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50 Jahre Konzil

CLAUS-PETER MÄRZ

Die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“

Das Zweite Vatikanische Konzil war ein entscheidender Aufbruch, der die katholi-sche Kirche neu auf die Wirklichkeit der Welt von heute hin geöffnet hat. Dabei hat das Konzil seine Arbeit keineswegs problemlos begonnen, sondern musste sich in einem von unterschiedlichen Vorstellungen durchzogenen Prozess erst einmal zu-sammenfinden. Damit eine dogmatische Konstitution über die göttliche Offenba-rung diesem Aufbruch praktisch und auch theologisch entsprechen konnte, musste sie ebenfalls „längere Wege“ zurücklegen. Es ist deshalb aufschlussreich zu sehen, wie gerade diese längeren Wege die Konstitution „Dei Verbum“ zu einem beacht-lichen Abschluss führen und diese wiederum das Konzil zur Geltung bringt. – Prof. em. Dr. Claus-Peter März, bis 2012 Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Erfurt. Veröffent-lichungen u. a.: Das Wort Gottes bei Lukas. Die lukanische Worttheologie als Frage an die neuere Lukasforschung (EThSch 11), Leipzig 1974; „Siehe, dein König kommt zu Dir“. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung zur Einzugsperikope (EThSt 43), Leipzig 1981; Art. Wort Gottes. Biblisch-theologisch. NT, in: LThK 10, 32001, 1297f; Studien zum Hebräerbrief (SBAB 39), Stuttgart 2005.

1. Ein epochaler Einschnitt – zum theologischen Verständnis von Offenbarung

Die „Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Ver-bum“ gehört neben der Erklärung „Nostra Aetate“, den Konstitutionen „Gaudium et spes“ und „Lumen Gentium“ zu den zentralen und entschei-denden Texten des II. Vatikanischen Konzils.1 Die Bemühungen um die Erstellung dieses zentralen Textes haben dabei mit diversen Ansätzen, Ab-brüchen und Überarbeitungen fast die gesamte Zeit des Konzils durchzo-gen. Erst nach mehrfachen Neuansätzen und langwierigen Diskussionen ist die Konstitution fast als letztes Dokument des Konzils unmittelbar vor des-sen Abschluss doch noch verabschiedet worden. Der Text stellt dabei inso-fern einen geradezu „epochalen Einschnitt“ dar, als durch ihn neue und entscheidende Perspektiven im Hinblick auf das theologische Verständnis der Offenbarung eröffnet worden sind. Helmut Hoping, einer der ent-scheidenden Kommentatoren der Konstitution, arbeitet dabei zu Recht be-

1 Für Zuarbeit und manche Ergänzung danke ich Alexander Heinze.

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sonders die weit über die traditionellen Vorgaben hinausgehenden theologi-schen Orientierungen der Konstitution heraus:

„Offenbarung wird nicht mehr, wie noch im I. Vatikanischen Konzil, im Sinne einer göttlichen Mittteilung übernatürlicher Glaubenswahrheiten konzipiert, sondern als geschichtliche Selbstmitteilung Gottes an die Menschen. Der Akzent verschiebt sich von einem instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnis zu einem personalen, geschichtlichen und soteriologischen, auf das Heil der Men-schen bezogenen Verständnis der Offenbarung.“2

