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Die Facette von Mesanthor

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AtlanIm Auftrag der Kosmokraten

Nr. 685

Die Facette von MesanthorMachtwechsel im Pyramidon

von Peter Griese

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Im Jahr 3818 wird Atlan aus seinem Dasein als Orakel von Krandhor herausgerissen. Der Grund für diese Maßnahme der Kosmokraten ist, daß Atlans Dienste an einem anderen Ort des Universums

viel dringender benötigt werden als im Reich der Kranen.

Neuer Einsatzort des Arkoniden ist die Galaxis Alkordoom, wo eine Entwicklung im Gang ist, die das weitere Bestehen der Mächte der Ordnung in Frage stellt.

Bereits die ersten Stunden von Atlans Aufenthalt in Alkordoom zeigen auf, wie gefährlich die Situation ist. Der bestandene Todestest und der Einsatz im Kristallkommando beweisen jedoch Atlans hohes Überlebenspotential. Dennoch gerät der Arkonide in die Gewalt der Crynn-Brigadisten – und ihm droht die Auslöschung seiner Persönlichkeit.

Aber Atlan wird rechtzeitig genug von Celestern gerettet, Nachkommen entführter Terraner, die den Arkoniden in ihre Heimat New Marion bringen. Und als Atlan von einer Gefahr erfährt, die den Bewohnern des Planeten droht, greift er ein.

Er verhindert die Vernichtung dieser Welt, nimmt es auf mit dem Fragmentwesen und sammelt ein paar Helfer, um der Hexe von Crynn das Handwerk zu legen. Noch hat Atlan nicht die geringste Ahnung, wer oder was sie ist, DIE FACETTE VON MESANTHOR…

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Die Hauptpersonen des Romans:Atlan – Der Arkonide in der Gefangenschaft der Hexe.

Flora Almuth und Arien Richardson – Atlans Begleiter.

Zulgea von Mesanthor – Die Facette wird abgelöst.

Parillyon – Ein Yiker, der sich nach Crynn einschleicht.

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»Erfolg haben ist nichts, wenn man sich nicht sehr angestrengt hat. Und Scheitern ist nichts, wenn man sein Bestes gegeben hat.«

Arien Richardson, Celester, im Jahr 5000 des Erleuchteten.

1.Das Frachtschiff ächzte in allen Fugen, als es den Linearraum verließ und allmählich in einen Orbit um den einzigen Planeten der gelbweißen Sonne Kahrmacrynn schwenkte, der bewohnt war.

Parillyon stand unbeweglich vor dem kleinen Ausguck der Passagierkabine und drückte seine Nase an der transparenten Panzerplastscheibe platt. Kein Haar bewegte sich an seinem Körper.

»Befindest du dich wieder in der Starre?« geiferte Pjik. Der Grüngeschuppte lehnte neben dem Schott an der Kabinenwand und nahm keinen Anteil am Flug des Frachters.

»Du bist übergeschnappt.« Tatzo, der wie eine Kleinausgabe Parillyons aussah, erhob sich von der einfachen Liege. Er wollte auf Pjik zugehen, aber in diesem Moment geriet wieder einmal die künstliche Gravitation des Raumschiffs aus den Fugen. Der Frachter schlingerte, und Tatzo suchte Halt an einem Möbelstück.

Pjik lachte gehässig, als er die Bemühungen des Bepelzten verfolgte.

Irgendwo im Rumpf des Frachters heulte ein Reserveaggregat auf, und der Flug stabilisierte sich wieder.

