Die Deutschlandakte- HHvon Arnim 2009

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    wvvw goldmann-verlag de

  • GOLDMANN

    Buch

    Hans Herbertvon Arnim

    Die Deutschlandakte ist die Quintessenz intensiver Recherchen undjahrzentelanger Beschftigung des angesehenen Autors mit den poli-tischen und gesellschaftlichen Zustnden in Deutschland. Hans Herbertvon Arnim beschreibt die Defizite und Auswchse in unserem Gemein-wesen und seziert die geheimen Beweggrnde der Macher. Er deckt diekrasse Diskrepanz zwischen dem ffentlich immer wieder beschwore-nen Ideal der Demokratie und den realen Zustnden auf und beleuch-tet die fatalen Folgen. Volkssouvernitt, Gewaltenteilung, Wahl derAbgeordneten durch die Brger - alles Fehlanzeige. Die Mchtigen inPolitik und Wirtschaft agieren zunehmend im kontrollfreien Raum undim Zweifel eher im eigenen als im ffentlichen Interesse. Hans Herbertvon Arnim lsst anhand einer langen Reihe von Beispielen aus Politik,Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Gesellschaft ein ganzes System vonAuswchsen und Defiziten sichtbar werden. Und er macht konkrete

    Vorschlge, wie wir die Demokratie retten knnen.

    So harsch wurden den Mchtigen schon lange nicht mehrdie Leviten gelesen. (Stern)

    DieDeutschlandakte

    Was Politikerund Wirtschaftsbosseunserem Land antun

    Autor

    Hans Herbert von Arnim, geboren 1939, studierte Rechts- und Wirt-schaftswissenschaften und lehrt seit 1981 an der Deutschen Hochschu-le fr Verwaltungswissenschaften in Speyer. DIE ZEIT nannte ihn eineEin-Mann-Instanz im Kampf gegen Auswchse des Parteienstaates.Viele seiner Bcher waren Bestseller, u.a. Staat ohne Diener, Fetter

    Bauch regiert nicht gern und Der Staat als Beute.

  • Inhalt

    Zur Einfhrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 11

    Mix

    I Volkssouvernitt und Verfassung

    I Volkssouvernitt: Usurpation durch diepolitische Klasse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 15

    2 Verfassung: Sicherung oder Gefhrdung desGemeinwohls? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 22

    3 Politische Klasse: Der heimliche Souvern 264 Norm und Wirklichkeit: Die Verfassung steht nur

    auf dem Papier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 305 Reprsentation und Partizipation:

    Dichtung statt Wahrheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 356 Selbstbedienung: Entscheidung der Politik in

    eigener Sache .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 37

    J;;SFSC

    ProdulctgruppelllSvorblldlichbewlrtschilftetenW.lldemund

    anderen kontrollierten Herknhen

    Zert.-Nr.SG5-COC-1940_.fsc.org

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    Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-OIOODas fr dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier

    Mnchen Super liefert Mochenwangen Papier.

    I. AuflageTaschenbuchausgabe Mai 2009

    Wilhe1m Goldmann Verlag, Mnchen,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

    Copyright 2008 der Originalausgabeby C. Bertelsmann Verlag, Mnchen,

    in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, Mnchen,in Anlehnung an die Gestaltung der Originalausgabe

    (Roland Eschlbeck und Rosemarie Kreuzer)KF . Herstellung: Str.

    Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PneckPrinted in Germany

    ISBN: 978-3-442-15566-8

    www.goldmann-verlag.de

    11Wahlen

    I Wahlen: Das entwertete Fundamentalrecht derBrger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 39

    2 Wahl von Abgeordneten: Inszenierter Schein 423 Europa: Wahl ohne Auswahl 464 Wahlbeteiligung: Stell' dir vor, es sind Wahlen,

    und keiner geht hin 485 Diskriminierung von neuen Parteien und

    Whlergemeinschaften: Politik als Closed Shop 5I6 Fnf-Prozent-Klausel: Willkommene Barriere

    gegen Konkurrenz 577 Europische Union: Eine Scheindemokratie . . . . . .. 648 Vorwahlen: Wider das Monopol der Parteien. . . . .. 68

  • 9 Begrenzung der Amtszeit: Zwei Wahlperiodensind genug .

    111Direkte Demokratie

    I Direkte Demokratie: Deutschland,ein Entwicklungsland .

    2 Wie die politische Klasse den Souvern verachtet:Hamburger Lehrstck in Machtmissbrauch .

    3 Reform der Kommunalverfassung:Die legale Revolution .

    4 Direktwahl des Ministerprsidenten:Eine Antwort auf das Fnf-Parteien-System .

    IV Politische Parteien

    I Parteibuchwirtschaft: Die Kolonisierung vonStaat und Verwaltung 92

    2 Staatliche Parteienfinanzierung: Die Verfassungsvterwrden sich im Grabe drehen .

    3 Parteien im Schlaraffenland: Und sie wollenimmer mehr ...............................

    4 Parteisteuern: Wie die Parteien ihreZglinge melken .

    5 Spenden an Parteien und Abgeordnete:Institutionalisierte Korruption .

    6 Parteistiftungen: Die gesetzlosen Sechs .7 Der Parteienstaat: Leibholz' schweres Erbe .8 Parteiinterne Ochsentour: Lebensferne Tretmhle

    zur Macht ................................9 Politische Parteien: Korrupte Organisationen?

    V Abgeordnete

    I Abgeordnete: Parteifunktionre stattVolksvertreter .............................

    2 Ditenerhhung: Wie Abgeordnete sich selbstbedienen und die Wahrheit verdrehen .

    3 Zusatzeinkommen von Abgeordneten:Volle Publikation unerlsslich .

    6

    73

    4 Landtagsabgeordnete: Volle Bezahlungfr Halbtagsjob 152

    5 Freiheit des Mandats: Ein schner Traum 1576 Parlamentarische Unverantwortlichkeit von

    Abgeordneten: Ein berholtes Vorrecht 1607 Abgeordnetenmitarbeiter: Missbrauch

    von Steuergeld 1628 Europische Union: Schlaraffenland fr Politiker

    und Parteien 1649 Berufspolitiker: Dilettanten im Amt? 16710 Entschdigung: Der Stein der Weisen 171

    81

    14

    VI Parlamente

    I Die demokratische Legitimation des Bundestags:Eine bloe politische Formel 175

    2 Verbeamtung: Die sogenannte Reprsentationdes Volkes 178

    3 Der lange Arm der politischen Klasse:Der Wissenschaftspreis des Bundestags 181

    4 Europaparlament: Kein Parlament 1855 Sofortmanahmen: Gegen Unverantwortlichkeit

    und Verdrossenheit 186111

    114 VII GewaltenteilungI Erosion der Gewaltenteilung:

    Eine rechts staatlich-demokratischeBankrotterklrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 190

    2 Minister als Abgeordnete: Ein unmglicherSpagat 194

    3 Staatsanwlte: Am Zgel der Politik 1964 Parteienfinanzierung: Scheinkontrolle durch das

    Bundesverfassungsgericht 2005 Hofkommissionen: Irrefhrung der

    ffentlichkeit 2036 Bundesprsident: Von der Macht

    eines Machtlosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 207

    120

    124

    126

    129

    14

    7

  • VIII Fderalismus und Bundeslnder

    I Neugliederung der Bundeslnder:Versagen aus Opportunismus .

    2 Der gefesselte Riese: Konstitutionelle Lhmungder Republik .

    3 Perversion der Politik:Organisierte Unverantwortlichkeit .

    XIII Wirtschaft

    I Der Mittelstand: Zwischen allen Sthlen 2572II 2 berzogene Vorstandsgehlter trotz Misswirtschaft:

    Wer kontrolliert die Wirtschaftsbosse? . . . . . . . . . .. 2593 Diener vieler Herren: In der Wirtschaft ganz

    normal? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2664 Kontrollierte Kontrolleure: Gleichschaltung- von

    Betriebsrten 2685 Strompreise in Deutschland: Gegen die

    Konzerne scheint kein Kraut gewachsen 2726 Landesbanken: Vom Prestigeinstitut zum

    Klotz am Bein 2747 Funktionre: Unselige Macher in Politik,

    Verwaltung, Wirtschaft und Verbnden 277

    2I7

    IX Gerichte

    I Prozesse von endloser Dauer:Wer richtet die Richter? .

    2 Richter: Ohne Verantwortung? .3 Die Kleinen hngt man, die Groen

    lsst man laufen: Der Deal im Strafprozess .

    22I225

    227

    X Wissenschaft und Schulen

    I Wissenschaft an den Problemen vorbei:Warum Staatsrechtslehre und Politikwissenschaftversagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 232

    2 Staatsrechtslehre: Nicht ohne faschistischeU-Boote 234

    3 Schulen und Lehrer: Vernachlssigung desWichtigsten .

    XIV Lobbying und Pluralismus

    I Lobbying: Zwischen Notwendigkeit undMissbrauch 280

    2 Pluralismus: Wunsch und Wirklichkeit 285

    XI Medien

    XV Korruption

    I Politische Korruption: In Deutschland erlaubt .....2 Pantouflage: Wie man sein Amt ungestraft

    zu Geld macht .3 Sponsoring der ffentlichen Hand: Zwischen

    Wohlttigkeit, Werbung und Korruption .4 Whistleblower: Denunziant oder Anwalt des

    ffentlichen Interesses? .5 Flick-Skandal: Sturz einer Regierung .

    295I Die vierte Gewalt: Ein Teil des Problems .2 Politische Korrektheit: ffentliches Leugnen

    privater Wahrheit .3 Talkshows: Fernsehen als Parlamentsersatz? .4 Auen- und Europapolitik:

    Mediale Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .....

    239

    XVI Zukunft unserer Kinder

    I Mangelnde Nachhaltigkeit:Das strukturelle Defizit 30I

    2 Staatsverschuldung: Geiel der Nationen 3053 Dinks (Double income, no kids):

    Verweigerung der Verantwortung 308

    XII Folgen der Wiedervereinigung

    I Die verspielte Einheit: Aus Machtstrebenund Gewinngier .

    2 Die sogenannte Bodenreform:Unrecht aus Opportunitt .

    249

    8 9

  • 4 Kinderwahlrecht:Institutionelle Strkung der Zukunft 3II

    Des Buches roter Faden 314

    Zum Schluss: 16 Thesen 34IZur Einfhrung

    Personenregister 345Sachregister 350

    Politiker und Honoratioren, die bei ffentlichen Anlssen diepolitischen und gesellschaftlichen Verhltnisse Deutschlandsin den Blick nehmen, kommen nur allzu gern in Festtagslauneund streichen die Sternstunden der deutschen Demokratie he-raus. In diesem Buch wird die andere Geschichte der Repu-blik hinter den vollmundigen Erfolgsmeldungen erzhlt. Hiertrifft der Leser auf eine erschreckende Flle von Versumnis-sen, gezielten Tuschungen, Rechtsbrchen und politischerVerantwortungslosigkeit. Aus purem Egoismus haben vorallem die politische und die wirtschaftliche Klasse in erstaun-licher Kontinuitt seit den Grndungsjahren die Weichenfalsch gestellt und dringend notwendige Anpassungen unter-lassen. Angesichts der Unterdrckung dieser Schattenseite un-serer Demokratie in der ffentlichen Diskussion erscheint eslegitim, sie hier besonders hervorzuheben. Ist die Rute verbo-gen, so sagt schon das Sprichwort, kann man sie nur richten,indem man sie nach der anderen Seite biegt. Das Buch han-delt deshalb von Tatsachen und Zusammenhngen, die ausGrnden der Ideologie und der sogenannten politischen Kor-rektheit meist ungenannt bleiben. Von Sachverhalten, die ausdem Sprachgebrauch verbannt, und von Begriffen, denen einInhalt untergeschoben wird, der mit ihrer eigentlichen Bedeu-tung nichts mehr zu tun hat. Die Dinge beim Namen nennenund mit den Problemen offen umgehen ist erste Vorausset-zung fr eine Wende zum Besseren und die Entwicklung kon-kreter Reformvorschlge.

