c h der Zeitgeschichte zu finden sein.Ohne mit der vorgestellten Losung zufrieden zu sein, entschied sich Jacoby dann„schliesslich doch“, wie er ebenso bedeutungs- wie geheimnisvoll in der Vorrede zuFGrH I eingesteht,55 fur die letztere der beiden Alternativen. Es muß ihm mehr als je-dem anderen klar gewesen sein,56 daß dadurch die im Klio-Aufsatz so energisch befur-wortete und ausfuhrlich begrundete entwicklungsgeschichtliche Anordnung in einem ih-rer wesentlichen Punkte aufgegeben wurde.57 Mit diplomatischem Geschick hat es Jacobybeim eigentlichen Beginn seiner Unternehmung vorgezogen, hier nicht ins einzelne zugehen. Wie er mit guter Selbstwahrnehmung spater seinem Freund Bloch anvertraute,polemisierte er ja ungern in eigener Sache.58

Von nicht geringer Bedeutung ist Meyers Einflußnahme sicher auch dadurch gewesen,daß er Jacoby offenbar wieder zur Realisierung einer reinen Fragmentsammlung uberre-dete und somit dem „Plan einer Sammlung der Griechischen Tradition“ ein Ende berei-tete. Die vier Folioseiten samt den Briefen Meyers bewahrte Jacoby –– vor aller Weltverborgen –– in seinem Privatarchiv auf. Es ware aber ein Fehlschluß zu glauben, daßdamit der ,alte‘ Plan59 von seinem Urheber ganzlich zu den Akten gelegt worden ware.

55 „Dass ich es mit dieser anordnung allen recht und bequem gemacht habe, kann ich nicht hoffen, schonweil die interessen, mit denen die benutzer an eine fragmentsammlung gehen, zu verschiedene sind. Mir hatsie sich schliesslich doch als die wissenschaftlich allein mogliche erwiesen, ohne dass ich die vorzuge einerrein alphabetischen oder einer moglichst chronologischen anordnung verkennen will.“ (F. Jacoby, Vorrede zuFGrH I, Berlin 1923, VII).

56 Soweit ich weiß, ist dieser Punkt erst in der jungeren Forschung, und zwar im Rahmen einer eher grund-satzlichen Kritik an Jacobys allzu linearen und teleologischen Vorstellungen uber die Entstehung der Ge-schichtsschreibung in der griechischen Welt kritisiert worden, worauf ich hier nicht weiter eingehen will.�ber die Stellung der ,Ethnographie‘ in Jacobys Gesamtkonzept vgl. A. Zambrini, Aspetti dell’etnografia inJacoby, in: Ampolo (Anm. 21) 189––200 und dessen zutreffende kritische Bemerkungen uber die fehlendeKoharenz „tra fondamento teorico e raccolta dei frammenti“ (196).

57 Es darf in diesem Zusammenhang wohl als symptomatisch erachtet werden, daß Jacoby den Begriff der,Entwicklungsgeschichte‘, der im Klio-Aufsatz eine so prominente Rolle spielte, in den publizierten Bandenvon FGrH nicht einmal mehr bei der Besprechung von Fragen der Struktur der Sammlung verwendete.

58 „Ich polemisire ungern in eigener sache“, schreibt Jacoby in einem Brief vom 17. August 1939 an Bloch.Der Kontext ist eine der vielen Diskussionen uber die Frage nach dem Autor der Hellenica Oxyrhynchia, diesich in den Jahren 1939––1950 fast wie ein roter Faden durch ihren Briefwechsel zieht. Nicht weniger als11 Briefe schneiden das Thema an, oft mit ausfuhrlichen und bis ins einzelne gehenden Argumentationen.

59 Mit dieser Bezeichnung nimmt Jacoby in seinem Brief an Bloch vom 17. August 1939 auf seinen Plan von1915 Bezug. Im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Edition der Atthidographen erklart er: „ich habeden text und wollte, sobald ich mit dem text des ersten teiles von III fertig bin, den kommentar schreiben.schon beim textmachen habe ich immer wieder gesehen, wie unmoglich das eigentlich ist, wenn man sichdie ganze �berlieferung jedesmal wieder zusammensuchen muss. ich war drauf und dran, meinen alten planwieder aufzunehmen und erst das ganze material in systematischer weise zu sammeln.“ Auf die Notwendig-keit, Edition und Kommentierung der Fragmente auf der Basis einer Sammlung und eines Studiums der

