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Aus:

Hans-Jürgen Krahl: Konstitution und Klassenkampf 

Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proleta-

rischer Revolution

Frankfurt/M.: Neue Kritik, 1971

Der politische Widerspruch der Kritischen Theorie Adornos ..............2

Kritische Theorie und Praxis ...............................................................6

Fünf Thesen zu »Herbert Marcuse als kritischer Theoretiker der Emanzipation« .................................................................................. 14

Zur Dialektik des antiautoritären Bewusstseins ................................ 19

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Der politische Widerspruch der Kritischen Theorie Adornos* 

/287/Adornos intellektuelle Biographie ist bis in ihre ästhetischen Abstrak-tionen hinein von der Erfahrung des Faschismus gezeichnet. Die Re-flexionsweise dieser Erfahrung, die an den Gebilden der Kunst denunauflösbaren Zusammenhang von Kritik und Leiden abliest, machtdie Kompromisslosigkeit des Anspruchs auf Negation aus und weistihn zugleich in seine Grenzen. In der Reflexion auf die durch die öko-nomischen Naturkatastrophen der kapitalistischen Produktion hervor-getriebene faschistische Gewalt, weiss das »beschädigte Leben«,dass es sich der Verstrickung in die ideologischen Widersprüche der bürgerlichen Individualität, deren unwiderruflichen Zerfall es erkannt

hat, gleichwohl nicht entziehen kann. Der faschistische Terror produ-ziert nicht nur die Einsicht in den hermetischen Zwangscharakter der hochindustrialisierten Klassengesellschaften, er verletzt auch dieSubjektivität des Theoretikers und verfestigt die Klassenschrankeseines Erkenntnisvermögens. Das Bewusstsein davon spricht Adornoin der Einleitung der »minima moralia« aus: »Die Gewalt, die michvertrieben hatte, verwehrte mir zugleich ihre volle Erkenntnis. Ich ge-stand mir noch nicht die Mitschuld zu, in deren Bannkreis gerät, wer angesichts des Unsäglichen, das kollektiv geschah, von Individuellemüberhaupt redet.«

Es scheint, als sei Adorno durch die schneidende Kritik am ideolo-gischen Dasein des bürgerlichen Individuums hindurch unwidersteh-lich in dessen Ruine gebannt. Dann aber hätte Adorno die Vereinsa-mung der Emigration nie wirklich verlassen. Das monadologischeSchicksal des durch die Produktionsgesetze der abstrakten Arbeitvereinzelten Individuums spiegelt sich in seiner intellektuelIen Subjek-tivität. Daher vermochte Adorno die private Passion angesichts desLeidens der Verdammten dieser Erde nicht in eine organisierte Par-teilichkeit der Theorie zur Befreiung der Unterdrückten umzusetzen.

Adornos gesellschaftstheoretische Einsicht, derzufolge »das Nachle-ben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedroh-licher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die De-mokratie« anzusehen sei, liess seine progressive Furcht vor einer 

faschistischen Stabilisierung des restaurierten Monopolkapitals inregressive Angst vor den Formen praktischen Widerstands gegendiese Tendenz des Systems umschlagen.

Er teilte die Ambivalenz des politischen Bewusstseins vieler kritischer Intellektueller in Deutschland, die projizieren, die sozialistische Aktionvon links setze das Potential des faschistischen Terrors von rechts,das sie bekämpft, überhaupt erst frei. Damit aber ist jede Praxis apriori als blind aktionistisch denunziert und die Möglichkeit politischer Kritik schlechthin boykottiert nämlich die Unterscheidung zwischen

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 Der Beitrag von H.-J. Krahl zum Tode Th.W. Adornos ist am 138.1965in der Frankfurter Rundschau erschíenen. (Anm.d.Hg.) 

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einer im Prinzip richtigen vorrevolutionären Praxis

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und deren kinderkranken Erscheinungsformen in entstehenden revo-lutionären Bewegungen.

Im Gegensatz zum französischen Proletariat und seinen politischenIntellektuellen fehlen in Deutschland eine ungebrochene Traditiongewaltsamer Résistance und damit die geschichtlichen Vorausset-zungen für eine von Irrationalisierungen entlastete Diskussion der historischen Legitimität von Gewalt. Die herrschende Gewalt, dieAdornos eigener Analyse zufolge auch nach Auschwitz zur neuenFaschisierung drängte, wäre keine, wenn die marxistische »Waffe der Kritik» nicht durch die proletarische »Kritik der Waffen» ergänzt wer-den müsste. Nur dann ist Kritik das theoretische Leben der Re-

volution.Dieser objektive Widerspruch in der Theorie Adornos drängte zumoffenen Konflikt und liess die sozialistischen Schüler zu politischenGegnern ihres philosophischen Lehrers werden. Sosehr Adorno diebürgerliche ldeologie des interessenlosen Aufsuchens der Wahrheitals Schein des Tauschverkehrs durchschaute, so sehr misstraute er den Spuren des politischen Richtungskampfes im wissenschaftlichenDialog.

Doch seine kritische Option, ein Denken, dem Wahrheit zukommensoll, müsse sich aus sich selbst heraus auf die praktische Verände-rung der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausrichten, verliert an Ver-

bindlichkeit, wenn es sich nicht auch in organisatorischen Kategorienzu bestimmen vermag. Immer weiter entfernte sich Adornos dialekti-scher Begriff der Negation von der historischen Notwendigkeit einer objektiven Parteilichkeit des Denkens, die in Horkheimers spezifi-scher Differenzbestimmung der kritischen zur traditionellen Theoriezumindest in der Programmatik von der »dynamischen Einheit» desTheoretikers mit der beherrschten Klasse enthalten war.

Die Abstraktion von diesen Kriterien hat Adorno schliesslich im Kon-flikt mit der studentischen Protestbewegung in eine fatale und vonihm selbst kaum durchschaute Komplizität mit den herrschen-denGewalten getrieben. Die Kontroverse bezog sich keineswegs allein

auf das Problem privater Praxisabstinenz, sondern das Unvermögenzur Organisationsfrage verweist auf eine objektive Unzulänglichkeitder Theorie Adornos, die dennoch gesellschaftliche Praxis als er-kenntniskritisch und gesellschaftstheoretisch zentrale Kategorie un-terstellt.

Gleichwohl vermittelte die Reflexion Adornos den politisch bewusstenStudenten die herrschaftsentschleiernden Emanzipationskategorien,die unausdrücklich den veränderten geschichtlichen Bedingungenrevolutionärer Situationen in den Metropolen entsprechen, welchenicht mehr aus unmittelbaren Verleumdungserfahrungen bestimmtwerden können.

Adornos mikrologische Darstellungskraft förderte aus der Dialektik

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von Warenproduktion und Tauschverkehr die verschüttete emanzi-

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pative Dimension der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zu-tage, deren Selbstbewusstsein als einer revolutionären Theorie, alsoeiner Lehre, deren Aussagen die Gesellschaft unter dem Aspekt radi-kaler Veränderung konstruieren, den marxistischen Wirt-schaftstheoretikern der Gegenwart zumeist verlorgengegangen ist.Adornos wesenslogische Reflexion auf die Kategorien der Ver-dinglichung und Fetischisierung, der Mystifikation und zweiten Natur,überlieferte das Emanzipationsbewusstsein des westlichen Marxis-mus der zwanziger und dreissiger Jahre, Korschs und Lukάcs', Hork-heimers und Marcuses wie er sich in Opposition zum offiziellen So-wjetmarxismus ausbildete.

Ursprung und Identität entschlüsselte Adorno in seiner Philosophie-kritik der fundamentalontologischen Seins- und positivistischen Fakti-zitätsideologie als Herrschaftskategorie der Zirkulationssphäre, derenliberale Legitimationsdialektik bürgerlicher Sittlichkeit, der Schein desgerechten Tausches gleicher Warenbesitzer, sich längst aufgelösthat.

Doch dasselbe theoretische Instrumentarium, vermittels dessenAdorno diese gesamtgesellschaftliche Erkenntnis zu realisieren ver-mochte, verstellte ihm auch den Blick auf die historischen Mög-lichkeiten einer befreienden Praxis.

In seiner Ideologiekritik am Tod des bürgerlichen Individuums zittert

ein Moment berechtigter Trauer nach. Doch über diese radikalisierteletzte Bürgerlichkeit seines Denkens konnte Adorno im hegelschenSinn dieses Begriffs nicht immanent hinausgehen. Er blieb an sie mitfurchtsamem Blick auf die schreckliche Vergangenheit fixiert: dasimmer zu spät kommende Bewusstsein dessen, der erst in der Däm-merung zu begreifen anfängt.

Adornos Negation der spätkapitalistischen Gesellschaft ist abstraktgeblieben und hat sich dem Erfordernis der Bestimmtheit der be-stimmten Negation verschlossen, jener dialektischen Kategorie also,der er sich aus der Tradition Hegels und Marxens verpflichtet wusste.Der Praxisbegriff des Historischen Materialismus wird in seinem letz-

ten Werk, der »Negativen Dialektik», nicht mehr auf den sozialenWandel seiner geschichtlichen Formbestimmungen hin befragt, denbürgerlichen Verkehrs- und proletarischen Organisationsformen. Inseiner kritischen Theorie spiegelt sich das Absterben der Klassen-kämpfe als Verkümmerung der materialistischen Geschichtsauffas-sung.

Zwar war einst für Horkheimer die Zurechnung der Theorie zur be-freienden Praxis des Proletariats programmatisch; doch die bürgerli-che Organisationsform der Kritischen Theorie brachte schon damalsProgramm und Durchführung nicht zur Deckung. Die Zerschlagungder Arbeiterbewegung durch den Faschismus und ihre scheinbar un-widerrufliche Integration in der Rekonstruktion des westdeutschen

Nachkriegskapitalismus veränderten den Sinn der Begriffe der Kriti-

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schen Theorie. Sie mussten notwendig an Be-

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stimmtheit verlieren, doch vollzog sich dieser Abstraktionsprozessblind.