    Fr den unvorbereiteten Leser mag die Ansammlung vonAufregern, die das Buch enthlt, wie ein Schock wirken. Immer-hin wird der Stoff dadurch leichter verdaulich, dass er in wohl-bemessene Portionen aufgeteilt ist. In 82 in sich geschlossenenTexten, die in 16 Kapitel gegliedert sind, werden Defizite und

    11

  • Auswchse in Politik, Gerichtsbarkeit und Wirtschaft beleuch-tet. Das neue Format entspricht einem vielfachen Wunsch vonLesern nach handlicher und eingngiger Darstellung. Andersals sonst bei Sachbchern muss man sich nicht erst lange ein-lesen, um wirklich etwas rnitzunehmen. Die kompaktenTexte frdern Erschtterndes zu Tage, regen zu unkonventi-onellem Nachdenken an, und vielleicht stimulieren sie sogarzu politischem Handeln. Man kann sich je nach Geschmackin krzester Zeit informieren oder - dank der Querverweise,des zusammenfassenden Schlusskapitels und der 16 Thesen amEnde des Buches - auch intensiver mit der Sache beschftigen.Das Buch ist die Quintessenz intensiver Recherchen des

    Autors auf der Basis jahrzehntelanger Beschftigung mit denpolitisch-gesellschaftlichen Zustnden in Deutschland. Wersich nicht vom vordergrndigen Schein blenden lassen will,findet hier die richtige Anleitung und die ntige Aufklrung,die neuen Kleider der heute Mchtigen zu durchschauenund die politische und wirtschaftliche Klasse nackt dastehen zusehen.Die einzelnen Texte sind nicht isoliert aneinandergereiht,

    sondern werden durch ein inneres Band zusammengehalten. In-dem die Ziele und Motive der Akteure - die von den ffentlichbehaupteten vllig abweichen - hinterfragt werden, wird derbergreifende Zusammenhang deutlich. Das - ansonsten sorg-fltig verborgene - Netzwerk hinter dem auf der Schaubhneprsentierten Politstck wird erkennbar. Zugleich zeigt sich,dass und auf welche Weise die Institutionen, die dieser Dop-pelzngigkeit Vorschub leisten, allmhlich von den Akteurenselbst deformiert worden sind, um ihre egoistischen Ziele bes-ser durchsetzen zu knnen. Das Ergebnis ist eine krasse Dis-krepanz zwischen dem ffentlich immer wieder beschworenenIdeal und den real existierenden Zustnden, die sich - ange-sichts der Herausforderungen, vor denen unser Gemeinwesensteht - als fatal zu erweisen droht. Denn die verdorbenen Insti-tutionen passen nicht mehr und verlieren ihre Steuerungskraft.Die gesetzten Anreize und Schranken vermgen die Akteure inPolitik, Verwaltung und Wirtschaft nicht mehr so zu dirigieren,dass ihre Entscheidungen mglichst zum Vorteil fr die Ge-meinschaft ausschlagen. Es herrscht ein Zustand organisierterUnverantwortlichkeit.

    12

    Die Zusammenhnge, die zur Verdeutlichung der groenLinie am Schluss dieses Buches ausfhrlicher dargestellt sind,werden nirgendwo sonst thematisiert, weder von der etablier-ten Wissenschaft noch von der Publizistik. Einzelne Problem-flle treten zwar immer wieder in Erscheinung. Oft werdensie auch skandalisiert und sind deshalb unbersehbar. Dochwas diese Welt im Innersten zusammenhlt, das eigensch-tige Streben der sogenannten Eliten, ihre weit gesponnenenBeziehungsgeflechte und die spezifische Wirkungsweise derpervertierten Institutionen, bleibt im Verborgenen. Fast allestaatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wortfhrerhalten an einem normativ aufgeladenen, aber wirklichkeits-fernen Bild von sich selbst und von der Funktionsweise un-serer Institutionen fest. Die Zusammenhnge herzustellen unddie Realverfassung unseres Landes hinter den auf Glanzpa-pier vorgeschobenen Normativverfassungen zu enthllen giltals tabu. Solche Entzauberung msste, so scheint man instink-tiv zu befrchten, ja auch die Grundvorstellungen, auf denenStaat und Gesellschaft beruhen, ins Wanken bringen und dieLegitimitt der Herrschaft im Staat, in der Wirtschaft, in Ver-bnden und Medien erschttern. In Wahrheit kann nur unge-schminkte Offenheit die Basis schaffen, um die tief gehendenDefizite unseres Gemeinwesens zum Wohle aller zu beseitigen.Der Idee nach hat die Demokratie ja auch den groen Vorzug,dass sie die ffentliche Diskussion ihrer Mngel erlaubt und soeiner Versteinerung vorbeugt und ihre Leistungsfhigkeit auchgegenber neuen Herausforderungen bewahrt.

    Hlt man sich also nicht an die Tabuisierung - und das solltedie ureigenste Aufgabe des Wissenschaftlers sein - und schiebtden interessen- und machtbedingten Schleier beiseite, entstehtein Gesamtbild, das zu schlssigen Erklrungen fhrt und weit-gehende Folgerungen fr Staat und Gesellschaft erzwingt. Dasdafr erforderliche theoretische Rstzeug ist im Ansatz da unddort und in unterschiedlichen Disziplinen durchaus vorhanden.Aber auch die Wissenschaft ist schwerfllig wie ein Tanker undvermag nur ganz langsam eine neue Richtung einzuschlagen.Zudem stehen diejenigen Wissenschaftler, die sich mit Parteien,Verbnden etc. befassen, diesen meist so nahe, dass sie ihnennicht wehtun wollen. Deshalb scheut man davor zurck, dieisolierten Anstze zu einem problemorientierten Ganzen zu-

    13

  • sammenzufgen, eine umfassende Gesamtsicht zu entwickelnund diese konsequent auf die verschiedenen Bereiche unseresGemeinwesens anzuwenden. Genau dies aber wird im vorlie-genden Buch versucht.

    14

    I Volkssouvernitt und Verfassung

    1 Volkssouvernitt: Usurpation durch diepolitische Klasse

    Die demokratische Bewegung hat das Gottesgnadentum, dasdie Herrschaft der Monarchen und des Adels ber Jahrhun-derte legitimiert hatte, als fromme Lge entlarvt und an ihreStelle die - unter gewaltigen Blutopfern erkmpfte - Volks-souvernitt gesetzt. Doch die erweist sich heute ebenfalls alsbloes herrschaftssttzendes Trugbild, mit dem nunmehr eineneue politische Klasse ihrer Stellung ideologischen Glanz zuverleihen und das Volk ruhig zu stellen sucht.Die viel beschworene Volkssouvernitt, die die Basis un-

    seres ganzen demokratischen Staatsaufbaus darstellt, ist bei ge-nauem Hinsehen nichts weiter als eine Fiktion. Weder beruhtdas Grundgesetz von 1949 auf Entscheidungen des Volkes,noch hat das deutsche Volk heute ber die europische Verfas-sung (die nun nicht mehr so heien darf) mit zu entscheiden -und ber Erweiterungen der EU schon gar nicht.Volkssouvernitt bedeutet: Die Schaffung der Verfassung

    als politisch-rechtlicher Grundlage eines Gemeinwesens ist Sa-che des Volkes. Eine solche Verfassung ist nichts anderes alsdie in Rechtsform gebrachte Selbstverwirklichung der Freiheitdes Volkes. Darin liegt ihr Pathos, und dafr sind die Vlkerauf die Barrikaden gegangen. So hatte es der SPD-Abgeord-nete Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat, der das Grund-gesetz in den Jahren 1948 und 1949 konzipierte, formuliert.Doch darum ist es in unserer Republik schlecht bestellt. Seltenwar ein Volk so sehr von der Gestaltung seiner- Verfassungausgeschlossen wie das deutsche. Zwar behauptet die Prambeldes Grundgesetzes das Gegenteil: Das deutsche Volk- habesich kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grund-

    1S

  • gesetz- gegeben, und Art. 20 postuliert, alle Staatsgewaltgehe vorn Volke aus, Die herrschende deutsche Verfassungs-lehre nimmt - staatstragend, wie sie ist - die vollmundigenStze fr die Wirklichkeit und schliet daraus, die Organe derGesetzgebung, der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit seienschon dadurch demokratisch legitimiert, dass das Grundge-setz sie nennt. Doch die ganze Konstruktion steht auf tner-nen Fen, weil die genannten Stze schlichtes Wunschdenkensind. In Wahrheit fehlt dem Grundgesetz selbst die erforder-liche demokratische Legitimation. Die sogenannte bundesdeut-sche Volkssouvernitt ist ein ideologisch verbrmtes Traum-gebilde.

    Dass die Vter des Grundgesetzes so taten, als ob, hatte seineGrnde: Seit der Aufklrung und den darauf fuenden Men-schenrechtserklrungen gelten nur solche Verfassungen als an-erkennenswert, die das Volk sich selbst gegeben hat. DiesesPrinzip gehrt zu den unverletzlichen und unveruerlichenMenschenrechten, zu denen sich das Deutsche Volk gemArt. r Abs, 2 Grundgesetz ausdrcklich bekennt, Dement-sprechend sind die 1946 und 1947 erlassenen Verfassungender Lnder der spteren Bundesrepublik regelmig von Ver-sammlungen beschlossen worden, die zu diesem Zweck direktvom Volk gewhlt worden waren, und vor ihrem Inkrafttretenwurden sie vom Volk in Abstimmungen angenommen.

    Alles das fehlt beim Grundgesetz. Tatschlich waren es diewestlichen Besatzungsmchte, die die Entstehung des Grund-gesetzes beherrschten. Sie dekretierten den Erlass des Grund-gesetzes, nahmen massiv Einfluss auf seinen Inhalt und stell-ten sein Inkrafttreten unter den Vorbehalt ihrer Genehmigung.Und selbst der Parlamentarische Rat war keineswegs vomVolk eingesetzt, sondern von den Landesparlamenten, die dasGrundgesetz auch mehrheitlich beschlossen. Nach den Landes-verfassungen waren die Landesparlamente dazu aber gar nichtbefugt. Sie waren von den Brgern fr ganz andere Aufgabengewhlt worden. In ihrer Wahl konnte deshalb keine Ermch-tigung zur Bundes- Verfassungsgebung seitens des Volkes ge-sehen werden. Und auch abschlieend durften die Westdeut-schen nicht ber das Grundgesetz abstimmen, obwohl selbstdie Alliierten dies ausdrcklich verlangt hatten (dies aber sp-ter nicht energisch durchsetzten).

    Im Parlamentarischen Rat war man sich des konstitutivenMangels auch vllig bewusst. Sein Prsident, der sptere Bun-deskanzler Konrad Adenauer, bekannte freimtig: Wir sindkeine Mandanten des deutschen Volkes, wir haben den Auf-trag von den Alliierten, und Carlo Schmid sprach unumwun-den von einer Form der Fremdherrschaft. Deshalb hatte derCDU-Abgeordnete Heinrich von Brentano, der sptere Auen-minister, bei der zweiten Lesung des Grundgesetzes den Antraggestellt, das Volk wenigstens ber das Grundgesetz abstimmenzu lassen, und dies so begrndet:

    Indern wir anerkannt haben, dass die Staatsgewalt vomVolke ausgeht, haben wir ein unverzichtbares, aber auch un-abdingbares Recht des Volkes anerkannt, ber sein politischesSchicksal selbst zu entscheiden ... Nicht wir, sondern nur dieGesamtheit des Volkes kann die Verfassung mit dem Vertrauenausstatten und sie damit zu lebendiger Wirksamkeit bringen,die fr eine gesunde Entwicklung unserer Demokratie Voraus-setzung ist.Der Antrag fand zwar die Zustimmung der FDP und der

    KPD, wurde aber von der Mehrheit niedergestimmt. Damalslie sich die Ablehnung immerhin einigermaen plausibel be-grnden: Das Grundgesetz unterliege der Kontrolle der Besat-zungsmchte und erfasse auch nur die Deutschen der dreiwestlichen Besatzungszonen. Es sei deshalb keine echte demo-kratische Verfassung und knne ohnehin nur vorlufigen Cha-rakter haben, daher auch blo die Bezeichnung Grundgesetz.Zudem stand der Parlamentarische Rat unter dem Eindruckeiner akuten Ost-West-Krise. Das von den Sowjets blockierteBerlin musste mit Rosinenbombern entsetzt werden, die inFrankfurt im Minutentakt starteten und landeten - unmittel-bar ber den Kpfen der Ratsmitglieder. Man frchtete, dieKommunisten wrden eine Abstimmung der Demokratie-ent-whnten Deutschen als Agitationsplattform missbrauchen.