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In der Diskussion mit Meyer spricht Jacoby die �berzeugung aus, daß eine reineFragmentsammlung, losgelost vom Ganzen der historischen Tradition, kaum Sinn habeund eigentlich nur als Vorarbeit fur eine Sammlung der vollstandigen Tradition gesehenwerden konne. Bei naherer Betrachtung stellt sich heraus, daß dieses Ziel fur Jacobyimmer einen hohen Stellenwert behielt, auch nachdem er davon abgesehen hatte, diesenPlan in die Tat umzusetzen. So betont er in der „Vorrede“ zum ersten Teil von FGrHnicht zufallig die Notwendigkeit, die „Fragmentsammlung“ in jedem Fall durch die„sammlung der historischen tradition“ zu erganzen. Diese Passage erinnert nicht nur imInhalt, sondern bisweilen auch im Wortlaut an das als Teil III vorgestellte Programmvon 1915.

„Eine fragmentsammlung kann sich nun einmal nicht mit der aufgabeder quellenuntersuchung belasten. Auch der kommentar bietet dafurkeinen raum. Fur diese aufgabe kann ich nur auf die erganzung derfragmentsammlung hinweisen, die ich zwar fur schwer realisierbar unddie krafte eines einzelnen ubersteigend, aber nicht fur unmoglich undjedenfalls fur notwendig halte: auf die sammlung der historischen tra-dition, die in der gleichen teilung nach sagen-, zeit-, lokal- und erdge-schichte nicht von autornamen, sondern vom stoffe ausgeht, diesenganz zusammenfasst und ihn durch bequeme technische mittel quel-lenmassig zerlegt.“60

Der Unterschied zum Plan von 1915 besteht darin, daß es sich hier um ein eigenstan-diges Projekt außerhalb der Fragmentsammlung handelt, die sich auf die namentlichuberlieferten Trummer beschranken solle. Dieser wiederholt betonte theoretischeGrundsatz hat aber in FGrH nur relative Gultigkeit. Wer das Werk als Ganzes uber-schaut, kommt wohl nicht um die Feststellung herum, daß „fur Jacoby gegenuber denAutorennamen [. . .] die konkreten historischen Mitteilungen uber Stadte und Lander[immer wichtiger] wurden.“61 Wie Jacoby selbst eingesteht, konnte er ofters der Versu-chung nicht widerstehen, auch anonymes Material in die Sammlung mit aufzunehmen.62

In FGrH III gehort es fast zur normalen Praxis, uberall dort, wo es ihm sinnvoll odernotwendig erscheint, die anonyme Tradition soweit moglich ,innerhalb‘ der Fragment-sammlung mit einzubeziehen. Jacoby, der die auf der Hand liegenden Bedenken gegendieses Verfahren kannte, rechtfertigte sein Vorgehen mit dem folgenden, vielsagendenHinweis:

„Aber solange wenig oder keine hoffnung besteht auf erfullung derschon in der ersten vorrede (und dann wieder in denen zu II A undIII A) als wunschenswert bezeichneten aufgabe –– einer systemati-schen sammlung und ordnung der g e s a m t e n antiken tradition we-

g e s a m t e n Tradition durchzufuhren, kommt Jacoby erneut in einem Schreiben an Bloch vom 25. Juli1947 zu sprechen. Er ermuntert seinen Freund, sein fruheres Arbeitsvorhaben nicht aufzugeben: „I hope,you have not given up, and the RijekijaŁ (+ ¤ IsakijaŁ ), about which we have corresponded when you workedin Italy. I am just writing the commentary on Timaios, and almost on every fragment I have to confess thatit is impossible to comment on the author instead of on the tradition as a whole.“

60 Vorrede zu FGrH I A, 21957 (= 1923), VII.61 Siehe W. Theiler, Nachruf Felix Jacoby, Gnomon 32, 1960, 387––391, besonders 389.62 Vorrede zu FGrH III A, Leiden 1940, 7*––8*.

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nigstens fur die wichtigsten stadte und lander, die nicht von den auto-ren, sondern vom stoffe ausgeht –– , schienen mir die vorteile derdurchbrechung des grundprinzips grosser als seine nachteile.“63

So nahern sich die „Fragmente der griechischen Historiker“, wenn auch nur auf halbemWege und unsystematisch, der noch ausstehenden Realisierung des „Plan[s] einer Samm-lung der Griechischen Historischen Tradition“. Jacoby, so darf man wohl sagen, hat mitdem aufgegebenen Projekt von 1915 nie wirklich ,abgeschlossen‘.

