191
Aphorism id='MAMI-Epilog-1' kgw='IV-2.379' ksa='2.365' 1. Schön ist's, mit einander schweigen, Schöner, mit einander lachen, Unter seidenem Himmels-Tuche Hingelehnt zu Moos und Buche Lieblich laut mit Freunden lachen Und sich weisse Zähne zeigen. Macht' ich's gut, so woll'n wir schwe igen; Macht, ich's schlimm —, so woll'n wir lachen Und es immer schlimmer machen, Schlimmer machen, schlimmer lachen, Bis wir in die Grube steigen. Freunde! Ja! So soll's geschehn? Amen! Und auf Wiedersehn! Page Break id='MAMI' KGW='IV-2.380' KSA='2.366' 2. Kein Entschuld'gen! Kein Verzeihen! Gönnt ihr Frohen, Herzens-Freien Diesem unvernünft'gen Buche Ohr und Herz und Unterkunft! Glaubt mir, Freunde, nicht zum Fluche Ward mir meine Unvernunft! Was ich finde, was ich suche —, Stand das je in einem Buche? Ehrt in mir die Narren-Zunft! Lernt aus diesem Narrenbuche, Wie Vernunft kommt — „zur Vernunft“! Also, Freunde, soll's geschehn? Amen! Und auf Wiedersehn! Nachgelassene Fragmente 1876 bis Winter 1877-1878 [ 16 = N II 1. 1876 ] Page Break KGW='IV-2.383' KSA='8.287' Aphorism n=2487 id='IV.16[1]' kgw='IV-2.383' ksa='8.287'

Nachgelassene Fragmente 1876 Bis Winter 1877-1878

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Nachgelassene Fragmente 1876

Citation preview

  • Aphorism id='MAMI-Epilog-1' kgw='IV-2.379' ksa='2.365'

    1.Schn ist's, mit einander schweigen,Schner, mit einander lachen,Unter seidenem Himmels-TucheHingelehnt zu Moos und BucheLieblich laut mit Freunden lachenUnd sich weisse Zhne zeigen.

    Macht' ich's gut, so woll'n wir schweigen;Macht, ich's schlimm , so woll'n wir lachenUnd es immer schlimmer machen,Schlimmer machen, schlimmer lachen,Bis wir in die Grube steigen.

    Freunde! Ja! So soll's geschehn?Amen! Und auf Wiedersehn!

    Page Break id='MAMI' KGW='IV-2.380' KSA='2.366'

    2.

    Kein Entschuld'gen! Kein Verzeihen!Gnnt ihr Frohen, Herzens-FreienDiesem unvernnft'gen BucheOhr und Herz und Unterkunft!Glaubt mir, Freunde, nicht zum FlucheWard mir meine Unvernunft!

    Was ich finde, was ich suche ,Stand das je in einem Buche?Ehrt in mir die Narren-Zunft!Lernt aus diesem Narrenbuche,Wie Vernunft kommt zur Vernunft!

    Also, Freunde, soll's geschehn?Amen! Und auf Wiedersehn!

    Nachgelassene Fragmente 1876 bis Winter 1877-1878 [ 16 = N II 1. 1876 ]Page Break KGW='IV-2.383' KSA='8.287'

    Aphorism n=2487 id='IV.16[1]' kgw='IV-2.383' ksa='8.287'

  • I Aesthetik II zur Ethik und Glckseligkeitslehre

    Aphorism n=2488 id='IV.16[2]' kgw='IV-2.383' ksa='8.287' Keiner klug Trauung Ruine Mdchen Glck

    Aphorism n=2489 id='IV.16[3]' kgw='IV-2.383' ksa='8.287' Menschen, welche das Talent der Darstellung haben, sehen anden Dingen nur das Darstellbare. Sie begreifen vieles nicht. Soauch die Schriftsteller und Lehrer. Diese Alle denken im Grundeimmer nur an ihr Talent: ob sie sonst besser oder schlechter werden,ist ihnen gleich. Als Mensch, Musiker, Philolog, Schriftsteller, Philosoph in allem merke ich jetzt wie es mit mir steht gleich, berallgleich! Wre ich ehrgeizig, so wre es vielleicht gar nicht zumVerzweifeln: aber da ich es so wenig bin, so ist es fast zumVerzweifeln. Bei Schloss Chillon geschrieben, Abends gegen 6.

    Aphorism n=2490 id='IV.16[4]' kgw='IV-2.383' ksa='8.287' Befreiung. Philolog. Ehe. Lebensalter. Religion. Wagner. usw.

    Aphorism n=2491 id='IV.16[5]' kgw='IV-2.383' ksa='8.287' Leopardi Chamfort Larochefoucault Vauvenargues Coleridge Tischgesprche.

    Page Break KGW='IV-2.384' KSA='8.288'

    bersetzen. Geschichte der Litteratur. ber Philologie. Buch: Die freien Lehrer. 1. Weg zur Befreiung. 2. die Schule der Erzieher.

  • 3. die Wanderer. 4. Heil dem Tode!

    Aphorism n=2492 id='IV.16[6]' kgw='IV-2.384' ksa='8.288' Askese unter der allgemeinen Betrachtung des Selbstmords,ebenso die unegoistische Aufopferung.

    Aphorism n=2493 id='IV.16[7]' kgw='IV-2.384' ksa='8.288' Jeder Mensch hat seine Recepte, um das Leben zu ertragen(theils es leicht zu erhalten, theils es leicht zu machen,wenn es einmal sich schwer gezeigt hat), auch der Verbrecher.Diese berall angewandte Lebenskunst ist zusammenzustellen.Zu erklren, was die Recepte der Religion eigentlich zuStande bringen. Nicht das Leben zu erleichtern sondern leicht zu nehmen. Viele wollen es erschweren, um hinterdrein ihrehchsten Recepte (Kunst Ascese usw.) anzubieten.

    Aphorism n=2494 id='IV.16[8]' kgw='IV-2.384' ksa='8.288' das leichte Leben rheia zoontes Weg zur geistigen Freiheit die Griechen Lehrer Ehe Eigenthum und Arbeit.

    Aphorism n=2495 id='IV.16[9]' kgw='IV-2.384' ksa='8.288' Das leichte Leben.

    Page Break KGW='IV-2.385' KSA='8.289'

    Weg zur Freiheit.Tod der alten Cultur.Lehrer.Weib und Kind.Eigenthum und Arbeit.

  • Aphorism n=2496 id='IV.16[10]' kgw='IV-2.385' ksa='8.289' Unzeitgemsse Betrachtungen.1. Der Bildungsphilister (Falschmnzerei der Bildung).2. Die Historie.3. Der Philosoph.4. Der Knstler.5. Der Lehrer.6. Weib und Kind.7. Eigenthum und Arbeit.8. Griechen.9. Religion.10. Befreiung.11. Staat.12. Natur.13. Geselligkeit.

    Aphorism n=2497 id='IV.16[11]' kgw='IV-2.385' ksa='8.289'1. Natur 18832. Weib und Kind 18783. Eigenthum und Arbeit 18814. Der Lehrer 18825. Geselligkeit 18846. Die Leichtlebenden 18807. Griechen 18798. Freigeist 18779. Staat 1885

    Page Break KGW='IV-2.386' KSA='8.290'

    Aphorism n=2498 id='IV.16[12]' kgw='IV-2.386' ksa='8.290' Sieben unzeitgemsse Betrachtungen 1873-78. Zu jeder Betrachtung Nachtrag in Aphorismen. Spter: Nachtrge zu den unzeitgemssen Betrachtungen(aphoristisch).

    Aphorism n=2499 id='IV.16[13]' kgw='IV-2.386' ksa='8.290' Jeden Tag eine Freude machen Freund.

  • Aphorism n=2500 id='IV.16[14]' kgw='IV-2.386' ksa='8.290' aus der Tugend eine Noth machen

    Aphorism n=2501 id='IV.16[15]' kgw='IV-2.386' ksa='8.290' 1 Tag nichts essen jede Woche. Abends nur Milch und Thee. Tglich 4 Stunden unterwegs. (mit Notizbuch) Sammlung: zur deutschen Sprache. Sentenzen. Unzeitgemsse Betrachtungen 29.37. Lebensjahr 38.48. 49.58.

    Aphorism n=2502 id='IV.16[16]' kgw='IV-2.386' ksa='8.290' Es giebt verschiedene Stufentreppen zur Freiheit. Kann einerauf dieser nicht hinauf (z.B. wenn sein Gemth strrisch ist)so vielleicht auf jener. Die eine Kraft wird dann abnorm starkentwickelt, z.B. der Sinn fr Unabhngigkeit, der so gut zurfreiheit fhren kann wie die Abhngigkeit in Liebe.

    Aphorism n=2503 id='IV.16[17]' kgw='IV-2.386' ksa='8.290' Das Mtterliche ist in jeder Art Liebe: aber nicht dasVterliche.

    Page Break KGW='IV-2.387' KSA='8.291'

    Aphorism n=2504 id='IV.16[18]' kgw='IV-2.387' ksa='8.291' Zeichen einer rcksichtslosen berlegenheit von Seitenbefreundeter Menschen sind sehr schmerzlich und gehen tief in'sHerz.

    Aphorism n=2505 id='IV.16[19]' kgw='IV-2.387' ksa='8.291' Consilia juventutis plus divinitatis habent. Bacon.

  • Aphorism n=2506 id='IV.16[20]' kgw='IV-2.387' ksa='8.291' Mein Styl hat eine gewisse wollstige Gedrngtheit.

    Aphorism n=2507 id='IV.16[21]' kgw='IV-2.387' ksa='8.291' Der Dichter muss ein Ding erst genau sehn und esnachher wieder ungenau sehen: es absichtlich verschleiern. Mancheversuchen dies direkt; aber da gelingt's nicht (wie bei Schiller).Die Natur muss durch das Gewand durchleuchten.

    Aphorism n=2508 id='IV.16[22]' kgw='IV-2.387' ksa='8.291' Der hinwegthut, ist ein Knstler: der hinzuthut, ein Verlumder.

    Aphorism n=2509 id='IV.16[23]' kgw='IV-2.387' ksa='8.291' Die Etymologien bei Wagner sind acht knstlerisch, obschonunwissenschaftlich: das ist das rechte Verhltniss zur Natur.

    Aphorism n=2510 id='IV.16[24]' kgw='IV-2.387' ksa='8.291' delirium tremens des Asceten

    Aphorism n=2511 id='IV.16[25]' kgw='IV-2.387' ksa='8.291' Das mchtige Nachleben des Freigeistes er betrachtet sichals eine Lehre welche der Menschheit eingebrannt ist. Freigeist aus Selbstvertheidigung, aus Machtverlangen.

    Aphorism n=2512 id='IV.16[26]' kgw='IV-2.387' ksa='8.291' oft Rache fr Ohnmacht (Isocrates)

    Page Break KGW='IV-2.388' KSA='8.292'

  • Aphorism n=2513 id='IV.16[27]' kgw='IV-2.388' ksa='8.292' Der Tiefstand der deutschen Cultur bei Straussens Buchnach dem Kriege entsprechend der gemeinen genussschtigenGesinnung der Pegel im Strom der deutschen Cultur.

    Aphorism n=2514 id='IV.16[28]' kgw='IV-2.388' ksa='8.292' Ein freidenkender Mensch macht die Entwicklung ganzerGenerationen vorher durch.

    Aphorism n=2515 id='IV.16[29]' kgw='IV-2.388' ksa='8.292' Menschen die wie Hillebrandt nur der ffentlichen Meinungum einige Jahre voraus sind: die ebenfalls nur eine ffentlicheMeinung haben.

    Aphorism n=2516 id='IV.16[30]' kgw='IV-2.388' ksa='8.292' Auf eine ununterbrochene Reihe guter Ahnen bis zuseinem Vater herauf kann man Stolz sein: es ist eine Legitimationdes eignen Selbst vor uns selbst. Aber eine einzige Unterbrechungin der Kette macht den Adel zunichte. Hast du keinengewaltthtigen habschtigen ausschweifenden boshaftengrausamen unter deinen Ahnen? soll man jeden fragen. Insofernbin ich adelig im 4ten Grade: weiter zurck kann ich nicht sehen.

    Aphorism n=2517 id='IV.16[31]' kgw='IV-2.388' ksa='8.292' Viele Mnner sind ber den Ehebruch ihrer Gattinnen frsich gar nicht ungehalten, vorausgesetzt, dass sie dieselbendadurch ohne Einbusse los werden.

    Aphorism n=2518 id='IV.16[32]' kgw='IV-2.388' ksa='8.292' Der Ungehorsam der Shne gegen die Vter geht immergerade so weit als mglich, d. h. der Gehorsam zeigt sich als dasgerade noch erlaubte Minimum. Es steht aber ganz in der Handder Vter, die Grenze zu ziehn, weil sie die Erziehung und damitdie Gewhnung in der Hand haben.

  • Page Break KGW='IV-2.389' KSA='8.293'

    Aphorism n=2519 id='IV.16[33]' kgw='IV-2.389' ksa='8.293' Ziel: einen Leser so elastisch zu stimmen, da er sich auf dieFussspitzen stellt.

    Aphorism n=2520 id='IV.16[34]' kgw='IV-2.389' ksa='8.293' Freigeisterei Feenmrchen Lsternheit heben den Menschenauf die Fussspitzen.

    Aphorism n=2521 id='IV.16[35]' kgw='IV-2.389' ksa='8.293' Sich Zeit lassen zum Denken: das Quellwasser mu wiederzusammenlaufen.

    Aphorism n=2522 id='IV.16[36]' kgw='IV-2.389' ksa='8.293' Die Illusion des Geschlechtstriebs hat den seltsamenCharakter periodisch unheilbar zu sein: er fngt immer wieder in seineNetze, obwohl zwischeninne Zeitrume der vlligenEnttuschung liegen.

    Aphorism n=2523 id='IV.16[37]' kgw='IV-2.389' ksa='8.293' Wenn man kein Glck hat, soll man sich Glck anschaffen.