Die konkrete und materiale Geschichte, die Adorno dem »Ge-schichtslosen Begriff der Geschichte«, der Geschichtlichkeit Heideg-gers kritisch entgegensetzte, wanderte immer mehr aus seinem Be-griff gesellschaftlicher Praxis aus und ist in seinem letzten Werk, der Negativen Dialektik«, derart verdunstet, dass sie der transzen-dentalen Armut der Heideggerschen Kategorie assimiliert erscheint.

Zwar bestand Adorno in seinem Referat auf dem deutschen Sozio-logentag zu Recht mit Nachdruck auf einer Geltung der marxistischenOrthodoxie: die industriellen Produktivkräfte seien immer noch in ka-

pitalistischen Produktionsverhältnissen organisiert, und die politischeHerrschaft beruhe nach wie vor auf der ökonomischen Ausbeutungder Lohnarbeiter. Doch so sehr seine Orthodoxie auch in Konflikt mitder herrschenden westdeutschen Soziologie auf jener Tagung geriet,so musste sie doch folgenlos bleiben, denn die kategorialen Formenwaren nicht auf die materiale Geschichte bezogen.

Dieser fortschreitende Abstraktionsprozess von der geschichtlichenPraxis hat Adornos Kritische Theorie in die kaum noch legitimierbarenKontemplationsformen der traditionellen Theorie zurückverwandelt.

Der Traditionalisierungsprozess seines Denkens erweist seine Theo-rie als eine altgewordene Gestalt der Vernunft in der Geschichte. Diematerialistische Dialektik der gefesselten Produktivkräfte reflektiertauf der Ebene seines Denkens in die Vorstellung der sich selber fes-selnden Theorie, welche unentrinnbar in die Immanenz ihrer Begriffeverstrickt ist. »Ist das Zeitalter der Interpretation der Welt vorüber undgilt es, sie zu verändern, dann nimmt die Philosophie Abschied . . .nicht die Erste Philosophie ist an der Zeit, sondern eine letzte.« Dieseletzte Philosophie Adornos hat sich von ihrem Abschied nicht verab-schieden wollen und können.

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Kritische Theorie und Praxis1 

Ich meine, dass sowohl die Erfahrung des Faschismus wie die Re-flexion auf den deutschen Idealismus ambivalent die Kritische Theo-rie konstituiert haben. Und zwar ambivalent derart, dass sie sehr wohltheoretisch stringent einen Totalitätsbegriff des Zwangszusammen-hangs der abstrakten Arbeit, des Tauschverkehrs und der bürgerli-chen Rationalität entfalten konnte, aber nicht wirklich die verändertenStrukturen des Klassenantagonismus theoretisch bewältigen konnte.Dass also die Erfahrung des Faschismus die Einsicht in den hermeti-schen Zwangscharakter hochindustrialisierter Klassengesellschaftenund in den Verfall der bürgerlichen Individualität geliefert hat — aber durch den manifesten Naturzustand, den der Faschismus hergestellthat, die Organisationsmöglichkeiten der proletarischen Klasse undden Strukturwandel der proletarisch en Klasse nicht hat konstitutiv indie Theorie eingehen lassen, so dass man feststellen kann: die Kriti-sche Theorie hat insofern in der Nachfolge des deutschen Idealismusgestanden, als ihre geistige Arbeit mit der vermittelnden Vernunftgegen den Positivismus ausgestattet war. Sie konnte einen Totali-tätsbegriff – und zwar in Reflexion auf die Kritik der politischen Öko-nomie einen nichtmetaphysischen Totalitätsbegriff – erkennen, aber sie hat gleichwohl diese Totalität nicht in ihrer klassenantagonisti-schen Dualität wirklich begreifen können. Beim früheren Horkheimer schon ist die Zurechnung zur proletarischen Klasse mehr eine subjek-tiv-moralische Dezision, als dass sie wirklich konstitutiv in seine

Τheοrie eingeht. Das bedeutet, mit der bürgerlichen Tradition desDeutschen Idealismus teilt die Kritische Theorie die Einsicht in denTotalitätsbegriff. Mit der proletarischen Tradition teilt sie die Materiali-sierung dieses Totalitätsbegriffs im Hinblick auf Warenproduktion undTauschverkehr. Aber der praktische Klassenstandpunkt, um es ein-mal so verdinglicht zu sagen, ist nicht theoretisch konstitutiv in dieTheorie eingegangen. Man muss einfach sagen, dass die Erfahrungdes Faschismus sowohl diesen materialistischen Totalitätsbegriff vonWarenproduktion und Tauschverkehr – aus spätbürgerlicher Perspek-tive orientiert am Verfall des bürgerlichen Individuums, der bürger-lichen Familie und des liberalen Marktes – gestattet hat, dass auf der anderen Seite die Erfahrung des Faschismus auch Erkenntnis-

grenzen gesetzt hat. In die Begriffe von Leiden und Unglück, dieAdorno entfaltet hat, geht eine Erfahrung davon ein, dass der Fa-schismus die kritische Subjektivität des Theoretikers selbst beschä-digt. Er hat das beschädigte Leben auch auf sich selbst bezogen.

1  Die Beiträge von H.-J. Krahl sind aus einer Diskussion im Hessi-schen Rundfunk vom 4.12.1969 über Th W. Adorno herausgenom-men. Wir beliessen die Beiträge in der Reihenfolge, wie sie sich aus

der Diskussion ergaben, ohne sie in einen möglichen Zusammen-hang neu zusammenzustellen (Anm.d.Hg.) 

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Der Faschismus hat die Arbeiterklasse so sehr zur Klasse an sichdesorganisiert, so sehr in den Naturzustand zurückgeworfen, dassobjektive, geschichtsphilosophische Kategorien kaum diesen Zu-

stand erreichen. Und man muss eines sehr deutlich sagen — vor allem gegen Lukάcs und Korsch —, das Moment der historischenGenesis von Bewusstsein kam, durchaus noch im bürgerlich-padagogischen Rahmen als Bildung begriffen, hinein, insofern zwar der Faschismus insgesamt aus den ökonomischen Naturkata-strophen der kapitalistischen Entwicklung erklärbar 1st, aber Ausch-witz nicht aus der kapitalistischen Akkumulation erklärbar ist. Ichglaube, dass sich das gewissermaassen selbst noch der logischenUnvernunft des kapitalistischen Geschichtsverlaufs widersetzt hat:Auschwitz ist der Begriff von Kontingenz, den Adorno in den Ge-schichtsverlauf eingeführt hat, Kontingenz selbst gegenüber der ροΙi-tischen Ökonomie.

Adorno hat die Irrationalisierung der Spontaneität im Rahmen der Ursprungskategorie kritisiert, Spontaneität, die also nicht mehr in dembürgerlichen Sinne autonome Vernunft meint, wie also im Rahmenvon Kants Spontaneität der Verstandesbegriffe, sondern irrationali-sierte Spontaneität auf dem Boden einer schlechten Unmittelbarkeit.Was er jetzt nicht differenziert, ist dieses – und das kann man gewis-sermaassen im Umschlag der Arbeiterbewegung zum Faschismusselber feststellen in der grossen Zusammenbruchskrise Ende der zwanziger Jahre – , dass er nicht feststellt, dass faschistische Konter-revolutionen selbst sich immer, demagogisch, herrschaftsmässig undmanipulativ entstellend, des antikapitalistischen Bewusstseins der 

Massen bedienen müssen, und dass es auf diese Weise gewisser-maassen die konterrevolutionär entstellte revolutionäre Spontaneitätist, die den totalen Naturzustand herbeiführt. Und ein zweites, was indie Theorie Adornos im Zusammenhang von Tauschverkehr und fa-schistischem barbarischem Naturzustand eingeht, ist dieses: der Na-turzustand des Faschismus ist ja nicht der, den Thomas Hobbesmeint. Es ist also nicht der, der vor der Etablierung bürgerlicher Kon-kurrenz und bürgerlichen Tauschverkehrs auf der Bass des industria-lisierten Kapitals liegt, denn Tauschverkehr bedeutete ja einmal Be-friedung des Naturzustands, allerdings so, dass der Kriegszustandunter den Bedingungen der Konkurrenz immer latent am Leben er-halten bleibt. Der Faschismus ist ein Naturzustand, der gewisser-

maassen aus dem Frieden des Tauschverkehrs selbst heraus pro-duziert wurde. Das ist der Unterschied, wenn man so will, zwischenThomas Hobbes und Carl Schmitt, das geht in Adornos Reflexion auf den Zusammenhang zwischen Tauschverkehr und Naturzustandkonstitutiv ein.

Der Begriff der Spontaneität wird zum Teil aus einer bloss – mussman wohl manchmal sagen – geistesgeschichtlichen Fixierung anHeidegger undifferenziert abgehandelt. Die Irrationalitätsge-

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schichte der Spontaneität – gleichsam schon über Rosa Luxemburg,

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wenn man einmal so will, vermittelt – geht natürlich als praktischeGeschichte nicht in seine Reflexion ein. Auf der anderen Seite glaubeich aber, dass Spontaneität konstitutiv als die Entlarvung der zweitenNatur des Tauschverkehrs als Natur in den Faschismus eingeht.

