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Bildung und Gesellschaft 11.06.12 / Nr. 133 / Seite 42 / Teil 01 NZZ AG Die diplomierten Eltern Ob Referate oder «Elternlehre» – auf der Suche nach der richtigen Erziehungstaktik investieren Eltern viel Zeit und Geld Viele Väter und Mütter setzen in der Erziehung nicht mehr auf «learning by doing» und holen sich stattdessen Fachwissen von Experten. Künftig wird Eltern- bildung sogar als offizielle Wei- terbildung anerkannt. Sabine Windlin Berufspolitiker und Vollzeitmütter wei- sen in ihren Tätigkeiten kaum Gemein- samkeit auf, ausser vielleicht folgende: Beide brauchen für die Ausübung ihres Jobs kein Diplom. Doch während Erst- genannte ihre Aufgabe meist mit strot- zendem Selbstbewusstsein angehen, sind Väter und Mütter oft tief verun- sichert und suchen scharenweise Rat: in Elternkursen und -seminaren. Kaskade der Kurse «Sowohl die Anzahl der durchgeführ- ten Kurse wie die Anzahl Teilnehmen- der ist im Laufe der letzten acht Jahre markant angestiegen», bestätigt Maya Mulle, Geschäftsführerin von Eltern- bildung CH. Der in allen drei Landes- teilen engagierte Dachverband ist der aktivste Player in der Elternbildung und zählt nebst den 240 Einzelmitglie- dern 90 mitgliederstarke Organisatio- nen, die in der Branche tätig sind. Über 70 000 Väter und Mütter besuchten im Jahr 2011 schweizweit über 5000 Veran- staltungen und hörten sich Experten- meinungen an zu Themen wie «Gren- zen setzen», «Märchen erzählen», «Trotzphase meistern». Sie kamen, um zu lernen, wie sie den Kindergeburtstag organisieren, das Haushaltsbudget opti- mieren, die Grosseltern einbinden, den Geschwisterstreit schlichten, den Säug- ling beruhigen sollen. Dabei ist es gar nicht so, dass nur un- erfahrene Eltern mit kleinen Kindern die Angebote der Elternbildung nutzen. Der Geburtsvorbereitungskurs mag für viele der erste, doch nicht der letzte Kurs sein. Nachher, das zeigen die Sta- tistiken, geht es erst richtig los. Vorträge zu Themen wie Suchtprävention, Ta- schengeld, Hausaufgaben, Schulerfolg oder Umgang mit Medien erfuhren in den letzten drei Jahren am meisten Zu- lauf, wobei die Väter unter den Teilneh- mern stark am Aufholen sind. Auf zwi- schen 200 und 400 Franken belaufen sich die Kosten für Seminarien pro Paar, je nachdem, ob die Kursleiter auf eigene Rechnung arbeiten oder im Auftrag von Gemeinden, Schulen oder Sozialver- bänden auftreten. Bei zeitlich ausge- dehnten Veranstaltungen ist man schnell bei 800 Franken. Evergreens sind zertifizierte und so- mit standardisierte Erziehungskurse wie «PEKiP», «Step» oder «Triple P», die dank Mundpropaganda praktisch ohne Marketing ihr Publikum finden. Sie folgen inhaltlich einem präzisen Muster und funktionieren immer gleich, egal ob sie in Ermatingen oder Kandersteg gehalten werden. Beim aus den USA stammenden Training Step (Systematic Training for Effektive Pa- renting) lernen Eltern, wie sie ein «kooperatives Zusammenleben in der Familie erreichen und eine tragfähige, erfüllende Beziehung mit ihren Kindern aufbauen können». Im PEKiP (Prager Eltern-Kind-Programm) treffen sich El- tern mit kleinen Babys und erhalten Ideen für Spiel- Bewegungs- und Sin- nesanregungen. Bei Triple P (Positive Parenting Program) steht die Verbesse- rung von angespannten Situationen durch Lob und Zuwendung im Mittel- punkt. Rund 200 lizenzierte Referentin- nen sind mit dem Kurs «Starke Eltern – Starke Kinder» unterwegs und