63 Vorrede zu FGrH III C, Leiden 1958, 6* [Hervorhebung im Original]. Siehe auch die Bemerkungen vonJacoby in seinem Brief an Bloch vom 27. Dezember 1948: „I am going on with the ethnographers, furnish-ing the first two sections –– Egypt and Aethiopia –– with long appendices in order to show what thesebooks contained.“

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Appendix A: Fotos

Abb. 1 Felix Jacoby mit ,Haustochter‘ Brigitte auf der Terrasse des Hotels Quisisana in Baden-Baden(September 1959) (Foto: Max Weiss)

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Abb. 2 Zeichung aus den Kieler Neuesten Nachrichten (Sonnabend/Sonntag 23. und 24. Januar 1932)

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Page 28: Die Debatte über die Struktur der Fragmente der griechischen Historiker

Abb. 3 Felix Jacoby mit Frau Margarethe auf der Terrasse des Hotel Quisisana in Baden-Baden(September 1953) (Foto: Max Weiss)

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Abb. 4 Oxford Souvenir 1952

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Appendix B: Brief von U. von Wilamowitz an F. Jacoby, 5. Februar 192664

Charlottenb(ur)g 95 II 26

Hochgeehrter Herr College

In staunender Bewunderung Ihres Buches, das ich erst einige Stunden habe, muß ich Ihnengleich danken. Ich kann kaum darauf rechnen, ihm noch so viele Arbeit zu widmen, wie esverlangt, und wie ich es an Bd I getan habe, aber freuen werde ich mich immer wiederdaran, nicht bloß weil ich viel lerne, sondern weil Sie etwas fertig machen, wo die meistennur das Wollen, vielleicht das Konnen, aber nicht das Vollbringen haben. Und dann weil Siees machen, wie Sie wollen. Ich habe Ihre Vorrede mit Wut gelesen; die Kritiken der Histo-riker kenne ich nicht oder habe ich vergessen, aber es ist ja dum(m)e �berheblichkeit. Esist ja ganzlich gleichgiltig, ob einer sieht, das hatte sich auch anders machen lassen –– jj inden meisten Fallen hatte er weiter denken sollen u(nd) einsehen, daß er Undurchfuhrbareswollte, eher einerlei. Wer so viel leistet, hat nicht nur das Recht seinem Urteil u(nd) seinerNeigung zu folgen, er wurde es ja sonst gar nicht durchfuhren. Aber ich gehe weiter. Ichsehe, daß Sie die einzelnen Personen ungleich behandeln, nach Neigung, so daß Poseidoni-os stark bevorzugt ist. Gerade das freut mich, nicht weil es an sich recht ware, sondern weiles individuell ist, weil man nicht bloß den Sammler und Emendator der �berlieferung son-dern den Menschen hort, der hinter allem steht.

Also ich sage, Sie haben auch da die Sache richtig empfangen, wo ich glaube, daß jjdie Ergebnisse nicht richtig sind, u(nd) wenn einer sich dann mit Ihnen aus einandersetzt, so kann er es nur auf Grund von Ihrer Leistung. In dem Falle werde ich sicherlichsein; ebenso werde ich mich von eingewurzelten Ansichten bekehren –– dazu bin ichimmer noch nicht zu alt.

Und wenn Sie, wie es im(m)er geht, die rechte Resonanz auf Ihr Buch vermissen wer-den: bei mir werden Sie sie hoffentlich nicht vermissen.

Mit vollstem Dankein alter Ergebenheit

UWilamowitz

Appendix C: Plan einer Sammlung der Griechischen Historischen Tradition65

Der von mir auf dem Berliner Internat. Histor. Kongress vorgetragene plan (s. Klio IX)hat insofern eine anderung erfahren, als ich den wunschen auf moglichst mechanischbequeme benutzbarkeit der sammlung entsprechen will, ohne das aufzugeben, was ichfur wesentlich erachte, die vorlage des gesamten materials nach antiken gesichtspunktengeordnet.

Es soll daher die sammlung in drei teile zerfallen, deren jeder ein selbstandiges lebenfuhren kann.

Teil I

tritt an die stelle der Mullerschen FHGr.; er enthalt die benannten autoren und was vonihnen erhalten ist, die eigentlichen ,Fragmente der Historiker‘. das ordnungsprincip soll

64 Herausgegeben von Chavez Reino (Anm. 26).65 Fur eine photographische Reproduktion dieses Dokumentes siehe Schepens (Anm. 39), fig. 2––5.

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hier das rein alphabetische sein. ich habe mich uberzeugt, dass die oft gewunschte her-ausnahme besonders bedeutender autoren (jeder denkt naturlich an andere) und ihrevereinigung in einem besonderen bande unpraktisch ist. es folgen sich also die autorenohne rucksicht auf ihre zeit und art in alphabetischer folge. unter den einzelnen auto-ren stehen Testimonia und Fragmente, jeweils durchnummerirt, sodass allereinfachstecitirweise moglich ist (Kallisth. T XII oder F 3) ohne band-, seiten- u. a. angaben.unter den Fragmenten stehen zuerst die mit buchtiteln versehenen, geordnet nach wer-ken; dann die ohne buchtitel, alphabetisch nach fundorten; dann zweifelhaftes; zuletztunechtes.