    Aphorism n=2524 id='IV.16[38]' kgw='IV-2.389' ksa='8.293' Die Unthtigkeit bei den Thtigen. Sie wissen den Grundnicht, warum sie arbeiten, sie verlieren vitam ohne Sinn: es fehltihnen die hhere Thtigkeit, die individuelle, sie denkenals Beamte Kaufleute, aber sind unthtig als Menschen einzigerArt.

    Aphorism n=2525 id='IV.16[39]' kgw='IV-2.389' ksa='8.293'

  • Der hhere Ehrgeiz in der vita umbratica: grndlich sichunterscheiden!

    Aphorism n=2526 id='IV.16[40]' kgw='IV-2.389' ksa='8.293' Es ist das Unglck der Thtigen dass ihre Thtigkeit immer

    Page Break KGW='IV-2.390' KSA='8.294'

    ein wenig unvernnftig ist: sie rollen so bewusstlos fort wie derStein fllt.

    Aphorism n=2527 id='IV.16[41]' kgw='IV-2.390' ksa='8.294' Vielleicht ntzen wir dem allgemeinen Wohle mehr durchunser Schlechtergehen und Untergehen als wenn wir siegten.

    Aphorism n=2528 id='IV.16[42]' kgw='IV-2.390' ksa='8.294' Jeder hat ber jedes seine eigene Meinung, weil er ein eignesWesen ist doch muss er sich sehr besinnen! Die Dinge zerfallen in solche ber welche ein Wissen undsolche ber welche Meinungen mglich sind.

    Aphorism n=2529 id='IV.16[43]' kgw='IV-2.390' ksa='8.294' Mit der Freiheit steht es wie mit der Gesundheit: sie istindividuell.

    Aphorism n=2530 id='IV.16[44]' kgw='IV-2.390' ksa='8.294' Der Freigeist wird nur einen Zipfel eines Ereignisses fassen,aber es nicht in seiner ganzen Breite haben wollen (z.B. Krieg Bayreuth).

    Aphorism n=2531 id='IV.16[45]' kgw='IV-2.390' ksa='8.294' Moderne Klster Stiftungen fr solche Freigeister etwas

  • Leichtes bei unsern grossen Vermgen.

    Aphorism n=2532 id='IV.16[46]' kgw='IV-2.390' ksa='8.294' Gesprch der Freigeister: wie mehrere einen steilen Bergerklettern, nicht mit einander kmpfend und sich den Bodenstreitig machend das abscheuliche Disputiren.

    Aphorism n=2533 id='IV.16[47]' kgw='IV-2.390' ksa='8.294' Wie steht der Freigeist zuletzt zum activen Leben? Leichtgebunden kein Sclave seiner Handlungen.

    Page Break KGW='IV-2.391' KSA='8.295'

    Aphorism n=2534 id='IV.16[48]' kgw='IV-2.391' ksa='8.295' Der Gelehrte hat Wrde verloren, er macht den hastiggeniessenden activen Menschen Concurrenz.

    Aphorism n=2535 id='IV.16[49]' kgw='IV-2.391' ksa='8.295' Zeitig sein usserliches Ziel erreichen, ein kleines Amt, einVermgen, das gerade ernhrt. So leben dass ein Umsturz allerDinge uns nicht sehr erschttern kann.

    Aphorism n=2536 id='IV.16[50]' kgw='IV-2.391' ksa='8.295' Sonnenlicht glitzert in dem Grund und zeigt worber dieWellen fliessen: schroffes Gestein.

    Aphorism n=2537 id='IV.16[51]' kgw='IV-2.391' ksa='8.295' Die Schtzung des contemplativen Lebens hatabgenommen. Ehemals waren Gegensatze der Geistliche und deresprit fort: eine Art Neugeburt beider in Einer Person jetztmglich.

  • Aphorism n=2538 id='IV.16[52]' kgw='IV-2.391' ksa='8.295' Es kommt darauf an, wie viel Athem ihr habt, um in diesElement tauchen zu knnen: habt ihr viel, so werdet ihr denGrund sehen knnen.

    Aphorism n=2539 id='IV.16[53]' kgw='IV-2.391' ksa='8.295' Um eine Sache ganz zu sehen, muss der Mensch zweiAugen haben, eins der Liebe und eins des Hasses.

    Aphorism n=2540 id='IV.16[54]' kgw='IV-2.391' ksa='8.295' Die productiven Menschen werden selten Freigeister; dieDichter bleiben religis rckstndig. Die Politiker

    Aphorism n=2541 id='IV.16[55]' kgw='IV-2.391' ksa='8.295' Das Bild des Freigeistes ist unvollendet im vorigenJahrhundert geblieben: sie negirten zu wenig und behielten sich brig.

    Page Break KGW='IV-2.392' KSA='8.296'

    [ 17 = U II 5 b. Sommer 1876 ]

    Aphorism n=2542 id='IV.17[1]' kgw='IV-2.392' ksa='8.296'ber das Aesthetische: einiges Derbe. Das Weglassen ein Hauptmittel des Idealismus. Man darfso genau nicht zusehn, man zwingt den Zuschauer ineine groe Ferne zurck, damit er von dort ausbetrachte (wie bei der Dekorations-Malerei). Wie wichtig istder Ansatz der Entfernung des Betrachters! Hier darf derschaffende Knstler nicht schwanken. Gerade hier zeigt sich, wiegenau er vom strksten Gefhle seines Zuhrers ausgehen mu. Das Metron legt Flor ber die Realitt; einigesknstlichere Gerede verdeckt etwas und hebt; das Dumpfe. Dieletzten Mittel, womit die Kunst wirkt, recht naiv nachzuempfinden!Ist sehr selten! Es sind ziemlich alberne Sachen, die dabeiherauskommen. Ebenso ist es bei der Religion. Der groe Werth des unreinen Denkens fr die

  • Kunst. Zum Nachahmen gehrt Liebe und Verspottungzusammen, wie bei Archilochos. Ist wohl der fruchtbarsteZustand der menschlichen Seele!

    Aphorism n=2543 id='IV.17[2]' kgw='IV-2.392' ksa='8.296' Zu der umbesiegbaren Nothwendigkeit des menschlichenDaseins gehrt das Unlogische: daher kommt vielesSehr Gute! Es steckt so fest in der Sprache, in der Kunst,in den Affekten, Religion, in allem, was dem Leben Werthverleiht! Naive Leute, welche die Natur des Menschen in einelogische verwandeln wollen! Es giebt wohl Grade derAnnherung, aber was geht da alles verloren! Von Zeit zu Zeit bedarfder Mensch wieder der Natur d. h. seiner unlogischen Urstellungzu den Dingen. Daher rhren seine besten Triebe.

    Page Break KGW='IV-2.393' KSA='8.297'

    Aphorism n=2544 id='IV.17[3]' kgw='IV-2.393' ksa='8.297' Die zwei Welten hinter einander: SiegfriedsLeben, im Hintergrunde das Gtterschicksal. Hchstmetaphysisch empfunden.

    Aphorism n=2545 id='IV.17[4]' kgw='IV-2.393' ksa='8.297' Es ist den Deutschen wieder einmal so gegangen, wienach der Reformation; ebenso haben sie jetzt Schiller undGoethe's Reformation, den hohen Geist, aus dem sie wirkten,vllig eingebt; alles was jetzt gelobt wird, ist ein vollesGegenstck dazu, und so hat sich bei den Ehrlichen eine ArtVerachtung gegen jenen Geist ausgebildet. Es kommt durchausdarauf an, da der Mensch gro ist; was dazu gehrt, ist nicht zuschnell zu taxiren; aber das Nationale, wie es jetzt verstandenist, fordert als Dogma geradezu die Beschrnktheit. Wiefhlen sich die Schcher ber Schiller hinaus!

    Aphorism n=2546 id='IV.17[5]' kgw='IV-2.393' ksa='8.297' Zum Darwinismus. Das Allgemeingefhl mit der Menschheit. Zum Staate.

  • Zur Religion.

    Aphorism n=2547 id='IV.17[6]' kgw='IV-2.393' ksa='8.297' Herzliches Mitleid mit sich selbst ist die hchste Empfindung,zu der es der Mensch bringen kann.

    Aphorism n=2548 id='IV.17[7]' kgw='IV-2.393' ksa='8.297' Genug, da es dadurch zeitweilig zum Einschlafen gebrachtwird, und da der Mensch dann nicht mehr an sein Leiden denkt.Es ist das Beste an der Welt, da es fr ihren Wahn Schlaf undVergessenheit giebt: alle ethischen Systeme rechnen auf diesenbesten Zug an der schlechtesten Welt.

    Page Break KGW='IV-2.394' KSA='8.298'

    Aphorism n=2549 id='IV.17[8]' kgw='IV-2.394' ksa='8.298' Das Leben verlohnt sich nicht mit aller der Mhe.

    Aphorism n=2550 id='IV.17[9]' kgw='IV-2.394' ksa='8.298' Viele Menschen frchten nicht den Tod, aber das gar zulange Sich-Ausspinnen des Sterbens z.B. durch Krankheit undziehen diesem Zustande das Leben vor.

    Aphorism n=2551 id='IV.17[10]' kgw='IV-2.394' ksa='8.298' Da sagt jemand: mir soll jener Autor nicht nahe kommnen;er sagt den Menschen so viel Schlechtes nach, er mu selberrecht schlecht sein. Antwort: aber du selber mut dann nochschlechter sein, denn du sagst den besten Leuten, die es giebt, denWahr-Redenden und Sich-selbst-nicht-Schonenden, Schlechtesnach und noch dazu Unwahres!

    Aphorism n=2552 id='IV.17[11]' kgw='IV-2.394' ksa='8.298' Der kranke Mensch ist oft an seiner Seele gesnder als der

  • gesunde Mensch.

    Aphorism n=2553 id='IV.17[12]' kgw='IV-2.394' ksa='8.298' Religise Betrachtung der Welt ohne Schrfe und Tiefe desIntellekts macht die Religion zur ekelhaftesten Sache der Welt.

    Aphorism n=2554 id='IV.17[13]' kgw='IV-2.394' ksa='8.298' Es giebt Frauen, welche wo man auch grbt, kein Innereshaben, sondern reine Masken sind: fast gespenstische Wesen.blutsaugerisch, nie befriedigend.

    Aphorism n=2555 id='IV.17[14]' kgw='IV-2.394' ksa='8.298' Wir frchten die feindselige Stimmung des Nchsten, weilwir wissen, da er durch diese Stimmung hinter unsreHeimlichkeiten, kommt und uns zu verachten lernt, wie wir uns selbstverachten.

    Page Break KGW='IV-2.395' KSA='8.299'

    Aphorism n=2556 id='IV.17[15]' kgw='IV-2.395' ksa='8.299' Wie kommt es, da wir mehr von der Verachtung Andererals von der eignen leiden? Sie ist uns schdlicher.

    Aphorism n=2557 id='IV.17[16]' kgw='IV-2.395' ksa='8.299' Der geniale Zustand eines Menschen ist der, wo er zu einerund derselben Sache zugleich im Zustand der Liebe und derVerspottung sich befindet.

    Aphorism n=2558 id='IV.17[17]' kgw='IV-2.395' ksa='8.299' Der Zweck des Staates soll nie der Staat, sondern immer derEinzelne sein.

  • Aphorism n=2559 id='IV.17[18]' kgw='IV-2.395' ksa='8.299' Wer die Dinge sich fr seine Vorstellung verschnern will,mu es machen, wie der Dichter, der einen Gedankenverschnern will: er spannt ihn in das Metron, und legt dasGespinst des Rhythmus ber ihn: dazu mu er den Gedanken einwenig verschlechtern, damit er in den Vers pat. DasVerschlechtern der Erkenntni, um dann dieDinge der Kunst zu beugen: ein Geheimni der Lebenslustigen.

    Aphorism n=2560 id='IV.17[19]' kgw='IV-2.395' ksa='8.299' Der feinste Kunstgriff des Christenthums war, von Liebe zureden: wie es auch der Plato's war. Es ist etwas so VieldeutigesSammelndes Erinnerndes darin und die niedrigste Intelligenzempfindet noch den Schimmer dieses Wortes: das lteste Weibund der vernnftigste Mann danken der Liebe die edelstenuneigenntzigsten Augenblicke ihres Lebens.

    Aphorism n=2561 id='IV.17[20]' kgw='IV-2.395' ksa='8.299' Da die Juden das schlechteste Volk der Erde sind, stimmtdamit gut berein, da gerade unter Juden die christliche Lehrevon der gnzlichen Sndhaftigkeit und Verwerflichkeit desMenschen entstanden ist und da sie dieselbe von sich stieen.

    Page Break KGW='IV-2.396' KSA='8.300'

    Aphorism n=2562 id='IV.17[21]' kgw='IV-2.396' ksa='8.300' Weg zur geistigen Freiheit. Stufen der Erziehung. Eltern. Verwandtschaft Nachbarn. Freunde. ffentlicheSchulen Lehrer. Vlker-geschichte. Natur. Mathematik.Geographie. Reisen. Das Alterthum. Die Lebensalter, Umgang mitAlteren. Der Staatsdienst. Der Menschendienst. Einordnung inreligise Bekenntnisse. Ehe. Weiber. Kinder. Einsame. Ehelose.Erwerb. Ehre. Die Gterlosen. Die Ehrlosen. Die Presse. DieVerewigung. Umgang mit Todten. Wohlthat des Todes,Reifsein. Zu frhe Einsicht in die Ziel- und Nutzlosigkeit.

    Aphorism n=2563 id='IV.17[22]' kgw='IV-2.396' ksa='8.300'

  • Unzeitgeme Betrachtungen. Ich habe zusammengebundenund gesammelt, was Individuen gro und selbststndigmacht, und auch die Gesichtspunkte, auf welche hin siesich verbnden knnen. Ich sehe, wir sind im Aufsteigen:wir werden der Hort der ganzen Cultur in Krze sein. Alleanderen Bewegungen sind kulturfeindlich (die socialistische ebensoals die des Grostaates, die der Geldmchte, ja die derWissenshaften). Ich will den Menschen die Ruhe wiedergeben, ohne welchekeine Cultur werden und bestehen kann. Ebenso dieSchlichtheit.