Das aber bedeutet, dass die Konstitution „Gottes Offenbarung als ein dyna-misches Heilsgeschehen“ auffasst und dass der Glaube dabei entscheidend als „Antwort des Menschen auf Gottes Offenbarung“ verstanden wird.3 Diese Perspektive ist freilich nicht nur im Hinblick auf die Konstitution selbst von Bedeutung, sie bildet vielmehr in gewisser Weise das konziliare Geschehen insgesamt ab, indem sie dessen entscheidende Orientierungen aufnimmt. Hoping vermerkt dazu, dass der „Plan einer Konstitution zu den Themen Offenbarung, Schrift, Überlieferung“ bereits „auf die Anfänge der Konzilsvorbereitung zurück[geht]“.4 Es war mit Blick auf die Ausrichtung des Textes dabei weithin unbestritten, dass die Frage nach der Offenbarung zentrale Bedeutung für den Aufbruch der Kirche in einer sich verändern-den Welt haben müsse. Im Nachhinein zeigte sich, dass der schwierigen Arbeit an der Konstitution mit ihren vielschichtigen Perspektiven und der Beachtung unterschiedlicher theologischer Hintergründe auch deshalb be-sonderes theologisches Gewicht zukommt, weil sie den Weg des Konzils faktisch vom Anfang bis zum Ende „umschlossen“ hat und so mit ihren Bemühungen das konziliare Geschehen als Ganzes widerspiegelt. Im Folgenden soll zunächst der langwierige Prozess der Erstellung der Dogmatischen Konstitution „Dei Verbum“ wenigstens im Umriss aufge-nommen werden. Dabei soll nicht nur auf die unterschiedlichen Ansätze, die in der Diskussion zur Sprache gebracht wurden, eingegangen werden, sondern ebenso auf die schwierigen Wege der Klärung und Vermittlung, die schließlich von der überwiegenden Mehrheit der Väter akzeptiert wur-den. Die Leser und Leserinnen können so einigen Wegen des konziliaren Geschehens nachgehen.

2 Helmut Hoping, Theologischer Kommentar zur Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offen-

barung Dei Verbum,in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 3, Frei-burg/Br. 2005, 695–831, hier 807.

3 Hoping, Theologischer Kommentar (s. Anm. 2), 807. 4 Hoping, Theologischer Kommentar (s. Anm. 2), 716.

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2. Vom Schema „De fontibus revelationis“ zur Konstitution „Dei Verbum“

Am 14.11.1962 begann die Arbeitsgruppe mit der Diskussion über das von der Theologischen Kommission unter Card. Ottaviani als Vorlage erarbeitete Schema „De fontibus revelationis“(Über die Quellen der Offenbarung). Es sollte nach der Vorstellung der Theologischen Kommission des Konzils die Basis für die zu erarbeitende neue Konstitution bilden. Die Vorlage erwies sich dabei freilich – im Hinblick auf die die Kirche bewegenden Gegen-wartsfragen – als wenig hilfreich. Sie orientierte sich an der entsprechenden Konstitution des I. Vaticanum und erweckte bei den meisten Mitgliedern der Arbeitsgruppe den Eindruck, dass die Vorgaben letztlich nicht auf einen wirklichen Neuansatz, sondern weithin eher auf eine Fortschreibung der Aussagen des I. Vaticanum ausgerichtet waren. Das Schema erhielt deshalb in einer sehr emotionalen Abstimmung keine Mehrheit. Die vorgetragene Kritik bezog sich vor allem darauf, dass die vorgelegten Materialien die kirchliche Tradition als eine eigene und unabhängige Quelle der Offenba-rung werteten. Die Kritiker machten geltend, dass das Schema von einem Offenbarungsverständnis bestimmt sei, das man als „instruktionstheore-tisch“ bezeichnen müsse, weil „Offenbarung“ dabei lediglich als Mitteilung (instructio) übernatürlicher Glaubenswahrheiten verstanden werde. Dies aber würde eine angemessene theologische Neuorientierung im Horizont der biblischen Vorgaben von vornherein ausschließen bzw. in unangemessener Weise einschränken. Fast bis zum Ende des Konzils war die Kommission ab dem Moment in mehreren Anläufen mit dem Erstellen einer angemes-senen Fassung der Offenbarungskonstitution beschäftigt. Im Folgenden soll dem Weg und den jeweiligen Stadien dieser Arbeit noch einmal konkreter nachgegangen werden, weil so die „stufenweise Erarbei-tung“ des Textes und die Bedeutung der unterschiedlichen Textfassungen deutlicher zu Tage treten. Die Darstellung orientiert sich dabei an den fünf Fassungen, die theologisch durchaus unterschiedlich sind. 1. Fassung: Auf das Schema „De fontibus revelationis“ ist bereits verwiesen worden. Schon der lateinische Titel verweist auf die eklatanten Mängel am vorgelegten Schema.5 Dennoch war ein Versuch, den Text generell abzu-lehnen, schon deshalb nicht zu realisieren, weil die Verfahrensweisen der Abstimmung noch nicht allseits vertraut und auch deren Form für manche nicht verständlich waren. Dies bedeutete, dass man zunächst einmal das vorliegende Schema als Grundlage für alle weitere Arbeit aufzunehmen gezwungen war. Papst Johannes XXIII. aber war darum bemüht, die Arbeit

5 Neben der Kritik an einzelnen Punkten entlang des Schemas brachten einige Väter zusätzlich etwas

Ungewöhnliches vor: Sie vermissten im Schema vor allem den pastoralen Charakter des Lehramtes (vgl. Hoping, Theologischer Kommentar [s. Anm. 2], 725–727).