Zu den Fragmenten wird ein moglichst knapper kritischer apparat und ein kurzer kom-mentar gegeben, der wesentlich dazu dient, die stellung der betreffenden nachricht inner-halb der gesamttradition erkennen zu lassen. modernen vermutungen soll, auch wo sieerwahnt werden mussen, auf die anordnung kein einfluss gewahrt werden. ex. gr. be-kommt ein einmal erwahnter RxriceŁ mg| seinen eigenen platz in der sammlung, nicht aufgrund einer wie immer zu beurteilenden vermutung unter RxrtŁ ko|. ebensowenig werdenhandschriftlich verlorene autorennamen willkurlich erganzt. ex. gr. Schol. Apoll. Rh. jj I1165 ** e¤ m sx“ i sqiŁ sxi sg“ | MgriaŁ do| wird mit ahnlichen stucken in einen Anhang der Ano-nymoi aufgenommen. in diesem anhang werden ferner zusammengestellt die unbestimm-ten citate (rtccqauei“ |, ltJocqaŁ uoi, e� mioi sx“ m jsk., RaliŁ xm x‹ qoi), soweit es sich um wirk-liche citate handelt, und die auf papyri erhaltenen historischen stucke, die sich nicht mitabsoluter sicherheit bestimmten autoren zuweisen lassen.

Teil II

De Historia wird alles enthalten, was im altertum uber Theorie, Technik etc. der Ge-schichtsschreibung, uber Historiker und ihre aufgabe etc. geschrieben ist. vorbehaltlichetwaiger anderungen nach zusammenbringung des gesamten, recht reichlichen materials,stellte ich mir dafur die folgende disposition auf

I Auctores de historia et de historicis (zeugnisse u. fragmente z. b. von HeoŁ dxqo| CadaqetØ |

PeqiØ ' IrsoqiŁ a| a, JaijiŁ kio| PeqiØ ' IrsoqiŁ a|, Lukians Px“ | dei“ jsk. u. a. PaqJeŁ mio| PeqiØ

sx“ m paqaØ soi“ | i' rsoqijoi“ | keŁ n. fgs. u. s. w.)

II De arte historiam scribendi

A) allgemeine grundsatze in zusammenstellungen von den autoren, fur die das moglichist (d. h. im wesentlichen fur die erhaltenen), z. b. fur Thukydides alles, was er an theoret.u. technischen vorbemerkungen giebt.

B) Einzelnes§ 1) e� paimo| sg“ | i' rsoqiŁ a| (und auch einzelner ceŁ mg) [stellen wie Liv. praef. 10; Polyb. I 1;Sallust. Catil. 1 ff., Iug. 4, Diodor I 1––3 u. s. f.]§ 2) SeŁ ko| sg“ | i' rsoqiŁ a|. ex. gr. Duris b. Phot. cod. 176. Marcellin. vit. Th. 26. 48.Diod. X 12. Polyb. I 4,11. 14,4. II 35. 56. u. s. f.hier u. uberall wird, soweit ich bisher sehe, als ordnungsprincip das sachliche ange-bracht sein (mit moglichst vielen verweisungen), nicht die ordnung nach autoren, dieals spate excerptoren z. t. gleichgiltig sind. also z. b. gruppen: ¤AkgŁ Jeia, weŁ ceim jaiØ e¤ pai-

mei“ m; pqoØ o¤ llaŁ sxm siJeŁ mai etc. etc., sodass sich die geschichte der auffassungen ablesenlasst.

456 G. Schepens, Debatte uber die Struktur der FGrH

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§ 3) Definitionen der Historie u. ihre stellung innerhalb der litteratur (z. b. Diod. I2,7––8. Aristot. poet. 9; Marcell. vit. Thuc. 41.§ 4) CeŁ mg u. ei� dg der Historie (a) Historikerkataloge etc. (b) aufzahlungen der ceŁ mg (c)die einzelnen ceŁ mg.§ 5) LeŁ qg sg“ | ' IrsoqiŁ a| (z. b. Geographie u. Gesch.: Diod. I 4,1. Polyb. II 14,3. III 36u. a.; Verfassungsgesch.: Polyb. III 118,11 u. a. m.) jj§ 6) Theorie und Methode: z. b. einfuhrung des gottl. elements in histor. darstellung;uber aufnahme der Mythengeschichte; uber die behandlung von varianten etc.hierfur ist vielmehr vorhanden an theoret. ausserungen, als man gemeinhin glaubt.§ 7) SeŁ vmg. sachlich geordnet die zeugnisse u. vorschriften z. b. uber Oekonomie, ge-brauch u. zulassigkeit der exkurse, prooimien, reden, uber wahl des themas, d� desstoffes, uber sprache u. stil etc. etc.§ 8) Terminologie: vermutlich am besten in lexikalischer form.