    Aphorism n=2564 id='IV.17[23]' kgw='IV-2.396' ksa='8.300' Mir liegt nur an den Motiven der Menschen: dasobjektive Bestehen der Erkenntni, ist mir einGreuel. Die hchste Erkenntni wird, wenn sich die Menschenverschlechtern, weggewischt.

    Aphorism n=2565 id='IV.17[24]' kgw='IV-2.396' ksa='8.300' Ich sehe auf Knaben- und Jnglingsjahre mit Leidwesen zurckund fhle von Tag zu Tage mehr die Befreiung. bergangaus Befangenheit in Unbefangenheit.

    Page Break KGW='IV-2.397' KSA='8.301'

    Aphorism n=2566 id='IV.17[25]' kgw='IV-2.397' ksa='8.301' Spannung der Empfindung beim Entstehn der erstenUnzeitgemen Betrachtung. Angst fr den Genius und seinWerk und dabei der Anblick der Strauischen Behbigkeit. DasGeflschte aller geistigen Lebensmittel! Die Erschlaffungaller Erkennenden! Die wankende Moralitt in Rechtund Unrecht, und die unbndige Genusucht im Gemeinen! Dieverlogene Art von Glck!

    Aphorism n=2567 id='IV.17[26]' kgw='IV-2.397' ksa='8.301' Ruhe Einfachheit und Gre! Auch im Styl ein Abbild dieses Strebens, als Resultat derconcentrirtesten Kraft meiner Natur.

  • Der Weg zu dir selber.

    Aphorism n=2568 id='IV.17[27]' kgw='IV-2.397' ksa='8.301' Wie die Erkenntni den Willen entznden kann, so kann diehalbe Erkenntni ihn trben, und ungesund machen: so da ernicht mehr Hunger und Durst in rechter Weise hat, und nichteinmal erlst werden kann. Herstellung des Individuums,um dann wirklich zu wissen, was es verlangt!

    Aphorism n=2569 id='IV.17[28]' kgw='IV-2.397' ksa='8.301' Der Zweck der Kindererzeugung ist, freiere Menschen,als wir sind, in die Welt zu setzen. Kein Nachdenken ist sowichtig, wie das ber die Erblichkeit der Eigenschaften.

    Aphorism n=2570 id='IV.17[29]' kgw='IV-2.397' ksa='8.301' Die Natur weist den Mann auf mehrfache Verheirathungnach einander an: zuerst ein lteres Mdchen. bergang derselbenspter in's Mtterliche. Alcestis will sterben fr ihren Gatten'spendet ihmmtterliche Liebe: sie will eine zweite Verheirathung zulassen. Sie wirdaus dem Hades zurckgeholt.

    Page Break KGW='IV-2.398' KSA='8.302'

    Aphorism n=2571 id='IV.17[30]' kgw='IV-2.398' ksa='8.302' Mich setzen die Menschen in Erstaunen, welche so nach ihrerJugend zurckseufzen z.B. nach den Studentenjahren: es ist einZeichen, da sie unfreier geworden sind und sich selbstdamals besser befanden. Ich empfinde gerade umgekehrt und kennenichts weniger Wnschbares als Kindheit und Jugend: ich fhlenich jetzt jnger und freier als je.

    Aphorism n=2572 id='IV.17[31]' kgw='IV-2.398' ksa='8.302' Es geht ein Wandrer durch die Nacht Mit gutem Schritt; Und krummes Thal und lange Hhn

  • Er nimmt sie mit. Die Nacht ist schn Er schreitet zu und steht nicht still, Wei nicht, wohin sein Weg noch will.

    Da singt ein Vogel durch die Nacht. Ach Vogel, was hast du gemacht? Was hemmst du meinen Sinn und Fu Und gieest sen Herzverdru Auf mich, da ich nun stehen mu Und lauschen mu, Zu deuten deinen Ton und Gru?

    Der gute Vogel schweigt und spricht: Nein Wandrer, nein! Dich gr ich nicht Mit dem Getn; Ich singe weil die Nacht so schon. Doch du sollst immer weiter gehn Und nimmermehr mein Lied verstehn. Geh nur von dann' Und klingt dein Schritt von fern heran Heb' ich mein Nachtlied wieder an

    Page Break KGW='IV-2.399' KSA='8.303'

    So gut ich kann. Leb wohl, du armer Wandersmann!

    Aphorism n=2573 id='IV.17[32]' kgw='IV-2.399' ksa='8.303' Der Knstler hat Untreue des Gedchtnisses nthig, um nichtdie Natur abzuschreiben, sondern umzubilden.

    Aphorism n=2574 id='IV.17[33]' kgw='IV-2.399' ksa='8.303' ber den Dingen. Wer die Prposition berganz begriffen hat, der hat den Umfang des menschlichen Stolzesund Elends begriffen. Wer ber den Dingen ist, ist nichtin den Dingen also nicht einmal in sich! Das letzterekann sein Stolz sein.

    Aphorism n=2575 id='IV.17[34]' kgw='IV-2.399' ksa='8.303' Mierfolg und Verachtetwerden sind gute Mittel, um freizu werden. Man setzt seine Verachtung dagegen: ihr gebt mir

  • nichts dazu! So bin ich nun, wie ich bin.

    Aphorism n=2576 id='IV.17[35]' kgw='IV-2.399' ksa='8.303' Der Mensch macht sich, lter werdend, berflssig.

    Aphorism n=2577 id='IV.17[36]' kgw='IV-2.399' ksa='8.303' Ich habe mir hier und da in den Unzeitgemen BetrachtungenAusfallspforten noch gelassen.

    Aphorism n=2578 id='IV.17[37]' kgw='IV-2.399' ksa='8.303' Das Coelibat hat die katholischen Lnder fast um die Kindervon Geistlichen gebracht: milde halb sich verneinende Menschen.

    Aphorism n=2579 id='IV.17[38]' kgw='IV-2.399' ksa='8.303' Der Mensch wirft sich herum bald auf diese bald auf(222)jene Seite, gro ist die Pein.

    Page Break KGW='IV-2.400' KSA='8.304'

    Aphorism n=2580 id='IV.17[39]' kgw='IV-2.400' ksa='8.304' Glitzernder Sonnenschein der Erkenntni fllt durch denFlu der Dinge auf deren Grund.

    Aphorism n=2581 id='IV.17[40]' kgw='IV-2.400' ksa='8.304' In den einzelnen Geschlechtern, ebenso in einzelnenCulturperioden, strebt der Wille darnach, matt und gut zu werden undabzusterben.

    Aphorism n=2582 id='IV.17[41]' kgw='IV-2.400' ksa='8.304' Die Schtzung des contemplativen Lebens hat

  • abgenommen. Deshalb ist meine Betrachtung unzeitgem.Ehemals waren der Geistliche und der esprit fort Gegenstze, beideinnerhalb des contemplativen Lebens.

    Aphorism n=2583 id='IV.17[42]' kgw='IV-2.400' ksa='8.304' Wie steht der Freigeist zum activen Leben? Leicht andasselbe gebunden, kein Sklave desselben.

    Aphorism n=2584 id='IV.17[43]' kgw='IV-2.400' ksa='8.304' Die activen Menschen verbrauchen nur die von dencontemplativen gefundenen Ideen und Hlfsmittel.

    Aphorism n=2585 id='IV.17[44]' kgw='IV-2.400' ksa='8.304' Fr die Zukunft des Menschen lebt der Freigeist so da erneue Mglichkeiten des Lebens erfindet und die alten abwgt.

    Aphorism n=2586 id='IV.17[45]' kgw='IV-2.400' ksa='8.304' Epikurs Kanon zu benutzen.

    Aphorism n=2587 id='IV.17[46]' kgw='IV-2.400' ksa='8.304' Wiederherstellung der Ruhe und Stille fr das Reich desIntellektes, Beseitigung des modernen Lrms. Eine Beruhigungssucht und Vertiefung mu ber dieMenschen kommen, wie es nie eine gab, wenn sie erst einmal dermodernen Hatz mde geworden sind.

    Page Break KGW='IV-2.401' KSA='8.305'

    Aphorism n=2588 id='IV.17[47]' kgw='IV-2.401' ksa='8.305' Zu Freigeistern und zu Freunden derselben eignen sich jeneentsetzlichen Menschen nicht, welche in Jedermann einen Patronund Vorgesetzten sehen oder eine Brcke zu irgend einemVortheile und welche sich durchschmeicheln. Viel eher werden die

  • zu Freigeistern, welche in Jedermann, auch in Freunden,Gnnern Lehrern etwas Tyrannisches sehen, welche grossWohlthaten entschieden ablehnen.

    Aphorism n=2589 id='IV.17[48]' kgw='IV-2.401' ksa='8.305' Auch der Ehrgeizige kann zum Freigeist werden, denner hat hier ein Mittel sich grndlich zu unterscheiden.

    Aphorism n=2590 id='IV.17[49]' kgw='IV-2.401' ksa='8.305' Was ist das Ziel aller Sprachwissenschaft, wennnicht einmal eine Universalsprache finden? Dannwre der europische Universalmensch da. Wozu dann noch dasfrchterliche Sprachen lernen!

    Aphorism n=2591 id='IV.17[50]' kgw='IV-2.401' ksa='8.305' Wer sein Geld als Freigeist gut verwenden will, sollInstitute grnden nach Art der Klster, um ein freundschaftlichesZusammenleben in grosser Einfachheit fr Menschen zuermglichen, welche mit der Welt sonst nichts mehr zu thun habenwollen.

    Aphorism n=2592 id='IV.17[51]' kgw='IV-2.401' ksa='8.305' Die moderne Krankheit ist: ein bermaa vonErfahrungen. Deshalb gehe jeder zeitig mit sich heim um nicht anden Erfahrungen sich zu verlieren.

    Aphorism n=2593 id='IV.17[52]' kgw='IV-2.401' ksa='8.305' Es ist ein bses Symptom, dass man von der Vaterlandsliebeund der Politik ein solches Aufheben macht. Es scheint das nichtsHheres da ist, was man preisen kann.

    Page Break KGW='IV-2.402' KSA='8.306'

    Aphorism n=2594 id='IV.17[53]' kgw='IV-2.402' ksa='8.306'

  • Die moderne Bewegtheit wird so gross das alle groenErgebnisse der Cultur dabei verschwinden, es fehlt allmhlich andem ihnen gemen Sinne. So luft die Civilisation in eine neueBarbarei aus. Die Menschheit darf aber nicht in diesen einzigenStrom der Thtigen geleitet werden. Ich hoffe auf dasGegengewicht, das beschauliche Element im russischen Bauern und imAsiaten. Dies wird irgend wann einmal in grerem Maae denCharakter der Menschheit corrigiren.

    Aphorism n=2595 id='IV.17[54]' kgw='IV-2.402' ksa='8.306' Nach dem Westen zu wird der Wahnsinn der Bewegungimmer grer, so da den Amerikanern schon alle Europerbehaglich und genieend vorkommen. Wo die beiden Strme zusammentreffen und sich verschmelzen,kommt die Menschheit zu ihrem Ziele: die hchste Erkenntni berden Werth des Daseins (dort nicht mglich, weil dieAktivitt des Denkens zu gering, dort nicht mglich, weil dieseAktivitt anders gerichtet ist).

    Aphorism n=2596 id='IV.17[55]' kgw='IV-2.402' ksa='8.306' Ich imaginire zuknftige Denker, in denen sich dieeuropisch-amerikanische Rastlosigkeit mit der hundertfachvererbten asiatischen Beschaulichkeit verbindet: eine solcheCombination bringt das Weltrthsel zur Lsung. Einstweilen habendie betrachtenden Freigeister ihre Mission: sie heben alle dieSchranken hinweg, welche einer Verschmelzung der Menschenim Wege stehen: Religionen Staaten monarchische InstinkteReichthums- und Armutsillusionen, Gesundheits- undRassenvorurtheile usw

    Aphorism n=2597 id='IV.17[56]' kgw='IV-2.402' ksa='8.306' Jeder, der geheimnisvoll von seinen Plnen spricht, kommtuns albern und wichtigthuerisch vor. Es wird so viel nicht sein.

    Page Break KGW='IV-2.403' KSA='8.307'

    Nicht von einer Sache sprechen wollen erscheint alsunberechtigtes Selbstgefhl und gilt als pedantisch.

  • Aphorism n=2598 id='IV.17[57]' kgw='IV-2.403' ksa='8.307' Die Seelen-Unruhe, die ich verwnsche, ist vielleicht geradeder Zustand, der mich zur Produktion treibt. Die Frommen,welche vlligen Frieden ersehnen, entwurzeln ihre bestenThtigkeiten.

    Aphorism n=2599 id='IV.17[58]' kgw='IV-2.403' ksa='8.307' Der Freigeist ist gtterneidisch auf das dumme Behagender Menschen. nemessetikon ist der Gtterneid.

    Aphorism n=2600 id='IV.17[59]' kgw='IV-2.403' ksa='8.307' Das schlichte Aussehen der Wahrheit.

    Aphorism n=2601 id='IV.17[60]' kgw='IV-2.403' ksa='8.307' Hemmungen nthig, um Genius hervorzubringen.

    Aphorism n=2602 id='IV.17[61]' kgw='IV-2.403' ksa='8.307' Zwischen drei Begabungen die mittlere Linie finden mein Problem.

    Aphorism n=2603 id='IV.17[62]' kgw='IV-2.403' ksa='8.307' Jede Liebhaberei central zu machen und einzuflechten in dievorhandenen Talente.

    Aphorism n=2604 id='IV.17[63]' kgw='IV-2.403' ksa='8.307' Die Laster haben vielen Anla zur Freigeisterei gegeben.Ebenso die Furcht vor den ewigen Strafen: man schttelte dieselstigen Gedanken weg und wurde dabei die Religion los.

    Aphorism n=2605 id='IV.17[64]' kgw='IV-2.403' ksa='8.307'

  • Religise Meinungen kann man sich leicht abgewhnen,wenn man nur zeitig anfngt.