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an der Konstitution möglichst schnell weiterzuführen und möglichst bald auch abzuschließen. Er legte deshalb in der Hoffnung auf eine zügige Wei-terarbeit fest, dass das Schema von einer „gemischten Kommission“, in der dann unterschiedliche Orientierungen zur Sprache kämen, neu bearbeitet werden solle. 2. Fassung: Die entsprechende Kommission wurde vom Papst ernannt und erarbeitete einen weithin neuen Text unter der Überschrift „De divina reve-latione“(Über die göttliche Offenbarung). Die Arbeit an diesem Schema stand in einer besonderen Situation, weil in der „gemischten Kommission“ unterschiedliche Meinungen geklärt und abgeglichen werden sollten. Die Ergebnisse zeigten, dass sich so durchaus neue Vermittlungen, Verständi-gungen und Klarheiten schaffen ließen. Die erarbeitete Fassung war ohne Zweifel im Hinblick auf den vormaligen Versuch ein Fortschritt. Allerdings hatten sich die Väter etwas anderes erhofft als einen Text voller hilfreicher Ansätze, Vermittlungen und Verständigungen. Dies hatte zur Folge, dass sie ihren Zuspruch auch diesem Text versagten.6 3. Fassung: Ein entscheidender Einschnitt war der Tod von Johannes XXIII., der zunächst einmal die Arbeiten weithin ruhen ließ. Nach der Wahl von Paul VI. wurde die Arbeit jedoch zügig wieder aufgenommen. Der neue Papst verwies am Schluss der zweiten Sitzungsperiode des Konzils aus-drücklich auf das noch nicht fertiggestellte Schema und mahnte nachdrück-lich dessen weitere Erarbeitung an. Die Kommission wertete daraufhin die zahlreich eingegangenen Voten aus und gestaltete den Text entsprechend um. So bekam er eine neue Einleitung, und das neue erste Kapitel stand nun unter der Überschrift: „Über die Offenbarung selbst“.7 Beide Teile brachten stärker zum Ausdruck, dass die Offenbarung nicht einfach Wahr-heit über Gott enthält, sondern Gott selbst ist. Darüber hinaus wurde kla-rer, dass er sich nicht allein durch Worte, sondern durch heilsgeschichtliche Tat offenbart. Am 3. Juli 1964 lag die Neufassung vor. Nach intensiver Be-ratung und weiteren Änderungen konnte das Schema, trotz der Bemühun-gen von Paul VI., aus Zeitgründen in der dritten Sitzungsperiode nicht mehr abgestimmt werden.8 6 Joseph Ratzinger erinnert sich 1967, dass der Text von den Vätern als „Produkt der Resignation“

aufgenommen wurde. „So konnte sich die Kirche vor der Welt nicht über ein Thema äußern, bei dem ihr eigentlich das Herz brennen müßte.“ (Joseph Ratzinger, Dogmatische Konstitution über die gött-liche Offenbarung – Einleitung und Kommentar Kap. 1–2 und 6, in: LThK.E 2, Freiburg/Br. 21967, 498–528 und 571–581, hier 501.)

7 Vgl. zu Textumstellungen: Alois Grillmeier, Die Wahrheit der Heiligen Schrift und ihre Erschließung. Zum dritten Kapitel der Dogmatischen Konstitution „Dei Verbum“ des Vaticanum II, in: ThPh 41 (2/1966), 161–187, hier 163.