Die Mythologisierung des Tauschverkehrs, die sich faktisch im Fa-schismus wieder ereignete und die überhaupt erst die Erkenntnis-chance, den Zusammenhang von Mythos und Tauschverkehr zu er-kennen, bot, war nicht selbst wiederum allen aus Kategorien der po-litischen Ökonomie ableitbar. Aber man könnte meinen, dass hier sich Kategorien der Psychoanalyse für Adorno angeboten haben, unddas ist auch der Zusammenhang bei Reich. Nur würde ich so sagen:gerade die Adaption dieser psychoanalytischen Kategorien hat auchden Geschichtsverlauf der Gattung gleichsam auf einer bestimmtenEbene wieder enthistorisiert, indem der wirklich entscheidende Bruch,

der in der Geschichte eintrat, der von Mythos und Rationalität in der Vorgeschichte war – wenn man mal so will der Übergang zu den Vor-sokratikern – , und der spezifische Bruch zwischen vorkapitalisti-schem Gemeinwesen und kapitalistischer Gesellschaftsformationgeht nicht mehr in die Reflexion ein. Von daher stammt auch, wie ichmeine, ein Kulturbegriff, in dem die Aneignung der Kultur durch dieNichtproduzenten, wie es in der Kritik der politischen Ökonomie aus-geführt 1st, doch einigermaassen ignoriert wird, sodass ein geradezuunverändertes Verhältnis von Repression im Kulturbegriff angenom-men wird – Kultur ist ja immer in der Konstitution des Realitätsprin-zips enthalten. Auf der anderen Seite ist Kultur jener Bedürfniszu-sammenhang, der die natürliche Vernunft der physischen Selbster-

haltung transzendieren kann. Eine historische Spezifizierung diesesKulturbegriffs geht nicht wirklich in ihre Reflexion ein. Daher warenauch gerade die Kategorien der Psychoanalyse fixiert an bürgerlicheIndividualität. Schon die früheren Untersuchungen des Instituts für Sozialforschung kennen wirklich nur die bürgerliche Familie und denbürgerlichen Begriff von Individualität Individuierungsprozesse in pro-letarischen Familien, etwa im 19. Jahrhundert, gingen in die Reflexionüberhaupt nicht ein. D.h., die Psychoanalyse wurde nicht wirklichherausgelöst, was Reich versucht hat und empiristisch auf Vulgärma-terialismus verkürzt hat. Die Psychoanalyse wurde nicht in der Refle-xion Adornos und Horkheimers aus ihrem spätbürgerlichen Konstitu-tionsrahmen herausgerissen, was wiederum mit dem hochzivilisierten

Naturzustand des Faschismus zusammenhängt.

Eine Frage, die sich erkenntnistheoretisch stellt, ist die, aus welcher geschichtlichen Position heraus die Kritische Theorie Horkheimersund Adornos Metaphysik, neuere Ontologie und postivistischen

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Empirismus kritisiert. Und da würde ich zunächst einmal sagen, dassman einführen muss, dass es das theoretische Verdienst der Kriti-

schen Theorie ist, dass sie ganz anders als Lukάcs diese Frage the-

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matisiert hat, gesellschaftliche Praxis im Marxschen Sinn überhauptals erkenntnistheoretische Konstitutionskategorie erfasst hat.

D.h., gesellschaftliche Praxis ist gegenstandskonstitutive Praxis, dasist zumindest als Programmatik in die Kritische Theorie eingegangen.

Und ich glaube allerdings, dass es in der Durchführung dieser Pro-grammatik der erkenntnistheoretischen Bedeutung von gesellschaftli-cher Praxis zum Teil misslungen ist. Bei Adorno hat sich diese Theo-rie der gesellschaftlichen Praxis als erkenntnistheoretisch konstitutiv

 – anders als bei Horkheimer in »Traditioneller und Kritischer Theo-rie«, wo es in einen wie auch immer äusserlichen Zusammenhangzur proletarischen Praxis der Befreiung gebracht wird – auf den Zu-sammenhang von Tauschverkehr, Ontologie und Positivismus kon-zentriert, wobei sowohl Ontologie und Positivismus im Hinblick auf dieIdentitätskategorie kritisiert wurden. D.h. also, sowohl die ontologi-sche Seinsidentität wie die positivistische Identität auf der Basis for-maler Logik folgen der Rationalität des Tauschverkehrs. Den Konsti-

tutionsvorgang selber hat Adorno gerade in Anknüpfung an den be-rühmten Aufsatz von Durkheim im Hinblick auf den Zusammenhangder Klassifizierung logischer Kategorien und gesellschaftlicher Praxisnicht erklärt, sondern gewissermassen immer nur darauf verwiesen,so in der Metakritik der Erkenntnistheorie, Gesellschaftliches gehe indie logischen Kategorien ein, wobei dieses Eingehen die Rationalitätdes Tauschverkehrs ist, also die Abstraktion von allem Besonderenund allen Gebrauchswerten. In der Ontologie, auch in der Heidegger-schen, hat er die Hypostasierung des Zweiten zum Ersten aufge-deckt, wobei dieses Zweite wahrscheinlich doch die Zirkulations-sphäre war, und nicht umsonst vergleicht er in der Negativen Dia-lektik die Heideggersche Ontologie mit einem gigantischen Kre-ditsystem. D.h., auf diese Weise hat er, wenn man mal so will, dieNietzscheanische Ontologiekritik mit der Marxschen Darstellung desVerhältnisses von Produktion und Zirkulation vermittelt.

Erkenntnistheoretische Diskussionen, die sich auf dem Gipfel der philosophierenden Abstraktion bewegen, müssen immer gerade imRahmen der Kritischen Theorie mitliefern, welches ihr Stellenwert imRahmen der gesellschaftlichen Praxis ist. Ich würde meinen, dass diekonkrete Geschichte noch am ehesten bei Adorno in diesen erkennt-nistheoretischen Abstraktionen durchscheint.

D.h., wenn die Kritische Theorie diese These aufgestellt hat, dass

Erkenntnistheorie und die konkrete Philosophie der Geschichte, alsodie Theorie der Gesellschaft unmittelbar eines seien im Rahmen der Hegelschen Kantkritik, dann wird man wahrscheinlich zunächst sagenmüssen, dass - im Gegensatz etwa zur Leninschen materia-

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listischen Erkenntnistheorie und ihren ontologischen Abbildrealismen,die einem gesellschaftlichen Zustand vorindustrieller und noch nichtdurchkapitalisierter Art entsprechen - die .Frage der konstitutiven er-kenntnistheoretischen Rolle der gesellschaftlichen Praxis es über-haupt erst erlaubt, die Emanzipations- und Herrschaftskategorien,unter denen im Spätkapitalismus Gesamtgesellschaft zu beurteilen

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ist, einzusehen, nämlich die zweite Natur, Verdinglichung, Fetischie-rung - also die gesamten Bewusstseinskategorien, und damit dieFrage zu stellen nach der Rolle der aktiven Subjektivität im Verände-rungsprozess der Gesellschaft Die erkenntniskritische Fragestellungist mit einem revolutionstheoretischen Index behaftet, nämlich ebenmit dem Index der Rolle von Spontaneität, Bewusstsein und Willen inder Veränderung, ohne dass Adorno dies immer explizit aufgewiesenhätte. Und da meine ich, dass die Ontologiekritik einen spätkapitali-stischen Zu-stand auch anvisiert, indem mit einer Gesellschaft, in der,wie Marcuse es ausgeführt hat, alle Kategorien der Dingwelt und der Substanzwelt um ihrer instrumentellen Operabilität willen funktiona-lisiert werden, diese substantiellen Kategorien in Funktionskategorientransformiert werden und zugleich wieder in eine falsche Substanzhypostasiert werden, wie etwa im Heideggerschen Seinsbegriff. Dasbedeutet einerseits eine Mythologisierung des Technikbegriffs selber,der darin enthalten ist, wie zweitens die positivistische Zerstreuung

der Einzelwissenschaften und die sowohl soziologische wie methodo-logische Trennung von normativen Werturteilen und deskriptiven Exi-stentialurteilen eine immanente Rationalisierung des Tauschverkehrsbei gleichzeitiger Blindheit gegen emanzipativen Fortschritt oder emanzipativen Regress darstellen. D.h. also, dass diese gesamteerkenntniskritische Reflexion unmittelbar Fragen des gesellschaftli-chen Fortschritts betrifft und zum zweiten, was das wesentliche Ist,die veränderte Rolle der Subjektivität in einem System hochzivilisier-ter Bedürfnisbefriedigung, das nicht mehr auf materiellem Elend auchin seinen Krisensituationen basiert, feststellt. Das bedeutet, die neueQualität festzustellen, die dieses System hat, das auf der Bewusstlo-sigkeit aller Beteiligten, um mit Engels zu reden, beruht. Die Erkennt-

nis von zweiter Natur, Verdinglichung und Fetischisierung ist unmit-telbar mit der Kritik an der Ontologie und am Positivismus verbunden,und das war wahrscheinlich auch ihre inhaltlich-gesellschaftstheo-retische Leistung, die dann überhaupt erst auch, möchte ich meinen,für die Studentenbewegung die Gesamtgesellschaft als Herrschafts-totalität durchschaubar machte und die Identifikation von Formen der Unterdrückung, die auch Momente von Immaterialität aufnehmen, zuidentifiziere n.