    Die damaligen Argumente gegen die Verfassungsgebungdurch das Volk waren allerdings durchweg zeitgebunden undsind sptestens mit der Wiedervereinigung entfallen. Die Vterder Verfassung hatten dafr in weiser Voraussicht auch Vor-sorge getroffen. Denn das Grundgesetz sieht in seinem Schluss-artikel 146 fr den Fall der deutschen Wiedervereinigung seineeigene Ablsung vor, sobald eine Verfassung in Kraft tritt, die

    16 17

  • von dem deutschen Volk in freier Selbstbestimmung beschlos-sen worden ist, Das erforderliche Ausfhrungsgesetz zu die-ser Vorschrift, das auch eine Initiative aus der Mitte des Volkesermglichen wrde, hat das Parlament aber bisher zu erlassenversumt. Dafr, dass der Weg des Art. 146 GG nach der Ver-einigung nicht beschritten und die demokratische Legitimationnicht nachgeholt wurde, gibt es keine stichhaltige Begrndung -auer die Machtinteressen der politischen Klasse. Auch dienach der Hitlerdiktatur zunchst von vielen unterstellte Un-mndigkeit des deutschen Volkes sollte nach fnfzig Jahrendemokratischer Praxis im Westen und nach erfolgreicher basis-demokratischer Revolution im Osten [.Wir sind das Volk)inzwischen eigentlich als berwunden gelten.Zusammenfassend muss man feststellen: Die angebliche

    Volkssouvernitt ist eine mit den vollmundigen Behauptungendes Grundgesetzes unvereinbare Lge, fr die es heute keineRechtfertigung mehr gibt. Teile der deutschen Staatsrechts-lehre, fr die z. B. Gerd Roellecke steht, geben das Fiktive derbundesdeutschen Volkssouvernitt denn auch offen zu.Das hat die gewichtige Konsequenz, dass die demokratische

    Legitimation, die alle Staatsorgane vom souvernen Volk her-leiten, entfllt. Geht man davon aus, die Verfassung beruheauf dem Willen des Volkes, wird nmlich auch den Institu-tionen, die die Verfassung geschaffen und denen sie Funktio-nen zugewiesen hat, eine Art demokratische Salbung zuteil.Dann erhalten Bundestag, Regierung, Prsident, Verfassungs-gericht etc. verfassungsunmittelbare sogenannte institutionelleund funktionelle demokratische Legitimation (so das Bundes-verfassungsgericht und die herrschende Staatsrechtslehre). Dadem Grundgesetz selbst aber die demokratische Legitimationfehlt, fllt die ganze Konstruktion in sich zusammen wie einKartenhaus (zur sogenannten personellen demokratischen Legi-timation, die angeblich durch die Wahl des Bundestags vermit-telt wird, siehe S. 42ff.).Der grte Teil der Staatsrechtslehrer will das Fehlen der

    Volkssouvernitt denn auch auf gar keinen Fall wahrhaben.Zu ihnen zhlt Reinhard Mugnug. Er flchtet in die Behelfs-these, das demokratische Defizit des Grundgesetzes sei durchdie hohe Wahlbeteiligung bei der ersten Bundestagswahl imHerbst I949 geheilt worden. Doch das widerspricht jeder

    18

    Logik: Bei Bundestagswahlen stand damals wie heute nur dieEntscheidung zwischen bestimmten Parteien, die um die Regie-rungsbildung wetteifern, nicht aber eine Entscheidung fr odergegen das Grundgesetz zur Debatte. Die genannte These istletztlich nur Ausdruck einer ideologischen berhhung desStatus quo und der Maxime, dass nicht sein kann, was nichtsein darf: Eine sich als demokratisch ausgebende Verfassungmuss demokratisch legitimiert sein. Ist sie es nicht, muss manes irgendwie hinbiegen.

    Eine andere Lehrmeinung, fr die z.B. der Staatsrechtsleh-rer und frhere Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof steht,versucht, die Frage, ob das Volk das Grundgesetz angenom-men habe oder nicht, berhaupt als irrelevant abzutun: Dadie Zustimmung der Brger einer bestimmten Generation allespteren Generationen ohnehin nicht binden knne, spielees heute keine Rolle mehr, ob das Volk frher einmal zuge-stimmt habe oder nicht. Doch dieser Argumentation liee sichdadurch leicht der Boden entziehen, dass man nicht nur dasberfllige Ausfhrungsgesetz zu Art. 146 GG erliee, sondernauch jeder Generation das Recht gbe, auf das Grundgesetzeinzuwirken - ein Gedanke, den die PolitikwissenschaftlerinHeidrun Abromeit in die Diskussion gebracht hat . .Zu diesemZweck msste man auch auf Bundesebene Volksbegehren undVolksentscheide einfhren, mittels derer das Volk das Grund-gesetz jederzeit ndern knnte (was fast alle Bundeslnderhinsichtlich ihrer Landesverfassungen bereits vorsehen). Dannwiederum knnte das Nicht-Gebrauch-Machen von der Mg-lichkeit, das Grundgesetz zu ndern, vernnftigerweise als Ein-verstndnis mit dessen aktuellem Inhalt verstanden werden. Esgibt also durchaus einen Weg, die Souvernitt des deutschenVolkes zu verwirklichen, und zwar die Souvernitt der ge-genwrtigen und aller zuknftigen Generationen. Man mussdem Bundesvolk lediglich ein Recht geben, das auf Landes-ebene ganz selbstverstndlich ist.brigens: Der Gedanke, jede Verfassung msse von Zeit zu

    Zeit berprft werden und jede Generation eines Volkes mssedas Recht haben, ber ihre Verfassung neu zu befinden, ist zeit-los. Der Gedanke stammt von Thomas Jefferson, dem Vater-der amerikanischen Verfassung, und er ist zum Beispiel in US-Bundesstaaten auch realisiert. In Michigan, Illinois, Missouri

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  • und anderen Staaten bestimmt die Verfassung, dass die Brgeralle zwanzig Jahre per Volksabstimmung darber entscheidendrfen, ob eine neue verfassunggebende Versammlung einbe-rufen werden soll oder nicht.

    In Deutschland ist die Herstellung der Volkssouvernitt al-lerdings schwierig und stt auf groe Widerstnde. Denn indie Position, die dem Volk vorenthalten wird, ist inzwischen diepolitische Klasse eingerckt. Sie hat die Souvernitt an sichgerissen und macht gegen jeden Versuch, das zu ndern, massivFront - nicht zuletzt dadurch, dass sie diesen Sachverhalt ideo-logisch verschleiert und ein gezieltes Sperrfeuer gegen jeden, derum Aufklrung bemht ist, entfacht. In fraktions- und lnder-bergreifender Einigkeit gestaltet die politische Klasse die Ver-fassung nach ihren Belangen, vor allem die fr den Erwer~. undErhalt der Macht zentralen Regeln: das Wahlrecht, die Uber-gre der Parlamente, die Finanzierung von Parteien, Frakti-onen und Parteistiftungen, die berversorgung von Politikern,die parteipolitische Vergabe von Posten, die Deformation desFderalismus und die prgende Struktur der politischen Wil-lensbildung insgesamt. Sie wird auch direkt-demokratische Ele-mente kaum freiwillig auf Bundesebene einfhren.

    Auch auf Europaebene bleibt das deutsche Volk bisher au-en vor. Wichtige Abstimmungen, etwa ber die Einfhrungdes Euro, die sogenannte europische Verfassung (auch wennman sie seit der Berliner Erklrung- der 27 Staats- und Regie-rungschefs der EU vom Mrz 2007 nicht mehr so bezeichnet)und die Erweiterung der EU, erfolgen nur im Bundestag - unddort auch noch im Wege bloen Abnickens und ohne wirklicheDebatte. Das Volk bleibt ausgeschlossen, ganz zu schweigenvon einer Volksabstimmung, wie sie etwa in Frankreich, Dne-mark, Irland, den Niederlanden und anderen Lndern stattge-funden hat.

    Dabei hatten groe Teile des politischen Establishments zuBeginn des europischen Verfassungsgebungsprozesses auch inDeutschland die Notwendigkeit einer Volksabstimmung berdie europische Verfassung selbst eingerumt. Ministerprsi-denten wie Peter Mller (Saarland), Wolfgang Bhmer (Sachsen-Anhalt), Dieter Althaus (Thringen) und Edmund Stoiber (Bay-ern) pldierten fr ein Referendum. Stoiber: Bei Fragen vonfundamentaler Bedeutung darf nicht ber die Kpfe der Br-

    ger hinweg entschieden werden.. Und am 26. November 2001sprachen sich CDU und CSU insgesamt fr ein Referendumber eine europische Verfassung aus. Doch am Ende desProzesses hatte man alle guten Vorstze vergessen, fiel wie-der auf die Abwehrhaltung gegen direkte Demokratie zurck,und auch die Spitzen der Union fgten sich in eine rein par-lamentarische Ratifikation, die dann auch noch in eine re-gelrechte Farce ausartete: Auf der Bundestagssitzung im Mai2005 wurde jede Kritik von der Fraktionsregie unterdrckt.Kein Gegner des Vertragswerkes durfte ans Rednerpult. Neun-zig Abgeordnete konnten ihre Erklrungen nur schriftlich zuProtokoll geben. Dahinter stand nicht zuletzt die Absicht, derkurz darauf folgenden Volksabstimmung in Frankreich durchein geschlossenes Ja zur europischen Verfassung ein Signalzu geben. So wurde die gesamte deutsche Volksvertretung, wieder Politikwissenschaftler Otmar Jung mit Recht kritisiert, inunwrdiger Weise fr eine auenpolitische -Geste- der De-monstration instrumentalisiert,

    Dass die Entscheidungen in aller Eile ber die Kpfe der Be-vlkerung hinweg getroffen wurden, erstickte jede breite undtief gehende ffentliche Diskussion. Wie immer, wenn das Volknichts zu sagen hat, fehlte jede fundierte Errterung des Frund Wider, obwohl es um wahrhaft fundamentale Fragen ging,nmlich um die bertragung von Teilen der Souvernitt vonBonn bzw. Berlin auf Brssel. Das Bewusstsein der politischenKlasse, die Brger nicht berzeugen zu mssen, und das Gefhlder Brger und Medien, doch nichts bewirken zu knnen, weilalles schon entschieden sei, nahm jeder groen Debatte schonim Ansatz die Motivation.Warum eigentlich drfen nur die Brger anderer EU-Staa-

    ten ber europische Verfassungsfragen abstimmen und nichtauch die Deutschen? In Sachen Europa ist die direkte Mitbe-stimmung der Brger genau so unerlsslich wie in grundle-genden nationalen Fragen (siehe S. 73 ff.). ber den neuen EU-Reformvertrag findet nun allerdings auch in Frankreich undden Niederlanden keine Volksabstimmung mehr statt. Begrn-dung: Das Risiko einer Ablehnung sei zu hoch, und der Ver-trag sei ja auch keine Verfassung mehr. In Wahrheit ist er fastinhaltsgleich mit dem frheren Text. Hier zeigt sich, wie die eu-ropische Demokratie immer weiter erodiert. Immerhin: Min-

    20 21

  • destens die Iren stimmen ber die europische Verfassung ab,im Mai oder Juni 2008.

    2 Verfassung: Sicherung oder Gefhrdungdes Gemeinwohls?

    Ferdinand Lassalle sah in Verfassungen schon vor eineinhalbJahrhunderten nichts weiter als den Ausdruck der jeweiligenMachtverhltnisse. Blo werde das durch idealistische Kon-strukte verschleiert. Lassalle wandte sich gegen die Ausbeu-tung der Arbeiterschaft. Wird heute aber nicht das ganze Volkausgebeutet - durch die politische Klasse, die den Staat in Be-sitz genommen und die Verfassung ihren Zwecken nutzbar ge-macht hat?Seit den Ursprngen der modernen Demokratie in den USAund in Frankreich unterscheidet die Verfassungstheorie zwi-schen der verfassunggebenden Gewalt (pouvoir constituant),die durch Erlass der Verfassung ausgebt wird, und der durchdie Verfassung geschaffenen Gewalt (pouvoir constitue), diejeweils durch Wahlen eingesetzt wird. Beides, der Erlass derVerfassung und die Wahl der Regierung, steht in der Demokra-tie dem Volke zu. Die Verfassung soll die Voraussetzungen frbrgernahe und gute Politik schaffen und die Akteure daranhindern, statt dem Wohl des Volkes ihr eigenes Wohl zu verfol-gen. Sie hat vor allem drei Funktionen: die Staats macht demo-kratisch zu legitimieren, Machtmissbrauch zu verhindern undgnstige Bedingungen fr die Gemeinwohlgestaltung durch diePolitik zu sichern. In Bundesstaaten mit kommunaler Selbst-verwaltung grenzt die Verfassung zustzlich die Kompetenzenvon Bund, Lndern und Gemeinden voneinander ab.

    Demokratische Legitimation verlangt, dass zunchst einmaldie Verfassung selbst und damit auch alle von ihr geschaffenenInstitutionen und die ihnen zugewiesenen Funktionen auf demWillen des Volkes beruhen. Daran fehlt es beim Grundgesetz,wie wir gesehen haben (siehe S. 15ff.). Demokratische Legiti-mation verlangt weiter, dass die Mitglieder des Parlaments vomVolk gewhlt werden und damit auch der Kanzler, der Bundes-prsident, die Verfassungsrichter und alle anderen vom Parla-ment gewhlten Amtstrger zumindest mittelbar demokratisch

    22

    legitimiert sind. Auch daran fehlt es in unserer Republik (sieheS. 42ff. und 175ff.).Machtmissbrauch soll verhindert werden durch Gewalten-

    teilung und Grundrechte sowie deren Sicherung durch dasBundesverfassungsgericht. Gnstige Bedingungen fr gute Po-litik zu schaffen ist vor allem die Aufgabe des Wahlsystems,das den Kern des verfassungsrechtlichen Demokratieprinzipsbildet.Wie aber soll eine solche Verfassung, die auch eigenntzige

    Akteure dazu bringt, die Interessen der Brger, und zwar mg-lichst vieler Brger, zu verfolgen, zustande kommen? Wenn sieschon nicht aus dem Willen des Volkes hervorgegangen ist,muss sie jedenfalls so gestaltet werden, dass sie zumindest alsaus dem Willen der Brger hervorgegangen vorgestellt werdenkann. Das verlangt Unabhngigkeit und Neutralitt derer, diedie Verfassung konzipieren. Knnen Politiker, die spter selbstan die Regierung kommen wollen, aber wirklich dazu gebrachtwerden, bei Festlegung der Spielregeln ihre Eigeninteressen zuunterdrcken? Der Sozialphilosoph John Rawls will allen ei-nen Schleier des Nichtwissens berstreifen, der ihnen ihreeigenen Interessen verbirgt und so wirkliche Unbefangenheitschafft - hnlich dem Bild der Justitia, deren Augen verbundensind, damit sie ohne Ansehen der Person, also unbeeinflusstund gerecht, entscheiden kann.