8 Hinsichtlich der Bedeutung dieses Schemas und seiner Beratung in der dritten Sitzungsperiode hat Jo-seph Ratzinger bemerkt, dass der Text den Vätern durch Erzbischof Florit von Florenz vorgestellt wurde. Für Ratzinger ist die Rede Florits vor dem Plenum einer der wichtigsten Momente des Konzils, weil Florit als einflussreiches und hochgeachtetes Mitglied der theologisch traditionell denkenden Gruppe galt: „Bei dem großen Ansehen, das er als einer der beliebtesten und angesehensten theologischen Lehrer

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4. Fassung: In der vierten Sitzungsperiode (1965) wurde das Schema bera-ten, erneut bearbeitet und wiederum vorgestellt. Danach hat das Schema bereits die Struktur der Endfassung. Es eröffnet mit einem Vorwort, an das sich sechs Kapitel anfügen, die in ihrer Abfolge thematisch deutlich auf die Offenbarung hin ausgerichtet sind: 1. Die Offenbarung in sich, 2. Die Weiter-gabe der göttlichen Offenbarung, 3. Die göttliche Inspiration und die Aus-legung der Heiligen Schrift, 4. Das Alte Testament, 5. Das Neue Testament, 6. Die Heilige Schrift im Leben der Kirche. Damit sind Orientierungen er-stellt worden, die die entscheidenden Aspekte der Konstitution deutlich markieren und mit Verweis auf die Offenbarung, die göttliche Inspiration und auf die Schrift auch auf den entscheidenden theologischen Hinter-grund verweisen. 5. Fassung: Der erarbeitete Text wird – unter Einarbeitung kleinerer Ände-rungswünsche9 – in dieser Fassung am 18. November 1965 in einer der letz-ten öffentlichen Sitzungen des Konzils von den Vätern angenommen. Da-mit ist die Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ unmittelbar vor dem Abschluss des Konzils doch noch realisiert worden. Dem Ansatz und der Intention der Konstitution soll im Folgenden entlang des Textes genauer nachgegangen werden.

3. Die Dogmatische Konstitution „Dei Verbum“

Die Konstitution „Dei Verbum“ ist, wie sich schon an der komplizierten Entstehungsgeschichte abgezeichnet hat, ein Schreiben, das nicht nur für sich selber steht, sondern in besonderer Weise mit der Gesamtheit des kon-ziliaren Prozesses eng verflochten ist und ihn in mancher Hinsicht gerade-zu repräsentiert. Dies bringen nicht zuletzt die Orientierungen der müh-sam „erkämpften“ Endfassung von „Dei Verbum“ zur Sprache.10 Als hilfreich für das Verständnis dieses keineswegs einfachen Textes er-wies sich dabei seinerzeit schon Joseph Ratzingers Einleitung zur „Dogma-

der Lateranhochschule genoß […], war es entscheidend, daß er sich zum Dolmetsch für die von der Mehrheit befürwortete Fassung des Schemas machte und es mit Wärme der Minderheit gegenüber ver-teidigte, deren Sprache er sprach und deren Vertrauen er besaß.“ (Ratzinger, Dogmatische Konstitution [s. Anm. 6], 502.)

9 Obwohl der Text bereits in einer vorläufigen Abstimmung die notwendige Zweidrittelmehrheit er-reicht hatte, beharrte eine kleine Gruppe auf weiteren Änderungen. Nach erneuter Diskussion inter-venierte Paul VI. zugunsten der Minorität. Am 18. Oktober 1965 erreichte Card. Ottaviani ein vom Papst beauftragtes Schreiben, das Änderungen in der Darstellung des Verhältnisses von Schrift und Tradition, in der Darstellung der Irrtumslosigkeit der Schrift und in der Darstellung der Historizität der Evangelien verlangte; Formulierungen waren allerdings nicht vorgegeben (vgl. Hoping, Theologi-scher Kommentar [s. Anm. 2], 733f.)

10 Da wir in Zusammenhang dieser Darstellung nicht all das, was die Dogmatische Konstitution „Dei Verbum“ in ihrem Gesamtaufriss geltend macht, aufnehmen können, beschränken wir uns auf zentrale Linien, die für das Verständnis der Konstitution entscheidende und für die Theologie bleibende Bedeu-tung haben.