III De artifice (Der Historiker)

s. ex. gr. personliche grunde, aus denen man geschichte schreibt (Liv. praef. 5); sach-liche und sittliche forderungen an den historiker (ex. gr. Polyb. II 62,2; Sallust. Cat.4,3; Hist. I 6,11. u. w.).

Teil III

Die Historische Tradition, im wesentlichen geordnet nach den von mir seinerzeit ent-wickelten principien. die einzelnen, sachlich verschiedenen bande, in die die namentlichbekannten historiker von teil I teils einzuordnen teils durch verweise zu markiren sind,sind folgende:

1) Mythographie2) Zeitgeschichte des griech. Volkes (joimaiØ i' rsoqiŁ ai, ' EkkgmijaŁ , VqomijaŁ )3) Geschichte jasaØ e� Jmg jaiØ poŁ kei|

4) Antiquarische litteratur und Biographie [falls letztere nicht in besonderem band]5) Geographie.

ordnungsprincip durfte in allen fallen das sachliche sein, jeweils nach der natur des stof-fes modificirt. fur 1 und 2 also die chronologische anordnung nach grosseren zeitraumen(z. b. Troia –– Ol. 1; Zeit der Tyrannen; Perserkriege; Pentakont.; Peloponn. krieg; Biszum Antialk-Frieden u. s. f.). hier wie uberall werden zunachst die gesamtdarstellungendes betreffenden zeitraumes (auch kurze zusammenfassungen, uberblicke) gegeben –– obdie erhaltenen autoren zu verzetteln oder durch kurze skizzen des inhalts zu ersetzensind, wird zu erwagen sein –– , dann die einzelnachrichten (entweder chronologisch odernach fundstellen geordnet). fur no. 3 ist die geographische jj anordnung gegeben. sonstauch hier a) gesamtdarstellungen (ex. gr. fur Aegypten Herod. II, Diodor I) b) einzel-nachrichten; diese am besten wieder sachlich geordnet nach geschichtlichen, topographi-schen, moŁ loi u. s. w. fur no. 4 ergiebt sich das sachliche princip von selbst: PeqiØ Jex“ m;

PeqiØ e' oqsx“ m; PeqiØ Et' qglaŁ sxm; PeqiØ poigsx“ m; PeqiØ ¤Akjla“ mo|; PeqiØ dglacxcx“ m; PeqiØ

HelirsojkeŁ ot| etc. etc.Hauptsache ist, dass hier wirklich das ganze material vorgelegt wird, was allerdings die

krafte eines einzelnen ubersteigt. immerhin wird nur ein mann die verteilung des materi-als besorgen konnen. es ergiebt sich schon daraus, dass Teil I, an dem ich jetzt arbeite,

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zuerst in angriff zu nehmen ist, wie er ja auch wohl am sehnlichsten erwartet wird. wah-rend der arbeit an diesem bande wird material fur die ubrigen gesammelt, indem das beider lekture samtlicher autoren als aufzunehmen festgestellte, auf zettel mit uberschriftennach obigen fingerzeigen notirt wird (die lekture ist im gange; die zettel sind angelegt u.konnen seinerzeit den bearbeitern ubergeben werden). ich halte es fur wichtig, erst mei-nerseits Teil I zu ediren –– ich rechne hierfur etwa 3 jahre ; freilich ist das z. t. abhangigvon der moglichkeit, mir wahrend dieser zeit ein semester urlaub zu verschaffen –– ,dann wenigstens teile von III 3, dessen bearbeitung ich mir vorbehalte. mindestens eineprobe, fur die ich an die ziemlich schnell zu machenden KtdiajaŁ oder PeqrijaŁ denke.dann wird es zeit sein, sich nach mitarbeitern umzusehen, die III 1.2.5 ubernehmenkonnten. im falle ich mir eine schreibhilfe verschaffen kann, werden diese bearbeiterdann einen teil des materials bereits in excerptenzetteln erhalten. fur das excerpiren derautoren muss, dies wiederhole ich, ein mann verantwortlich bleiben. mechanische arbeitbezahlter krafte ist da ausgeschlossen. hochstens konnten gewisse teile der litteratur z. b.Kirchenhistoriker u. a. (naturlich von autoren wie Clemens, Euseb etc. wieder abgese-hen) von instruirten fachleuten auf alle historischen daten durchgearbeitet werden. daskann vielleicht mit durcharbeiten dieser litteratur zu anderen zwecken verbunden wer-den.