    Doch diese zentrale Voraussetzung fr eine gute Verfassung,die Unabhngigkeit des Verfassungsgesetzgebers, liegt in un-serer Republik nicht vor. Diejenigen, die die Verfassung be-schlieen, sind alles andere als neutral. Die Regeln des poli-tischen Kampfes werden bei uns von den Kmpfern selbst, dasheit der politischen Klasse, gemacht. In vielen Fllen fehltberhaupt eine grundgesetzliehe Regelung. Grundlegende Be-stimmungen, die eigentlich in die Verfassung gehren, werdenstattdessen dem einfachen Gesetzgeber berlassen. Beispielesind Wahlgesetze, Abgeordneten- und Ministergesetze sowiedas Parteiengesetz. Sie sind materielles Verfassungsrecht, ste-hen aber dennoch nicht im Grundgesetz. Das erleichtert es denKmpfern um die Macht, sie an ihren Interessen auszurichten.Die politische Klasse hat das Wahlrecht so verflscht, dass esdem Whler keine Wahl mehr lsst und den Wettbewerb derPersonen und Parteien krass zugunsten der Etablierten ver-

    23

  • zerrt. Auch das Parteien- und das Abgeordnetenrecht hat diepolitische Klasse nach ihren Interessen gestaltet.

    Selbst das Grundgesetz unterliegt dem Einfluss der Akteure,die es eigentlich zgeln soll. Schon auf den ParlamentarischenRat, der das Grundgesetz konzipierte, haben sptere Nutznie-er eingewirkt. Die Bevorzugung des Bundesratsmodells an-stelle des Senatsmodells wurde von den davon profitierendenMinisterprsidenten selbst durchgesetzt (siehe S. 2I 5). Wirk-same Regeln gegen die Verbeamtung der Parlamente fandenim Parlamentarischen Rat, dessen Mitglieder selbst zu sechzigProzent aus dem ffentlichen Dienst kamen, keine Mehrheit(siehe S. 178 ff.). Zudem kann die Verfassung jederzeit gen-dert werden. Dazu sind Zwei-Drittel-Mehrheiten im Bundes-tag und im Bundesrat erforderlich, ber die die Fraktionen-und Fderalismus-bergreifende politische Klasse aber verfgt.So wurde die Pflicht zur Neugliederung der Bundeslnder, stattihr zu folgen, 1976 kurzerhand aus dem Grundgesetz gestri-chen (siehe S. 212). Auch die Umgestaltung unseres Fderalis-mus zu einem System organisierter Unverantwortlichkeit gehtauf die Praxis derer zurck, denen das Grundgesetz eigentlichVorgaben machen sollte (siehe S. 217 ff.).

    Da die Verfassung in der Hand der politischen Klasse ist,sind Anpassungen an neue Entwicklungen praktisch unmg-lich. Gerade das aber wre dringend erforderlich. WesentlicheTeile des Grundgesetzes wurden aus frheren Verfassungenbernommen. Inzwischen haben sich die Verhltnisse aber vl-lig gewandelt, und ganz neue Mchte sind auf den Plan getre-ten. Die Wirklichkeit wird heute von politischen Parteien, In-teressenverbnden, Medien und Grounternehmen dominiert,ohne dass es wirksame Schranken gegen Machtmissbrauch die-ser Krfte gbe. Das bewirkt eine fr unser politisches Gemein-wesen charakteristische Verschleierung der wahren Machtver-hltnisse: Der vom Grundgesetz konstruierte Staat ist mit allenseinen Organisationen nur die formale Hlle, hinter der die ei-gentlichen machtvollen Akteure ihr Spiel treiben. Das Grund-gesetz kann deshalb viele unserer aktuellen Probleme gar nichtmehr erfassen, und die erforderlichen Anpassungen nimmt diepolitische Klasse, die von den Defiziten profitiert~ eben nichtvor. Auch fr die grassierende partei politische Amterpatro-nage und dafr, dass dagegen nichts Wirksames unternommen

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    wird (siehe S. 92ff.), ist die politische Klasse verantwortlich,genauso fr die Verbeamtung der Parlamente und andere Ver-ste gegen die Gewaltenteilung. Die bestehende Verfassung,die die Macht in Schranken halten und zum Besten der Ge-meinschaft lenken soll, ist selbst eine Ausprgung der Macht.Was die Verfassung beinhaltet, sagt letztverbindlich aller-

    dings nicht der auslegungsbedrftige Verfassungstext, sonderndas unabhngige Verfassungsgericht, das die Auslegung vor-nimmt. Darin knnte man einen gewissen Ersatz dafr sehen,dass der Verfassungsgeber selbst nicht unabhngig war und ist.Auch dieser Gedanke trgt allerdings nur begrenzt. Denn ers-tens werden die Richter von den zu Kontrollierenden ausge-whlt (siehe S. 94f.). Das beeintrchtigt ihre Unabhngigkeit,besonders, wenn gezielt Personen ins Gericht gewhlt werden,die spezielle politische Formeln, Theorien und Mythen propa-gieren, die aus dem Geist der politischen Klasse resultieren undihre Stellung sttzen. Nur so sind Urteile etwa zur Fnf-Pro-zent-Klausel im Wahlrecht (siehe S. 57ff.), zur Unmittelbarkeitder Wahl von Abgeordneten (siehe S. 42 ff.), zur Parteienfinan-zierung (siehe S. 200ff.), zu den Abgeordnetenditen und zuFragen direkter Demokratie (siehe S. 78) zu verstehen. Zwei-tens kann das Gericht nur auf Antrag der unmittelbar Betrof-fenen ttig werden, nicht aber auf Antrag von Brgern, diegegen die Selbstbedienung der politischen Klasse vorgehenwollen. Die Beschrnkung des Antragsrechts mindert die Kon-trollkraft des Gerichts. Deshalb bestehen weiterhin Partei-steuern (siehe S. II r ff.) und eine berzogene Steuerbegnsti-gung von Spenden und Beitrgen (siehe S. 102), um nur dieseFlle offensichtlicher Verfassungswidrigkeit zu nennen. Drit-tens kann die politische Klasse Urteile des Gerichts unterlau-fen indem sie mit Zwei-Drittel-Mehrheiten in Bundestag undBu~desrat die Verfassung ndert. Die schon erwhnte Beseiti-gung der Pflicht zur Neugliederung der Bundeslnder und dieAbsicherung der sogenannten Boden reform von 1945 in derSowjetzone (siehe S. 254 ff.) waren Beispiele. Derartiges kannallerdings auch einmal an der ffentlichkeit scheitern, wenndas Entscheiden in eigener Sache zu offensichtlich ist. So ist imJahre 1995 der Versuch, die Diten von Bundestagsabgeord-neten an das Gehalt von Bundesrichtern zu koppeln, geschei-tert. Der Bundesrat verweigerte nach massiver ffentlicher

    2S

  • Kritik und einem Appell von 86 Staatsrechts lehrern seine Zu-stimmung. Das hielt den Bundestag aber nicht davon ab, dieGehlter von Bundesrichtern zur Richtlinie zu nehmen und da-rauf z.B. die jngste Ditenerhhung vom November 2007 zugrnden (siehe S. 14off.).

    3 Politische Klasse: Der heimliche Souvern

    Zahlreiche Missstnde in Staat und Politik werden den Par-teien zugerechnet. Sie wirken, so sagt man, nicht nur an derpolitischen Willensbildung des Volkes mit, wie es in Art. 21Grundgesetz heit, sie beherrschen sie. Dies ist zwar richtig,aber nur ein Teil der Wahrheit, der wichtigere Teil bleibt ver-borgen. In den Parteien gibt es nmlich ganz unterschiedlicheGruppen mit unterschiedlichen Perspektiven und Interessen.Dies zeigte die Auseinandersetzung um die Weizscker'scheParteien schelte im Jahre 1992 exemplarisch. Da die Kritik desdamaligen Bundesprsidenten sich pauschal gegen die poli-tischen Parteien richtete, lie sie Bundeskanzler Helmut Kohl,der sich als Vorsitzender der CDU getroffen fhlte, die Mg-lichkeit, zu seiner Entlastung die zwei Millionen Menschenanzufhren, die in den Parteien ehrenamtlich ttig sind, oftohne fr sich persnlich etwas zu erstreben. Und diese Fest-stellung Kohls war im Kern ja auch durchaus zutreffend. DieKontroverse verdeckte aber das Wesentliche: In Wahrheit sindes nicht so sehr die Parteien als Ganzes, sondern eine zah-lenmig kleine, aber sehr machtvolle Gruppe innerhalb derParteien, die Berufspolitiker, die die Hauptverantwortung frFehlentwicklungen tragen. Und die groe Mehrheit der Par-teimitglieder bt daran oft am heftigsten Kritik, ist aber meistin einer ganz hnlichen Ohnmachts situation wie die Brgerinsgesamt, die sich auerstande sehen, etwas zu ndern. Mitdem Fortschreiten der Professionalisierung der Politik habenBerufspolitiker innerhalb der Parteien weitgehend das Sagen.Ihre Interessen und Motive prgen die parteiinterne Wirklich-keit und die Struktur der politischen Willensbildung. Die ber-kommene Kritik, die auf die Parteien- insgesamt abhebt, istauf einem berholten Diskussionsstand stehen geblieben.In der von Berufspolitikern beherrschten Verfassungswirk-

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    lichkeit geht es um Macht, Status, Posten und Geld. Die Exis-tenz solcher Eigeninteressen kann jeder in der Politik erfahreneBeobachter besttigen. Zwei Motive sind elementar: Das eineist das Interesse an der Mehrheit und damit an Macht und Ge-staltung, um welche Regierung und Opposition konkurrieren.Das andere vitale Interesse ist, von der Politik leben zu knnen,und zwar mglichst gut und mglichst auf Dauer. Da die Po-litik selbst ber ihren Status entscheidet, kommt es zur ber-versorgung von Politikern, zur Aufblhung der Posten und zurAbschottung gegen Konkurrenz. Hierher gehren Doppelbe-zge und berzogene Altersrenten von Politikern, viel zu groeParlamente und die vielfltigen selbst gezimmerten Regeln, mitdenen Politiker ihre Abwahl erschweren und mglichen Kon-kurrenten wenig Chancen lassen.

    Das Versorgungsinteresse unterscheidet sich dadurch vomMachtinteresse, dass nicht nur eine Seite, also die Spitzenpo-litiker der jeweiligen Regierungsparteien, es befriedigen kann,sondern gleichzeitig alle Berufspolitiker, auch die der parla-mentarischen Opposition. Das Versorgungsinteresse ist also -fraktionsbergreifend - allen hauptberuflichen Politikern ge-meinsam, so dass sie es am wirkungsvollsten nicht durch Kon-kurrenz, sondern durch Kooperation und Kollusion befriedi-gen knnen, und genau das geschieht in der Praxis. Gerade beider Menge der Hinterbnkler ist das Streben nach finanziellerAbsicherung besonders ausgeprgt, weil sie - anders als diepolitische Elite in den vorderen Rngen - dieses Interesse nichtgegen das Interesse an Macht und Mehrheit abwgen mssen.Sie kommen ohnehin nicht als Minister oder Inhaber andererhoher mter infrage. Fr sie persnlich ndert sich auch dann,wenn ihre Partei die Wahlen gewinnt und die Regierung ber-nimmt, nicht viel, jedenfalls nicht so viel, dass der Wunsch, Re-gierungsfraktion zu werden oder zu bleiben, die Dominanz deseigenen Versorgungsinteresses erschttern knnte.