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tischen Konstitution über die göttliche Offenbarung“.11 Anregend war die detailliert nachfragende Erschließung von Card. Karl Lehmann: „Schrift –Überlieferung – Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil von nahem be-trachtet, am Beispiel der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung“.12 Als eine frühe, aber durchaus instruktive Orientierung erschien vielen die Darlegung von Gerhard Voss: „Die dogmatische Kon-stitution ‚Über die göttliche Offenbarung‘“.13 Im Bemühen um die Hinfüh-rung zu einem angemessenen Verständnis der Texte erweist sich die schon mehrfach angesprochene Kommentierung der Konstitution durch Helmut Hoping in vielfacher Weise als außerordentlich hilfreich.14 Eindrücklich markiert Hoping die biblischen Vorgaben und das Zusammenspiel der an-gesprochenen Texte:

„Der Horizont der Konstitution über die göttliche Offenbarung ist ebenso uni-versal wie derjenige der Kirchenkonstitution, der Pastoralkonstitution und der Erklärung Nostra aetate. Am Anfang aller drei Kirchenkonstitutionen sowie der für die Konzilsprogrammatik wichtigen Erklärung über die Haltung der Kirche zu den ‚nichtchristlichen Religionen‘ steht damit der Dialog mit der Welt, den Völkern, Kulturen und Religionen.“15

Hoping orientiert sich dabei an einem Verständnis der göttlichen Offenba-rung, das man durchaus als einen Paradigmenwechsel bewerten muss. Mit Nachdruck stellt er diesen Übergang heraus und verweist auf die entschei-dende Bedeutung des auf die Person, die Geschichte und das Heil des Menschen bezogenen Verständnisses der Offenbarung. Im Folgenden soll deshalb in aller Kürze den sechs Kapiteln, die die Konstitution strukturie-ren, nachgegangen werden. Das erste Kapitel wird nicht nur als einleitende theologische Hinführung verstanden, sondern eröffnet zugleich den Horizont, der das über lange Zeit durch Spannungen bestimmte Verhältnis von Schrift und Tradition als eine beide Aspekte umgreifende und integrierende Ganzheit zur Geltung bringt. Wurden Schrift und Tradition zuvor meist noch als zwei unter-schiedliche „Quellen“ gewertet, so erscheinen sie nun ganz zentral, ge-wichtig und grundsätzlich „als Formen der Weitergabe der Heilsbotschaft, wie sie in der Kirche lebendig ist“16. Es geht dabei nur bedingt um Informa-tionen hinsichtlich der zu erhebenden biblischen Texte, weit mehr um die in den Texten und über diese hinaus erfahrene Selbsterschließung Gottes in 11 Vgl. Ratzinger, Dogmatische Konstitution (s. Anm. 6). 12 Vgl. Karl Lehmann, Schrift – Überlieferung – Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil von nahem

betrachtet, am Beispiel der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung, in: IKaZ 34 (6/2005), 559–571.

13 Vgl. Gerhard Voss OSB, Die Dogmatische Konstitution „Über die göttliche Offenbarung“, in: US 21 (1/1966), 30–45.

14 Vgl. Hoping, Theologischer Kommentar (s. Anm. 2). 15 Hoping, Theologischer Kommentar (s. Anm. 2), 736. 16 Lehmann, Schrift – Überlieferung – Kirche (s. Anm. 12), 560.

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Jesus Christus. Denn dieser erschließt sich den Menschen als das alles um-greifende Erbarmen des verborgenen Gottes. Dies aber bedeutet, dass christlicher Glaube sich nicht nur an einzelnen Aspekten des Bekenntnisses festmacht, sondern generell und alles andere übergreifend auf Gottes Er-barmen in Jesus Christus ausgerichtet ist. Karl Card. Lehmann verweist in diesem Sinn auf die Neufassung des 1. Kapitels, „das eine Art von Grund-lagenbesinnung auf das Wesen der Offenbarung als Selbsterschließung Gottes ist“17. Nicht von zwei Quellen ist mehr die Rede, sondern von der lebendigen „Weitergabe der göttlichen Offenbarung“. Das zweite Kapitel verweist auf die entscheidende Zuordnung von Schrift und Tradition und ist bemüht, beide Aspekte eng miteinander zu verknüpfen, wobei durchaus unterschiedliche Orientierungen in den Blick kommen. Deutlich lässt sich herausheben, dass