Im Hinblick auf den Begriff des Begriffs hat Adorno auf einer erkennt-nistheoretischen Ebene explizit reproduziert – und mit der Kategorieder Negativen Ontologie stellt er es ja auch fest – , was 

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implizit in der Marxschen Darstellungsweise angelegt ist: Begriff istIdentität. Als solche Identität ist sie von der selben logischen Struktur wie der Tauschverkehr, d.h. nominalistische Abstraktion vom Beson-deren und doch zugleich daseiende Abstraktion. Adornos Theorievom Begriff hat überhaupt erst wieder die Gesellschaft als eine kate-gorial verfasste durchschaubar gemacht, was etwa in den positivisti-schen Theorien, die die Gesellschaft als ein Feld unverbundener so-zialer Tatsachen, aus denen das Begreifen gesellschaftlicher Bezie-hungen ausgemerzt ist, untergeht. Eine Frage taucht dann auf, dieHabermas im Anschluss an Adorno, Horkheimer, Marcuse und Bloch

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gestellt hat: wenn der Begriff von seiner Bildung her notwendig ge-bunden ist an die Identitätsstruktur der abstrakten Arbeit des Tausch-verkehrs in der Warenproduktion, und damit notwendig natürlich auchan die Unterdrückungs- und Ideologisierungsmomente, die darin ein-gehen, ob darin nicht ein utopisches, und zwar ein romantisch-utopisches Moment geschichtsphilosophisch eingeht, nämlich das der völlig neuen Technik und der völlig neuen Wissenschaft. In dem Zu-sammenhang wäre etwa auch das Versöhnungsmoment, das ja indas Verhältnis von Subjekt-Objekt bei Adorno eingeht, zu diskutieren.D.h., hier führt die Erkenntnistheorie über in die Frage der konkretenUtopie, auch geschichtsphilosophisch. 

An der erkenntnistheoretischen, abstrakten Frage des Konstitutions-problems wird der unmittelbar praktische Mangel der Kritischen Theo-rie entscheidend, weil der Klassenantagonismus nicht theoretisch

wirklich in die Bildung dieser Theorie eingeht. Die politische Organi-sation des Proletariats ist auch ein anderer Rahmen er Apperzeptiongegenstandskonstitutiver Praxis, und zwar einer pperzeption, diezwar noch von der Irrationalität abstrakter Arbeit urchsetzt sein mag,andererseits aber schon Aufhebungen abstrakter Arbeit enthält, alsoeine Art solidarischer Verkehrsformen, Aufhebung von Isolierungenund Atomisierungen der Individuen gegeneinander, was dann aucheine andere Einheit der Wahrnehmungs- und Begriffswelt herbeiführt.D.h., das Elend der Kritischen Theorie ist auf einer bestimmten Ebe-ne einfach auch das Fehlen der Organisationsfrage, und das hängteben mit dieser klassentheoretischen Frage zusammen. Die Erfah-rung des Faschismus scheint der Kritischen Theorie und Adorno sug-

geriert zu haben, dass kollektive Praxis notwendig bewusstseinsde-struktiv ist, dass sich in kollektiver Praxis geradezu die Klasse zur Masse zersetzt, in diesem naturzuständlichen Sinne, den der Begriff auch hat. Zwar geht die Zerfallsgeschichte des bürgerlichen Indivi-duums in die Reflexion ein, aber nicht die Umstrukturierung und der Strukturwandel, den der Begriff der lohnabhängigen Klasse auch sei-nem Dasein nach insgesamt erfahren hat. Zwar wird auf kulturkriti-scher Ebene in abstracto festgestellt, dass Ideologie geradezu heuteeine

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Poduktivkraft geworden ist, aber die konkrete Reflexion auf Wissen-schaft als Produktivkraft, auf die Veränderung des Verhältnisses ongeistiger und körperlicher Arbeit, etwa im Rahmen der lohnab-hängigen Klasse, wird nicht mitgemacht. Im Grunde genommen istdie resignative Position bis hin zur Aussage von der fixierten Integra-tion der Arbeiterklasse ins kapitalistische System orientiert an einemtraditionellen Begriff des unmittelbaren Industrieproletariats, der even-tuell die Formen der Veränderung des Gesamtarbeiters nicht mehr trifft. Die Reflexionen, die Marx z.B. angestellt hat in den Grundrissenoder auch in einigen Kapiteln in den Theorien übe r den Mehrwert,legen ja nahe, dass es sich hier um einen VergeselIschaftungspro-

zess der produktiven Arbeit und des apitalistischen Privateigentums

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auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise selber handelt,der also Arbeit und Arbeitszeit in ihrer Wertbedeutung relativiert. Ichglaube nicht, dass man dann von einer zweiten Mehrwertquelle spre-chen kann, aber die Realität des Produktionsprozesses fällt nichtmehr zusammen mit dem Arbeitsprozess. Wenn das so ist, wenn der Widerspruch von Vergesellschaftung und Privateigentum, von gesell-schaftlicher Arbeit und Privatarbeit mit dem Monopolkapital eine qua-litativ neue Dimension entfaltet hat, und zwar so, dass er zur Erschei-nung kommt — mit der Aktiengesellschaft kommt Marx zufolge dieser Widerspruch zur Erscheinung und mit der technologischen Urn-setzung der Wissenschaften ins kapitalfixierte Maschinensystem —,und wenn Marx sagt, dass damit auch — denn es gibt Aussagen ex-pliziter Art — der Begriff der Produktiven Arbeit sich erweitert undsich auch über das Einzelatelier der unmittelbaren Fabrik hin-auserweitert, dann hat sich auch gewissermaassen die Totalität der pro-letarischen Klasse insgesamt erweitert. Ich stelle diese Reflexion nur 

an, um aufzuzeigen, dass es aus der Theorie Adornos, der gewis-sermaassen auf den Strukturwandel der an sich seienden Lage der arbeitenden Klasse nicht reflektiert, nur die Konsequenz geben kann,dass Einzelsubjekte als wirklich fiktive Zeugen einer dialektischenVergangenheit noch die Erinnerung an Emanzipation aufrechterhal-ten können auf der einen Seite, dass auf der anderen Seite, wennman nicht Teile der wissenschaftlichen Intelligenz, auch der etw a inden Akademien und Universitäten organisierten, objektiv dem ge-samtgesellschaftlichen Lohnarbeiter zurechnet, es kaum möglich ist,die Erinnerung an Emanzipation und Ausbeutung zu mobilisieren. Esist auch Index, dass die Produktion — Marx sagt, das Reich der Frei-heit beginnt jenseits der materiellen Produktion — beim gegenwärti-

gen Zivilisations- und Kulturstand selbst schon ein enormes Aus-maass an Immaterialität erreicht hat, das aber nur so kulturindustrielleingesetzt wird, dass die Massen an die unmittelbare materielle Exi-stenzsicherung und Bedürfnisbefriedigung fixiert werden. D.h. also,Kultur, die den Bereich unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung transzen-diert, wird gerade ihr 

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Gegenteil bezweckend eingesetzt, nämlich zur Fixierung an unmittel-bare materielle Bedürfnisbefriedigung. All diese Fragen sind, meiner 

Ansicht nach, nicht in ein angemessenes parteiliches TotaIitätsbe-wusstsein als Klassenbewusstsein umzusetzen, wenn man an einemtraditionellen Begriff des unmittelbaren Industrieproletariats festhält,d.h. gleichsam sich an das Heer der werktätigen Maschinenarbeiter fixiert.

Die Theorie des individuellen Klassenverrats ist der wissenschaft-lichen Intelligenz historisch nicht mehr adäquat. Die wissenschaftlicheIntelligenz muss als organisierte in den Klassenkampf eingehen. Sierepräsentiert auch nicht mehr, insofern sie geistige Arbeit leistet undgeistige Arbeit an sich kapitalrepräsentativ ist, irgendwie bürgerliches

Kulturbewusstsein. Auch das hat die positivistische Zerstreuung der 

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Einzelwissenschaften vernichtet. Ich würde sagen, gerade auf Grundder positivistischen Zerstreuung der Einzelwissenschaften kann gei-stige Arbeit sich sehr viel eher als ausgebeuteter Produzent erfassen,dem sein wissenschaftliches Produkt als fremde Macht gegenüber-tritt, und nicht im Grunde genommen als privilegierter Teilnehmer amKulturprodukt.

Im SDS wird nach wie vor ein orthodoxes Verhältnis von wissen-schaftlicher Intelligenz und Proletariat unterstellt, wobei die wissen-schaftliche Intelligenz aus den individualisierten Formen bürgerlichenKlassenverrats nicht herauskommen kann und notwendig im Klein-bürgertum versackt. Die kleinbürgerlichen Erscheinungsformen, diez.B. sich in der Bewegung produziert haben, sind nicht mehr imRahmen klassischer Kleinbürgerkategorien zu interpretieren. Klein-bürgerliche Verfallsformen haben die Arbeiterbewegungen aller Zei-ten produziert und reproduziert bis in den Über-gang zum Faschis-mus. Ich glaube, dass bislang auch alle strategischen Anweisungen

so verfahren — bis hin zu denjenigen, die neue Arbeiterklassenvor-stellungen definieren wollen, also etwα denen Serge Mallets undauch Negts »Soziologische Phantasie und Exemplarisches Lernen« -,dass sie in der Tat sich auf klassische Agitation und Propagandamu-ster beschränken, die sich nur und ausschliesslich auf das Industrie-proletariat beziehen und meinen, dieses könne die Totalität des Klas-senbewusstseins, also in der Wahrnehmung der Produktions- undHerrschaftstotalität der Gesellschaft, produzieren. Dies ist einfachfalsch. Ohne eine Organisation der wissenschaftlichen Intelligenz,des Heers der Industriearbeiter und produktiven Angestellten, ohneeine gemeinsame Organisation wird sicherlich nicht die Totalität desKlassenbewusstseins wiederzugewinnen sein.