    Das Zusammenwirken der Berufspolitiker bei der Sicherungihrer bereinstimmenden Interessen und die daraus resultie-rende politische Kartellierung sind das zentrale Phnomen,das die Politikwissenschaft heute unter dem Begriff politischeKlasse thematisiert. Ehemalige Volksparteien entwickeln sichzu Kartellparteien, in denen Berufspolitiker das Sagen habenund deren zentrales Kennzeichen darin liegt, dass sie ihre Po-

    27

  • sition durch Nutzung staatlicher Macht-, Personal- und Geld-mittel stetig verbessern und zugleich (fast) unangreifbar ma-chen gegen die Konkurrenz aller mglichen Herausforderer,so dass neue, noch nicht etablierte politische Krfte praktischkeine Chance haben (siehe S. 51 ff.).Da die Interessenten selbst an den Schalthebeln der staatli-

    chen Macht sitzen, knnen sie ihre Wnsche direkt in Gesetzeoder Haushaltstitel umsetzen. Das betrifft nicht nur das Wahl-recht, die staatliche Finanzierung von Parteien, Fraktionen undParteistiftungen, dieVersorgung von Politikern und die partei-liche Vergabe von Posten, Behrden und mtern aller Art. Esbetrifft vielmehr auch - und das wird in der publizistischenDiskussion noch vllig bersehen - die Prgung der Strukturund der Institutionen der politischen Willensbildung insge-samt (siehe S. 37f.). Da Regierungsmehrheit und Oppositiongemeinsam auch ber die fr Verfassungsnderungen ntigenMehrheiten verfgen, werden alle rechtlichen Barrieren gegeneinvernehmlich durchgesetzten Machtmissbrauch stumpf. Sieknnen machen, was sie wollen, ohne dass ihnen noch eineOpposition oder ein Verfassungsgericht in den Arm fllt. Dasie in der Gemeinsamkeit ihrer Interessenlage ber die Spielre-geln von Macht und Einfluss verfgen, sind sie quasi souvern.Damit ist die eigentlich dem Volk zukommende Souvernittauf die politische Klasse bergegangen.Tatschlich erschpfen sich Macht und Einfluss der poli-

    tischen Klasse darin noch keineswegs und gehen weit ber dieFestlegung der formalen Regelungen hinaus: Wer den Staat be-herrscht, hat Einfluss auf die gltigen ideologischen Grundvor-stellungen und bestimmt, wie der franzsische Soziologe PierreBourdieu dargelegt hat, letztlich die Denkkategorien mit, nachdenen Politik berhaupt wahrgenommen und beurteilt wird.Die politische Klasse hat die Einrichtungen, die das Denkenprgen, insbesondere die gesamte politische Bildung, fest imGriff. Die Bundes- und Landeszentralen fr politische Bildung,die Parteistiftungen und die meisten Volkshochschulen sind inihrer Hand. Kaum ein Leiter einer greren Schule, der nichtauch unter parteipolitischen Gesichtspunkten berufen wird,Fhrungskrfte der ffentlich-rechtlichen Medien werden nachParteibuch bestellt (siehe S. 92ff.). Die politische Klasse vergibtmter mit dem hchsten Ansehen bis hin zum Bundesprsi-

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    denten, zu Regierungsmitgliedern und Verfassungsrichtern. Sieverleiht Orden, Ehrenzeichen und Preise (siehe S. r8r ff.) undverpflichtet sich so fast alle zur Dankbarkeit, die ffentlich et-was zu sagen haben. Das erleichtert es ihr, Nonkonformisten,die gegen den Stachel lcken und an die Wurzel gehende Kritikan den Verhltnissen uern, als politisch inkorrekt zu brand-marken, sie notfalls auch persnlich zu diffamieren und ins po-litische Abseits zu stellen. Und wenn dann doch einer vom in-neren Kreis der Berufspolitiker sich aufrafft, etwas Kritischeszu sagen, wie Richard von Weizscker mit seiner Parteienkri-tik, wird das von der politischen Klasse und (fast) allen ihrenunzhligen Zuarbeitern als Ausdruck von Undankbarkeit, javon Verrat hingestellt.

    Berufspolitiker verfgen damit - als einzige Berufsgruppeberhaupt - nicht nur ber die gesetzlichen und wirtschaft-lichen, sondern weitgehend auch ber die ideologischen Be-dingungen ihrer eigenen Existenz. Von daher wird die vonRichard von Weizscker beschworene Gefahr, die Parteien -oder besser: die politische Klasse - drohten sich den Staat zurBeute zu machen - mit tiefgreifenden Rckwirkungen auf daspolitische System und die politische Kultur insgesamt - immerrealer. Es ist auf diese Weise eine Verfassung hinter der Verfas-sung entstanden (siehe S. jo ff.). Die realen Machtverhltnissesprechen der geschriebenen Verfassung vielfach Hohn und ver-ndern allmhlich auch den Charakter der Parteien selbst.Abhilfe kann nur das Volk selbst schaffen: Nur der wirkliche

    Souvern besitzt das Recht und die Kraft, dem angematenSouvern seine illegitim usurpierte Macht wieder zu entreien.Ohne Revolution kann das nur im Wege von Volksbegehrenund Volksentscheid geschehen (siehe S. 73 ff.).

    4 Norm und Wirklichkeit: Die Verfassung steht nurauf dem Papier

    Gute und brgernahe Politik hngt nicht nur von der Tchtig-keit und Integritt der Politiker ab, sondern auch davon, dassder rechtliche Rahmen adquat ausgestaltet ist. Darin liegt derGrundgedanke des Konstitutionalismus. Ist das aber bei unsnoch der Fall? Klaffen nicht geschriebene Verfassung und Rea-

    29

  • litt so weit auseinander, dass das Grundgesetz seine Funktionnur noch eingeschrnkt erfllen und die Anreize fr die Poli-tiker nicht mehr so setzen kann, dass deren Entscheidungenmglichst zum Vorteil fr die Gemeinschaft ausschlagen? Ste-hen nicht Kernvorschriften des Grundgesetzes nur noch auf demPapier? Wird nicht der Sinn wichtiger Verfassungsvorschriftengeradezu ins Gegenteil verkehrt? Das sind nicht nur juristischeFragen, sondern sie fhren mitten ins Zentrum der Fehlentwick-lungen, die allgemein beklagt werden: das Partizipationsdefizitund die mangelnde Handlungsfhigkeit der Politik.Das Grundgesetz postuliert Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2

    Satz 2 GG). Deshalb mssen Beamte aufgrund von Unverein-barkeitsvorschriften ihre Rechte und Pflichten ruhen lassen,wenn sie ins Parlament eintreten. Das verlangt die Trennungvon Legislative und Exekutive. Doch ausgerechnet die Spitzender Exekutive, die Kanzler, Minister und ParlamentarischenStaatssekretre, gehren ganz ungerhrt gleichzeitig dem Par-lament an (siehe S. 194ff.).Doch damit nicht genug: Die ins Parlament gewhlten Be-

    amten knnen ihre Herkunft nicht verleugnen. Sie bleiben demffentlichen Dienst auch deshalb verbunden, weil sie bei Been-digung des Mandats einen Rechtsanspruch auf Wiedereinstel-lung haben. Das erhht die Attraktivitt des Mandats und be-gnstigt die Verbeamtung der Parlamente (siehe S. 178ff.). Invielen Landesparlamenten kommt mehr als die Hlfte der Ab-geordneten aus dem ffentlichen Dienst. Wie sollen Beamten-parlamente noch die Verwaltung und den ffentlichen Dienst,also quasi sich selbst reformieren?

    Geht es um die eigenen Diten, um die Versorgung von Poli-tikern und um die Parteienfinanzierung, ziehen Regierung undOpposition an einem Strang und sind sich ausnahmsweise frak-tionsbergreifend einig, so dass die Kontrolle ausfllt. Ganzhnlich ist es etwa bei der Abwehr von Wahlrechtsreformen(siehe S. 39 ff.). Statt Gewaltenteilung herrschen dann erstrecht Gewaltenvermengung und Kungelei (siehe S. 37f.).Das Grundgesetz betont, dass Beamten- und Richterstel-

    len nur nach persnlicher Qualifikation und fachlicher Leis-tung vergeben werden drfen (Art. 33 Abs. 2 GG). Tatschlichgrassiert Parteibuchwirtschaft- in immer weiteren Bereichen(siehe S. 92ff.). Dann geraten auch die Grundstze der Gesetz-

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    migkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) und das Ge-bot, dass alle Brger vom Staat gleich zu behandeln sind (Art.3 GG), in Gefahr. Kann von Beamten, die ihre Stellung derparteilichen Begnstigung verdanken, wirklich erwartet wer-den, dass sie dem Patronageprinzip bei ihrer Amtsfhrung ab-schwren und nicht etwa ihre Parteigenossen bei der Vergabevon Auftrgen und Subventionen begnstigen?

    Die Demokratie lebt von der Erwartung, dass Politik undGesetzgebung tendenziell ausgewogene und richtige Entschei-dungen hervorbringen. Tatschlich vernachlssigt die Politikunter dem Druck von schlagkrftig organisierten Partikular-verbnden leicht die wichtigen allgemeinen Interessen (sieheS. 285 ff.). Volksvertreter sind vor der Macht der Lobby vlligunzureichend geschtzt. Der Straf tatbestand der Abgeordne-tenbestechung ist rein symbolische Gesetzgebung. Die Abge-ordneten haben ihn so eng gefasst, dass er praktisch nie zurAnwendung kommen wird (siehe S. 289ff.).Auch Zukunftsin-teressen kommen typischerweise zu kurz. Der Kurzfristhori-zont der Parteien- und Verbndedemokratie buttert sie unter.Die Folgen finden in der Staatsverschuldung (siehe S. 305 ff.),in der mangelnden Vorsorge fr die knftige Alterssicherung,in der Uberbesteuerung von Investitionen in Betriebe und inder mangelnden staatlichen Frderung von Kindern (verstan-den ebenfalls als Investition in zuknftige Generationen, sieheS. 301 ff.) ihren Ausdruck.Das Grundgesetz garantiert das Eigentum und lsst Enteig-

    nungen nur gegen Entschdigung zu (Art. 14 GG).Es schtztaber nicht vor dem gefhrlichsten Zugriff des Staates aufdas Vermgen seiner Brger: Gegen berbelastung mit Steu-ern und gegen Geldentwertung besteht kein grundrechtlicherSchutz, obwohl sie das Eigentum besonders nachhaltig aus-hhlen knnen.Das Grundgesetz, die Haushalts- und Gemeindeordnungen

    binden Staat und Kommunen und alle ihre Amtstrger an dieGrundstze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit. Dochkaum eine rechtliche Bindung wird in der Praxis so hufigignoriert.Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip verlangen ffentlich-

    keit von Staat und Verwaltung. Tatschlich herrscht meistdas Gegenprinzip des Amtsgeheimnisses (siehe S. 297). Daran

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  • haben auch die Informationsfreiheitsgesetze nicht viel gen-dert.Die Verfassungen verpflichten alle Amtstrger auf das Ge-

    meinwohl. Das impliziert uneigenntziges Handeln. Tatsch-lich orientieren sich Berufspolitiker jedoch im Zweifel meist anihren eigenen Interessen.

    Das Grundgesetz verspricht allen Brgern die unmittelbareund freie Wahl ihrer Abgeordneten (Art. 28 Abs. I Satz 2 undArt; 38 Abs. I Satz I GG). So steht es jedenfalls auf dem Papier.In Wirklichkeit sind alle Kandidaten, die die Parteigremien aufsichere Listenpltze gesetzt oder in sicheren Wahlkreisen nomi-niert haben, damit praktisch schon gewhlt, nur eben nicht vonden Brgern (siehe S. 42ff.). Nach der Verfassung genieen alleBrger das Recht gleicher Whlbarkeit. Tatschlich geben dieParteien Anwrtern nur nach unendlicher Ochsentour- dieChance, an aussichtsreicher Stelle nominiert zu werden (sieheS. I26 ff.). Dabei erfolgt die Auswahl nicht primr nach der Qua-litt als knftiger Volksvertreter, sondern nach Proporz, partei-internen Machtstrukturen und nach den Vorleistungen, die derKandidat fr die Partei erbracht hat. Diese Ochsentour knnensich aber nur Zeitreiche- und Irnmobile- leisten. Deshalb hat-neben Verbandsfunktionren - vor allem eine bestimmte Kate-gorie von Beamten, besonders Lehrer, die beste Voraussetzung,ein Parlamentsmandat zu erlangen und in Partei, Politik undParlament eine Rolle zu spielen (siehe S. I78 ff.).

    Die Abhngigkeit setzt sich auch nach der Wahl fort. AlsDank fr die Verschaffung des Mandats muss der Abgeord-nete hohe Abgaben aus seinem staatlichen Gehalt zahlen (sieheS. I I I ff.). Zudem ist er in die sogenannte Fraktionsdisziplin ein-gebunden. Das Grundgesetz garantiert den Abgeordneten zwardas freie Mandat (Art. 38 Abs. I Satz 2 GG). Treffen sie aberEntscheidungen nach ihrem Gewissen, ohne dass die Frak-tionsfhrung das Stimmverhalten ausnahmsweise einmal frei-gegeben. hat, oder zahlen sie ihre - rechtswidrigen! - Partei-steuern nicht, geraten sie leicht ins innerparteiliche Abseits undmssen befrchten, bei der nchsten Wahl nicht wieder aufge-stellt zu werden (siehe S. I 57 ff.).

    Regierungen, Fraktionen und Parteien werden durch Koali-tionsvereinbarungen faktisch gebunden, die von wenigen po-litischen Elefanten- ausgehandelt worden sind, und knnen

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    die Vereinbarungen dann oft nur noch nachtrglich abnickenund whrend der Legislaturperiode abarbeiten, wollen sie dieKoalition nicht gefhrden.