    Page Break KGW='IV-2.404' KSA='8.308'

    Aphorism n=2606 id='IV.17[65]' kgw='IV-2.404' ksa='8.308' Hauptfehler des heutigen Unterrichts ist, dass erstundenweise gegeben wird und alles durcheinander.

    Aphorism n=2607 id='IV.17[66]' kgw='IV-2.404' ksa='8.308' Es leben die edlen Verrther!

    Aphorism n=2608 id='IV.17[67]' kgw='IV-2.404' ksa='8.308' Demokratische aufrichtige Staaten haben die hchsteErziehung um jeden Preis Allen zu gewhren.

    Aphorism n=2609 id='IV.17[68]' kgw='IV-2.404' ksa='8.308' Dass die Kunst das Wahre der Natur darstelle ist dieIllusion welche sie erregt, nicht die philosophische Wirklichkeit.

    Aphorism n=2610 id='IV.17[69]' kgw='IV-2.404' ksa='8.308' Heilige Migunst

    Aphorism n=2611 id='IV.17[70]' kgw='IV-2.404' ksa='8.308' Reinlichkeit zur Reinheit steigern: vielleicht selbst zumBegriff der Schnheit bei den Griechen.

    Aphorism n=2612 id='IV.17[71]' kgw='IV-2.404' ksa='8.308' Die allgemeinen Ansichten vererbt man durch

  • Angewhnung, um nun seine ganze Energie seinen persnlichen Vortheileninnerhalb des gegebenen Kreises zuzuwenden. Es schtzt vorVergeudung der persnlichen Kraft.

    Aphorism n=2613 id='IV.17[72]' kgw='IV-2.404' ksa='8.308' Menschliches und Allzumenschliches. Wege zur Befreiung des Geistes. Die Erleichterung des Lebens. Weib und Kind. Staat und Gesellschaft.

    Page Break KGW='IV-2.405' KSA='8.309'

    Aphorism n=2614 id='IV.17[73]' kgw='IV-2.405' ksa='8.309' Fnf kleine Handlungen der Freiheit wirken mehr als alleFreidenkerei.

    Aphorism n=2615 id='IV.17[74]' kgw='IV-2.405' ksa='8.309' Wir knnen wie die leicht lebenden Gtter leben wenn wirdas lebhafte Entzcken an der Wahrheit haben.

    Aphorism n=2616 id='IV.17[75]' kgw='IV-2.405' ksa='8.309' 1. Die gebundenen Geister. 2. Die Art der hheren Entwicklung, Nothwendigkeit der Freigeisterei. 3. Entstehung des Freigeistes Entwicklung, Nicht-Angewhnung. 4. Theilweise Freigeister.

    Aphorism n=2617 id='IV.17[76]' kgw='IV-2.405' ksa='8.309' Staaten Ehen usw. beruhen auf dem Glauben, nicht auf demWissen. Aber das ist ein pudendum: es war frech vomChristenthum, das Geheimni zu proklamiren und den Glauben zufordern und das Wissen abzulehnen. berall beruht eine Religion auf dem Glauben. Der Staat ist da, also ist sein Princip im Recht. Das

  • monarchische Princip muss wahr sein, denn die Monarchie existirt.

    Aphorism n=2618 id='IV.17[77]' kgw='IV-2.405' ksa='8.309' Da Christus die Welt erlst habe, ist dreist.

    Aphorism n=2619 id='IV.17[78]' kgw='IV-2.405' ksa='8.309' Es gehrt zur Reinheit, dass man im Verlaufe desLebens immer weniger Zuflucht zum Metaphysischen sucht.

    Aphorism n=2620 id='IV.17[79]' kgw='IV-2.405' ksa='8.309' Das unreine Denken und der Stil.

    Page Break KGW='IV-2.406' KSA='8.310'

    Aphorism n=2621 id='IV.17[80]' kgw='IV-2.406' ksa='8.310' Die Kunst nach den Wirkungen und nach den Ursachenbeurtheilen zwei Aesthetiken!

    Aphorism n=2622 id='IV.17[81]' kgw='IV-2.406' ksa='8.310' Der Asket schlechtes(223) und unregelmiges Gehirn. Ekstasis Wollust des Intellekts.

    Aphorism n=2623 id='IV.17[82]' kgw='IV-2.406' ksa='8.310' Die Mue und der Mssiggang gehen verloren! wiederverleumdet!

    Aphorism n=2624 id='IV.17[83]' kgw='IV-2.406' ksa='8.310' Wie Erfolge gemacht werden: v. geistige Freiheit. Mssiggang.

  • Aphorism n=2625 id='IV.17[84]' kgw='IV-2.406' ksa='8.310' Es liegt vor Aller Augen, dass nach dem letzten Kriege derDeutschen und der Franzosen ungefhr jeder Deutsche um einenGrad mehr unehrlich genugierig habschtig gedankenlosgeworden war: die allgemeine Bewunderung vor Strauss war dasDenkmal, welches man dem tiefsten Stande des Stromes der deutschenCultur gesetzt hat: ein freier denkender altgewordener Theologewurde der Herold des ffentlichen Behagens.

    Aphorism n=2626 id='IV.17[85]' kgw='IV-2.406' ksa='8.310' Zum Schluss: die Freigeister sind die leichtlebendenGtter.

    Aphorism n=2627 id='IV.17[86]' kgw='IV-2.406' ksa='8.310' Mit Religion verdirbt man sich den Kopf gar nichtnachdenken.

    Page Break KGW='IV-2.407' KSA='8.311'

    Aphorism n=2628 id='IV.17[87]' kgw='IV-2.407' ksa='8.311' Sie sollten nicht zu sich erziehen sondern ber sich hinaus. Kein grosser Mann weist auf sich, sondern immer ber sich.

    Aphorism n=2629 id='IV.17[88]' kgw='IV-2.407' ksa='8.311' Da ich noch nicht das Unglck, die Last habe, zu denberhmten Mnnern gerechnet zu werden aus meinerbescheidenen Obskuritat heraus

    Aphorism n=2630 id='IV.17[89]' kgw='IV-2.407' ksa='8.311' Die Menschen legen den Ursachen dieselben Prdikate beiwie den Wirkungen.

  • Aphorism n=2631 id='IV.17[90]' kgw='IV-2.407' ksa='8.311' Charakterlosigkeit kann das Zeichen von einembergewicht des Geistes sein.

    Aphorism n=2632 id='IV.17[91]' kgw='IV-2.407' ksa='8.311' Wenn alle zu Freigeistern werden, wird das Fundamentschwach: eine solche Cultur fllt endlich ab oder verfliegt wieThau und Nebel.

    Aphorism n=2633 id='IV.17[92]' kgw='IV-2.407' ksa='8.311' Dass wir uns beim Anfang aller Laster doch noch sehr in derNahe der Tugend befinden.

    Aphorism n=2634 id='IV.17[93]' kgw='IV-2.407' ksa='8.311' Der Freigeist handelt wenig: daher Unsicherheit gegenberdem Charaktervollen. Er schweift auch im Denken aus: leicht Scepsis.

    Aphorism n=2635 id='IV.17[94]' kgw='IV-2.407' ksa='8.311' Ein Volk, welches anfngt Politik zu treiben, muss sehrreich sein, um daran nicht zu Grunde zu gehen.

    Page Break KGW='IV-2.408' KSA='8.312'

    Aphorism n=2636 id='IV.17[95]' kgw='IV-2.408' ksa='8.312' Ein urkatholisches Frankreich und ein griechisch-katholischesRuland gehn nie in einem Joch deshalb hat der deutscheStaatsmann die deutsche Bewegung gefrdert.

    Aphorism n=2637 id='IV.17[96]' kgw='IV-2.408' ksa='8.312' Mit denselben Mitteln, mit denen man den Kleinstaat

  • zertrmmert hat, zertrmmert man den Grostaat.

    Aphorism n=2638 id='IV.17[97]' kgw='IV-2.408' ksa='8.312' Freihndler sind Verbrecher Staatsmnner usw.

    Aphorism n=2639 id='IV.17[98]' kgw='IV-2.408' ksa='8.312' Das gebundene Denken gefordert als Moralitt: Katzentdten ein Verbrechen bei den Aegyptern. Man straft dieHandlung, nicht die Gesinnung: nicht um abzuschrecken,sondern das allgemeine Verderben von Seiten einesGottes abzukaufen.

    Aphorism n=2640 id='IV.17[99]' kgw='IV-2.408' ksa='8.312' Falsche Analogie der Schweizer Bewegung sie verlangenden Kleinstaat. Ihre Kantone waren keine Kleinstaaten.

    Aphorism n=2641 id='IV.17[100]' kgw='IV-2.408' ksa='8.312' Auf die reine Erkenntniss der Dinge lsst sich keine Ethikgrnden: da muss man sein wie die Natur, weder gut noch bse.

    Aphorism n=2642 id='IV.17[101]' kgw='IV-2.408' ksa='8.312' Ich mchte die Definition des Schuftes. Der Ruber,der Mrder, der Dieb ist es nicht.

    Aphorism n=2643 id='IV.17[102]' kgw='IV-2.408' ksa='8.312' In der katholischen Kirche ist ein Ohr (durch die Beichte)geschaffen, in welches man sein Geheimni, ohne Folgen,

    Page Break KGW='IV-2.409' KSA='8.313'

    hineinsagen kann. Welche Erleichterung! Auch der Gedanke ist gut,in Unrecht durch eine Gutthat (wenn auch Anderen erwiesen)gut zu machen. Das ist die wahre Strafe.

  • Aphorism n=2644 id='IV.17[103]' kgw='IV-2.409' ksa='8.313' Hat einer seine Bedrfnisse befriedigt, so berkommt ihndie Langeweile; wie kann er diese beseitigen? Nur dadurch, dasser neue Leidenschaften sich schafft, um dann auch diese zubefriedigen. Man erzeugt ein Bedrfniss, indem man sich eine Noth macht: welche durch Gewohnheit allmhlich ihrenpeinlichen Charakter verliert und zur Lust wird. Man denke an dasTabakrauchen.

    Aphorism n=2645 id='IV.17[104]' kgw='IV-2.409' ksa='8.313' Freie und gebundene Geister. Weib und Kind. Stnde und Beschftigungen. Erleichterung des Lebens. Menschliches und Allzumenschliches.

    Aphorism n=2646 id='IV.17[105]' kgw='IV-2.409' ksa='8.313' Die Pflugschar. Eine Anleitung zur geistigen Befreiung. Erstes Hauptstck: Freie und gebundene Geister. Zweites Die Erleichterung des Lebens. Drittes Stnde und Beschftigungen. Viertes Weib und Kind. Fnftes Die Gesellschaft. Sechstes Der Mensch mit sich allein. Siebentes Die Schule der Erzieher.

    Page Break KGW='IV-2.410' KSA='8.314'

    [ 18 = M I 1. September 1876 ]

    Die Pflugschar.

    Aphorism n=2647 id='IV.18[1]' kgw='IV-2.410' ksa='8.314' Willst du mir folgen, so baue mit dem Pfluge!, dann geniessendeiner Viele, dein geneusst sicherlich der Arme und der Reiche,dein geneusst der Wolf und der Aar und durchaus alle

  • Creatur. Der Meier Helmbrecht. Wege zur geistigen Freiheit.

    Aphorism n=2648 id='IV.18[2]' kgw='IV-2.410' ksa='8.314'1.2. Alle ffentlichen Schulen sind auf die mittelmssigenNaturen eingerichtet, also auf Die, deren Frchte nicht sehr inBetracht kommen, wenn sie reif werden. Ihnen werden diehheren Geister und Gemther zum Opfer gebracht, auf derenReifwerden und Frchtetragen eigentlich Alles ankommt. Auchdarin zeigen wir uns als einer Zeit angehrig, deren Cultur anden Mitteln der Cultur zu Grunde geht. Freilich die begabteNatur weiss sich zu helfen: ihre erfinderische Kraft zeigt sichnamentlich darin, wie sie, trotz dem schlechten Boden, in denman sie setzt, trotz der schlechten Umgebung, der man sieanpassen will, trotz der schlechten Nahrung, mit der man sieauffttert, sich bei Krften zu erhalten weiss. Darin liegt aberkeine Rechtfertigung fr die Dummheit Derer, welche sie indiese Lage versetzen.

    Aphorism n=2649 id='IV.18[3]' kgw='IV-2.410' ksa='8.314'3. Loslsung von der nicht verstehenden Umgebung: Einetiefe Verwundung und Beleidigung entsteht, wenn Menschen,mit denen man lange vertraulich umgegangen ist und denenman vom Besten gab, das man hatte, gelegentlich Geringschtunggegen uns merken lassen. Wer mit den Menschen vorsichtigumgeht und sie nicht verletzt, um nicht verletzt zu werden,

    Page Break KGW='IV-2.411' KSA='8.315'

    erfhrt gewhnlich zu seinem Schrecken, dass die Menscheneine Vorsicht gar nicht gemerkt haben oder gar, dass sie siemerken und sich ber sie hinwegsetzen, um ihren Spaass dabeizu haben.

    Aphorism n=2650 id='IV.18[4]' kgw='IV-2.411' ksa='8.315'4, Mittel, Leute von sich zu entfernen: Man kann Niemandenmehr verdriessen und gegen sich einnehmen, als wenn manihn zwingen will, an Dinge zu denken, welche er sich mit allerGewalt aus dem Sinne schlagen will, z.B. Theologen an dieEhrlichkeit im Bekennen, Philologen an die erziehende Kraftdes Alterthums, Staatsmnner an den Zweck des Staates,

  • Kaufleute an den Sinn alles Gelderwerbes, Weiber an die Zu- undHinflligkeit ihrer Neigungen und Bndnisse.

    Aphorism n=2651 id='IV.18[5]' kgw='IV-2.411' ksa='8.315'8. Es ist ntzlich, mehr zu fordern: Wer etwas erreichenwill, muss sehr nachdrcklich noch mehr fordern; man bewilligtihm dann das geringere Maass seiner Forderung und ist zufriedendamit, dass er sich zufrieden giebt.