„erstmals […] vom Lehramt der Kirche gesagt [wird], dass es ein Wachstum der lebendigen Tradition gibt, dieses aber nicht im Sinne eines inhaltlichen Zuwach-ses zu verstehen ist, sondern als Vertiefung des Verständnisses der Offenba-rung.“18

Es sei freilich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die angesprochenen Aspekte im Hinblick auf den Umgang mit der Schrift letztlich allesamt auf die Person Jesu als den Inkarnierten ausgerichtet sind.19 Das Lehramt steht nicht über dem Wort Gottes, und die Schrift ist nicht mit dem Wort Gottes identifiziert. Das „Wort Gottes“ ist aus der Sicht des Konzils vielmehr „die eine göttliche Quelle, aus der Schrift und Tradition hervorgehen.“20 Beide Aspekte dürfen auch nicht voneinander getrennt werden. Es ist vielmehr so, wie es Henri de Lubac herausgestellt hat:

„Tradition und Schrift sind ‚eng miteinander verbunden‘, da sie aus derselben Quelle entspringen, auf dasselbe Ziel hin geordnet sind und so sehr eine Einheit darstellen, daß die Kirche über all die geoffenbarten Sachverhalte keine Gewiß-heit erlangen könnte im Rückgriff auf nur die Schrift allein: Um das Wort Gottes hören und verstehen zu können, muß man sich ins Licht der Tradition stellen (DV 9).“21

Generell macht das Kapitel klar, dass das Evangelium der Kirche zur treuen Aufnahme und Weitergabe in der Predigt, in der lebendigen Bewahrung und in der Weitergabe der Offenbarung durch die Nachfolger der Apostel

17 Lehmann, Schrift – Überlieferung – Kirche (s. Anm. 12), 560. 18 Hoping, Theologischer Kommentar (s. Anm. 2), 809. 19 Vgl. Hoping, Theologischer Kommentar (s. Anm. 2), 810: „Die Menschenwerdung Gottes in seinem

Sohn […] fordert die Inkulturation des christlichen Glaubens und seiner heiligen Texte.“ [Hervorhe-bung: im Original]

20 Lehmann, Schrift – Überlieferung – Kirche (s. Anm. 12), 562. 21 Henri de Lubac, Die göttliche Offenbarung. Kommentare zum Vorwort und zum ersten Kapitel der

Dogmatischen Konstitution „Dei Verbum“ des Zweiten Vatikanischen Konzils (Theologia Romanica XXVI), aus dem Französischen übertragen und eingeleitet von Rudolf Voderholzer, Einsiedeln u. a. 2001 [Übersetzung der dritten französischen Ausgabe, Paris 1983], 251.

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übergeben ist. Gemeinde erscheint in diesem Horizont nicht als Randphä-nomen, sondern als lebendige und offene Versammlung, die aus Gottes Wort und aus der Gegenwart des erhöhten Herrn lebt. Sie wird in diesem Vertrauen auch durch die Gegenwart des Geistes Gottes, der die Gemeinde erneuert, in aller Trübsal getröstet; durch diese tröstende Gegenwart des Geistes und die Mahnung und den Zuspruch der Nachfolger der Apostel wird sie immer neu aufgebaut und zusammengehalten. Nicht nur inner-halb dieses Geschehens ist dabei auf die besondere Würde der Schrift hin-zuweisen. Durch sie ist die Verkündigung der Apostel über die ganze Welt hin weitergetragen worden und hat bei vielen Menschen bleibende Ge-wissheit bewirkt. Bereits dieses Kapitel lässt so erkennen, dass – gerade im Horizont des Konzils – die Gemeinden vor der Frage stehen, ob sie in die-sen Vollzug auch wirklich angemessen eingebunden sind. Das dritte Kapitel hat in besonderer Weise die Inspiration und die Inter-pretation der Heiligen Schrift im Blick. Dabei geht es vor allem

„um die Stellung und die Rolle der menschlichen Autoren und um ihre Absicht bei der Mitteilung ihrer Texte. Daraufhin stellt sich die Frage dringender, was Gott den Menschen mitteilen wollte.“22