    Die Verfassungen geben den Abgeordneten ausdrcklich ei-nen Anspruch auf eine ihre Unabhngigkeit sichernde Entsch-digung- (Art. 48 Abs. 3 Satz I GG), also auf Kostenerstattungund Ausgleich des Einkommensverlustes. Tatschlich erhaltenalle Abgeordneten eine gleich hohe Alimentation, so dass diemateriellen Anreize, ein Mandat anzustreben, typischerweisegerade die Falschen ansprechen: diejenigen, deren Einkommensich durch die Diten erhht und die von der Politik leben wol-len, statt fr sie (siehe S. I7I ff.).

    Das alles hat eine geradezu abschreckende Wirkung aufhoch qualifizierte Persnlichkeiten: Die vorherige Ochsen-tour knnen sich viel gefragte Leute schon aus Zeitgrndengar nicht leisten, die Fraktionsdisziplin nimmt dem Mandat dieAttraktivitt fr die besten und eigenstndigsten Kpfe, unddie beamtenhnliche Einheitsalimentation macht das Mandatgerade fr die Erfolgreichsten zu einem finanziellen Zuschuss-geschft. Hinzu kommt, dass die amtierenden Abgeordnetenden Staatsapparat nutzen, um das Risiko einer Abwahl zu mi-nimieren und Seiteneinsteigern den Weg vollends zu verlegen.So pflegen Abgeordnete ihre aus Steuermitteln bezahlten Mit-arbeiter auch vor Ort einzusetzen. Das verschafft ihnen im al-les entscheidenden Kampf um die parteiinterne Nominierungeinen schier uneinholbaren Vorteil gegenber allen Herausfor-derern (siehe S. I62f.). Hinzu kommt, dass Landtagsmandateals Fulltimejob bezahlt werden, obwohl sie auch in Teilzeiterledigt werden knnen (siehe S. I52ff.). Das setzt Mandats-inhaber in den Stand, auf Staatskosten tagein, tagaus vor OrtNominierungswahlkampf zu fhren und mglichen Heraus-forderern vollends keine Chancen zu lassen.

    Der Bundesrat soll die Lnderinteressen in die Bundespolitikeinbringen. In Wahrheit wird der Bundesrat zunehmend par-teipolitisch instrumentalisiert. Im Bundesstaat sollen die Ln-der untereinander um die beste Politik wetteifern. Tatschlichtendieren die Lnder zur Vereinheitlichung, also einer Art Er-satzzentralismus. So haben sie ihre Kompetenzen etwa in derSchul- und Hochschulpolitik praktisch an die Kultusminister-konferenz abgetreten. Da diese aber grundstzlich nur einstim-

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  • mig entscheidet, bestimmt der Schwerflligste das Tempo desganzen Verbandes. Die Absprachen der Lnderexekutiven imBundesrat und in vielen Hunderten von interfderalen Gre-mien (zum Beispiel eben in der Konferenz der Kultusminister)haben fatale Rckwirkungen: Die Landesparlamente, also dieHauptorgane der Lnder, werden zunehmend ausgeschaltet -und damit auch die sie whlenden Brger.Laut Prambel hat das deutsche Volk sich das Grundgesetz

    gegeben. Tatschlich war aber selten ein Volk so sehr von derGestaltung seiner Verfassung ausgeschlossen wie das deut-sche (siehe S. 15H.). Das Gleiche gilt fr die Europaebene. DerMaastricht-Vertrag, der sogenannte Verfassungsvertrag oderdie Aufnahme neuer Mitgliedstaaten vollziehen sich in Deutsch-land praktisch unter Ausschluss des Volkes.

    Das Grundgesetz verbrieft die Offenheit des politischen Wett-bewerbs und die Chancengleichheit im Kampf um die Macht.Doch was bedeuten diese majesttischen Grundstze in derPraxis, wenn eine professionalisierte politische Klasse - berdie Fraktions- und die fderalen Grenzen hinweg - Kartellebildet, um die Regeln des Machterwerbs und der Machtaus-bung in ihrem Interesse zu gestalten, die eigene Existenz zu si-chern und sich gegen Einwirkungen der Brger und Whler zuimmunisieren (siehe S. 26H.)? Luft das dann in letzter Konse-quenz nicht auf die Umkehrung der Richtung der politischenWillensbildung hinaus, die in der Demokratie ja eigentlich vonunten nach oben verlaufen sollte?

    Gegen das Wuchern der Eigeninteressen der politischenKlasse gibt es letztlich nur ein wirksames Gegenmittel, die Ak-tivierung des Volks selbst als des eigentlichen Souverns in derDemokratie: Das ganze System ist fr den Willen der Brger-schaft durchlssiger zu machen, das heit, der Common Senseder Brger muss den ihm in der Demokratie zukommendenEinfluss erhalten. Nur dann kann der Brger wirklich mitbe-stimmen. Nur dann knnen die verkrusteten Strukturen auf-gebrochen werden, nur dann knnen die Handlungsfhigkeitder Politik und ihr Vermgen, auf neue Herausforderungen zureagieren, wiederhergestellt werden. Die Erkenntnis, dass letzt-lich allein das Volk als wirksames Gegengewicht gegen Fehl-entwicklungen der reprsentativen Demokratie in Betrachtkommt, folgt aus der inneren Logik der Demokratie und war

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    in frheren Zeiten intellektuelles Gemeingut. Die Verscht-tung dieser Erkenntnis beruht auf den ideologischen Selbst-schutz- und Immunisierungsstrategien der politischen Klasse.Sie frchtet mit Recht, die hier angesprochenen urdernokra-tischen Mechanismen knnten ihre Monopolherrschaft ge-fhrden (siehe S. 73 H.).

    5 Reprsentation und Partizipation:Dichtung statt Wahrheit

    Reprsentation im staatsrechtlichen Sinn meint Herrschaft frdas Volk, wobei die Herrscher ihre Legitimation frher vonoben ableiteten (von Gottes Gnaden), heute von unten (imNamen des Volkes). Zugrunde liegt die Vorstellung vom re-prsentativen, d.h. uneigenntzigen und am Wohl der Ge-meinschaft orientierten, Amtstrger und Staatsmann, wie siedas Grundgesetz und die Landesverfassungen in der Tat pos-tulieren. Partizipation meint dagegen die Mitentscheidung derBeherrschten, d. h. Herrschaft durch das Volk, also Volkssou-vernitt und Demokratie.

    Das Verhltnis beider Grundstze zueinander ist umstritten.Deshalb werden sie - im Streit der Politik, aber auch der Wis-senschaft - vielfach gegeneinander ausgespielt, ohne dass manberprft, ob ihre Voraussetzungen in der Realitt wirklich ge-geben sind. Und das ist in Wahrheit nicht der Fall. Der fiktiveCharakter von Volkssouvernitt und Demokratie ist teilweisegeradezu offensichtlich: Dass das Volk sich eine Verfassung ge-geben habe (wie es in der Prambel des Grundgesetzes heit),trifft berhaupt nicht, und dass das Volk die Abgeordneten undpolitischen Programme der Parteien whle, trifft nur sehr einge-schrnkt und nur bei formal-vordergrndiger Betrachtung zu.Das wre vielleicht hinzunehmen, wenn auf der anderen

    Seite wirkliche Reprsentation bestnde. Und in diese Rich-tung geht ja auch die bliche Argumentation: Gegen einen Ab-bau des Demokratiedefizits und gegen ein nheres Heranr-cken der Politik an den Common Sense der Brger (etwa durchNeuerungen im Bereich des Wahlrechts und direktdemokra-tischer Elemente) pflegt immer wieder der Gedanke ins Feldgefhrt zu werden, den Reprsentanten msse ein Freiraum

    3S

  • gewhrt werden, um ihnen auch unpopulre politische Ent-scheidungen zu ermglichen. Doch darf man das verfassungs-rechtliche Gebot reprsentativen Entscheidens nicht mit derWirklichkeit verwechseln, in der selbstverstndlich auch Po-litiker Eigeninteressen haben, denen sie im Falle der Kollisionmit Gemeinwohlerfordernissen meist Vorrang geben. UnterBerufspolitikern dominiert (wie regelmig unter Professio-nals) Eigennutz statt Gemeinnutz. Damit verndert der denReprsentanten gewhrte Freiraum unter der Hand seine Qua-litt: Statt zur Sicherung des Gemeinwohls droht er zum Ins-trument unkontrollierter Durchsetzung von Eigeninteressender politischen Klasse zu werden, zur Sicherung ihrer Machtund ihres Einflusses und zur Aufrechterhaltung der oligar-chischen Strukturen, auf denen diese beruhen. Die von denVerfassungen vorausgesetzte Grundannahme, die Reprsen-tanten handelten quasi automatisch fr das Volk, erweist sichdamit ebenfalls als Fiktion.Lsst man die unwirklichen Idealisierungen und Fiktionen

    beiseite und greift auf die Verhltnisse durch, so wie sie nuneinmal sind, lsst sich der Reprsentationsgedanke nicht mehrungeprft gegen die Bemhungen um einen strkeren Einflussdes Volkes ausspielen. Anders ausgedrckt: Dann lsst sich dasso entzauberte und auf seinen realen Gehalt reduzierte Repr-sentationsprinzip nicht mehr unbesehen zur Rechtfertigungvon Partizipationsdefiziten anfhren.

    Summa summarum: Wir haben nur in sehr eingeschrnktemMae eine Regierung durch das Volk und eine Regierung frdas Volk, beide Defizite werden aber durch kunstvolle Fik-tionen verdeckt. Was liegt dann aber nher, als auf jene Fik-tionen ganz zu verzichten, die staatliche Willensbildung wiederstrker an das Volk heranzufhren und dadurch im Ergebnisnicht nur mehr Regierung durch, sondern auch fr das Volkzu erlangen?

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    6 Selbstbedienung: Entscheidung der Politikin eigener Sache

    Es ist ein eherner Grundsatz des Rechts, dass keine Amtsper-son in eigener Sache entscheiden darf. Richter, Beamte undMitglieder eines Stadtrats, die ein eigenes Interesse an einerEntscheidung haben, sind von der Mitwirkung ausgeschlos-sen - und das aus gutem Grund: Selbstbetroffenheit macht be-fangen, und man wei aus praktischer und geschichtlicher Er-fahrung, dass eigene Interessen der Entscheidenden leicht zueinseitigen, unangemessenen und missbruchlichen Resultatenfhren. Doch gegen den Grundsatz, dass niemand in eigenerSache entscheiden darf, verstt die Politik geradezu chronisch,wenn es um Entscheidungen geht, die die Mitglieder eines Lan-desparlaments, des Bundestags oder des Europaparlaments be-treffen, die aber gleichwohl durch Gesetz, also in der reprsen-tativen Demokratie von den Parlamentariern selbst, zu treffensind. Die Parlamente bestimmen durch ihre Gesetzgebung, wasals Recht verbindlich gilt, und durch die von ihnen beschlos-senen Haushaltsplne, wer wie viel Geld aus der Staatskasseerhlt. Die Parlamente bestehen aber ihrerseits aus Abgeord-neten und Fraktionen. Haben diese am Ergebnis der parlamen-tarischen Entscheidungen ein unmittelbares Eigeninteresse, sokommt es zu Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache,also zu einer Konstellation, die ansonsten in unserer Rechts-ordnung verpnt ist.Am aufflligsten wird die Problematik bei Entscheidungen

    des Parlaments ber Abgeordnetenditen und Parteienfinan-zierung. Hier sieht das Grundgesetz zwar eine Entscheidungdurch Gesetz und damit durch die Abgeordneten selbst vor.Doch die Vter des Grundgesetzes waren noch davon ausge-gangen, dass Abgeordnete nur eine Aufwandsentschdigungerhielten, und eine staatliche Parteienfinanzierung htte schongar nicht in ihr Vorstellungsbild gepasst. Statt den Abgeordne-ten die Entscheidung in eigener Sache aufzubrden, sollte insolchen Fllen ein anderer die Letztentscheidung treffen, nm-lich der demokratische Souvern. Das Volk sollte im Wege vonVolksentscheiden eine Kontrolle ber die Bezahlung von Ab-geordneten und Parteien ausben knnen, wie es z. B. in der

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  • Schweiz blich ist. Dort beziehen Parlamentsabgeordnete sehrviel niedrigere Diten und erhalten keine staatliche Altersver-sorgung. Auch eine staatliche Parteienfinanzierung ist dortunbekannt. Es geht aber keineswegs nur um Fragen der Poli-tikfinanzierung. Die Lage ist nicht weniger fatal bei Entschei-dungen des Parlaments ber andere Regeln des Machterwerbsund der Machtausbung, etwa das Wahlrecht, die Gre desParlaments, die Ernennung von Amtstrgern, die Strukturdes Fderalismus und andere grundlegende Verfassungsvor-schriften. Auch hier sind die Politiker selbst betroffen. Sollenalle diese Regeln nicht einseitig die Interessen der politischenKlasse widerspiegeln und dieser damit praktisch die Souverni-tt bertragen (siehe entsprechende Texte, S. 26ff. und 15 ff.),muss ihr die Entscheidung aus der Hand genommen werden.Dies drfte nur im Wege direkter Demokratie (siehe S. 73 ff.)zu realisieren sein.