Es gibt in der Erfahrung der Adornoschen Theorie und auch in seineneigenen persönlichen Verhaltungsweisen etwas, das man als einesehr widersprüchliche Wirkung von Ohnmacht auf die Studentenbe-

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wegung erklären könnte. Also auf der einen Seite hat Adorno etwasvermittelt, las für die Studentenbewegung dann geradezu umgekehrtnicht resignations-, sondern aktionskonstitutiv war: eine Ohnmacht-

serfahrung gegenüber den technologisierten und bürokratischen Insti-tutionen und Administrationen der spätkapitalistischen Welt. DiesesOhnmachtsmoment war auch etwas Aktionskonstitutives für die Stu-dentenbewegung, wie es umgekehrt als individuelle Ohnmachtserklä-rung und aus dem Erfahrungshintergrund des Faschismus die pro-duktive Furcht vor einer faschistischen Restabilisierung des Monopol-kapitals war, die sich in regressive Angst vor den Formen des Wider-stands umsetzt; auf der anderen Seite hat also auch diese Ohn-machtserfahrung Konfliktmomente eben mit Adorno hervorgerufen.Biographische Erfahrung und die Konstitution von Theorie, individuel-le Lebensgeschichte und theoretische Bildungsgeschichte sind beiAdorno unmittelbar eins gewesen.

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Fünf Thesen zu »Herbert Marcuse als kritischer Theoretiker der 

Emanzipation« 2 

1. Marcuse interpretiert die Emanzipationsprinzipien möglicher sozial-

revolutionärer Prozesse in den spätkapitalistischen Industriemetro-polen in dem Sinne, dass die empirische Basis der Selbstentfrem-dung nicht mehr die mittelbare Erfahrung unmittelbaren Elends, son-dern die bewusst zu erfahrende soziale Widersprüchlichkeit, Apathieund Integration ist. Im Zentrum der Marcuseschen Revolutionstheoriesteht die Frage: wie kann unter den Bedingungen einer repressivenBefriedigung der materiell elementaren Bedürfnisse das Bedürfnisnach Emanzipation entfaltet werden? Wie können die Bedürfnissenach einem Reich der Freiheit, des Friedens und des Glücks ins Be-wusstsein der Massen und zur politischen Erscheinung drängen,wenn sie nicht mehr in den materiell vitalen Bedürfnissen nach der Beseitigung von Hunger, materieller Not und physischem Elend νe-rankert sind?

II. Die Tatsache der Arbeit an sich selber Ist die Erscheinungsformder Ausbeutung in der spätkapitalistischen Gesellschaftsformation.Marcuse zufolge stellt sich nicht mehr die Frage nach überflüssiger und notwendiger Arbeit und damit nach überflüssiger und notwen-diger Unterdrückung, vielmehr eröffnet der Fortschritt in der Auto-mation des Maschinenwesens die realutopische Perspektive nach der Abschaffung von Arbeit überhaupt.

III. Wenn die Emanzipation vom Zwang der Arbeit derart mit demtechnischen Fortschritt gekoppelt 1st, sind die kapitalistischen Macht-

haber gezwungen, die reibungslos funktionalisierte Demokratie in denDienst der Eliminierung jeglicher emanzipativer Regungen zu stellen.Die Liquidation des wie immer auch ideologisch entstellten Emanzi-pationsbedürfnisses, die den Übergang des Konkurrenz- in den Mo-nopolkapitalismus kommentiert, fordert Marcuse zufolge eine Eindi-mensionalisierung der Ideologien in der spätkapitalistischen Epoche.

IV. Die Antwort darauf ist die Negation des Systems durch die pri-vilegiert sensiblen oder die unterprivilegiert gequälten Randgruppen— notwendig abstrakte Negation einem hermetisch geschlossenenSystem gegenüber in der Gestalt ohnmächtiger Vernunft, des empör-ten Protests der grossen Verweigerung.

V. Die spätkapitalistische Gesellschaftsformation schlägt alle in-stitutionalisierten Organisationsformen der Opposition, des Wider-standes und der Revolution mit dem Signum der Integration. Der an-schauliche Beweis dafür ist das massenorganisatorisch deformierteSchicksal der Leninschen Kaderpartei in der Naturgeschich-

2  Diese Thesen entstanden im Zusammenhang mit Vorarbeiten zu einem

Artikel über Marcuse für die Zeitschrift =konkret• ím Sommer 1969 als Ant-

wort auf einen unqualifizierten Angriff von R.Hochhuth gegen Marcuse inderselben Zeitschrift. (Anm.d.Hg.) 

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te der westeuropäischen Arbeiterbewegung; als deren abstrakte Ne-gation lehrt Marcuse die emanzipatorische Renitenz des sich trieb-strukturell umwälzenden Individuums und des seine bedürftige Vitali-tät revolutionierenden Einzelsubjekts.

ad I.—IV. Mit diesen Theoremen formulierte Marcuse das reine Ver-nunftprinzip des Befreiungskampfes in der spätkapitalistischen Zivili-sation: eine Idee der Machtergreifung im politischen Zentrum, die,über die blosse Sozialisierung der Produktionsmittel – geschweigedenn ihre blosse Verstaatlichung – hinausgehend, eine konkrete Uto-pie des Kommunismus, also des herrschaftsfreien Verkehrs solidari-scher und von den Naturschranken urwüchsig überlieferter Arbeitstei-

lung entbundenen Individuen. Marcuse ist der kritische Theoretiker der Emanzipation. Emanzipation ist die bestimmte Negation des so-wjetmarxistisch entstellten Begriffs vom Sozialismus, der diesen andas Bild technologisch reibungslos funktionierender und staatlich kon-trollbefugt geplanter sowie bürokratisch rationalisierter Produktionfest-machte. Dagegen opponierte der kritische Marxismus des We-stens im revolutionstheoretischen Rückgriff auf den wie immer auchvon den Ideologen der herrschenden Klasse anthropologisch undtheologisch deformierten jungen Marx der Pariser Manuskripte undder Deutschen Ideologie. Über das Konzept eines technologisch ver-engten Produktionsbegriffs hinaus wird der Kampf um die Macht imStaate und die Enteignung der Inhaber an den Produktionsmitteln

nicht als Endziel, sondern als Bedingung der Möglichkeit eines Ver-eins freier Menschen behandelt; das heisst, Kommunismus behandeltdie Vergesellschaftung der Produktions-mittel als Bedingung zur Or-ganisation eines solidarischen Verkehrs freier Individuen. Der Eman-zipationsbegriff, den Marcuse in der Tradition des westlichen Marxis-mus von Lukács über Horkheimer bis Merleau-Ponty entfaltet, hebtins Bewusstsein, was die Strategien des sozialdemokratischen Re-formismus und der sowjetmarxistischen Orthodoxie verdrängt haben,die Reduktion des emanzipativen auf den technischen Fortschritt, der sozialen auf die industrielle Revolution. Auf dem Erfahrungsgrund der sozialrevolutionären Befreiungsbewegungen der Dritten Welt eröffnetsich sowohl wieder eine Perspektive kompromissloser Politik und

Gewalt als auch eine Vorstellung von Befreiung, die über die indus-trielle Intensivierung von Fünfjahresplänen hinausgeht. Marcuse alsPhilosophiekritiker der Emanzipation entfaltet einen Begriff der Be-freiung, der die Menschen nicht wiederum den objektiven Bedingun-gen der totgeschlagenen Materie, also den Produktionsmitteln, un-terwerfen will, sondern die Funktion der Produktionsmittel in der Re-volution wieder geschichtsphilosophisch zurechtrückt: die vereinigteArbeiterklasse in den hochindustrialisierten Kapitalmetropolen kämpftnicht um die Verfügungsgewalt über das Maschinenwesen

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als solches, sondern um den kollektiven Besitz an den Produktions-mitteln als Bedingung von herrschaftsfreien Beziehungen der Men-schen untereinander. Marcuse hat den Emanzipationsbegriff aus sei-ner naturgeschichtlichen Verblendung, die er im Schicksal der Arbei-terbewegungen erfahren hat, befreit; Emanzipation meint mehr alseine Veränderung der Eigentumsverhältnisse, die den technisch in-dustrialisierten Stoffwechsel zwischen Menschen und der Natur re-geln, Emanzipation meint eine Veränderung der Eigen-tumsverhältnisse, der Verfügungsgewalt von Menschen über Dinge,um die Verhältnisse der Menschen untereinander zu befreien. Philo-sophisch ausgedrückt: Sozialdemokratie und Sowjetmarxismus ha-ben den Entwurf einer sozialistischen Verkehrsform auf eine Verän-derung des industriellen Eigentumsverhältnisses zwischen den Men-schen und der Natur verkürzt. Die Geschichte hat auf die Tagesord-nung gesetzt, was Marcuse ebenso philosophisch wie naiv formulier-te: die Verkürzung des revolutionären Befreiungsprozesses auf indus-

trielle Revolution schleppt das Elend der Verdinglichung mit sich fortund unterwirft die Individuen der unpersönlichen Knechtschaft der materiellen Produktionsmittel. Emanzipation hingegen will, dass dieIndividuen die industriellen Produktionsmittel organisieren, um mit-einander glücklich verkehren zu können. Der verkürzte Emanzipati-onsbegriff zielt nur auf ein verändertes Eigentumsverhältnis der Men-schen zu den dinglichen Produktionsmitteln, nicht aber auf ein verän-dertes Verkehrsverhältnis der geschichtlichen Individuen untereinan-der. Emanzipation 1st nicht primär eine veränderte Eigentumsorgani-sation der Industrie, sondern eine veränderte Verkehrsorganisationder Gesellschaft. Dieser revolutionär selbstverständliche Sachverhaltist vom sozialdemokratischen Reformismus staatlich verraten, vom

antiimperialistischen Machtkampf der Sowjetunion naturwüchsig ver-drängt und vom antifaschistischen Abwehrkampf der kommu-nistischen Parteien bündnispolitisch und parlamentsbeflissen ver-drängt worden. Für einen Revolutionsbegriff in den Metropolen war es notwendig, dass Marcuse wieder aussprach: Emanzipation istnicht die Befreiung der technischen Maschinen, sondern die Befrei-ung der gesellschaftlichen Menschen. Allein auf dem Hintergrunddieses evidenten Vernunftprinzips kann das unerträgliche Moment anUnterdrückung in den scheinsozialen Sicherheitsgarantien des autori-tären Staates und den keynesianistisch auf Rezessionen verkürztenKrisen der monopolen Wirtschaftsweise den lohnabhängigen Masseneinsichtig werden.