Dies weist deutlich darauf hin, dass das Christentum keineswegs eine reine Buchreligion ist, sondern auf den zentralen Gedanken der Inkarnation, der auf der Menschwerdung Jesu basiert, ausgerichtet ist. Entscheidend sind dabei freilich auch die menschlichen Autoren und deren immer neue Er-schließung der biblischen Texte, die ihnen über die Tradition zugekommen sind und letztlich als inspirierte Texte im Heiligen Geist ausgelegt werden sollen. Das vierte Kapitel wird eröffnet mit dem Verweis auf den „liebenden Gott“ als Offenbarung des Heils in der Geschichte des Bundes Gottes mit Israel. Der Text hebt dabei die Erwählung Israels heraus. Die Konstitution hat die Heilsgeschichte vor Augen und ist deutlich in besonderer Weise auf die Er-wählung des Volkes Israel ausgerichtet. Dabei greift sie auf einen Satz des Augustinus zurück, der das Verhältnis der beiden Bünde in ihrer besonde-ren Zuordnung verdeutlicht, indem er Gott Inspirator und Urheber beider Bücher nennt, der in seiner Weisheit will, dass der Neue Bund im Alten verborgen und der Alte im Neuen erschlossen ist. Diese Verflochtenheit der heilsgeschichtlich ausgerichteten Perspektiven bedeutet keine Abwertung oder Zurückstellung eines der beiden Bünde, sondern weist darauf hin, dass beide faktisch aufeinander bezogen sind. Von einer Verwerfung Israels ist in der Konstitution keine Rede; sie entspricht vielmehr

„der Sicht der Erklärung Nostrae aetate, die mit dem Apostel Paulus (Röm 9–11) davon ausgeht, dass Israel im ungekündigten Gottesbund steht. So ist und bleibt das Judentum konstitutiv für das Christentum.“23

22 Lehmann, Schrift – Überlieferung – Kirche (s. Anm. 12), 560.

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Es gibt freilich in diesem Bereich durchaus noch „offene Stellen“, und zwar im Hinblick auf die Zuordnung von Altem und Neuem Testament. Hoping weist in diesem Sinn darauf hin,

„dass nicht deutlich wird, dass der Kanon der christlichen Bibel für das Alte Tes-tament eine doppelte Leserichtung verlangt, zum einen im Sinne einer Lektüre der Bibel Israels unabhängig vom Neuen Testament, zum anderen im Sinne einer Relecture der Schriften des Alten Testaments im Lichte des Neuen Testaments und einer Lektüre des Neuen Testaments im Lichte des Alten Testaments. Der Konzilstext betrachtet die Schriften des Alten Testaments dagegen ausschließlich im Kontext der ‚interpretatio christiana‘.“24

Das fünfte Kapitel ist auf das Neue Testament ausgerichtet und entfaltet „vor allem die Menschwerdung des ewigen Wortes, die Wiederherstellung des Reiches Gottes in dieser Zeit durch Worte und Taten, Tod, Auferstehung, Him-melfahrt Jesu Christi und die Sendung des Heiligen Geistes.“25

Besonderes Gewicht hat dabei die Erschließung der Schrift als Hoffnungs- und Lebensraum, der die Menschen aufnimmt, erneuert, erhebt und öffnet für das Heilige. Card. Lehmann vermerkt in diesem Sinn:

„Wenn man schon darauf hinweist, dass der menschliche Umgang mit dem Wort Gottes in der doppelten Aufgabe besteht, es ‚heilig zu bewahren‘ und ‚treu aus-zulegen‘ – der Spannungsbogen ist wichtig –, dann ist noch vor all diesen Auf-gaben entscheidend, dass die Kirche bzw. das Lehramt das Wort Gottes ‚voll Ehrfurcht hört‘. Damit wird die bleibende Abhängigkeit, die Unterordnung unter das Wort Gottes und der Dienst ihm gegenüber am stärksten ausgesprochen.“26

Helmut Hoping macht dies in ähnlicher Weise geltend: „Die Schriften des Neuen Testamentes sind die Zeugnisse der Offenbarung des Geheimnisses Gottes. Die Evangelien, für die der Konzilstext ihren apostolischen Ursprung und ihre geschichtliche Zuverlässigkeit festhält, stellen das Hauptzeug-nis für das Leben und die Lehre des fleischgewordenen Wortes Gottes dar.“27