    Aphorism n=2652 id='IV.18[6]' kgw='IV-2.411' ksa='8.315'12. Werth einer gedruckten Stimmung: Menschen, welcheunter einem inneren Druck leben, neigen zu Ausschweifungen, auch des Gedankens. Grausamkeit ist hufig ein Zeicheneiner unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Betubungbegehrt; ebenso eine gewisse grausame Rcksichtslosigkeit desDenkens.

    Aphorism n=2653 id='IV.18[7]' kgw='IV-2.411' ksa='8.315'24. Reist man von Ort zu Ort weiter, und fragt man berall,welche Kpfe an jedem Ort die hchste Geltung haben, sofindet man, wie selten berlegene Intelligenzen sind. Gerade mitden geachteten und einflussreichen Intelligenzen mchte man

    Page Break KGW='IV-2.412' KSA='8.316'

    am Wenigsten auf die Dauer zu thun haben, denn man merktihnen an, dass sie nur als Anfhrer der vortheilhaften Ansichtendiese Geltung haben, dass der Nutzen Vieler ihnen ihrAnsehen giebt. Ein Land von vielen Millionen Kpfen schrumpftbei einem solchen Blicke zusammen, und Alles, was Geltunghat, wird Einem verdchtig. Bei den Schutzzllnern und Freihndlern handelt es sichum den Vortheil von Privatpersonen, welche sich einen Saumvon Wissenschaft und Vaterlandsliebe angelogen haben.

    Aphorism n=2654 id='IV.18[8]' kgw='IV-2.412' ksa='8.316'27. Ohne Productivitt ist das Leben unwrdig und unertrglich:gesetzt aber, ihr hattet keine Productivitt oder nur eineschwache, dann denkt ber Befreiung vom Leben nach, worunter

  • ich nicht sowohl die Selbsttdtung, als jene immer vlligereBefreiung von den Trugbildern des Lebens verstehe bisihr zuletzt wie ein berreifer Apfel vom Baume fallt. Ist derFreigeist auf der Hhe angelangt, so sind alle Motive desWillens an ihm nicht mehr wirksam, selbst wenn sein Wille nochanbeissen mchte: er kann es nicht mehr, denn er hat alleZhne verloren.

    Aphorism n=2655 id='IV.18[9]' kgw='IV-2.412' ksa='8.316'31. Den Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sollman wie die ersten Zhne verlieren, dann wchst einem erstdas rechte Gebiss.

    Aphorism n=2656 id='IV.18[10]' kgw='IV-2.412' ksa='8.316'32. Von der Todesfurcht zu erlsen ist vielleicht das EineMittel: ein ewiges Leben zu lehren; ein andres sichereresjedenfalls, Todesverlangen einzuflssen.

    Aphorism n=2657 id='IV.18[11]' kgw='IV-2.412' ksa='8.316'33. Religise Meinungen gewhnt man uns in den ersten

    Page Break KGW='IV-2.413' KSA='8.317'

    fnfzehn Jahren unseres Lebens an, und in den nchstenfnfzehn Jahren wieder ab, im zehnten Lebensjahr ist jetztgewhnlich ein Mensch am religisesten. Wenn es ntzlich seinsollte, den Menschen zuerst an die Brust der Amme Religionzu legen und ihn die Milch des Glaubens trinken zu lassen, sodass er erst spter, und allmhlich, an Brod und Fleisch derErkenntniss gewhnt wird: so scheint mir doch die Zeit zu lang, inAnbetracht der Kurze des menschlichen Lebens. Die jetzigeOekonomie wrde vielleicht im Rechte sein, wenn der Menscherst im sechzigsten Jahr in die Blthezeit seiner Kraft undVernunft trte. Aber thatschlich wird er jetzt zu gleicher Zeitweise und kraftlos.

    Aphorism n=2658 id='IV.18[12]' kgw='IV-2.413' ksa='8.317'38. Es ist entweder das Zeichen einer sehr ngstlichen odersehr stolzen Gesinnung, in Jedermann, auch in Freunden",

  • Gnnern, Lehrern, die Gefahr eines tyrannischen bergewichteszu sehen, und sich in Acht zu nehmen, grosse Wohlthaten zuempfangen. Aber es wird keinen Freigeist geben, der nichtdiese Gesinnung htte.

    Menschliches und Allzumenschliches.

    Aphorism n=2659 id='IV.18[13]' kgw='IV-2.413' ksa='8.317'51. Menschen, deren Umgang uns unangenehm ist, thun unseinen Gefallen, wenn sie uns einen Anlass geben, uns von ihnenzu trennen. Wir sind hinterdrein viel eher bereit, ihnen aus derFerne Gutes zu erweisen oder zu gnnen.

    Aphorism n=2660 id='IV.18[14]' kgw='IV-2.413' ksa='8.317'52. Man denkt sich den moralischen Unterschied zwischeneinem ehrlichen Manne und einem Spitzbuben viel zu gross;dagegen ist gewhnlich der intellectuelle Unterschied gross. DieGesetze gegen Diebe und Mrder sind zu Gunsten derGebildeten und Reichen gemacht.

    Page Break KGW='IV-2.414' KSA='8.318'

    Aphorism n=2661 id='IV.18[15]' kgw='IV-2.414' ksa='8.318'55. Es giebt viel mehr Behagen, als Unbehagen in der Welt.Practisch ist der Optimismus in der Herrschaft; dertheoretische Pessimismus entsteht aus der Betrachtung: wieschlecht und absurd der Grund unseres Behagens ist; erwundert sich ber die geringe Besonnenheit und Vernunft indiesem Behagen; er wrde das fortwhrende Unbehagenbegreiflich finden.

    Aphorism n=2662 id='IV.18[16]' kgw='IV-2.414' ksa='8.318'57. Die Seelenunruhe, welche die philosophischen Menschenan sich verwnschen, ist vielleicht gerade der Zustand, aus demihre hhere Productivitt hervorquillt. Erlangten sie jenenvlligen Frieden, so htten sie wahrscheinlich ihre besteThtigkeit entwurzelt und sich damit unntz und berflssiggemacht.

  • Aphorism n=2663 id='IV.18[17]' kgw='IV-2.414' ksa='8.318'58. Jeder, der geheimnissvoll von seinem Vorhaben spricht,oder der merken lsst, dass er gar nicht davon spreche, stimmtseine Mitmenschen ironisch.

    Aphorism n=2664 id='IV.18[18]' kgw='IV-2.414' ksa='8.318'60. In Lastern und bsen Stimmungen sammelt oft der guteHang in uns sein Quellwasser, um dann strkerhervorzubrechen. Wenn die Tugend geschlafen hat, wird sie frischeraufstehen.

    Aphorism n=2665 id='IV.18[19]' kgw='IV-2.414' ksa='8.318'62. Was kann das Motiv fr die jetzt geforderte Abschliessungder Nationen von einander sein, whrend doch alles Andereauf Verschmelzung derselben hinweist? Ich glaube dynastischeInteressen und kaufmnnische Interessen gehen da Hand inHand. Sodann benutzen alle liberalen Parteien die nationale

    Page Break KGW='IV-2.415' KSA='8.319'

    Abschliessung als einen Umweg, um das sociale Leben freier zugestalten. Whrend man grosse Nationalstaaten aufbaut, wirdman viele kleinere Machthaber und den Einfluss einzelnerbedrckender Kasten los; dabei versteht es sich von selbst, dassdieselbe Macht, welche jetzt den Kleinstaat zertrmmern muss,einstmals den Grossstaat zertrmmern muss. Ein blindesVorurtheil ist es dagegen, es seien die Racen und die Verschiedenheitder Abstammung, was jetzt die Nationen zu Grossstaatenumbildet.

    Aphorism n=2666 id='IV.18[20]' kgw='IV-2.415' ksa='8.319'64. ber den Fleiss machen die Gelehrten viele schne Worte;die Hauptsache ist, dass sie sich ohne ihren Fleiss zu Todelangweilen wrden.

    Aphorism n=2667 id='IV.18[21]' kgw='IV-2.415' ksa='8.319'

  • 65. Das Christenthum und La Rochefoucauld sind ntzlich,wenn sie die Motive des menschlichen Handelns verdchtigen:denn die Annahme von der grndlichen Ungerechtigkeit jedesHandelns, jedes Urtheilens hat grossen Einfluss darauf, dass derMensch sich von dem allzuheftigen Wollen befreie.

    Aphorism n=2668 id='IV.18[22]' kgw='IV-2.415' ksa='8.319'66. Junge Leute klagen oft, dass sie keine Erfahrungengemacht haben, whrend sie gerade daran leiden, zu vielegemacht zu haben: es ist der Gipfel der modernenGedankenlosigkeit.

    Aphorism n=2669 id='IV.18[23]' kgw='IV-2.415' ksa='8.319'67. Die Philosophen zweiten Ranges zerfallen inNebendenker und Gegendenker, das heisst in solche, welchezu einem vorhandenen Gebude einen Seitenflgelentsprechend dem gegebenen Grundplane, ausfhren (wozu die Tugendtchtiger Baumeister ausreicht), und in solche, die in fortwhrendemPage Break KGW='IV-2.416' KSA='8.320'

    Widerstreben und Widersprechen so weit gefhrtwerden, dass sie zuletzt einem vorhandenen System ein anderesentgegenstellen. Alle brigen Philosophen sind berdenker,Historiker dessen was gedacht ist, derer die gedacht haben:.jene wenigen abgerechnet, welche fr sich stehen, aus sichwachsen und allein Denker genannt zu werden verdienen.Diese denken Tag und Nacht und merken es gar nicht mehr,wie die welche in einer Schmiede wohnen, nicht mehr denLrm der Ambose hren: so geht es ihnen wie Newton (dereinmal gefragt wurde, wie er nur zu seinen Entdeckungengekommen sei, und der einfach erwiderte: dadurch dass ich immerdaran dachte.)

    Aphorism n=2670 id='IV.18[24]' kgw='IV-2.416' ksa='8.320'68. In doppelter Weise ist das Publicum unhflich gegeneinen Schriftsteller: Es lobt das eine Werk desselben aufUnkosten eines anderen vom gleichen Autor und dann: es fordert,wenn der Autor einmal geschrieben hat, immer neue Schriften als ob esdadurch, dass es beschenkt wordenware, ein bergewicht ber den Geber bekommen habe.

  • Aphorism n=2671 id='IV.18[25]' kgw='IV-2.416' ksa='8.320'71. Zeichen einer rcksichtslosen berlegenheit von Seitenbefreundeter oder durch Dankbarkeit uns verpflichteterPersonen sind sehr schmerzlich und schneiden tief in's Herz.

    Aphorism n=2672 id='IV.18[26]' kgw='IV-2.416' ksa='8.320'77. Man klagt ber die Zuchtlosigkeit der Masse; ware dieseerwiesen, so fiele der Vorwurf schwer auf die Gebildetenzurck; die Masse ist gerade so gut und bse wie die Gebildetensind. Sie zeigt sich in dem Maasse bse und zuchtlos, als dieGebildeten zuchtlos sich zeigen; man geht ihr als Fhrer voran,man mag leben wie man will; man hebt oder verdirbt sie, jenachdem man sich selber hebt oder verdirbt.

    Page Break KGW='IV-2.417' KSA='8.321'

    Aphorism n=2673 id='IV.18[27]' kgw='IV-2.417' ksa='8.321'80. Fast jeder gute Schriftsteller schreibt nur Ein Buch. AllesAndere sind nur Vorreden, Vorversuche, Erklrungen,Nachtrge dazu; ja mancher sehr gute Schriftsteller hat seinBuch nie geschrieben, zum Beispiel Lessing, dessenintellectuelle Bedeutsamkeit sich hoch ber jede seiner Schriften,jeden seiner dichterischen Versuche erhebt.

    Aphorism n=2674 id='IV.18[28]' kgw='IV-2.417' ksa='8.321'91. Ich unterscheide grosse Schriftsteller, nmlichsprachbildende solche, unter deren Behandlung die Sprache noch lebtoder wieder auflebt und classische Schriftsteller.Letztere werden classisch in Hinsicht auf ihre Nachahmbarkeit undVorbildlichkeit genannt, whrend die grossen Schriftstellernicht nachzuahmen sind. Bei den klassischen Schriftstellern istdie Sprache und das Wort todt; das Thier in der Muschel lebtnicht mehr, und so reihen sie Muschel an Muschel. Aber beiGoethe lebt es noch.

    Aphorism n=2675 id='IV.18[29]' kgw='IV-2.417' ksa='8.321'

  • 92. Wie kommt es, dass der Verliebte die Wirkung derTragdie und jeder Kunst strker empfindet, whrend doch dasvllige Schweigen des Willens als der eigentliche contemplativeZustand bezeichnet wird? Es scheint vielmehr, dass derWille gleichsam erst aufgepflgt werden muss, um den Saamender Kunst in sich aufzunehmen.

    Das leichte Leben.

    Aphorism n=2676 id='IV.18[30]' kgw='IV-2.417' ksa='8.321'101. Jeder Mensch hat seine eigenen Recepte dafr, wie dasLeben zu ertragen ist und zwar wie es leicht zu erhalten istoder leicht zu machen ist, nachdem es sich einmal als schwergezeigt hat.

    Page Break KGW='IV-2.418' KSA='8.322'

    Aphorism n=2677 id='IV.18[31]' kgw='IV-2.418' ksa='8.322'104. Wenn das Leben im Verlauf der Geschichte immer schwererempfunden werden soll, so kann man wohl fragen, ob dieErfindungsgabe der Menschen zuletzt auch fr die hchstenGrade dieser Erschwerung ausreicht.

    Aphorism n=2678 id='IV.18[32]' kgw='IV-2.418' ksa='8.322'112. Der Mensch, der diesen christenmssigen Trost nicht hatund dem andererseits die Philosophie nicht das Gegengeschenkder vlligen Unverantwortlichkeit machte, ist schlimm daran:er kennt sich selber nur zu gut und verachtet sich, weil er seinWesen irrthmlicher Weise sich als Schuld bemisst; desshalbsieht er auf den Mit-Menschen mit Angst, dass der nicht hinterseine Heimlichkeiten kommt. Er hlt den Mit-Menschen entwederwirklich besser als sich, weil er ihn weniger kennt, oderer stellt sich, als ob er ihn fr besser halte, um ihn fr sich zugewinnen und zu einem gleichen Gefhle gegen sich zu stimmen.Die Eitelkeit und Ehrsucht der Menschen ruht meistensauf dem Gefhl der eigenen Verachtung: sie wollen, dass mansich ber sie tusche; sie freuen sich ber jedes Urtheil desMit-Menschen, wenn es fr sie gnstig lautet, selbst, wenn siewissen, dass es fallsch ist; ihr Bestreben ist, zu verhten, dass bersie die ganze Wahrheit an's Licht komme.