»Dein Gehirn funktioniert nicht ganz richtig.« Tatzo zeigte auf den Rücken Parillyons. »Er hat doch sein Bein nicht angezogen. Also befindet er sich nicht in der Starre. Außerdem weißt du doch, wie sehr er danach gefiebert hat, Crynn zu erreichen.«

»Stimmt, mein Freund.« Pjik wechselte seine Laune ganz unvermutet. »Mein Gehirn ist außer Tritt geraten. Wie konnte ich mich in diese Hölle wagen. Crynn, das Herzstück des Sumpfes Kontagnat. Nur Verrückte suchen freiwillig einen solchen Ort auf. Wenn die Hexe Zulgea erfährt, woher wir kommen, wird sie uns sofort erschießen lassen.«

»Das wird sie nicht.« Der 1,80 Meter große Parillyon drehte sich langsam zu seinen beiden Begleitern um. »Sie wird dich erst psionisch lähmen, dann vierteilen, dein kümmerliches Gehirn aber nicht beschädigen, damit du noch verfolgen kannst, wie die Trümmer deines Leibes den Raubtieren zum Fraß vorgeworfen werden.«

»Ist das dein Ernst?« Pjik stieß sich von der Wand ab. Seine grünen Körperschuppen, die auf biologische Vorfahren schließen ließen, die im Wasser gelebt hatten, klirrten leise.

»Es ist mein Ernst.« Parillyon ballte seine Fäuste. Die beiden Armreife, die seine Handgelenke umspannten, funkelten bunt im künstlichen Licht der Kabinenbeleuchtung. »Es ist also besser, wenn du den Mund hältst, Pjik. Du hast den Vertrag unterschrieben und die Hälfte des Entgelts bekommen. Wenn unsere Mission beendet ist, bekommst du den anderen Teil. Und dann kannst du von mir aus in der Sonnensteppe vermodern.«

»Du sprichst«, warf Tatzo schnell ein, »als wärst du an diesem Ort, dessen Namen man besser nicht ausspricht, schon gewesen.«

Der kleine Bepelzte ähnelte auf den ersten Blick Parillyon ungemein stark. Dennoch gehörten beide ganz verschiedenen Völkern aus dem Sektor Ordardor an, in dem Gentile Kaz herrschte. Wie Parillyon, der sich als Yiker ausgegeben hatte, trug Tatzo keine eigentliche Bekleidung. Sein ganzer Körper, der allerdings nur knapp einen Meter groß war, war von einem dichten Fell von stumpfer brauner Farbe bedeckt. Nur das Gesicht war frei von Haaren. Sein Kopf war jedoch schmal, während der des Yikers fast exakt kugelförmig war.

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Parillyons Fell war langhaarig und schwarz. Silberne Streifen und Schattierungen durchzogen den Pelz und erweckten den Anschein eines alten und weisen Wesens. Aber das war Parillyon nicht. Er war jung, intelligent und ein vorzüglicher Kämpfer. Die Waffen, die er zwischen dem Pelz am Körper trug, konnten Pjik und Tatzo nur ahnen, denn zu sehen waren sie normalerweise nicht.

»Ich habe dich etwas gefragt«, drängte Tatzo. Seine Unzufriedenheit war deutlich aus den Worten herauszuhören.

»Ich kann selbst entscheiden, welche Antworten ich gebe. Ich bin hier der Chef.« Seine dunkle, rauhe Stimme grollte eine Nuance tiefer.

»Dann sage uns endlich, warum wir hier sind«, mischte sich nun auch Pjik ein. »Zugegeben, die Bezahlung war nicht schlecht. Aber ich möchte schon wissen, wofür ich meinen Kopf hinhalten soll.«

»Ich möchte jemand für einen bestimmten Plan gewinnen«, antwortete der Yiker.

»Wen? Welcher Plan?« Pjiks Schuppen klirrten aufgeregt, als er auf Parillyon zuging.

Der drehte sich um und starrte wieder aus dem Bullauge.

»Crynn«, sagte er mehr zu sich selbst als zu den beiden Helfern, die er auf Puurk angeworben hatte. »Der Herrschaftssitz der Hexe. Hier werde ich das finden, was ich suche. Und ihr werdet mir dabei helfen, ohne viele Fragen zu stellen. So war es abgemacht. Und ihr haltet euch daran, sonst spiele ich euch sehr schnell in die Hände der Crynn-Brigade.«

Bei den letzten Worten war Parillyon ruckartig herumgefahren. Die mit dichten Brauen besetzten Augen starrten Pjik und Tatzo durchdringend an. Die hellbraune, haarlose Gesichtshaut glänzte matt. Seine überproportional langen Arme bewegten sich langsam hin und her.