    11Wahlen

    1 Wahlen: Das entwertete Fundamentalrechtder Brger

    Wahlen sind der Schlssel fr die Legitimation von Demokra-tien. Das gilt besonders fr rein reprsentative Systeme wiedie Bundesrepublik Deutschland und die Europische Union,in denen - mangels direktdemokratischer Elemente - Wahlendas einzige Instrument sind, mit dem die Gesamtheit der Br-ger Einfluss auf die Politik, auf die politischen Organe undihre Entscheidungen nehmen kann. Die befriedigende Ausge-staltung der Parlamentswahlen ist somit ein zentraler Prfsteinder Demokratie - mit den Worten des spanischen Kulturphilo-sophen und Essayisten Ortega y Gasset: Das Heil der Demo-kratie hngt von einer geringfgigen technischen Einzelheit ab:vom Wahlrecht. Alles andere ist sekundr.Die Wahl der staatlichen Funktionre ist im Laufe der Zeit

    immer noch wichtiger geworden, weil die Bedeutung und dasGewicht des Staates sich vervielfacht haben: Vor 100 Jahrennahm der Staat etwa zehn Prozent des Sozialprodukts durchSteuern und Abgaben in Anspruch. Heute sind es rund fnf-zig Prozent. Frher setzte der Staat im Wesentlichen nur denRahmen fr Wirtschaft und Gesellschaft. Heute interveniert erandauernd und berall. Entsprechend zugenommen haben dasInteresse und der Wunsch der Brger mitzubestimmen, was derStaat wie und wofr tut.Doch wie sieht es mit dem demokratischen Fundamental-

    recht der Brger in der Praxis aus? Die Vielzahl der Wahlenzum Bundestag und zum Europischen Parlament, zu sechzehnLandesparlamenten und zu Tausenden von Kreistagen, Stadt-und Gemeindevertretungen erweckt zwar den Eindruck, dieBrger htten unheimlich viel zu sagen, aber der Schein trgt.

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  • Das Wahlrecht wurde im Laufe der Jahrzehnte faktisch immermehr entwertet. Frher konnte der Brger immerhin zwischenzwei hchst unterschiedlichen Parteilagern whlen: den Sozial-demokraten, die fr mehr Staat eintraten, und liberal-konser-vativen Krften, die mehr den Selbststeuerungsmechanismenvon Wirtschaft und Gesellschaft vertrauten. Inzwischen sinddie Unterschiede zwischen Union und SPD fast vllig abge-schliffen. Beide verfolgen, genau genommen, eine sozialdemo-kratische Politik. Als Volksparteien vertreten sie nicht mehr dieInteressen einer bestimmten Gruppe der Gesellschaft, sondernwollen es mglichst mit niemandem verderben. Auch die dreikleineren Bundestagsparteien bieten kein wirkliches Kontrast-programm oder mssen sich in Koalitionen den Groen fgen.Die Linke macht hier nur zum Schein eine Ausnahme, ist inWahrheit aber sehr flexibel, wenn davon ihre Regierungs-beteiligung abhngt. Das sieht man am Beispiel des LandesBerlin, wo sie selbst den einschrnkendsten Manahmen zu-stimmt. Die Angleichung der Politik beflgelt allenfalls einevordergrndige Waschmittelwerbung in der Politik, die Un-terschiede wort- und bildreich vorspiegelt, nimmt aber derFrage, ob der Brger die eine oder andere groe Partei whlt,ihre Bedeutung.Hinzu kommt, dass bei unserem Verhltniswahlrecht nach

    dem Einzug der Linken auch in die westlichen Landespar-lamente oft nur noch Groe Koalitionen oder Dreierkoali-tionen eine Regierung bilden knnen. Die Whler wissendann erst recht nicht, wozu ihre Stimme fhrt. Zudem redetauch der Bundesrat noch mit, der oft eine andere Mehrheitaufweist. Dann tragen alle Parteien und damit keine die Ver-antwortung, und der Brger und Whler verliert vollends dieOrientierung.Umso wichtiger wre es, dass die Brger wenigstens die Per-

    sonen, die sie reprsentieren sollen, auswhlen knnen. Dochauch hier ist Fehlanzeige zu vermelden. Das Versprechen desGrundgesetzes, alle Brger knnten ihre Abgeordneten freiund unmittelbar whlen (Art. 28 Abs. I Satz 2 und Art. 38Abs. I Satz I GG), wird nicht eingelst. Nach dem in Deutsch-land bei Wahlen des Bundestags und der Landesparlamentevorherrschenden Wahlsystem haben die Parteien nicht nurpraktisch das Monopol fr die Aufstellung der Kandidaten. Sie

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    haben ~ie Regeln auch noch so gestaltet, dass sie den Brgernsogar die Wahl der Abgeordneten selbst abnehmen. Die Par-teien entscheiden, welchen Kandidaten der Erfolg von vorn-herein garantiert ist, indem sie sie in sicheren Wahlkreisen auf-stellen oder auf vordere Listenpltze setzen, also solche, dieselbst dann Mandate garantieren, wenn die Partei schlecht ab-schneidet (siehe S. 42 ff.). Aus diesen Grnden ist das inner-parteiliche Gerangel bei der Platzierung der Kandidaten be-sonders gro. Hier fallen die eigentlichen Entscheidungen berpolitische Karrieren. Das erklrt die Hrte und Intensitt, mitder in den Parteigremien um die aussichtsreichen Pltze gerun-gen wird.Wir haben also die paradoxe und zutiefst undemokratische

    Situation, dass die Mitwirkung des Brgers an der staatlichenWillens bildung durch Wahlen immer wichtiger geworden istgleichzeitig aber die Wahlen immer weniger wert sind, weilder Brger mit dem Stimmzettel nichts mehr entscheidenkann. ber die fatalen Eigenheiten unseres Wahlrechts wirdoffiziell wenig gesprochen. Die politische Bildung, der sichdie politische Klasse seit Langem bemchtigt hat (siehe S.93 f.),hat es bisher wohlweislich versumt, den Brgern das tatsch-liche Funktionieren unseres Wahlsystems nahezubringen. Da-rber zu sprechen verbietet die Political Correctness. Kaumein Whler, der sein demokratisches Grundrecht der Wahlausbt, kennt die Konsequenzen.Wird die Mitwirkung der Brger immer wichtiger, ist aber

    das Wahlrecht vllig entwertet, muss man einerseits das Wahl-recht reformieren, andererseits nach Alternativen suchen, diedem Brger echte Mitwirkung erlauben, etwa Elemente derdirekten Demokratie (siehe S. 73 ff.). Diese sind zugleich Vor-aussetzung fr eine Wahlrechtsreform. Denn da die etablier-ten Parteien und Abgeordneten mit der Reform des Wahlrechtsberfordert sind, so ntig eine solche Reform auch ist, kommtihre Durchsetzung wohl nur durch Volksbegehren und Volks-entscheid in Betracht, die in den Bundeslndern ja bereits er-ffnet sind.

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  • 2 Wahl von Abgeordneten: Inszenierter Schein

    Jahrhundertelang haben mutige Mnner und Frauen fr dasRecht des Volkes, seine Vertreter selbst zu whlen, gekmpftund dabei hufig ihre Freiheit geopfert und ihr Leben gelas-sen. Heute gehrt dieses Recht zu den demokratischen Selbst-verstndlichkeiten. In der Praxis unserer Republik werden dieWhler aber darum betrogen, und zwar auf derart raffinierteWeise, dass sie selbst es kaum merken. Da die politische Bil-dung fest in der Hand der politischen Klasse ist, unterlsstselbst sie die ntige Aufklrung, und auch die Medien lassensich einlullen.Tacheles gesprochen wird nur, wenn es um andere Lnder

    geht. Dazu passt eine Meldung in der Frankfurter Allgemei-nen Zeitung vom 25. Oktober 2007: ber eine nderung desWahlsystems wird seit Jahren diskutiert. Es herrscht weitge-hend Konsens darber, dass die Listenwahl eine negative Aus-lese begnstigt, weil sich die Abgeordneten nicht persnlichvor ihren Whlern verantworten mssen.. Die Meldung be-zog sich auf Rumnien. Gilt fr unser starres Listenwahlrechtin Deutschland aber nicht genau dasselbe? Unter Experten be-streiten das nur ideologisch Indoktrinierte.Die politische Klasse hat unser Wahlsystem in eigener Sache

    derart pervertiert, dass die Abgeordneten gar nicht mehr vomVolk gewhlt werden, wie es das Grundgesetz verlangt. Wendie Parteien auf sichere Pltze setzen - und das ist oft die groeMehrheit der Abgeordneten -, der ist lange vor der Wahl prak-tisch schon gewhlt, blo eben nicht von den Brgern. Inden sogenannten Hochburgen. der Union oder der SPD kanndie dominierende Partei den Brgern ihren- Wahlkreisabge-ordneten diktieren. Und wer im Wahlkreis verliert, kommt oftdennoch ins Parlament. Die Parteien berlisten- die Whler,indem sie ihre Wahlkreiskandidaten ber die Liste absichern.Denn wer auf den starren, vom Whler nicht zu vernderndenListen auf vorderen Pltzen der etablierten Parteien steht, demkann der Whler rein gar nichts mehr anhaben. Knnten dieBrger dagegen wirklich auswhlen, wrden manche Repr-sentanten sogleich hinweggefegt. Doch genau das knnen dieBrger nicht: die Abgeordneten durch Abwahl fr ihr Tun ver-

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    antwortlich machen. Das schrt Verdrossenheit mit Politikernund Parteien und trgt zum Rckgang der Wahlbeteiligung bei(siehe S. 48 ff.).Die Whler wissen nicht einmal, wem ihre Zweitstimme

    zum Einzug ins Parlament verhilft, obwohl dies (einschlielichder sogenannten berhangmandate) die Mehrheit der Abge-ordneten ist. Auf den Wahlzetteln sind nur wenige aufgelistet,und welcher Whler nimmt schon Einblick in die Landeslisten?Das wre auch nutzlos, weil nicht zu erkennen ist, wer nachAbzug der erfolgreichen Direktkandidaten noch brig bleibt.Es htte aber auch deshalb gar keinen Sinn, weil der Whlerdie Auswahl der Listenabgeordneten ohnehin nicht beeinflus-sen kann.Wie unser Wahlsystem funktioniert, zeigt sich beispielhaft

    an zwei Abgeordneten, die am Ir. April 2006 in einer n-tv-Talkrunde, an der auch der Verfasser teilnahm, auftraten: PeterAltmaier (CDU) war bei der Bundestagswahl 2005 im Wahl-kreis Saarlouis zwar dem SPD-Kandidaten Ottmar Schreinerunterlegen, kam aber dennoch ins Parlament, weil seine Parteiihn auf der saarlndischen Landesliste abgesichert hatte. DieterWiefelsptz (SPD) trat im Wahlkreis Hamrn-Unna II an, einemsicheren Wahlkreis seiner Partei, den er erwartungsgem mitrund 55 Prozent der Erststimmen gewann. Im selben Wahl-kreis kandidierten auch Laurenz Meyer (CDU) und Jrg vanEssen (FDP). Ihre Niederlage tat ihnen aber berhaupt nichtweh, weil beide sichere Listenpltze innehatten und deshalbvon vornherein feststand, dass auch sie in den Bundestag ein-ziehen wrden. Der heftige Wahlkampf in Saarlouis, Harnm-Unna II und in vielen anderen Wahlkreisen war nur ein insze-niertes Scheingefecht, das die Whler darber hinwegtuschte,dass sie in Wahrheit nichts zu sagen haben. WissenschaftlicheAnalysen beweisen, dass bei Parlamentswahlen in Deutschlandhufig drei Viertel aller Abgeordneten lngst vor der eigent-lichen Wahl durch die Brger feststehen.Wrde die zeitliche Reihenfolge vertauscht und wrden die

    Brger zuerst die Parteien whlen und diese erst danach fest-legen, welche Personen die auf sie entfallenden Mandate er-hielten, wre der Verfassungsversto offensichtlich. Dann wreunbersehbar, dass die Wahl der Abgeordneten durch die Par-teien erfolgt und nicht durch das Volk. Soll es aber wirklich ei-

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  • nen Unterschied machen, wann die Partei festlegt, wer die si-cheren Mandate bekommt? Ob dies vor oder nach der Wahlgeschieht, das Ergebnis bleibt doch dasselbe: Die Partei undnicht das Volk verteilt die Mandate.Wie absurd dies ist, zeigt auch ein Vergleich mit der Wirt-

    schaft: Kein privates oder ffentliches Unternehmen stelltPersonen ein, die es nicht vorher grndlich auf ihre Eignunggeprft hat. Nur das Grounternehmen BundesrepublikDeutschland mit mehr als achtzig Millionen Einwohnern lie-fert sein politisches Schicksal Personen aus, die es nicht ausge-whlt hat und deren Namen es meist nicht einmal kennt.