  • Aphorism n=2679 id='IV.18[33]' kgw='IV-2.418' ksa='8.322'113. Die Mittel gegen Schmerzen, welche Menschen anwenden,sind vielfach nur Betubungen. Alle solche Mittel abergehren einer niedrigen Stufe der Heilkunst an. Betubungendurch Vorstellungen findet man in den Religionen undKnsten, die insofern in die Geschichte der Heilkunst gehren.Besonders verstehen sich Religionen darauf, durch. Annahmen dieUrsache des Leidens aus den Augen zu rcken, zum Beispieldadurch, dass sie Aeltern, denen ein Kind gestorben ist, sagen,es sei nicht gestorben und in Hinblick auf den Leichnamhinzufgen, ihr Kind lebe sogar als ein schneres fort.

    Page Break KGW='IV-2.419' KSA='8.323'

    Aphorism n=2680 id='IV.18[34]' kgw='IV-2.419' ksa='8.323'115. Es ist bekannt, dass Liebe und Verehrung nicht leicht inBezug auf dieselbe Person mit einander empfunden werdenknnen. Das Schwerste und Seltenste wre aber dies, dasshchste Liebe und der niedrigste Grad der Achtung sich bei einanderfnden; also Verachtung als Urtheil des Kopfes und Liebe alsTrieb des Herzens. Und trotzdem, dieser Zustand ist mglichund durch die Geschichte bewiesen. Der, welcher sich selbst mitder reinsten Art von Liebe lieben knnte, wre der, welchersich zugleich selbst verachtete, und welcher zu sich sprche:verachte Niemanden, ausgenommen dich selbst, weil du dich alleinkennen kannst. Diess ist vielleicht die Stellung des Stifters derchristlichen Religion zur Welt. Selbstliebe aus Erbarmen mitsich und seiner vlligen Verchtlichkeit ist Kern des Christenthumsohne alle Schaale und Mythologie. Das Gefhl dieserVerchtlichkeit entspringt aus Selbsterkenntniss und diesewieder aus Rachebedrfni. Hat Jemand genug an sich gelitten,sich selbst genug verletzt durch Sndhaftigkeit aller Art, sobeginnt er gegen sich das Gefhl der Rache zu fhlen. EindringendeSelbstbetrachtung und zuletzt Selbstverachtung sinddie natrlichen Folgen, bei manchen Menschen selbst Askese,d. h. Rache an sich in Thtlichkeit des Widerwillens und Hasses.Auch darin, dass der Mensch sich mehr Mhe und Hast zumuthet,zeigt sich derselbe Hang zur Rache an sich. Dass beialledem der Mensch sich noch liebt, erscheint dann wie einWunder, und gewhnlich legt man eine solche geluterte undunbegreifliche Liebe einem Gotte bei, aber der Mensch selbstist es, der einer solchen Liebe fhig ist in einer Art vonSelbstbegnadigung, denn er kann nicht aufhren, sich zu lieben, daseine Liebe nie Sache des Kopfes sein kann. In diesem Zustandewird die Liebe Herr ber das Gefhl der Rache, der Menschvermag wieder zu handeln und weiter zu leben; er hlt freilich

  • dieses Handeln und alles irdische Streben nicht sehr hoch, es istfast zwecklos, aber er kann nicht anders, alls handeln; wie der

    Page Break KGW='IV-2.420' KSA='8.324'

    Christ der ersten Zeit sich durch den Hinblick auf denUntergang der Welt trstet und dann endlich seiner verchtlichen, zumHandeln treibenden Natur verlustig zu gehen hofft, so kannjetzt jeder Mensch wissen, dass es mit der Menschheit jedenfallseinmal vorbei sein wird und damit muss sich der Ausdruck derZiellosigkeit auf alles menschliche Streben legen; dazu wird erimmer mehr hinter die Grundirrthmer in allen Bestrebungenkommen und sie an's Licht bringen; ihnen allen liegt unreinesDenken zu Grunde. Er wird zum Beispiel einsehen, dass alleAeltern ihr Kind ohne Verantwortung erzeugen und ohneKenntniss des zu Erziehenden erziehen, sodass sie nothwendig Unrechtthun und sich an einer fremden Sphre vergreifen. Es gehrtdiess eben zur Unseligkeit der Existenz, und so wird der Menschzuletzt bei allem, was er thut, sich voller Ungenge fhlen unddas Hchste, was er erreichen kann, wird sein: Mitleid mit sichzu haben; die Liebe und das Mitleid mit sich selber sind fr diehchsten Stufen der Erschwerung des Lebens aufgespart, alsdie strksten Erleichterungsmittel.

    Weib und Kind.

    Aphorism n=2681 id='IV.18[35]' kgw='IV-2.420' ksa='8.324'116. Auf die verfngliche Frage, woher bist du Mensch?antworte ich: aus Vater und Mutter, dabei wollen wir einmalstehen bleiben.

    Aphorism n=2682 id='IV.18[36]' kgw='IV-2.420' ksa='8.324' 118. Wenn ich berall eine Erniedrigung der Deutschen finde,so nehme ich als Grund an, dass seit vier Jahrzehnten eingemeinerer Geist bei den Ehestiftungen gewaltet hat, zumBeispiel in den mittleren Klassen die reine Kuppelei um Geld undRang; die Tchter sollen versorgt werden und die Mnnerwollen Vermgen oder Gunst erheirathen; dafr sieht man denKindern auch den gemeinen Ursprung dieser Ehen an.

    Page Break KGW='IV-2.421' KSA='8.325'

    Aphorism n=2683 id='IV.18[37]' kgw='IV-2.421' ksa='8.325'

  • 119. Das Beste an der Ehe ist die Freundschaft. Ist diese grossgenug, so vermag sie selbst ber das Aphrodisische milderndhinwegzusehen und hinwegzukommen. Ohne Freundschaftmacht die Ehe beide Theile gemein denkend undverachtungsvoll.

    Aphorism n=2684 id='IV.18[38]' kgw='IV-2.421' ksa='8.325'123. Das Beisammenleben der Ehegatten ist das Hauptmittel,um eine gute Ehe selten zu machen, denn selbst die bestenFreundschaften vertragen diess nur selten.

    Aphorism n=2685 id='IV.18[39]' kgw='IV-2.421' ksa='8.325'124. Zu dem Rhrendsten in der guten Ehe gehrt dasgegenseitige Mitwissen um das widerliche Geheimniss, aus welchemdas neue Kind gezeugt und geboren wird. Man empfindetnamentlich in der Zeugung die Erniedrigung des Geliebtestenaus Liebe.

    Aphorism n=2686 id='IV.18[40]' kgw='IV-2.421' ksa='8.325'125. Fr die Existenz braucht kein Sohn seinem Vaterdankbar zu sein, vielleicht darf er ihm sogar wegen bestimmtervererbter Eigenschaften (Hang zu Jhzorn, Wollust) zrnen.Vater haben viel zu thun, um es wieder gut zu machen, dass sieShne haben.

    Aphorism n=2687 id='IV.18[41]' kgw='IV-2.421' ksa='8.325'126. Vter, welche ihr eigenes Ungengen recht herzlichfhlen und sich nach der Hhe des Intellektes und Herzensfortwhrend hinauf sehnen, haben ein Recht, Kinder zu zeugen.Einmal geben sie diesen Hang diese Sehnsucht mit, sodannerteilen sie schon dem Kinde manchen grossen Wink ber daswahrhaft Erstrebenswerthe, und fr solche Winke pflegt derErwachsene seinen Aeltern einzig wirklich dankbar zu sein.

    Page Break KGW='IV-2.422' KSA='8.326'

  • Aphorism n=2688 id='IV.18[42]' kgw='IV-2.422' ksa='8.326'130. Der Mensch ist dazu bestimmt entweder Vater oderMutter zu sein, in irgend welchem Sinne. Ohne Productivitt istdas Leben grsslich, desshalb mache ich mir aus der Jugendnichts, denn in ihr ist es nicht mglich oder nicht vernnftig, zuproduciren.

    Aphorism n=2689 id='IV.18[43]' kgw='IV-2.422' ksa='8.326'131. Wren die Weiber so beflissen auf die Schnheit derMnner, so wurden endlich der Regel nach die Mnner schnund eitel sein wie es jetzt der Regel nach die Weiber sind. Eszeigt die Schwrmerei und vielleicht die hhere Gesinnung desMannes, dass er das Weib schn will. Es zeigt den grerenVerstand und die Nchternheit der Weiber (vielleicht auch ihrenMangel an sthetischem Sinne), dass die Weiber auch diehsslichen Mnner annehmen; sie sehen mehr auf die Sache, dasheisst hier: Schutz, Versorgung; die Mnner mehr auf denschnen Schein, auf Verklrung der Existenz, selbst wenn diesedadurch mhsliger werden sollte.

    Aphorism n=2690 id='IV.18[44]' kgw='IV-2.422' ksa='8.326'135. Es setzt die Liebe tief unter die Freundschaft, dass sieausschliesslichen Besitz verlangt, whrend einer mehrere guteFreunde haben kann, und diese Freunde unter sich einanderwieder Freund werden.

    Aphorism n=2691 id='IV.18[45]' kgw='IV-2.422' ksa='8.326'140. Frauen, welche ihre Shne besonders lieben, sindmeistens eitel und eingebildet. Frauen, welche sich nicht viel ausihren Shnen machen, haben meistens Recht damit, geben aberzu verstehen, dass von einem solchen Vater kein besseres Kindzu erwarten gewesen sei: so zeigt sich ihre Eitelkeit.

    Page Break KGW='IV-2.423' KSA='8.327'

    ber die Griechen.

    Aphorism n=2692 id='IV.18[46]' kgw='IV-2.423' ksa='8.327'

  • 143. Denkt man sich die Griechen als wenig zahlreicheStmme, auf einem reichbevlkerten Boden, wie sie dasFestland im Innern mit einer Race mongolischer Abkunft bedecktfanden, die Kste mit einem semitischen Streifen verbrmtund dazwischen Thrazier angesiedelt fanden, so sieht man dieNthigung ein, vor Allem die Superioritt der Qualittfestzuhalten und immer wieder zu erzeugen; damit bten sie ihrenZauber ber die Massen aus. Das Gefhl, allein als hhereWesen unter einer feindsligen berzahl es auszuhalten,zwang sie fortwhrend zur hchsten geistigen Spannung.

    Aphorism n=2693 id='IV.18[47]' kgw='IV-2.423' ksa='8.327'146. Der platonische Sokrates ist im eigentlichen Sinne eineCarricatur; denn er ist berladen mit Eigenschaften, die nie anEiner Person zusammensein knnen. Plato ist nicht Dramatikergenug, um das Bild des Sokrates auch nur in einem Dialogefestzuhalten. Es ist also sogar eine fliessende Carricatur.Dagegen geben die Memorabilien des Xenophon ein wirklichtreues Bild, das gerade so geistreich ist, als der Gegenstand desBildes war; man muss dieses Buch aber zu lesen verstehen. DiePhilologen meinen im Grunde, dass Sokrates ihnen nichts zusagen habe, und langweilen sich desshalb dabei. Andereschen fhlen, dass dieses Buch zugleich sticht und beglckt.

    Aphorism n=2694 id='IV.18[48]' kgw='IV-2.423' ksa='8.327'153. Die Gtter machen den Menschen noch bser, wenn sieihm nicht wohl wollen; das ist nicht nur griechisch, das istMenschennatur. Wen Einer nicht lieben mag, von dem wnschter im Stillen, dass er schlechter werde und so gleichsam seineAbneigung rechtfertige. Es gehrt diess in die dsterePhilosophie des Hasses, die noch nicht geschrieben ist.

    Page Break KGW='IV-2.424' KSA='8.328'

    Fortsetzung von Menschliches und Allzumenschliches.

    Aphorism n=2695 id='IV.18[49]' kgw='IV-2.424' ksa='8.328'154. Ein dummer Frst, der Glck hat, ist vielleicht dasglcklichste Wesen unter der Sonne, denn der Anstand des HofesIsst ihn sich gerade so weise dnken, als er zum Glcke nthighat. Ein dummer Frst, der Unglck hat, lebt immer noch

  • ertrglich, denn er kann seinen Unmuth und sein Misslingen anAnderen auslassen. Ein kluger Frst, der Glck hat, ist gewhnlichein glnzendes Raubthier; ein kluger Frst, der Unglck hat,dagegen ein sehr gereiztes Raubthier, welches man in einen Kfigsperren soll; er tauscht sich nicht ber seine Fehlgriffe und dasmacht ihn so bse. Ein kluger Frst, der dabei gut ist, istmeistens sehr unglcklich, denn er muss Vieles thun, fr das erzu gut oder zu klug ist.

    Aphorism n=2696 id='IV.18[50]' kgw='IV-2.424' ksa='8.328'155. Im Grunde halt man das Streben und die Absichten einesMenschen, seien sie auch noch so gefhrlich und absonderlich,fr entschuldigt oder mindestens fr verzeihlich, wenn er seinLeben dafr einsetzt. Die Menschen knnen vielleicht durchnichts so deutlich ausdrcken, wie hoch sie den Werth desLebens nehmen.

    Aphorism n=2697 id='IV.18[51]' kgw='IV-2.424' ksa='8.328'156. Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht darin, dasswir sie wie Schufte behandeln. Ich wnschte einmal, dieDefinition des Schuftes zu hren. Das eigentlich Schuftige scheint frdas Auge der Justiz unerkennbar zu sein und desshalb erreichtauch ihr Arm es nicht.