»Wenn einer von euch jetzt noch aussteigen will, dann nur als Leiche oder als Gefangener der Crynn-Brigade. Ist das klar?«

Der kleine Tatzo drängte sich in die Nähe des Grüngeschuppten, der fast die Körpergröße Parillyons besaß.

»Schon gut!« beeilte sich Pjik zu sagen. »Man wird doch einmal fragen dürfen. Wenn wir mehr wüßten, könnten wir dir besser helfen.«

»Wenn ihr nichts wißt, seid ihr brauchbar«, konterte Parillyon hart. »Und wenn ihr endlich schweigt.«

Der Yiker blickte wieder nach draußen. Die Oberfläche von Crynn war schon ganz nah. Ein Rütteln, das durch den Frachter ging, deutete an, das man sich bereits tief in der Atmosphäre der Hauptwelt von Mesanthor befand.

»Der Kahn bricht noch auseinander«, jammerte Pjik, »bevor wir im Herzen des Sumpfes Kontagnat landen.«

Er bekam keine Antwort.

Als der Türsummer ertönte, reagierte Parillyon nicht. Er starrte weiter auf die Oberfläche des Planeten Crynn, als könne er dort schon das erkennen, was ihn zu dieser riskanten Reise veranlaßt hatte. Er kam aus dem Sektor Ordardor des Leuchtenden Gentile Kaz. Allein diese Tatsache war für die Völker Zulgeas ein Grund, ihn und seine angeworbenen Helfer sofort zu inhaftieren oder wegen Spionage oder anderer Gründe hinzurichten.

Der mächtige Leib des thatischen Kommandanten Hux schob sich in die Kabine. Thater traf man wohl an allen Orten von Alkordoom und in den Diensten aller Facetten.

»Was gibt es, Hux?« fragte Parillyon, ohne sich umzudrehen.

Der Thater schnaufte.

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»Wir landen in Kürze, Parillyon oder wie du wirklich heißen magst. Welchen Ausgang willst du wählen? Ihr müßt damit rechnen, daß wir genau durchsucht werden. Auf Crynn kann man nicht so einfach landen wie auf Puurk. Die Hexe hat ihre Augen überall.«

»Zulgea wird auch nur zwei Augen haben.« Parillyon blieb gelassen. »Oder höchstens vier. Und die wird sie auf dich richten, Kommandant Hux! Nicht auf mich!«

»Die Hexe hat unzählige Augen.« Die mächtige Gestalt des Thaters trat an Parillyon heran und packte diesen mit beiden Armen. Hux versuchte, den Yiker umzudrehen, aber selbst seine Bärenkräfte scheiterten.

»Gravitationsverankerung«, stieß der Kommandant unwirsch hervor. »Was sollen diese Mätzchen? Du hast bezahlt. Also hast du auch ein Recht, ordentlich von Bord zu gehen. Antworte gefälligst, wie das geschehen soll.«

Parillyon fuhr ganz plötzlich herum. Auch diesmal benutzte er die kraftverstärkenden Einrichtungen, die sich irgendwo getarnt an seinem Körper befanden. Hux wurde fast zur Seite geschleudert, weil er den Bepelzten nicht rechtzeitig losließ.

»Wissen die Hafenkontrollen, daß du Passagiere an Bord hast? Hast du etwas verlauten lassen?« Der Yiker ballte seine Hände erneut zu Fäusten, was im Vergleich zu den Pranken des Thaters fast lächerlich aussah. Dennoch zuckte der Kommandant zurück.

»Kein Wort!« beeilte er sich zu sagen. »Und niemand außer mir weiß, daß ihr an Bord seid.«

»Das ist gut.« Parillyon setzte eine gelassene Miene auf. »Wenn es also zu einem Verrat kommen sollte, kannst nur du es gewesen sein. Du weißt, was das bedeutet.«

Die Hand des Yikers fuhr waagerecht über die Kehle des Kommandanten.