    Damit ist die ganze Konzeption von der reprsentativen Demo-kratie, wie sie unserer Verfassung zugrunde liegt, in Wahrheitohne Fundament. Die Brger knnen die Abgeordneten nurdann als ihre Reprsentanten ansehen und die von ihnen be-schlossenen Gesetze nur dann als bindend anerkennen, wennsie ihre Vertreter wirklich gewhlt haben, frei und unmittelbar,wie es das Grundgesetz ja auch ausdrcklich vorschreibt. Ge-nau das ist aber nicht der Fall. Wer ins Parlament kommt, daswird von den Parteien bestimmt.

    Diese treffen die Auswahl nach ganz anderen Kriterien alsdas Volk. Sie verlangen von ihren Kandidaten nicht so sehrLeistung als vielmehr Bewhrung innerhalb der Partei. Partei-konformes Verhalten ist Trumpf. Das gilt auch fr Abge-ordnete bei Abstimmungen im Parlament (siehe S. 157 ff.).Umgekehrt werden sie als Abweichler diskreditiert und ms-sen um ihre Wiedernominierung bangen, wenn sie versuchen,von ihrem (grundgesetzlieh garantierten) freien Mandat Ge-brauch zu machen. Aus Reprsentanten des Volkes werdenvollends gebundene Parteibeauftragte, Parteisoldaten (sieheS.138ff.).Die gewandelte Rolle der Abgeordneten ndert auch die Ge-

    schftsgrundlage fr ihre Bezahlung. Wer nicht von den Br-gern, sondern von der Partei gewhlt und von ihrer fortbe-stehenden Gunst existenziell abhngig ist, muss seiner Parteifr die Verschaffung des Mandats dankbar sein und als Gegen-leistung Parteisteuern entrichten (siehe S. r r r ff.), Ein sol-cher - in die Partei- und Fraktionsdisziplin eingebundener -Funktionr ist hinsichtlich seiner Bedeutung und Verant-wortung (die das Bundesverfassungsgericht zu den Kriterien

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    fr die Bezahlung von Abgeordneten rechnet) ganz anders ein-zuschtzen als der von Artikel 38 Grundgesetz geforderte un-abhngige, wirklich demokratisch legitimierte Volksreprsen-tant. Er ist auch in gar keiner Weise zu vergleichen mit einemvom Volk gewhlten und ihm verantwortlichen Brgermeis-ter einer Stadt, obwohl der Bundestag, wenn es um die Hheder Diten geht, diesen Typus immer wieder beschwrt (sieheS. 140 ff.).Wer das Wahlrecht ernsthaft reformieren will, muss auf viel-

    fltiges ideologisches Sperrfeuer gefasst sein. Die politischeKlasse hlt aus schierem Egoismus am Status quo fest. EineReform knnte ja ihre Monopolmacht, ber den Fortbestanddes eigenen Status zu entscheiden, schmlern. Zur Verteidi-gung behaupten sie immer wieder ungerhrt, die Brger whl-ten ihre Abgeordneten ja selbst. Sie htten die Reprsentan-ten, die sie verdienten, und mssten sich auch deren Mngelselbst zuschreiben. Diese Sicht, die die Dinge verdreht, ist auchin den Kpfen vieler Meinungsmacher in Politik und Medienverankert. Die starren Listen rechtfertigt man mit Spezialisten,die man im Parlament bruchte, die aber bei Personalwahlenkeine Chance htten. In Wahrheit sind Berufspolitiker geradedadurch gekennzeichnet, dass sie Generalisten und allenfallsSpezialisten im Bekmpfen politischer Gegner sind. Besondersdeutlich wird das bei Ministern, die von Ressort zu Ressortspringen, auch wenn sie - fachlich gesehen - von keinem eineAhnung haben (siehe S. 167ff.).Trotz dieser Widerstnde gibt es nichts Dringenderes als

    die Reform des Wahl systems. Zumindest mssen Vorwahleneingefhrt werden, um den Brgern auch in den Hochburgender Parteien eine Wahl zu lassen (siehe S. 68 ff.). Zustzlichmssen die Whler die Mglichkeit erhalten, die Listen zuverndern, wie dies auch in vielen anderen Lndern vorge-sehen ist.Zur Durchsetzung der Reform gibt es wohl nur zwei Wege.

    Ein Machtwort aus Karlsruhe knnte das derzeitige Wahlrechtmangels Unmittelbarkeit der Wahl der Listenabgeordneten frverfassungswidrig erklren. Vllig utopisch ist das nicht. Eingegenteiliges Urteil aus den Fnfzigerjahren beruhte auf deraberwitzigen Parteienstaatsdoktrin von Gerhard Leibholz, diedas Gericht inzwischen selbst aufgegeben hat (siehe S. 124ff.).

    4S

  • Das Gericht wrde das geltende Wahlrecht allerdings voraus-sichtlich nicht sofort fr nichtig erklren, sondern erst nachAblauf einer bestimmten Frist, so dass dem Gesetzgeber ausrei-chend Zeit fr die Reform bliebe, die dann erst fr eine knf-tige Wahl wirksam wrde. Dadurch wrde auch vermieden,dass mit einem Schlag dem Bundestag und allen anderen vonihm gewhlten Verfassungsorganen ganz offiziell ihre Legiti-mation entzogen wre, auch dem Bundesverfassungsgerichtselbst. Der andere Weg ist die Volksgesetzgebung durch Volks-begehren und Volksentscheid, wie sie auf Landesebene, alsofr das Landtags- und Kommunalwahlrecht, jetzt schon denBrgern offensteht.

    3 Europa:Wahl ohne Auswahl

    Von den 99 Abgeordneten, die Deutschland nach Brssel ent-sendet, wussten im Jahre 2004 bei der letzten Europawahl 75,also mehr als drei Viertel, schon lange vorher, dass sie ins Euro-pische Parlament einziehen wrden, weil ihre Parteien sie aufsichere Listenpltze gesetzt hatten. Die Entscheidungen warennur scheinbar in die Hand der Whler gelegt, in Wahrheit aberlngst vor dem eigentlichen Wahltermin bereits getroffen.

    Bei Europawahlen haben Deutsche nur eine Stimme. Es be-steht ein reines Verhltniswahlrecht mit starren, vom Whlernicht vernderbaren Listen. Die meisten Parteien stellen eineBundesliste auf, nur die Union geht - aus Rcksicht auf dieCSU - mit Landeslisten ins Rennen. Die Reihenfolge auf denListen knnen deutsche Whler nicht verndern. Welche Per-sonen ins Parlament kommen, entscheiden deshalb die Par-teien, indem sie die Betreffenden auf vordere Listenpltze set-zen. Dieses Verfahren haben Berufspolitiker in eigener Sacheetabliert, um ihre Abwahl durch die Brger zu verhindern.Dadurch wird die vermeintliche Volkswahl der Abgeordnetenallerdings zur Farce. Die Europawahlen als Direktwahlenzu bezeichnen, wie es sich eingebrgert hat, seitdem die Euro-pa abgeordneten nicht mehr von den nationalen Parlamentenbestimmt werden, ist eine semantische Verschleierung der Ver-hltnisse. In Wahrheit ist dem Whler die Mglichkeit genom-men, schlechte Politiker zur Verantwortung zu ziehen und sie

    durch Abwahl bei den nchsten Wahlen zu bestrafen, Damitverliert die Wahl ihre Funktion. Eine funktionierende Demo-kratie setzt mindestens voraus, dass die Brger schlechte Poli-tiker ohne Blutvergieen wieder loswerden knnen- (Karl R.Popper). Doch genau daran fehlt es in der EU, gerade aus deut-scher Sicht. So waren zum Beispiel Martin Schulz, der 2004die Bundesliste der SPD anfhrte (und heute Chef der gesam-ten sozialistischen Fraktion des Europischen Parlaments ist),und Klaus-Heiner Lehne, der auf Platz 6 der nordrhein-west-flischen CDU-Liste stand, mit der Nominierung durch ihreParteien faktisch schon gewhlt, obwohl sie bei der Auseinan-dersetzung um die EU-Diten die ffentlichkeit durch Falsch-meldungen in die Irre gefhrt hatten (siehe S. r off.) und dieWhler sie vielleicht nicht mehr im Parlament sehen mochten.Dasselbe gilt fr Elmar Brok, den damaligen Vorsitzenden desAuswrtigen Ausschusses des Europischen Parlaments, derauf Platz r der CDU-Liste Nordrhein-Westfalens stand unddamit ebenfalls dem Votum der Whler ber seine Person ent-zogen war, obwohl er ins Gerede gekommen war, weil seinebezahlte Lobby ttigkeit fr den Bertelsmann-Konzern mit derUnabhngigkeit eines Abgeordneten eigentlich unvereinbarist.Politiker und Feuilletonisten versuchen zwar immer wie-

    der, dem Volk die Verantwortung fr die Auswahl der Politi-ker zurckzuspielen. Es heit dann, wir Deutschen htten nunmal die Politiker, die wir verdienten. Wir htten sie gewhltund drften deshalb ihre mangelnde Qualitt nicht beklagen.Diese These wre aber nur dann begrndet, wenn wir unsereAbgeordneten wirklich bestimmen knnten, und dies ist ebennicht der Fall - aufgrund von Wahlregeln, die sich die poli-tische Klasse im eigenen Sekurittsinteresse auf den Leib ge-schneidert hat.Die Parteipolitik (und die von ihr beherrschte politische

    Bildung) pflegt dieses fundamentale Manko, das in hnlicherForm auch hinsichtlich von Bundestagsabgeordneten besteht(siehe S. 42ff.), totzuschweigen, es sei denn, seine Themati-sierung passt ihr ausnahmsweise einmal ins Konzept. So ge-schehen zum Beispiel bei der Abstimmung des Bundestags berden Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan im Jahre 200r,als man die sogenannten Abweichler der Regierungspartei

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  • SPD zur Rson bringen wollte. Da scheuten sich Bundeskanz-ler Gerhard Sehrder und Fraktionsvorsitzender Franz Mnte-fering nicht, herauszustellen, dass alle potenziellen Neinsagernicht direkt gewhlt wurden, sondern ber Landeslisten insParlament einrckten und sich deshalb nicht auf einen direk-ten Whlerauftrag berufen knnen, Hier rumen Politikeralso selbst ein, dass auf starren Listen gewhlte Abgeordnetenicht direkt vom Volk gewhlt werden, wie es bei smtlichendeutschen Europaabgeordneten der Fall ist.In den meisten anderen EU-Mitgliedstaaten ist dies anders.

    Dort knnen die Brger ihre Abgeordneten bei Europawahlenbestimmen. Es ist hchste Zeit, dass auch das deutsche Wahl-recht entsprechend gendert wird.

    4 Wahlbeteiligung: Stell' dir vor, es sindWahlen,und keiner geht hin

    Die Beteiligung der Brger an Wahlen sinkt und sinkt. Dasdrfte nicht zuletzt Ausdruck wachsender Unzufriedenheit derBrger mit dem politischen System und zunehmender Verdros-senheit ber Politiker und Parteien sein. Diese pflegen berniedrige Wahlbeteiligung zwar lauthals zu lamentieren. Dochsie vergieen in Wahrheit nur Krokodilstrnen. Wirklich wehtut ihnen die zunehmende Ohne-mich-Haltung der Brger kei-neswegs, solange sie sich nur gleichmig auf die etabliertenParteien verteilt und keine ernst zu nehmenden neuen Parteienauftreten. Die Parteien haben deshalb kein groes Interesse aneiner Umkehrung des Trends, selbst wenn sich darin ein Maan Protest und Unzufriedenheit der Brger mit den Leistungender Politik zeigt, das allmhlich auch unsere Demokratie selbstgefhrdet.

    Der Rckgang war geradezu dramatisch bei den Landes-und den Europawahlen. In den Achtzigerjahren hatte dieBeteiligung an Landtagswahlen noch durchschnittlich 78 Pro-zent betragen. Bei den fnf Landtagswahlen des Jahres 2006blieb sie dagegen stets unter der Sechzig-Prozent-Grenze undsackte in Sachsen-Anhalt sogar auf 44,4 Prozent ab. Erstmalsbei einer Landtagswahl gab es mehr Nichtwhler als Whler.In Bremen und Niedersachsen gingen im Mai 2007 bzw. im

    Januar 2008 58 bzw. 57 Prozent zur Wahl- weniger als jemalszuvor in diesen beiden Lndern. Auch in Hamburg war dieWahl beteiligung am 24. Februar 2008 mit 63,6 Prozent soniedrig wie nie vorher. Und selbst in Hessen sank die Betei-ligung am 27. Januar 2008 - trotz der starken Polarisierungim Wahlkampf - auf den geringsten jemals gemessenen Wert(64,3 Prozent).Bei den beiden letzten Europawahlen strzte die Beteili-

    gung ebenfalls ab