    Aphorism n=2698 id='IV.18[52]' kgw='IV-2.424' ksa='8.328'157. Der Sinn der ltesten Strafen ist nicht: vor demVergehen abzuschrecken, sondern erstens: ein Versuch, den

    Page Break KGW='IV-2.425' KSA='8.329'

    Schaden wieder gut zu machen, zum Beispiel durch einBussgeld an die Verwandten des Erschlagenen;zweitens gehren Maassregeln hieher, welche das Gemeinwesen trifft, umsich als Ganzes vor dem Zorn einer beleidigten Gottheit zusichern, desshalb muss der Mrder bei Homer aus seiner Heimathflchtig werden; es liegt kein sittlicher, wohl aber ein religiserMakel auf ihm: er gefhrdet das Gemeinwesen, zu dem ergehrt. Diese Gattung von Maassregeln ist bei uns berflssig.

    Aphorism n=2699 id='IV.18[53]' kgw='IV-2.425' ksa='8.329'

  • 158. Der Grundgedanke eines neuen menschlicherenStrafrechts msste sein: ein Unrecht einmal insofern zu beseitigen,als der Schaden wieder gut gemacht werden kann; sodann diebse That durch eine Gutthat zu compensiren. Diese Gutthatbrauchte nicht den Beschdigten und Beleidigten, sondernirgend Jemandem erwiesen zu werden; man hat sich ja durchden Frevel selten am Individuum, sondern gewhnlich amGliede der menschlichen Gesellschaft vergangen, man istdadurch der Gesellschaft eine Wohlthat schuldig geworden. Diessist nicht so grblich zu verstehen, als ob ein Diebstahl durchein Geschenk wieder gut zu machen ware; vielmehr soll Der,welcher seinen bsen Willen gezeigt hat, nun einmal seinenguten Willen zeigen.

    Aphorism n=2700 id='IV.18[54]' kgw='IV-2.425' ksa='8.329'162. Man kann zweifeln, ob dem guten Menschen, den es nachErkenntniss drstet, dadurch genutzt wird, dass er immer besserwird. Ein Wenig mehr Snde gelegentlich macht ihnwahrscheinlich weiser. Jedermann von einiger Erfahrung wirdwissen, in welchem Zustande er das tiefste verstehendeMitgefhl mit der Unsicherheit der Gesellschaft und der Ehenhatte.

    Page Break KGW='IV-2.426' KSA='8.330'

    Aphorism n=2701 id='IV.18[55]' kgw='IV-2.426' ksa='8.330'163. Eigentlich hat der einmal bestrafte Dieb einen Anspruchauf Vergtung, insofern er durch die Justiz seinen Rufeingebsst hat. Was er dadurch leidet, dass er von jetzt ab als Diebgilt, geht weit ber das Abbssen einer einmaligen Schuldhinaus.

    Aphorism n=2702 id='IV.18[56]' kgw='IV-2.426' ksa='8.330'164. Die katholische Kirche hat, durch die Institution derBeichte, ein Ohr geschaffen, in welches man sein Geheimnissohne gefhrliche Folgen ausplaudern kann. Diess war einegrosse Erleichterung des Lebens, denn man vergisst seine Schuldvon dem Augenbllick an, wo man sie weitererzhlt hat, abergewhnlich vergessen die Anderen sie nicht.

  • Aphorism n=2703 id='IV.18[57]' kgw='IV-2.426' ksa='8.330'165. Wer das Nichtsein wirklich hher stellt, als das Sein, hatim Verhalten zu dem Nchsten dessen Nichtsein mehr zufrdern, als dessen Sein; weil die Moralisten dieser Forderungausbiegen wollen, erfinden sie solche Stze, dass Jeder nur sichselber in's Nichtsein erlsen knne.

    Aphorism n=2704 id='IV.18[58]' kgw='IV-2.426' ksa='8.330'67. Auf die reine Erkenntniss der Dinge lsst sich keine derbisherigen Ethiken grnden; aus ihr folgt allein diess, dass manein muss, wie die Natur, weder gut noch bse. Die Forderung,gut zu sein, entspringt aus unreinem Erkennen.

    Aphorism n=2705 id='IV.18[59]' kgw='IV-2.426' ksa='8.330'618. Unrecht hinterlsst mitunter in Dem, welcher es thut,eine Wunde, doch nicht hufig. Gewissensbisse sind eher dieAusnahme, als die Regel. Jemanden, der uns zuwider ist, so zubeleidigen, dass wir seinen Umgang los sind, erzeugt sogar einseliges Aufathmen ber die erlangte Freiheit. Vielleicht aberist hier das Unrechtthun Nothwehr.

    Page Break KGW='IV-2.427' KSA='8.331'

    Aphorism n=2706 id='IV.18[60]' kgw='IV-2.427' ksa='8.331'169. Der Staatsmann muss seinen Unternehmungen ein gutesGewissen vorhngen knnen und braucht dazu die begeistertenEhrlichen und noch mehr Die, welche so zu scheinen vermgen.

    Aphorism n=2707 id='IV.18[61]' kgw='IV-2.427' ksa='8.331'173. Wer den Trieb zur Reinlichkeit auch im Geistigen hat,wird es nur eine Zeit lang in den Religionen aushalten und sichdann in eine Metaphysik flchten; spter wird er sich von Stufezu Stufe auch der Metaphysik entschlagen. Es istwahrscheinlich, dass der Trieb zur Reinlichkeit im Moralischen ehereinenentgegengesetzten Weg einschlagen wird; dafr ist dieser Triebimmer mit der Unreinheit des Denkens verbunden und machtdieses vielleicht immer unreinlicher.

  • Aphorism n=2708 id='IV.18[62]' kgw='IV-2.427' ksa='8.331'176. Die Pflugschar schneidet in das harte und das weicheErdreich, sie geht ber Hohes und Tiefes hinweg und bringt es sichnah. Diess Buch ist fr den Guten und den Bsen, fr denNiedrigen und den Mchtigen. Der Bse, der es liest, wird besserwerden, der Gute schlechter, der Geringe mchtiger, derMchtige geringer.

    Page Break KGW='IV-2.428' KSA='8.332'

    [ 19 = U II 5 c. Oktober Dezember 1876 ]

    Bex vom 3 October an

    Aphorism n=2709 id='IV.19[1]' kgw='IV-2.428' ksa='8.332'1. Philologie ist die Kunst, in einer Zeit, welche zu viel liest,lesen zu lernen und zu lehren. Allein der Philologe liestlangsam und denkt ber sechs Zeilen eine halbe Stunde nach. Nichtsein Resultat, sondern diese seine Gewhnung ist seinVerdienst.

    Aphorism n=2710 id='IV.19[2]' kgw='IV-2.428' ksa='8.332'2. Die Geschichte der Philologie ist die Geschichte einerGattung von fleiigen aber unbegabten Menschen. Daher dieunsinnige Bekmpfung und sptere berschtzung einigerscharfsinnigeren und reicheren Naturen, welche unter diePhilologen gerathen sind.

    Aphorism n=2711 id='IV.19[3]' kgw='IV-2.428' ksa='8.332'3. Dass die Philologen dazu befhigt sind (mehr als z.B. dieMediciner), die Jugend zu erziehen, ist ein Vorurtheil, welchesnoch dazu tglich durch die Erfahrung lgen gestraft wird.Man macht es also hier, wie bei den Straenfegern, welcheauch niemand darauf hin prft, ob sie am besten verstehen, dieStrae zu fegen; genug dass sie den Willen zu diesemunsauberen Geschft haben. Ebenso weist jeder Stand das Geschft

  • der Jugenderziehung von sich ab und ist zufrieden, dass diePhilologen es nicht thun.

    Aphorism n=2712 id='IV.19[4]' kgw='IV-2.428' ksa='8.332'4. Das Alterthum ist in allen Hauptsachen von KnstlernStaatsmnnern und Philosophen entdeckt worden, nicht vonPhilologen: und dies bis auf den heutigen Tag.

    Page Break KGW='IV-2.429' KSA='8.333'

    Aphorism n=2713 id='IV.19[5]' kgw='IV-2.429' ksa='8.333'5. Dass man eine Sophokleische Tragdie an 100 Stellen falschverstehen und an vielen verdorbenen Stellen einfachvorbergehen, aber doch die Tragdie besser verstehen und erklrenkann als der grndlichste Philologe, das wollen die Philologennicht glauben. Wer einen geistreichen Autor liest und am Schlusse glaubt,er habe alles verstanden, exc. der ist glcklich.

    Aphorism n=2714 id='IV.19[6]' kgw='IV-2.429' ksa='8.333'6. Ich glaube Shakespeare besser zu verstehen allsneuenglische Sprachlehrer, obwohl ich viele Fehler mache. ImAllgemeinen wird sogar jedermann einen alten Autor besserverstehen als der philologische Sprachlehrer: woher kommt das? Daher dass Philologen nichts ausser altgewordenenGymnasiasten sind.

    Aphorism n=2715 id='IV.19[7]' kgw='IV-2.429' ksa='8.333'18. Feineren Geistern wird von solchen ein Zwang angethan,welche immer Geschichten erzhlen, ber die man lachensoll: wo es nicht gengt zu lcheln.

    Aphorism n=2716 id='IV.19[8]' kgw='IV-2.429' ksa='8.333'12. Ein Meister wird seinen Umgang unter Meistern andererKnste wahlen und unter seinen Schlern sein, aber nicht beiden Fachgenossen und berhaupt nicht bei denen, welche nur

  • Fachleute sind, und keine Meister.

    Aphorism n=2717 id='IV.19[9]' kgw='IV-2.429' ksa='8.333'14. Die welche sich mit uns freuen knnen, stehen hher unduns naher als die welche mit uns leiden. Mitfreude macht denFreund (den Mitfreuenden), Mitleid den Leidensgefhrten. Eine Ethik des Mitleidens braucht eine Ergnzung durchdie noch hhere Ethik der Freundschaft.

    Page Break KGW='IV-2.430' KSA='8.334'

    Aphorism n=2718 id='IV.19[10]' kgw='IV-2.430' ksa='8.334'5. Die Menschen werden je nach ihrer Heimat ProtestantenKatholiken Trken, wie einer, der in einem Weinlande geborenwird, ein Weintrinker wird.

    Aphorism n=2719 id='IV.19[11]' kgw='IV-2.430' ksa='8.334'17.Wer sich im Ganzen viel versagt, wird sich im Kleinennicht Indulgenz geben. So hat es vielleicht keinen Standgeben, welcher unter dem Erotischen so sehr allein Ausschweifungenverstand, wie den katholischen Priesterstand, welcherder Liebe entsagte. Dafr erlaubte er sich die gelegentlicheLust.

    Aphorism n=2720 id='IV.19[12]' kgw='IV-2.430' ksa='8.334'18. Man kann hchst passend reden und doch so daalle Welt ber das Gegentheil schreit. So redete Sokrates sehrpassend, aber vor einem weltgeschichtlichen Forum: seine Richterurtheilten umgekehrt. Die Meister reden sich zu ihrenHrern herab.

    Aphorism n=2721 id='IV.19[13]' kgw='IV-2.430' ksa='8.334'19. Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einenanschaffen. Dass ein Sohn sich einen Vater adoptirt, istvernnftiger als das Gegentheil: weil er sehr viel genauer weiss, was erbraucht.

  • Aphorism n=2722 id='IV.19[14]' kgw='IV-2.430' ksa='8.334'20. Das Ansehen der rzte beruht auf der Unwissenheit derGesunden und Kranken: und diese Unwissenheit wiederumberuht auf dem Ansehen der rzte.

    Aphorism n=2723 id='IV.19[15]' kgw='IV-2.430' ksa='8.334'21. Der beste Arzt wird nur Einen Patienten haben knnen;jeder Mensch ist eine Krankheitsgeschichte.

    Page Break KGW='IV-2.431' KSA='8.335'

    Aphorism n=2724 id='IV.19[16]' kgw='IV-2.431' ksa='8.335'23. Einen Autor, der sich nicht nennt, zu errathen und zuverrathen heisst ihn so behandeln als ob man mit einem verkleidetenVerbrecher oder mit einer schelmischen Schnen zu thunhabe, was oft genug erlaubt sein mag: aber es giebt Falle, woman seine Verschwiegenheit mindestens ebenso zu ehren hat,wie die eines incognito reisenden Frsten.

    Aphorism n=2725 id='IV.19[17]' kgw='IV-2.431' ksa='8.335' Die Schtzung von Eigenschaften kann nur vergleichendsein, das eigne Interesse will die hchste Schtzung. Wetteifer oder Vernichtung.

    Aphorism n=2726 id='IV.19[18]' kgw='IV-2.431' ksa='8.335'24. Die Illusion des Geschlechtstriebs ist ein Netz, das, wennes zerrissen wird, sich immer von selbst wieder strickt.

    Aphorism n=2727 id='IV.19[19]' kgw='IV-2.431' ksa='8.335'27. Um den Vortheil einer gefhrlichen Geldspekulation zuhaben, muss man es wie beim kalten Bade machen schnellhinein, schnell heraus.

  • Aphorism n=2728 id='IV.19[20]' kgw='IV-2.431' ksa='8.335'28. Der dramatische Musiker muss nicht nur Ohren, sondernauch Augen in den Ohren haben.

    Aphorism n=2729 id='IV.19[21]' kgw='IV-2.431' ksa='8.335'32. Die Arbeiter klagen dass sie berarbeitet werden. Aberdieselbe berarbeitung findet sich berall, bei den KaufleutenGelehrten Beamten Militrs: bei den reichen Klassen erscheintdie berarbeitung als innerer Trieb der allzugroenThtigkeit, bei den Arbeitern wird sie uerlich erzwungen, das istder Unterschied. Eine Milderung dieses Triebes kme indirektauch dem Arbeiter zu Gute. Er mge nicht glauben, dass derjetzige Banquier genureicher oder wrdiger als er lebt.