»Ich kann dich hier an den Henker liefern, Hux«, fuhr Parillyon fort. »Oder auf Kardoll, dem Herzen von Ordardor. Auch Gentile Kaz wird es interessieren, daß einer seiner Händler heimlich für die verhaßte Hexe Zulgea von Mesanthor arbeitet.«

»Ich könnte dich umbringen«, stöhnte Hux auf. Seine Pranken fuhren wie gewaltige Hämmer durch die Luft, aber Parillyon reagierte nicht direkt darauf.

»Das kannst du nicht, Hux«, kam es mit gefährlicher Sanftheit über die wulstigen Lippen. »Und das weißt du auch. Sieh dich um!«

Der Thater drehte nur den Kopf nach hinten und starrte auf die Waffen, die Pjik und Tatzo in ihren Händen hielten.

»Gut, gut.« Das kräftige Gebiß des Thaters knirschte laut. »Ich wollte nur wissen, wie ich euch beim Aussteigen behilflich sein könnte. Von mir aus lauft der Crynn-Brigade in die Arme.«

»Du wirst sicher bei der Landung in der Leitzentrale benötigt, Hux. Also verschwinde jetzt. Wir kommen auch ohne deine Hilfe von Bord. Es ist besser, wenn du nichts weißt.«

Der Thater antwortete nichts mehr. Er warf den drei heimlichen Passagieren noch einen Blick zu, aus dem sein ganzer Ärger und seine unverhohlene Wut zu erkennen waren. Dann verließ er die Kabine.

»Ich bezweifle«, bemerkte Pjik, »daß es klug ist, sich jeden zum Gegner zu machen.«

»Davon verstehst du nichts.« Parillyon vergewisserte sich durch einen Blick auf den Korridor, daß der Kommandant tatsächlich verschwunden war. »Diese Leute reagieren nur dann in meinem Sinn, wenn sie richtig unter Druck gesetzt werden.«

»Und wie willst du heimlich von Bord kommen?« Tatzo schüttelte voller Zweifel seinen Kopf.

»Wenn ich erst jetzt anfangen würde, über dieses Problem nachzudenken, wäre es wohl zu spät.« Der Yiker deutete auf seinen Kugelkopf, wo die langen und struppigen Haare in allen denkbaren

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Farben kreuz und quer standen. »Eure Sorgen sind fast rührend. Glaubt ihr etwa, ich hätte so schlecht geplant? Nehmt eure Sachen und folgt mir.«

Pjik und Tatzo schlossen sich Parillyon an, als dieser den Kabinenraum verließ. Schon nach wenigen Metern erreichten sie einen bordinternen Transmitter. Der Yiker verharrte vor dem energetisch verriegelten Schloß.

»Hier geht es nicht weiter«, behauptete der Grüngeschuppte.

Statt einer Entgegnung zog Parillyon eine kleine Plastikkarte aus seinem Fell und steckte diese in den Schlitz über der Verriegelung.

»Sonderkode identifiziert«, ertönte eine Automatenstimme. »Weitermeldung an den Bordrechner unterbleibt. Welches Ziel wünschst du?«

»Frachtraum«, sagte Parillyon. »Drei Personen.«

Sekunden später wurden die drei abgestrahlt. Sie verließen die Gegenstation im Unterteil des Frachtschiffes.

»Es ist kalt hier«, klagte Pjik und schlang seine flossenbewehrten Arme um den Schuppenleib. Die Hornstücke klirrten beängstigend.

»Dir wird gleich wärmer werden.« Der Yiker hielt plötzlich eine Waffe in der Hand. Der Schuß erfolgte lautlos. Pjik brach ohne erkennbare Verletzung zusammen.

»Eine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte Parillyon dem kleinen Tatzo, der erschrocken zusammenfuhr.