Kiel-Kitzeberg17 Nov 1915

F. Jacoby

Appendix D: Zwei Briefe Eduard Meyers an Felix Jacoby

1. Brief des 12. April 1917

Berlin-Lichterfelde, Mommsenstrasse 7/8d. 12 April 1917

Verehrter Herr College!

Ich mochte noch einmal auf die Frte hist. gr. zuruckkommen. Das Gesprach, das wirdaruber gefuhrt haben, ist mir noch vielfach durch den Kopf gegangen, und ich habeauch mit Norden daruber gesprochen. Die Sache ist so wichtig, und es hangt von derAnordnung so viel ab, dass man sie nicht reiflich genug erwagen kann.

Ich mochte nun noch einmal warnen, nicht irgend ein Princip als Leitstern zu nehmenund mit unerbittlicher Consequenz durchzufuhren –– was dabei herauskommt, davon istdie Behandlung der romischen Kaiser bei Pauly Wissowa ein abschreckendes Beispiel:kein Mensch kann einen von ihnen auffinden und sagen, unter welchem Namen sie be-handelt sind und in welchem Band sie stehen! –– , sondern die praktischen Erwagungenund die Bedurfnisse der Benutzer. Und es ergeben sich meines Erachtens eine Anzahlvon Gesichtspunkten ganz von selbst. jj

Was man in allererster Linie von Ihnen erwartet, und was ja Ihre besondere Specia-litat ist, sind die auctores antiquissimi, die ,Logographen‘ bis auf Hellanikos und Dama-stes. Diese will man ubersehen und zusammen haben, sie bilden eine in sich geschlos-sene Gruppe, stehen auch durch das �berlieferungsmaterial in Zusammenhang usw.Es ware furchtbar und wurde den Nutzen Ihres Werkes aufs schwerste schadigen undauf die Halfte reduciren, wenn man sich diese aus 10 Banden zusammensuchendnicht im Zusammenhang lesen konnte, wenn Hekataos, Akusilaos, Pherekydes, Antio-

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chos, Hellanikos, Damastes und was dazu gehort alles von einander gerissen unddurch alle Bande zerstreut waren. An diese Autoren schliesst sich Ktesias, der Nach-zugler der Logographen, und weiter die ubrigen Persica (Deinon, Herakleides) unmit-telbar an. Am richtigsten ware es meines Erachtens, dann auch [ras.] die Horographen(die ja guten Theils eben in diese Zeit gehoren) daran anzuschliessen und ihnen dieAtthiden anzufugen, wenn die auch in spatere Zeiten hinabreichen –– das schadet jagarnichts.

Das ware also der erste Band. Ganz ebenso liegt es nun aber mit der grossen Ge-schichtsschreibung des 4. Jhdts, von Thukydides bis zu den Diadochen, Hieronymos,Duris, Nymphis. Auch die sind garnicht aus einander zu reissen –– und auch hier kommt,wie im ersten Bande, in Betracht, dass wir von einer grossen Zahl derselben eine ansehn-liche Masse �berreste haben und uns so ein wirkliches Bild von ihnen machen konnen.Und ganz unmoglich ist es ja, z. B. die Alexanderhistoriker alphabetisch auf alle Bandezu vertheilen; jj die Folge wurde sein, dass man fur alle praktischen Zwecke, fur denHandgebrauch und z. B. fur Seminarubungen doch immer wieder zu Muller wurde grei-fen mussen.

Am ratsamsten wurde ich es halten, diesen Band bis auf Polybios auszudehnen. Einegrossere Masse bildet da ja nur noch Phylarch, von den ubrigen haben wir kaum etwasernstliches ubrig (nur etwa noch Arat). Ob Sie dann [ras.] nicht am besten gleich in der-selben Weise weiter fortfahren, und die Frte der Zeitgeschichte bis zum Ende der Kai-serzeit daran anreihen, ist weiter zu uberlegen, erscheint mir aber als das zweckmassigste.Agatharchides z. B. schlies(s)t sich ohne weiteres an, Strabo, Timagenes u. a. ebenso. Undwelchen Sinn hatte es, z. B. die Historiker des Partherkriegs des Marcus und Verus, diewir zufallig durch Lucian kennen, alphabetisch zu verzetteln, wo Niemand etwas mit ih-nen wurde anfangen konnen?