    Page Break KGW='IV-2.432' KSA='8.336'

    Aphorism n=2730 id='IV.19[22]' kgw='IV-2.432' ksa='8.336'35. Die meisten Schriftsteller schreiben schlecht weil sie unsnicht ihre Gedanken sondern das Denken der Gedankenmittheilen. Oft ist es Eitelkeit was die Periode so voll macht, es istdas begleitende Gegacker der Henne, welche uns auf das Eiaufmerksam machen will, nmlich auf irgend einen inmitten dervollen Periode stehenden kleinen Gedanken.

    Aphorism n=2731 id='IV.19[23]' kgw='IV-2.432' ksa='8.336'36. Der Mensch ist als Kind vom Thier am weitestenentfernt, sein Intellekt am menschlichsten. Mit dem fnfzehntenJahre und der Pubertt tritt er dem Thiere einen Schrittnaher, mit dem Besitzsinne der dreissiger Jahre (der mittlerenLinie zwischen Faulheit und Begehrlichkeit) noch einen Schritt.Im sechzigsten Lebensjahr verliert sich hufig noch die Scham;dann tritt der siebzigjhrige Alte ganz als entschleierte Bestievor uns hin: man sehe nur nach Augen und Gebi.

    Aphorism n=2732 id='IV.19[24]' kgw='IV-2.432' ksa='8.336'

  • 38. Der Ungehorsam und Unabhngigkeit, namentlichinnerliche, der Shne gegen die Vter geht gewhnlich gerade soweit als mglich d. h. als es der Vater irgend wie noch ertrgt;woraus sich ergiebt dass es viel unangenehmer ist Vater zu seinals Sohn.

    Aphorism n=2733 id='IV.19[25]' kgw='IV-2.432' ksa='8.336' Ironie ist unedel.

    Aphorism n=2734 id='IV.19[26]' kgw='IV-2.432' ksa='8.336'41. Sobald man begriffen hat, dass ein Frst bei politischenVernderungen seines Landes nicht mehr in Betracht kommtund nur noch fr die Hflinge und das Landvolk interessantist, soll man ihm aus dem Wege gehen, da man ihn nicht alsPrivatmann behandeln darf.

    Page Break KGW='IV-2.433' KSA='8.337'

    Aphorism n=2735 id='IV.19[27]' kgw='IV-2.433' ksa='8.337'42. Der Thtige will sich durch die Kunst zerstreuen, derKnstler verlangt hchste Sammlung. Folglich mssen sie miteinander unzufrieden sein und sich in einander verbeien. DieKunst ist eben gar nicht fr diese Thtigen da, sondern frjene, welche einen berschu von Mue haben und also ihrenhchsten Ernst ausnahmsweise dem Knstler schenken knnen:fr die Existenz dieser Klasse der mssigen Olympier habenjene Thtigen (seien sie Arbeiter oder Banquiers oder Beamte)mit ihrer berarbeit zu sorgen. Ist die Existenz dieser Klasseein bel, so ist auch die Kunst ein bel. Kunst die Thtigkeit der Mssigen. Lste bilden die Mue der Thtigen.

    Aphorism n=2736 id='IV.19[28]' kgw='IV-2.433' ksa='8.337'43. In 50 Jahren versteht sich jeder krftige Mann in. Europaauf die Waffen und das militrische Manvriren, der besserBefhigte sogar auf die Taktik. Jeder der von da an Meinungenzur Herrschaft bringen wird, mag wissen, dass er ein gebtesHeer fr seine Meinungen gewonnen hat. Das wird dieGeschichte der Meinungen bestimmen.

  • Aphorism n=2737 id='IV.19[29]' kgw='IV-2.433' ksa='8.337'45. Dreiviertel aller Lgen sind durch die Antithese in dieWelt gekommen.

    Aphorism n=2738 id='IV.19[30]' kgw='IV-2.433' ksa='8.337' Ton der Jugend zu laut.

    Aphorism n=2739 id='IV.19[31]' kgw='IV-2.433' ksa='8.337' Der Eitele und der Verliebte whnen, einer andren Personwegen eitel oder verliebt zu sein.

    Page Break KGW='IV-2.434' KSA='8.338'

    Aphorism n=2740 id='IV.19[32]' kgw='IV-2.434' ksa='8.338'50. Der beste Autor schmt sich Schriftsteller zu sein, er ist zureich an Gedanken und zu vornehm, als dass er sich nichtschmen sollte, seinen Reichthum anders als nur gelegentlichsehen zu lassen.

    Aphorism n=2741 id='IV.19[33]' kgw='IV-2.434' ksa='8.338' 51. Um eine Traube und ein Talent zur Reife zu bringen, dazugehren ebenso Regen- als Sonnentage.

    Aphorism n=2742 id='IV.19[34]' kgw='IV-2.434' ksa='8.338' 52. Man Unterschtzt den Werth einer bsen That, wennman nicht in Anschlag bringt, wie viel Zungen sie in Bewegungsetzt, wie viel Energie sie entfesselt und wie vielen Menschensie zum Nachdenken oder zur Erhebung dient.

    Aphorism n=2743 id='IV.19[35]' kgw='IV-2.434' ksa='8.338'

  • 53. Die Verdunkelung von Europa kann davon abhngen obfnf oder sechs freiere Geister sich treu bleiben oder nicht.

    Aphorism n=2744 id='IV.19[36]' kgw='IV-2.434' ksa='8.338'54. Niemand ist fr seine Thaten verantwortlich, niemand frsein Wesen: richten ist soviel als ungerecht sein. Dies gilt auch,wenn das Individuum ber sich richtet. Der Satz ist so hell wieSonnenlicht und doch geht hier jedermann lieber in den Schattenund die Unwahrheit: aus Furcht vllig die Sehkraft zu verlieren,also der vermeintlichen Folgen wegen.

    Aphorism n=2745 id='IV.19[37]' kgw='IV-2.434' ksa='8.338'55. Moralitt wird allein dadurch verbreitet, dass was denIntellekt aufhellt mglichst viel neue und hhere Mglichkeitendes Handelns kennen lehrt und damit eine Menge neuerMotive des Handelns zur Auswahl darbietet, sodann dass manGelegenheiten giebt. Der Mensch wird von einem niederen

    Page Break KGW='IV-2.435' KSA='8.339'

    Motiv sehr hufig nur deshalb ergriffen, weil er ein hheresnicht kannte, und er bleibt mittelmig und niedrig in seinenHandlungen, weil ihm keine Gelegenheit geboten wurde, seinegreren und reineren Instinkte hervorzukehren. VieleMenschen warten ihr Lebenlang auf die Gelegenheit, auf ihreArt gut zu sein.

    Aphorism n=2746 id='IV.19[38]' kgw='IV-2.435' ksa='8.339'56. Bei der Wahl zwischen einer leiblichen und geistigenNachkommenschaft, hat man zu Gunsten letzterer zu erwgen,dass man hier Vater und Mutter in Einer Person ist und dassdas Kind, wenn es geboren ist, keiner Erziehung mehr,sondern nur der Einfhrung in die Welt bedarf.

    Aphorism n=2747 id='IV.19[39]' kgw='IV-2.435' ksa='8.339'59. Von zwei beln Empfindungen kann allmhlich diePhilosophie erlsen: erstens von der Furcht auf dem Sterbebette,weil da nichts zu frchten ist, zweitens von der Reue und

  • Gewissensqual nach der That, weil jede That ganz unvermeidlichwar. Hinsichtlich alles Vergangenen ist ein kalter Fatalismus diephilosophische Gesinnung. Der Unmuth ber eine That wird aber vielleicht nichtgeringer, wenn ich einsehe, dass sie Nothwendigkeit war: es ist einSchmerz, der sich nicht durch Vorwurf Rache usw. erleichternkann. Denn seine ganze Natur sein esse der That zu bezichtigenist nur eine neue Stufe derselben Unvernunft, welche uns fr jedeeinzelne Handlung verantwortlich machen will. Weil derUnmuth da ist, so muss Verantwortlichkeit da sein, also irgendwoeine Freiheit: so kam Schopenhauer auf den Begriff derintelligiblen Freiheit. Aber die Thatsache des Unmuths beweist nichtdie rationelle Vernnftigkeit dieses Unmuthes: und nur, wenn esso stnde, wrde man in der Schopenhauerschen Weisefortschlieen knnen. Der Unmuth ist brigens zwar jetzt da,aber kann vielleicht abgewhnt werden.

    Page Break KGW='IV-2.436' KSA='8.340'

    Wenn aber die schlechte ungeschickte Handlung keinenUnmuth nach sich zieht, so wrde diese kalte Gesinnung, welcheman sich in Hinsicht der Vergangenheit angewhntdie Freude am Gethanen entwurzelt haben. Nun wird aber dasHandeln der Menschen durch die Anticipation der zuerwerbenden Lust oder Unlust bestimmt: fllt diese weg, so hielte ihnkeine Empfindung mehr von der schlechten Handlung zurck,und zge ihn nichts mehr zu der guten That hin. Er wrde inHinsicht auf das Kommende ebenso kalt wie in Hinsicht auf dasVergangene. Jetzt trte die kalte berlegung ein, ob Leben oderNichtleben vorzuziehen sei: und der Selbstmord aus Besonnenheitwre die Folge. In Erkenntniss oder Witterung dieses Sachverhaltesstrubt sich jeder Mensch, und auch jede Ethik gegendie Aufhebung der Freiheit: letztere mit Unrecht, da die Philosophiedurchaus nicht auf die Consequenzen der Wahrheit sondernnur auf sie zu achten hat. Dass das Leben als Ganzeskeine Folge der Empfindung (Lust oder Unlust) haben soll, wirdaus demselben Grunde abgewehrt (daher die Bedeutung, die demSterbebette zugeschrieben wird).

    Aphorism n=2748 id='IV.19[40]' kgw='IV-2.436' ksa='8.340'65. Werde der, der du bist: das ist ein Zuruf, welcherimmer nur bei wenig Menschen erlaubt, aber bei denallerwenigsten dieser Wenigen berflssig ist.

    Aphorism n=2749 id='IV.19[41]' kgw='IV-2.436' ksa='8.340'

  • 66. Die Ethik jeder pessimistischen Religion besteht inAusflchten vor dem Selbstmorde.

    Aphorism n=2750 id='IV.19[42]' kgw='IV-2.436' ksa='8.340'70. Und was kam ihrer Tugend zu Hlfe? Die Stimme desGewissens? O nein, die Stimme der Nachbarin.

    Page Break KGW='IV-2.437' KSA='8.341'

    Aphorism n=2751 id='IV.19[43]' kgw='IV-2.437' ksa='8.341'71. Selbstgengsame Leute zeigen mitunter sich aus Gutmthigkeiteitel: z.B. um die Eitelkeit bestimmter Klassen nicht zubeschmen.

    Aphorism n=2752 id='IV.19[44]' kgw='IV-2.437' ksa='8.341'72. Der Selbstgengsame wird eitel, wenn er die hhere Selbstgengsamkeiteines Anderen empfindet, was aber selten vorkommt.

    Aphorism n=2753 id='IV.19[45]' kgw='IV-2.437' ksa='8.341'73. Es lt keinen Schluss auf die Begabung zu, ob jemandvorwiegend eitel oder selbstgengsam ist: das grsste Genie istmitunter eitel gleich einem jungen Mdchen und wre im Standesich die Haare zu frben. Diese Eitelkeit ist vielleicht diebriggebliebene und grogewachsene Gewohnheit, aus der Zeit her,wo er noch kein Recht hatte, an sich zu glauben und diesenGlauben erst von anderen Menschen in kleinen Mnzen einbettelte.

    Aphorism n=2754 id='IV.19[46]' kgw='IV-2.437' ksa='8.341'79. Man entkommt hufig seinen Verfolgern eher dadurch dassman langsamer als dass man schneller geht; das gilt namentlichbei litterarischen Verfolgungen.

    Aphorism n=2755 id='IV.19[47]' kgw='IV-2.437' ksa='8.341'

  • Kotzebue in ihm leben weben und sind wir. Shakespeare, Zufall in der Geschichte des Theaters. Schiller ist ein besserer Theaterdichter.

    Aphorism n=2756 id='IV.19[48]' kgw='IV-2.437' ksa='8.341'84. Der Fromme fhlt sich dem Unfrommen berlegen: anchristliche Demuth will ich glauben, wenn ich sehe dass derFromme sich vor dem Unfrommen erniedrigt.

    Aphorism n=2757 id='IV.19[49]' kgw='IV-2.437' ksa='8.341' Ich verndere manche Rhythmen der Periode wegen derLeser.

    Page Break KGW='IV-2.438' KSA='8.342'

    Aphorism n=2758 id='IV.19[50]' kgw='IV-2.438' ksa='8.342'90. Man schenkt jemandem lieber sein ganzes Herz als seinganzes Geld. Wie kommt das? Man schenkt sein Herz undhat es noch, aber das Geld hat man nicht mehr.

    Aphorism n=2759 id='IV.19[51]' kgw='IV-2.438' ksa='8.342'93. Kein Schriftsteller hat bis jetzt genug Geist gehabt, umrhetorisch schreiben zu drfen.

    Aphorism n=2760 id='IV.19[52]' kgw='IV-2.438' ksa='8.342'96. Eine schne Frau hat doch Etwas mit der Wahrheit gemein(was auch die Lsterer sagen mgen!): beide beglcken mehr,Wenn sie begehrt, als wenn sie besessen werden.

    Aphorism n=2761 id='IV.19[53]' kgw='IV-2.438' ksa='8.342'99. Ein Bndniss ist fester, wenn die Verbndeten an einanderglauben als von einander wissen: weshalb unter Verliebten dasBndniss fester vor der ehelichen Verbindung als nach derselben

  • ist.

    Aphorism n=2762 id='IV.19[54]' kgw='IV-2.438' ksa='8.342'100. Kein Frst, der Krieg fhren wollte, war je um einencasus belli verlegen. Aber alle Motive, welche wir ffentlich zuerkennen geben, zeigen, dass wir Alle nie um einen casus belliverlegen sind. Jede Handlung wird aus Motiven gethan und auseinem angeblichen Motive.

    Aphorism n=2763 id='IV.19[55]' kgw='IV-2.438' ksa='8.342'103. Ein Staatsmann zertheilt die Men