verhel- fen Eltern in einem Basis- und Aufbau- kurs zu einer selbstbewussten Einstel- lung in der Erziehungsarbeit und zeigen Handlungsalternativen für Situationen auf, die zu Hause regelmässig in eine Sackgasse führen. Nach der Arbeit in Gruppen mit insgesamt 16 Lektionen gibt es Hausaufgaben. Zum elternbildenden Blockbuster ist der Film «Wege aus der Brüllfalle» des deutschen Filmemachers und Medien- pädagogen Wilfried Brünings gewor- den, der aufzeigt, wie Eltern Ruhe be- wahren können, wenn ihre Kinder nicht auf sie hören, wie sie überdies mehr Sicherheit und Durchsetzungskraft ge- winnen und zu einer natürlichen Autori- tät werden. Brüning geht damit im ge- samten deutschsprachigen Raum auf Tournee und ist ziemlich gut gebucht. 15 000 bis 20 000 Mal ist die DVD im deutschsprachigen Raum im Laufe der letzten fünf Jahre verkauft worden. Am intensivsten dürfte die Ausein- andersetzung in der von Marlies Bieri konzipierten «Elternlehre» sein, die 18 Monate dauert und in drei Module auf- geteilt ist. Einmal pro Monat an einem fixen Abend treffen sich die Eltern, um mehr über Kindesentwicklung, Spiel- verhalten, Fördermöglichkeiten und Ri- tuale zu erfahren. Wer alle 50 Lektionen besucht hat, erhält ein Attest. Im Kanton Bern haben innerhalb der letzten fünf Jahre bereits 150 Väter und Mütter die Elternlehre absolviert. Im Oktober expandiert das erfolg- reiche Programm in den Kanton Aar- gau. Hier fand unlängst auch der 6. El- ternbildungstag statt, der auf ein riesi- ges Echo stiess. Sämtliche an der Ver- anstaltung ausgeschriebenen Work- shops waren ausgebucht. Manche mussten aufgrund der grossen Nach- frage dreimal durchgeführt werden. Im Kanton Aargau bestehen ebenso wie in den Kantonen Zürich, Zug, Thurgau, Solothurn, Aargau, St. Gallen, Basel- Stadt und Baselland Leistungsverein- barungen mit Institutionen der Eltern- bildung bzw. ist diese innerhalb der kantonalen Verwaltung angesiedelt. Entsprechend ausgeprägt ist in diesen Regionen auch das Kurswesen. Zwiespältiger Befund Der Boom hat auch eine neue Berufs- gattung geschaffen: jene der Elternbild- ner. Die Berufsbezeichnung – nicht zu verwechseln mit dem diplomierten Er- wachsenenbildner – ist vom BBT zwar nicht anerkannt. Doch Elternbildung CH ist damit beschäftigt, ein national anerkanntes Label zu entwickeln, mit dem sich nur jene Referenten schmü- cken dürfen, die nebst Sach- auch über «Auftrittskompetenz» verfügen. An Gelegenheiten zum Referieren wird es nicht fehlen. Pro Familia und fünf ihrer Mitgliederorganisationen haben die El- ternbildung für die Jahre 2011 bis 2013 zum Schwerpunktthema erklärt. Lehrerverbände, Beratungszentren, Landeskirchen, aber auch die Stiftung Kinderschutz Schweiz und die Pro Ju- ventute – sie alle empfehlen sich als qualifizierte Partner in der Eltern- bildung und buhlen um die Aufmerk- samkeit lernwilliger Mamis und Papis. Das Problem dabei: Das Sammelsurium von Kursen wächst, und der Begriff der Elternbildung ist mittlerweile so weit gefasst, das alles, was im Entferntesten mit der Gestaltung des Familienalltags zu tun hat, darunter zu fallen droht. Der Dachverband sah sich deshalb gezwun- gen, eine Liste zu erstellen mit Kurs- inhalten, die definitiv nicht dazu zählen und deshalb nicht beworben und in den Veranstaltungskalender aufgenommen werden: Es sind dies u. a.: Basteln für den Muttertag, Blockflöten-, Trage- tuch-, Atemkurse, Familiengottesdiens- te, Veloflicktage, Kurse zum Ausfüllen