In derselben Weise sondern sich andere geschlossene Gruppen ab. So konnen die Peri-patetiker unmoglich aus einander gerissen werden, und ebensowenig die Chronographenvon Eratosthenes ab bis auf die christl. Zeit; ferner die Mythographen u.s.w. Fur sehrnutzlich wurde ich es ferner halten, wenn die Lokalgeschichte, einmal die Stadtgeschichteund sodann die der Landschaften und Volker, zusammengefasst wurden, so dass manden Bestand dieser unendlich reichen Literatur ubersehn kann. Was dann ubrig bleibt,ergibt die farrago der alphabetisch geordneten, die dann aber gegen Muller Bd IV ganzbetrachtlich zusammenschrumpfen.

Der Einwand, den sie erheben, dass manche Autoren verschiedenen Gruppen angeho-ren (wie z. B. Duris), ist naturlich richtig, darf aber nicht Ausschlag gebend sein. Damuss man a potiori doch nach Willkur jj verfahren, ganz wie es jeder von uns macht,wenn er derartige Autoren in seine Bibliothek einordnen muss.

Auf der anderen Seite ermoglicht, worauf ich noch einmal hinweisen muss, allein einsolches Verfahren eine gedeihliche Bearbeitung und Publication der Frte; im anderenFalle, bei alphabetischer Anordnung, wurden, wenn Sie auch noch so sorgsam arbeitenund in Folge dessen die Drucklegung noch so lange hinausschieben mussen, die erstenBande notwendig uberholt und veraltet sein, wenn die letzten erscheinen; denn da greiftnun einmal alles ineinander.

Ich musste Ihnen diese Ausfuhrungen schreiben, da die Sache zu wichtig ist und zuviel verdorben werden kann, wenn sie verkehrt angefasst wird; und das ware m. E. derFall, wenn Sie Sich fur die alphabetische Anordnung entscheiden wurden –– ein Gedankeder mich geradezu entsetzt hat. Ich sollte meinen, wenn Sie Sich, von allem anderen ab-

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gesehn, einmal ernstlich in den Standpunkt des Benutzers hineinversetzen, statt in dendes Herausgebers, mussen Sie das selbst erkennen.

Ich bemerke noch, dass Norden mit meinen Ausfuhrungen durchaus einverstanden ist.Mit hochachtungsvollem GrussIhr ganz ergebener

Eduard Meyer

2. Brief des 30. April 1917

Berlin-Lichterfelde, Mommsenstrasse 7/8d. 30 April 1917

Verehrter Herr College!

Haben Sie besten Dank fur Ihren Brief ! Es freut mich sehr, dass Sie soweit auf meineAuffassung eingehn. In allem wesentlichen sind wir ja einig –– auf Einzelheiten kommtes nicht an –– , und so hoffe ich, dass Sie an den Grundzugen des jetzt von Ihnen aufge-stellten Plans festhalten werden. Was Apollodor angeht, nach dem Sie fragen, so gehorter in einer Sammlung der Fragmente der Historiker mit Notwendigkeit zu den Chrono-graphen, bei denen ja ohne ihn ein ganz wesentliches Moment der �berlieferung fehlenwurde –– in einer Sammlung der Mythographen ware die Sache naturlich anders. Dasgleiche gilt ja, wie Sie selbst bemerken, von Eratosthenes.

�ber Xanthos, Ktesias u. a. wollen wir nicht streiten. Das lasst sich pro et contra in

infinitum disputieren, und ich habe garnichts dagegen, wenn Sie in solchen Fallen die Ent-scheidung schliesslich dem Zufall oder dem Loose uberlassen. jj

Bei Ktesias liegt mir nur daran, zu betonen, dass er historiographisch durchaus einNachzugler der alteren, der sog. Logographen, ist, noch unberuhrt von der neuen Ent-wicklung, die sich wahrend seines Aufenthalts am Perserhof in der griech. Literatur voll-zogen hatte und die durch Thukydides zu Herrschaft gelangt.

Ein Gebiet scheinen Sie mir nicht genugend berucksichtigt zu haben, das sind die Bioi

und die damit zusammenhangenden spateren Bearbeitungen der alteren Griech. Ge-schichte (nebst Kulturgeschichte usw.). Hier bilden die Peripatetiker die Grundlage unddie eigentliche piece de resistance, und diese durfen nicht zerrissen und von einandergetrennt werden, wenn auch Duris zu der Zeitgeschichte und Phanias wohl zu den Ho-rographen gesetzt werden muss (zu denen ja Duris mit den xqoi Ralixm auch gehort).An sie wurden sich dann glaube ich ganz passend Neanthes, Istros, Hermippos usw. an-schliessen. Eine reinliche Scheidung gegen andere Gebiete ist naturlich auch hier nichtdurchfuhrbar; aber es ware sehr gut, wenn man die Hauptmasse dieser Tradition einiger-massen im Zusammenhang ubersehn konnte. Als Vorlaufer kamen dann Ion und Stesim-brotos hierher. Vielleicht liesse sich diese ganze Gruppe mit den Horographen, naturlichin getrennten Abtheilungen, in einem Bande vereinigen. jj