Marcuse fordert ein anschaulicheres Bild der objektiven Möglich-keiten einer künftigen Gesellschaft: wenn Arbeit durch Automation indem Maasse abschaffbar und Unterdrückung in dem Maasse über-flüssig geworden 1st, wie dies Industrie und Demokratie des Spätka-pitalismus anzeigen, so muss die bestimmte Negation des reibungs-los funktionierenden ausbeuterischen Systems an Be-

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stimmtheit gewinnen: wenn die Menschen nicht unmittelbar hungern,müssen sie wissen können, warum sie in der Revolution ihr Lebenaufs Spiel setzen sollen und mehr zu verlieren haben als ihre Ketten.

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Doch Marcuses Theorie selber kommt diesem Erfordernis bestimmter Negation nicht nach, seine Aufforderung zur grossen Weigerungbleibt abstrakt, ausserstande, ein politisches Realitätsprinzip takti-scher Regeln, strategischer Maximen und organisatorischer Imperati-ve zu entfalten. Gleichwohl ist die grosse Weigerung mehr als dieromantisch beseelte Parole der ersten Stunde; sie 1st die notwendigeKonsequenz aus einem Emanzipationsbegriff, der in allen Spuren desobjektiven Geistes der Verwaltungen und Institutionen, der Bürokrati-en und Meinungsmedien, der betrieblichen Mitbestimmungskonzepteund autoritären Hochschulreformen die unwiderstehliche Gewalttechnokratischer Verblendungen entdeckt.

Andererseits teilt Marcuse das Elend der kritischen Theorie und dasungeschichtliche Selbstbewusstsein entstehender revolutionärer Be-wegungen; er ist unfähig, die Kriterien einer revolutionären Real-politik, bündnispolitischer Kompromisse, organisationspraktischer Stabilisierungen studentischer Protestbewegungen und klassen-

theoretischer Analysen zu formulieren. Zu linksradikalistischen Kin-derkrankheiten entstehender revolutionärer Bewegungen zählt die imAnfang gleichwohl notwendige Verwechslung der abstrakten Demon-stration des reinen Emanzipationsprinzips mit dessen konkreter Ent-faltung. Marcuse teilt als Theoretiker der ersten Erscheinung diesesrevolutionären Vernunftprinzips mit den freiheitsbewussten Studen-tenbewegungen der Metropolen deren Kinderkrankheiten in allenFormulierungsstadien seiner Theorie. Seine Ideologiekritik der Eindi-mensionalität liess die empörten Intellektuellen in Ungewissheit dar-über, ob die Integration der Arbeiterklasse unwiderrufliches Schicksaloder aufhebbarer Schein sei. Doch als der deutsche SDS die Isolie-rung politischer Intellektuellenbewegungen an sich selber erfahrenhatte und die Prinzipien des proletarischen Klassenkampfs praktischzu erneuern suchte, geriet er in einen Widerspruch, der bis heuteunaufgelöst ist und über seine revolutionäre Entwicklung entscheidenwird: mit der Kritik an den emanzipationsrigiden und randgruppenge-bundenen Prinzipien der grossen Verweigerung, d.h. mit dem Ver-such, ein politisches Realitätsprinzip in die emanzipative Systemne-gation einzuführen und dem nach wie vor bestehenden, wie immer auch wesentlich veränderten Klassenantagonismus in den Metropo-len Rechnung zu tragen, geriet der SDS in Gefahr, sich blindlings ineiner verschwiegenen Orthodoxie zu verstricken und in eine undurch-schaute Tradition des verzerrten Klassenkampfs zurückzufallen. Die

notwendige Hinwendung der Studentenbewegung zum Proletariatdrohte mit dem Versuch, die Revolution mit den überlieferten Katego-rien des Klassenkampfes zu artikulieren, zugleich

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die Prinzipien der revolutionären Emanzipation zu ersticken. Andersgesagt, die Studentenbewegung steht vor dem objektiven Dilemma,dass ihr historisch neues Vernunftprinzip der Emanzipation sich real-politischen und klassenspezifischen Kriterien versagt und dass ande-rerseits die traditionelle Substanz des proletarischen Klassenkampfesblind ist gegen die neuen Prinzipien kompromissloser Befreiung. Dasentscheidende Schicksal, das der revolutionäre Protest in den Metro-

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polen bewusst zu vermeiden hat, ist, dass er mit der Einführung tra-dierter Klassenkampfkategorien und taktischer Realitätsprinzipienden kompromisslosen Impetus revolutionärer Negation erstickt, dasser über der klassenbewussten Realpolitik die Revolution vergisst. Dasnotwendig anachronistische Bewusstsein der westdeutschen Protest-bewegung im gegenwärtigen Stadium ist die Verkleidung des neuenemanzipatorischen Vernunftprinzips ins alte Gewand traditionalisti-scher Klassenkampfkategorien, der Begriff des Klassenkampfs, mitdem die Bewegung ebenso pragmatisch wie dogmatisch hantiert,entspricht weder der Klassenrealität noch der Emanzipationsnotwen-digkeit der hochindustrialisierten Kapitalmetropolen.

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Zur Dialektik des antiautoritären Bewusstseins3 

Die studentische Protestbewegung in Westdeutschland hat sich in

den vergangenen drei Jahren als fähig erwiesen, eine politische Sen-sibilität zu erzeugen, welche die neuen Formen verschleiernder Aus-beutung sowie verdeckter und sublimierter Herrschaft im Spätkapita-lismus aufzuzeigen vermochte, und eine revolutionäre Phantasie her-anzubilden, die die Keimformen eines Befreiungskampfes unter denBedingungen hochzivilisierter Bedürfnisbefriedigung entfaltet hat. ImMedium der Kategorie des antiautoritären Bewusstseins setzte siedas neue, noch unentfaltete Vernunftprinzip der Emanzipation vonintegrativer Bewusstseinsvernichtung und krisensteuernder Spekula-tionskunst zu einem ersten und deshalb abstrakten, gleichwohl prak-tischen Dasein und restituierte ebenfalls auf der Ebene des erstennoch unentwickelten Anfangs im Widerstand gegen die Zerfaserungder alltäglichen Erfahrungswelt zur herrschaftsblinden Mannigfaltig-keit von gesteuerten Informationen einen abstrakt richtigen Totalitäts-begriff des falschen geseIlschaftlichen Ganzen. Das antiautoritäreBewusst-sein, das der Klassenlage von vor allem kultur- und sozial-wissenschaftlicher Intelligenz empirisch und genetisch zuzurechnenist, motiviert sich aus dem Widerspruch der von allen inhaltlichenSubstanzen der bürgerlichen Emanzipationsphase gelösten techno-logischen Demokratie zur vergangenen ideologischen Liberalität glei-chen Tauschverkehrs, parlamentarischer Kommunikation und auto-nomer Individualität. Wenn das antiautoritäre Bewusstsein auch eineZerfallsform technologisch zerschlissener bürgerlicher Vernunftbegrif-

fe 1st, so enthielt es im Wissen um deren unwiderruflichen Zerfall imorganisierten Kapitalismus gleichwohl alle Momente eines antizipier-ten und stellvertretenden Klassenbewusstseins, eines Klassenbe-wusstseins, weil es Emanzipations- und Totalitätsbewusstsein ist,antizipiert und stellvertretend deshalb, weil es noch nicht im Standesein konnte, sich parteilich in einer Spontaneität des Proletariats zuverankern. Dem widersprechen die Reflexions formen, in denen dasantiautoritäre Bewusstsein sich selbst zu befreien suchte. Es ver-mochte keineswegs konkret einzusehen, dass seine provokative Ak-tionspraxis überhaupt erst die geschichtlichen Bedingungen der Bil-dung von Klassenbewusstsein theoretisch-wissenschaftlich und er-fahrungspraktisch zu schaffen hat. Vielmehr missverstand es auf der 

Höhe seiner spekulativ überschwenglichen Selbstbestimmung alsgeschichtlich konkret entwickelt, was noch unentfaltetes blossesPrinzip war. Seine notwendige Ahistorizität verkleidete die system-sprengenden Vorstellungen von gesamtgesellschaftlicher Herrschaftund revolu-

3 Dieser Beitrag ist der Anfang eines für die »Neue Kritik« geplanten Artikels

vom Herbst 1969. Wie insbesondere der Anhang zeigt, sind wesentlicheTeile hiervon in die »Thesen zum allgemeinen Verhältnis von wissenschaftli-

cher Intelligenz und proletarischem Klassenbewusstsein« eingegangen. Der Titel stammt von uns-. (Anm. d. Hg.) 

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tionärem Befreiungskampf in die diffuse Begriffswelt von umwäl-zender Randgruppentätigkeit und allgemeiner Gattungsrevolution.Diese Antinomien des antiautoritären Bewusstseins mussten zwangs-

läufig noch die des bürgerlichen Denkens sein, die aus den analyti-schen Trennungsbedingungen der entwickelten abstrakten Arbeitentfalteten Widersprüche des partikularisierten Besonderen und ab-strakt Allgemeinen, wie es sich niederschlägt in der hypostasiertenBeziehung von besonderer Randgruppe und universaler Gattung. Inder Aktionsgeschichte der neuen Linken haben sich die bürgerlichenAntinomien des antiautoritären Bewusstseins zur kleinbürgerlichenKlassenschranke ihres politischen Erkenntnisvermögens verfestigt.Zwei geschichtliche Bezugsmomente liefern die Erklärungskategorienfür den kleinbürgerlichen Stagnationsprozess der Protestbewegung:die Emanzipation von der funktionalistisch zerschlissenen bildungs-bürgerlichen Liberalität einerseits und der fehlende Hintergrund einer 

existierenden proletarischen Organisation.