Die diplomierten Eltern - elternbildung.ch · Bildung und Gesellschaft 11.06.12 / Nr .133 / Seite 42 / T eil 01! NZZ A G Die diplomierten Eltern Ob Referate oder !Elternlehr e" #

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Bildung und Gesellschaft 11.06.12 / Nr. 133 / Seite 42 / Teil 01

! NZZ AG

Die diplomierten ElternOb Referate oder «Elternlehre» – auf der Suche nach der richtigen

Erziehungstaktik investieren Eltern viel Zeit und Geld

Viele Väter und Mütter setzen inder Erziehung nicht mehr auf«learning by doing» und holensich stattdessen Fachwissen vonExperten. Künftig wird Eltern-bildung sogar als offizielle Wei-terbildung anerkannt.

Sabine Windlin

Berufspolitiker und Vollzeitmütter wei-sen in ihren Tätigkeiten kaum Gemein-samkeit auf, ausser vielleicht folgende:Beide brauchen für die Ausübung ihresJobs kein Diplom. Doch während Erst-genannte ihre Aufgabe meist mit strot-zendem Selbstbewusstsein angehen,sind Väter und Mütter oft tief verun-sichert und suchen scharenweise Rat: inElternkursen und -seminaren.

Kaskade der Kurse«Sowohl die Anzahl der durchgeführ-ten Kurse wie die Anzahl Teilnehmen-der ist im Laufe der letzten acht Jahremarkant angestiegen», bestätigt MayaMulle, Geschäftsführerin von Eltern-bildung CH. Der in allen drei Landes-teilen engagierte Dachverband ist deraktivste Player in der Elternbildungund zählt nebst den 240 Einzelmitglie-dern 90 mitgliederstarke Organisatio-nen, die in der Branche tätig sind. Über70 000 Väter und Mütter besuchten imJahr 2011 schweizweit über 5000 Veran-staltungen und hörten sich Experten-meinungen an zu Themen wie «Gren-zen setzen», «Märchen erzählen»,«Trotzphase meistern». Sie kamen, umzu lernen, wie sie den Kindergeburtstagorganisieren, das Haushaltsbudget opti-mieren, die Grosseltern einbinden, denGeschwisterstreit schlichten, den Säug-ling beruhigen sollen.

Dabei ist es gar nicht so, dass nur un-erfahrene Eltern mit kleinen Kinderndie Angebote der Elternbildung nutzen.Der Geburtsvorbereitungskurs mag fürviele der erste, doch nicht der letzteKurs sein. Nachher, das zeigen die Sta-tistiken, geht es erst richtig los. Vorträgezu Themen wie Suchtprävention, Ta-schengeld, Hausaufgaben, Schulerfolgoder Umgang mit Medien erfuhren inden letzten drei Jahren am meisten Zu-lauf, wobei die Väter unter den Teilneh-mern stark am Aufholen sind. Auf zwi-schen 200 und 400 Franken belaufensich die Kosten für Seminarien pro Paar,je nachdem, ob die Kursleiter auf eigene

Rechnung arbeiten oder im Auftrag vonGemeinden, Schulen oder Sozialver-bänden auftreten. Bei zeitlich ausge-dehnten Veranstaltungen ist manschnell bei 800 Franken.

Evergreens sind zertifizierte und so-mit standardisierte Erziehungskursewie «PEKiP», «Step» oder «Triple P»,die dank Mundpropaganda praktischohne Marketing ihr Publikum finden.Sie folgen inhaltlich einem präzisenMuster und funktionieren immergleich, egal ob sie in Ermatingen oderKandersteg gehalten werden. Beim ausden USA stammenden Training Step(Systematic Training for Effektive Pa-renting) lernen Eltern, wie sie ein«kooperatives Zusammenleben in derFamilie erreichen und eine tragfähige,erfüllende Beziehung mit ihren Kindernaufbauen können». Im PEKiP (PragerEltern-Kind-Programm) treffen sich El-tern mit kleinen Babys und erhaltenIdeen für Spiel- Bewegungs- und Sin-nesanregungen. Bei Triple P (PositiveParenting Program) steht die Verbesse-rung von angespannten Situationendurch Lob und Zuwendung im Mittel-punkt. Rund 200 lizenzierte Referentin-nen sind mit dem Kurs «Starke Eltern –Starke Kinder» unterwegs und verhel-fen Eltern in einem Basis- und Aufbau-kurs zu einer selbstbewussten Einstel-lung in der Erziehungsarbeit und zeigenHandlungsalternativen für Situationenauf, die zu Hause regelmässig in eineSackgasse führen. Nach der Arbeit inGruppen mit insgesamt 16 Lektionengibt es Hausaufgaben.