Auch das sechste Kapitel von „Dei Verbum“ greift über Konfessionsgren-zen hinaus und nimmt die ökumenische Perspektive auf. Dabei stellt es deutlich heraus, dass sich die Verkündigung der Kirche an der Schrift zu orientieren hat, weil das gesamte christliche Leben davon bestimmt ist. Auf diesem Hintergrund werden freilich die beiden Aspekte – „Schrift und Tradition“ – durchaus unterschiedlich beurteilt. Bemerkenswert ist dabei, dass der Schrift der normative Charakter zuerkannt ist, was keineswegs in gleicher Weise für die Tradition gilt. Allerdings hält die Offenbarungskon-stitution „die Treue zur kirchlichen Überlieferung mit dem Ja zur kritischen

23 Hoping, Theologischer Kommentar (s. Anm. 2), 810f. 24 Hoping, Theologischer Kommentar (s. Anm. 2), 811. 25 Lehmann, Schrift – Überlieferung –Kirche (s. Anm. 12), 560. 26 Lehmann, Schrift – Überlieferung –Kirche (s. Anm. 12),, 566. 27 Hoping, Theologischer Kommentar (s. Anm. 2), 811.

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Wissenschaft [in Balance] und eröffnet damit neu dem Glauben den Weg ins Heute“28. Hoping vermerkt zu Recht:

„Auch wenn viele Fragen offen bleiben, stellt die Offenbarungskonstitution für Kirche und Theologie eine Ermutigung dar, die Vielfalt der theologischen Argu-mentationsinstanzen des christlichen Glaubens neu miteinander ins Spiel zu bringen, so dass die historisch-kritische Forschung und die geistliche Schriftle-sung ebenso wenig als Gegensätze erscheinen wie Schrift und Tradition, Lehramt und Theologie.“29

In besonderer Weise ist dabei auf biblische Orientierungen zu verweisen, die Papst Johannes Paul II. herausgestellt hat.30

4. Zur Bedeutung der Dogmatischen Konstitution „Dei Verbum“

Nach dem Bemühen, unterschiedliche Perspektiven der Dogmatischen Kon-stitution „Dei Verbum“ aufzunehmen, soll abschließend ihre generelle Aus-richtung und ihre bleibende theologische Bedeutung umschrieben werden. Viele sahen in der Ankündigung des II. Vatikanischen Konzils durch Papst Johannes XXIII. einen über die Kirchen hinausgehenden Aufbruch, andere rechneten eher mit einer Fortschreibung des I. Vatikanischen Konzils, wie-der andere fragten, ob diese Entwicklung konkrete Veränderungen für die Gemeinden mit sich bringen und es vielleicht Kirchen unterschiedlicher Bekenntnisse wieder näher zueinander führen würde. Die Ankündigung durch Johannes XXIII. wurde zu einem weit über den kirchlichen Raum aufgenommenen Signal der Hoffnung und des Glaubens. Johannes XXIII. ging es dabei um eine neue Orientierung der Kirche, die darauf abzielte, Gott und sein rettendes Handeln gerade im Horizont einer weltlich gewor-denen Welt auf neue Weise zu erschließen. Von diesem Aufbruch waren damals viele fasziniert. Dies zeigt, dass das Konzil keine gewohnten Wege ging, sondern neue Perspektiven eröffnete. Die Offenbarungskonstitution ist deshalb nicht von der Zuordnung von Schrift und Tradition bestimmt, sondern auf die Selbsterschließung Gottes ausgerichtet, der in den biblischen Texten und im Leben der Kirche als Barmherzigkeit begegnet. Die Konstitution sieht ihre Aufgabe darin, Gottes Rede den Menschen immer wieder neu zu erschließen. Die Kirche, eingebun-den in diesen Horizont des Gotteswortes, soll so immer neu zur Sprache bringen, was Gottes Barmherzigkeit bedeutet.

28 Ratzinger, Dogmatische Konstitution (s. Anm. 6), 503. 29 Hoping, Theologischer Kommentar (s. Anm. 2), 815. 30 Vgl. etwa die Jubiläumsansprachen Johannes Paul II. zu „Providentissimus Deus“ und „Divino afflante

Spiritu“; außerdem die Schreiben der Päpstlichen Bibelkommission: „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ (1993) und „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ (2001).