Doch genug davon. Es wird mich aber freuen, wenn wir, wie Sie in Aussicht stel-len, hier auch einmal in Ruhe uber diese Dinge sprechen konnen. Hoffentlich kommtbald die Zeit dazu und konnen Sie das grosse Werk, [ras.] dessen Durchfuhrung furSie eine Pflicht ist, der Sie Sich nicht mehr entziehn durfen, bald ernstlich in Angriffnehmen!

Mit besten GrussenIhr ganz ergebener

Eduard Meyer

460 G. Schepens, Debatte uber die Struktur der FGrH

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Zusammenfassung

Inspiriert vom feierlichen Geist der Gedenkfeier beginnt dieser Aufsatz mit einigen Passa-gen aus Briefen, die Felix Jacoby kurz vor seinem Lebensende geschrieben hat. Unter ande-rem zeigen diese Briefe seine Sorge um das „Schicksal der Historiker“ nach seinem Tod.

Im Hauptteil wird der Fokus auf die heftig diskutierte Struktur der FGrH gerichtet.Briefe und Dokumente, die in Jacobys wissenschaftlichem Nachlaß erhalten sind, be-leuchten bisher unbekannte Phasen in der Geschichte dieser Debatte. In diesem Zusam-menhang von besonderem Interesse sind zwei Briefe, die Eduard Meyer im April1917 geschrieben hat: sie befassen sich mit einem alternativen Plan, den Jacoby im No-vember 1915 als Antwort auf die Kritik an seinem Vorschlag, der 1909 in der Klio ver-offentlicht wurde, entworfen hatte. Dieser neue Plan, genannt „Plan einer Sammlung derGriechischen Historischen Tradition“, sah eine zweifache Edition der fragmentarischuberlieferten Historiker vor: eine in alphabetischer Reihenfolge fur die schnelle und ein-fache Benutzung und eine gemaß der verschiedenen Arten der Historiographie, in deralle Fragmente ihren Platz innerhalb der historischen Tradition als Ganzes einnehmensollten. Meyer uberzeugte Jacoby, eine funfteilige thematische Anordnung zu uberneh-men, die ein Vorlaufer der schließlich verwendeten Struktur der FGrH in sechs Teilen(1923) war. Die verworfene Alternative von 1915 landete zusammen mit dem Brief Mey-ers in Jacobys privatem Archiv. Wie die stets wachsende Bedeutung von Anhangen inFGrH zeigt, in denen die anonyme Tradition gesammelt ist, hat Jacoby seinen Plan, dieAusgabe der eigentlichen Fragmente durch eine Darstellung der historischen Tradition zuerganzen, nie aufgegeben.

Summary

In the commemorative spirit of the „Gedenkfeier“ this paper starts with reading a fewpassages from letters written by Felix Jacoby at the very end of his life. Among otherthings, the letters reveal his concern about the „fate of the Historians“ after his death.

The bulk of this paper focuses on the much debated structure of FGrH. Letters anddocuments preserved in Jacoby’s scientific Nachlass shed light on hitherto unknown sta-ges in the history of this debate. Of momentous importance were two letters written inApril 1917 by Eduard Meyer: they take issue with an alternative plan, which Jacoby haddrafted in November 1915 in response to the criticisms which his proposal, published inKlio 1909, had provoked. This new plan, entitled „Plan einer Sammlung der Griechi-schen Historischen Tradition“, provided for a double edition of the fragmentary histo-rians: one for quick and easy consultation arranged in alphabetic order, and one, in whichall fragments would take their place within the historical tradition as a whole, presentedaccording to different types of historical writing. Meyer convinced Jacoby to adopt afive-part topical arrangement, which prefigures the actual structure of FGrH in six parts(1923). The discarded alternative of 1915, together with Meyer’s letters, ended up in Ja-coby’s private archive. However, as shown by the ever greater importance accorded inFGrH to collecting the anonymous tradition in „Anhange“, Jacoby did not lay to rest hisidea of supplementing the edition of the fragments proper with a presentation of thehistorical tradition to which they belong.

Key words: Felix Jacoby, Eduard Meyer, Fragmente griechischer Historiker, Historiogra-phie, Wissenschaftsgeschichte

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