Zum elternbildenden Blockbuster istder Film «Wege aus der Brüllfalle» desdeutschen Filmemachers und Medien-pädagogen Wilfried Brünings gewor-den, der aufzeigt, wie Eltern Ruhe be-wahren können, wenn ihre Kinder nichtauf sie hören, wie sie überdies mehrSicherheit und Durchsetzungskraft ge-winnen und zu einer natürlichen Autori-tät werden. Brüning geht damit im ge-samten deutschsprachigen Raum aufTournee und ist ziemlich gut gebucht.15 000 bis 20 000 Mal ist die DVD imdeutschsprachigen Raum im Laufe derletzten fünf Jahre verkauft worden.

Am intensivsten dürfte die Ausein-andersetzung in der von Marlies Bierikonzipierten «Elternlehre» sein, die 18Monate dauert und in drei Module auf-geteilt ist. Einmal pro Monat an einemfixen Abend treffen sich die Eltern, ummehr über Kindesentwicklung, Spiel-verhalten, Fördermöglichkeiten und Ri-tuale zu erfahren. Wer alle 50 Lektionen

besucht hat, erhält ein Attest.Im Kanton Bern haben innerhalb

der letzten fünf Jahre bereits 150 Väterund Mütter die Elternlehre absolviert.Im Oktober expandiert das erfolg-reiche Programm in den Kanton Aar-gau. Hier fand unlängst auch der 6. El-ternbildungstag statt, der auf ein riesi-ges Echo stiess. Sämtliche an der Ver-anstaltung ausgeschriebenen Work-shops waren ausgebucht. Manchemussten aufgrund der grossen Nach-frage dreimal durchgeführt werden. ImKanton Aargau bestehen ebenso wie inden Kantonen Zürich, Zug, Thurgau,Solothurn, Aargau, St. Gallen, Basel-Stadt und Baselland Leistungsverein-barungen mit Institutionen der Eltern-bildung bzw. ist diese innerhalb derkantonalen Verwaltung angesiedelt.Entsprechend ausgeprägt ist in diesenRegionen auch das Kurswesen.

Zwiespältiger BefundDer Boom hat auch eine neue Berufs-gattung geschaffen: jene der Elternbild-ner. Die Berufsbezeichnung – nicht zuverwechseln mit dem diplomierten Er-wachsenenbildner – ist vom BBT zwarnicht anerkannt. Doch ElternbildungCH ist damit beschäftigt, ein nationalanerkanntes Label zu entwickeln, mitdem sich nur jene Referenten schmü-cken dürfen, die nebst Sach- auch über«Auftrittskompetenz» verfügen. AnGelegenheiten zum Referieren wird esnicht fehlen. Pro Familia und fünf ihrerMitgliederorganisationen haben die El-ternbildung für die Jahre 2011 bis 2013zum Schwerpunktthema erklärt.

Lehrerverbände, Beratungszentren,Landeskirchen, aber auch die StiftungKinderschutz Schweiz und die Pro Ju-ventute – sie alle empfehlen sich alsqualifizierte Partner in der Eltern-bildung und buhlen um die Aufmerk-samkeit lernwilliger Mamis und Papis.Das Problem dabei: Das Sammelsuriumvon Kursen wächst, und der Begriff derElternbildung ist mittlerweile so weitgefasst, das alles, was im Entferntestenmit der Gestaltung des Familienalltagszu tun hat, darunter zu fallen droht. DerDachverband sah sich deshalb gezwun-gen, eine Liste zu erstellen mit Kurs-inhalten, die definitiv nicht dazu zählenund deshalb nicht beworben und in denVeranstaltungskalender aufgenommenwerden: Es sind dies u. a.: Basteln fürden Muttertag, Blockflöten-, Trage-tuch-, Atemkurse, Familiengottesdiens-te, Veloflicktage, Kurse zum Ausfüllen

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Bildung und Gesellschaft 11.06.12 / Nr. 133 / Seite 42 / Teil 02

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der Steuererklärung oder über die An-wendung von Schüsslersalzen.

Der amerikanische Psychologe Mar-shall B. Rosenberg, der in den 1980erJahren den Begriff der gewaltfreienKommunikation prägte, meinte einst:«Elternsein ist der wichtigste Beruf derWelt.» Mit diesem Satz wird ein facet-tenreiches, flächendeckendes und Jahrfür Jahr wachsendes Kurswesen legiti-miert, das manche wertvolle Inputs anEltern liefern mag, aber auch viel Mittel-mässiges und Banales auftischt. Die imLaufe der letzten zwanzig Jahr neu ent-standene Branche der Elternbildung lebtvon einem zwiespältigen Befund: Nochnie nahmen sich Eltern so wichtig, undkaum je fühlten sie sich so inkompetent.