Demnach sind die kleinbürgerlichen Erscheinungsformen des antiau-toritären Bewusstseins ein notwendiges Zerfallsprodukt der Lösungvon den ideologischen Illusionen bürgerlicher Tauschfreiheit und libe-raler Toleranz, sowie der noch individuell motivierten Befreiung vonden repressiven Sozialisationsbedingungen technologisierter Surplus-normen. Da der Orientierungsrahmen einer proletarischen Organisa-tionsform fehlt, musste dieser Emanzipationsprozess eine politischeIntellektuellenbewegung notwendig in den Naturzustand der klassen-schwankenden Asozialität des Kleinbürgertums zurückwerfen.

Das Kleinbürgertum repräsentiert neben dem Lumpenproletariat der Theorie des Historischen Materialismus zufolge den Zustand der Asozialität und in seiner warenproduzierenden und -vertreibendenTätigkeit den offen kriegerischen Naturzustand des Kapitals, die ur-sprüngliche Akkumulation und damit die Präsenz der Krise im kapita-listischen Verwertungsprozess. Von Enteignungsangst gejagt undohnmächtigem Profitbedürfnis getrieben, ist seine Verkehrsform diedestruierte des bellum omnium contra omnes. Seine Organisations-unfähigkeit ist derart chaotisierend und demoralisierend, dass Lenin,um das Proletariat vor seinem zersetzenden Einbruch zu bewahren,strengste Disziplinierungsimperative und Zentralisationskategoriendagegen setzte und es einer permanenten revolutionär sozialisieren-

den Erziehungsarbeit für nötig erachtete. Eine politische Intellektuel-lenbewegung muss Momente kleinbürgerlicher Asozialität entfalten,wenn sie aus bürgerlichen Verkehrsformen sich löst, nicht in eineproletarische Organisation sich integrieren und sich gleichwohl alseigenständige Klasse nicht setzen kann.

Aus dieser objektiven Unmöglichkeit einer klassenspezifischenSelbstbestimmung studentischer Protestbewegung und der Lang-

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fristigkeit, die strategischen Entwicklungsbedingungen emanzipativer 

Bildungsprozesse eines proletarischen Klassenbewυsstseins in den

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spätkapitalistischen Industriemetropolen auch nur theoretisch und imAnsatz zu formulieren, erklären sich die Verselbständigung der Akti-onspraxis, die zum Teil sektiererische und unmittelbarkeitsideolo-gische Verdinglichung der Organisationsform und der Schwund anTotalitätsbewusstsein. Mit der Zerfaserung der objektiven Einheit poli-tischer Praxis, wie sie durch den Protest gegen den Krieg in Vietnam,die Aktionen gegen Springer und den Widerstand gegen die Not-standsgesetze bestimmt war, in eine unorganisierte Vielheit verein-zelter Aktionen konvergiert ein zeitweiliger Theoriezerfall. Dieser Pro-zess folgt aus den erläuterten Bestimmungen des kleinbürgerlichenBewusstseins; dieses ist aktionistisch, sektiererisch und blind egoi-stisch. Der Kleinbürger ist nu r imstande, sich selbst und seine ver-meintlich unmittelbaren, bornierten Interessen wahrzunehmen undausserstande, eine langfristige Klassensolidarität von sich aus orga-nisationspraktisch zu stabilisieren, sowie die Gesellschaft alsZwangszusammenhang über den unmittelbar begrenzten Umkreis

seiner atomisierten Interessenindividualität hinaus wahrzunehmen.Wenn es also stimmt, dass das antiautoritäre Bewusstsein aus deninnersten Konsequenzen seines Befreiungsprozesses von den kapi-talistischen Kategorien antiquiert liberaler und modern technologisier-ter Verkehrsformen heraus in den Naturzustand kleinbürgerlicher Sozialisationsfeindschaft übergehen musste, dann gibt es so etwaswie eine im Marxschen Sinne dieses Begriffs naturgesetzliche Ten-denz zur Selbstzerstörung der antiautoritären Emanzipationsvernunft.

Das Asozialitätssyndrom des antiautoritären Bewusstseins und seiner autoritativen Reaktionen auf die unbewältigten politischen Frustrati-onserfahrungen bestimmt sich aus dem kategorialen Bezugsrahmenvon Emanzipation und Disziplin, Abstraktion und Konkretion. Weder ist es bereit, sich den repressiven, leistungszwingenden und diszipli-nierenden Sozialisationserfordernissen des politischen Kampfes zuunterwerfen, noch sich den wissenschaftstheoretischen Leistungskri-terien der Reflexion zu beugen. Weder vermag es die notwendigenAbstraktionsstrecken bildungsgeschichtlicher Reflexionsprozesse undderen naturwüchsige Widersprüche theoretisch wie praktisch auszu-halten, noch vermag es einzusehen, dass der unmittelbare Zusam-menhang von vereinzelten handlungsanleitenden Reflexionen undempirisch manifesten Praktiken eine schlechte Abstraktion und fal-sche Unmittelbarkeitsideologie ist. Wenn kleinbürgerliche Bewusst-seins- und Handlungspositionen den feindseligen Naturzustand in der 

vergesellschaftenden Konkurrenz repräsentieren, dann enthält dasderartig entwickelte antiautoritäre Bewusstsein verfestigte Schranke ngegenüber der Möglichkeit eines politischen Geschichtsbewusst-seins und geschichtsfeindliche Mechanismen, die es ihm anschei- 

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nend nicht erlauben, aus der aktionshektischen Diskussion kurzfri-stiger Taktiken zugunsten einer bildungsgeschichtlich orientiertenDiskussion langfristiger Strategien herauszutreten.

Verabsolutierte Emanzipationsegoismen sind ebenso Voraussetzung

wie Resultat des kleinbürgerlichen Zerstreuungsprozesses der anti-

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autoritären Protestbewegung. Dass jeder einzelne seine beschränk-ten Emanzipationsbedürfnisse auf Kosten jedes anderen befriedigenwollte, setzte einen neuen naturwüchsigen Unter-drückungszusammenhang eines Kleinkriegs aller gegen alle in der Organisation des politischen Kampfes und zerstörte darüber hinausdie Möglichkeit politischer Kommunikation nach Maassgabe so-zialistischer Solidaritätserfordernisse. Der Iosgelassene Emanzi-pationsegoismus will auf die Mühsal und Qual des politischen Kamp-fes, auf die geschichtliche Langfristigkeit in der Entwicklung einer sozialrevolutionären Massenbasis und auf die Vermittlungsdauer der zunächst notwendig abstrakten Theorie der materiellen Gewalt imBewusstsein der Massen verzichten und gleichwohl das künftigeReich der Freiheit hic et nunc für sich empirisch ursurpieren. Diekleinbürgerlichen Dispositionen des antiautoritären Bewusstseinsbehandeln das Reich der Freiheit als privates Kleineigentum (dementsprach die Ideologie der Freiräume), gleichsam orientiert an der 

Vorstellung vom Besitzrecht der ersten Landnahme. Das emanzipati-onsfeindliche Moment des Kleinbürgers ist das legitimationsloseRechtsbewusstsein, er steht, in Kantischen Begriffen formuliert, nichteinmal auf dem tauschwertentwickelten Standpunkt des bürgerlichenRechts als intelligiblen Besitzes, sondern auf dem nachfeudalen undvorbürgerlichen Standpunkt des empirischen Besitzes, demzufolgeder Umfang des Rechts auf Eigentum sich mit der physischen Macht-potenz des einzelnen deckt. Klein-bürgerliche Bewusstseinseinstel-lungen lassen die Freiheit zu einer dezisionistischen Eigentumskate-gorie verkommen. Der Zerfall des emanzipatorischen Vernunftinter-esses in der neuen Linken ist organisationszersetzend gewesen, weiler solidaritätsaufkündigend war.

Unter den Bedingungen des politischen Kampfes und den Zwängender kapitalistischen Herrschaft und ihrer Institutionalisierung ist diereine Antizipation des Reichs der Freiheit eine praktische Un-möglichkeit. Sie würde in ihr Gegenteil umschlagend zu einer re-pressiven Selbstvernichtung revolutionärer Bewegungen führen.

Die Antizipation der befreiten Gesellschaft in den Organisationsfor-men des politischen Kampfes ist immer eine historisch bestimmteVermittlung von Freiheit und Zwang. Diese Vermittlung erfolgt nicht intranszendentalisierten Kategorien des Leninschen Parteitypus wie beiGeorg Lukács, sondern aus den geschichtlichen Form- und Realisie-rungsbestimmungen der wertsubstantiellen arbeitsteiligen Verkehrs-

basis. Wenn die Organisation des politischen Kampfes die bestimmteNegation der kapitalistischen Gesellschaftsformation

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in ihrem eigenen solidarischen Verkehr material ausdrücken will,dann muss sie das ideologische Versprechen des bürgerlichenTauschverkehrs überhaupt erst einlösen. Die an der Zirkulations-sphäre orientierte revolutionäre Emanzipationstheorie des Bürger-tums, deren Rigorismus in den Kritiken Kants systematisch zusam-mengefasst und reflektiert wurde, fordert den individuellen Subjekten

eine rigide, bis an die Grenzen der physischen Selbstaufgabe trei-

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bende Abstraktion von ihrer empirisch bedürftigen Subjektivität zu-gunsten der Konstitution des intelligiblen Subjekts, der bedürfnislosenRechtsperson und des citoyen ab, damit Kant zufolge die Freiheiteines jeden mit der Freiheit eines jeden anderen nach einem allge-meinen Gesetz soll zusammenstimmen können. Marx hat demge-genüber zwingend nachgewiesen, dass sich die repressive Abstrakti-on von der empirischen Subjektivität, also das allgemeine Interesseder Gesellschaft als partikulares des Kapitals hinter dem Rücken undüber den Köpfen der Individuen, nicht unter Verzicht auf, sondernunter Verfolgung der verabsolutierten Einzelegoismen durchsetzt. Diebestimmte Negation des bürgerlichen Tauschverkehrs, zugleich soli-daritätsbildend für proletarische Organisationsformen, würde bedeu-ten, dass ein jeder um der Emanzipation des anderen willen sich so-viel Unterdrückung aufzuerlegen imstande ist, dass er seine Emanzi-pationsbedürfnisse nach den Gesetzen des politischen Kampfes ein-schränkt. Die politische Moral des revolutionären Kommunisten diszi-

pliniert sich zum Kampf und antizipiert zugleich die solidarische Pra-xis des herrschaftsfreien Verkehrs durch die bestimmte Negation der tauschwertbedingten Verkehrsformen. (Organisation als antizipierteAufhebung entfremdeter, i.e. abstrakter Arbeit.)

Die kleinbürgerliche Konkurrenz isolierter Emanzipationsbedürfnissemusste notwendig zu gravierenden Frustrationserfahrungen führenund autoritative Reaktionen hervorrufen. Der praxisauflösenden Wir-kung verabsolutierter Emanzipationsansprüche entsprach in der Fol-ge eine Verabsolutierung vereinzelter, gegeneinander verselbständig-ter und deshalb sektiererisch verdinglichter Organisationsformen undihrer unmittelbaren empirischen Praktiken. Der Zerfall des emanzipa-tiven Vernunftinteresses war also notwendig begleitet von einem Zer-fall des Theoriebewusstseins und der Fähigkeit zur Abstraktion.

Anhang

Zwei entscheiden de Probleme haben sich für die sozialistische Pro-testbewegung aus ihrem eigenen Geschichtsverlauf ergeben: 1. Wiesind die historisch neuen, aber noch unentfalteten Vernunftprinzipienmit der alten Verkehrssubstanz des proletarischen Klas- 

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senkamptes zu vermitteln, ohne in einen undurchschauten Tradi-tionalismus zurückzufallen?

2. Wie ist die Unmittelbarkeitsideologie empirischer Praktiken mittelsdes Totalitätsbegriffs von Praxis richtig zu kritisieren, ohne eine me-taphysische Objektivität der apriorischen Existenz eines von aller empirischen Erscheinungsform gelösten Klassenbewusstseins zuunterstellen?

Das spekulative Totalitätsbewusstsein, das sich die Bewegung inihren ersten Anfängen erarbeitete, war richtig in einem rationalisti-schen und analytischen Sinn, aber falsch, weil es dem erscheinenden

Geschichtsverlauf gegenüber blind war. Die Unmittelbarkeitsideologie

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der vielen »praktisch arbeitenden« Gruppen ist ihrem Bewusstseinnach in einer unverbundenen Flucht der historischen Erscheinungs-formen angsiedelt und ausserstande, die Vielheit der empirischenPraktiken zur klassenbewussten Einheit einer politischen Praxis zudenken. Wenn das frühe Totalitätsbewusstsein der Bewegung nochvom methodologischen Rationalitätstypus der bürgerlichen Ökonomiewar, so repräsentiert stellvertretend für die Unmittelbarkeitsideologiendie vom Genossen Rαbehl proklamierte historisch-genetische Analy-se die historische Irrationalität der romantisierenden Vulgärökonomie.Das gleiche gilt von der ad-hoc-Analyse der wilden Streiks durch denGenossen Lefèvre, der die Einheit dieser Bewegung phänomenolo-gisch in eine unverbundene Vielheit betriebsspezifischer Konflikttypenauflöst. Von all diesen theoretischen und praktischen Manifestationengilt, was Lukάcs der bürgerlichen Geschichtswissenschaft vorwirft:»Ihr Irrtum besteht darin, dass sie im empirischen historischen Indivi-duum (gleichviel ob es sich um einen Menschen, eine Klasse oder ein

Volk handelt) und in seinem empirisch gegebenen (also psychologi-schen oder massenpsychologischen) Bewusstsein jenes Konkrete zufinden meint. Wo sie jedoch das Allerkonkreteste gefunden zu habenglaubt, hat sie es gerade am weitesten verfehlt: die Gesellschaft alskonkrete Totalität ... Indem sie daran vorbeigeht, fasst sie etwas völligAbstraktes als Konkretes an.»4 

Doch diese »Beziehung auf die Gesellschaft als Ganzes«, die Lukácszufolge konstitutiv ist für die »Kategorie der objektiven Möglichkeit«,aus der die wissenschaftlichen Erkenntnischancen der historischenBildungsbedingungen des Klassenbewusstseins folgen sollen, wirdbei ihm wie in seiner Diskussion der Organisationsfrage auf eine vonden konkreten geschichtlichen Formbestimmungen abstrahierendemethodologische Ebene reduziert. Die Kategorie der Totalität wirdgelöst von ihren Momenten, das Klassenbewusstsein getrennt vonseinen empirischen Entäusserungen und bestimmte Negation damitauf abstrakte Negation zurückgenommen. Die Kategorie der Totalitätreduziert sich zur Transzendentalität. Die empirischen Er-

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scheinungsformen des Klassenbewusstseins sind jedoch aus demTotalitätsbegriff von Klasse, Klassenbewusstsein und Praxis nicht zulösen. Lukάcs' Begriff der Empirie ist selbst schon szientistisch gerei-

nigt. Klassenbewusstsein ist parteiliches Totalitätsbewusstsein. Der analytisch auflösbare Zusammenhang von kollektiver Interessenor-ganisation, also Parteilichkeit, und richtiger gesamt-gesellschaftlicher Erkenntnis, auch aller übrigen Klassen, also Totalitätsbewusstsein,mag gerade am Begriff der Empirie deutlich werden.

Wenn Marx und Engels in der Deutschen Ideologie darauf insistieren,dass die historischen Voraussetzungen der materialistischen Ge-schichtsauffassung, also »die wirklichen Individuen, ihre Aktion und

4 Geschichte und Klassenbewusstsein, Berlin 1923, S 61

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ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wiedie durch ihre eigene Aktion erzeugten ... auf rein empirischem Wegekonstatierbar« seien5, so intendieren sie einen sehr viel qualitativerenEmpiriebegriff als den durch die positivistische Distraktion der Ein-zelwissenschaften quantifizierten und szientistisch gereinigten . DieWahrheit des materialistischen Empiriebegriffs ist wie die seiner Theorienkategorien praktisch verankert und objektiv parteilich. Siehebt die ideologische Quasi-Neutralität des Empirismus auf, insofernsie die Empirie materialistisch im Bezugsrahmen von Produktion, alsovon Arbeit und Arbeitsteilung verankert. Materialistische Empirie istgebunden an die drei Produktionsmomente von Gebrauchswert, Be-dürfnis und Interesse (Triebstruktur). Der Begriff der Theorie ist öko-nomiekritisch gebunden an die Produktionskategorien von Ware,Mehrwert und Akkumulation, oder, ex negativo, Verdinglichung, Aus-beutung und Krise. Sowohl Theorie- wie Empiriebegriff des wissen-schaftlichen Sozialismus sind demzufolge parteilich, wie auch jene

Kategorien, in denen sich diese Parteilichkeit artikuliert, zugleich jenesind, in denen sich die gesamtgesellschaftliche Totalitätserkenntnisartikuliert. Die Konstitution des Klassenbewusstseins als eines partei-lichen Totalitätsbewusstseins ist also auf der einen Seite gebundenan die Wissenschaftlichkeit der revolutionären Theorie, das, in wel-chen Verwandlungen auch immer, als Moment eingehen muss in dieKonstitution eines richtigen alltäglichen Klassenbewusstseins desProletariats. Während Marx im 19. Jahrhundert den wissenschaftli-chen Sozialismus »nur im Gegensatz zum utopischen Sozialismus«ausgebildet hat, »der neue Hirngespinste dem Volk aufheften will,statt seine Wissenschaft auf der Erkenntnis der vom Volk selbst ge-machten sozialen Bewegung zu beschränken«6, und also innerge-

schichtliche Realisierungsbedingungen für die vom französischenSozialismus und deutschen Idealismus formulierten utopischenTranszendenzkategorien darstellen musste, sieht sich heute der Re-konstruktionsversuch revolutionärer Theorie, die neue Entfaltungs-

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notwendigkeit eines wissenschaftlichen Sozialismus, vor eine nahezuumgekehrte Aufgabe gestellt. Denn inzwischen hat sich durch dieszientistische Arbeitsteilung der positivistisch zerstreuten Einzelwis-senschaften ein Verfallsprozess der an die Produktion von Ge-

brauchswerten, die Reproduktion von Bedürfnissen und die Erzeu-gung von Interessen materialistisch gebundenen, innergeschicht-lichen Transzendenzkategorien vollzogen. Wissenschaftlicher Sozia-lismus, will er sozialrevolutionäre Phantasie erzeugen und potentiel-les Klassenbewusstsein aktualisieren helfen, muss gerade die For-mulierung der konkreten Utopie leisten. 

5 MEW Bd.3, S.20 

6 MEW Bd. 18, S. 636