»Verstehe«, stammelte dieser. »Bei nur hast du das nicht nötig. Ich bin ja zuverlässig.«

»Das hoffe ich. Deine Zuverlässigkeit wirst du noch beweisen müssen. Pjik ist nichts passiert. Sein Gehirn wurde nur gelähmt. Früher, als es mein Volk noch gab, haben wir dieses Spiel als Kinder getrieben. Nun kann ich diese Waffe auch praktisch anwenden.«

»Verstehe, Chef.« Tatzo war sichtlich verwirrt. Die Angst blickte aus seinen kleinen Augen. »Er soll nicht denken, damit…«

»… damit die Brigadisten ihn nicht entdecken. Es gibt dort auch Gedankenspione oder Telepathen.«

»Natürlich, Chef, klar. Du denkst an alles. Was soll nun geschehen?«

»Pack ihn dort in die Kiste!« Parillyon deutete auf eine Aluminiumkiste, deren Deckel sich selbsttätig öffnete. Bevor Tatzo verstand, was geschehen war, hatte Parillyon den Kodegeber schon wieder in seinem Körperfell versteckt.

Mit unbewegter Miene sah der Yiker zu, wie der kleine Bepelzte den großen Beschuppten in den Behälter schleppte. Als Pjik über die Wand der Kiste geglitten war, atmete der Kleine auf.

»Gute Arbeit«, lobte sich Tatzo und suchte einen zustimmenden Blick in den Augen Parillyons.

»Bis später!« Der Yiker drückte erneut ab. Tatzos Augen weiteten sich vor Überraschung und Entsetzen. Dann sank auch sein Körper schlaff zusammen. Er hing halb über dem Rand des Containers. Parillyon beförderte ihn mit einem Fußtritt ins Innere und betätigte erneut den Kodegeber.

Die Kiste schloß sich.

Dann lauschte Yiker. Die Geräusche im Frachter hatten sich verändert. Das Schiff schüttelte sich stark.

Parillyons Finger huschten über die kunstvollen Steine und Verzierungen seines linken Armreifs. Ein kurzes Rauschen pfiff aus dem Metallband und verstummte wieder. Deutliche Worte wurden hörbar. Das Personal des Raumhafens von Crynn gab Anweisungen an den Frachter, wo er zu landen habe.

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Der Yiker vergewisserte sich noch einmal, daß der Behälter mit Pjik und Tatzo fest verschlossen war. Dann eilte er an diesem vorbei auf ein Bündel Holzstämme zu, das von mächtigen Trossen zusammengehalten wurde. Wieder erschien der kleine Kodegeber in seiner Hand. Ein Tastendruck genügte. In dem Holzstoß entstand eine schmale Öffnung.

Parillyon warf einen letzten Blick in den von allen Lebewesen verlassenen Frachtraum. Auch ihn fröstelte, aber die Unterkühlung der Fracht war ein Teil seines Planes. Man würde dieses Transportgut nicht so genau kontrollieren, denn auf Crynn kannte man Hux’ alten Frachter, der nicht einmal ein Klimasystem für das Frachtgut besaß.

Der Holzstoß schloß sich wieder. Parillyon wagte es nicht, eine Wärmequelle einzuschalten. Das wäre zu verräterisch gewesen. Er legte sich so bequem, wie es ging, in dem kleinen Hohlraum zu Boden.

»Zulgea, ich komme!« murmelte er. »Wir brauchen dich!«

Er hielt den Strahler in der Hand, mit dem er Pjik und Tatzo betäubt hatte. Mit dem Daumen der rechten Hand regulierte er die Intensität etwas herunter, damit er auf alle Fälle vor seinen beiden Helfern erwachen würde.

Dann setzte er die Abstrahlöffnung an die Stirn und drückte ab.

Dunkelheit hüllte ihn ein.

Den Ruck, mit dem der alte Frachter den Boden von Crynn berührte, spürte er schon nicht mehr. Jede Aktivität in seinem Gehirn war erstorben. Nur die automatischen biologischen Systeme hielten seinen Körper noch am Leben.

Er erlebte nicht, wie die Antigravgleiter das Frachtgut ausluden. Er sah auch nicht das etwas dümmlich dreinblickende Gesicht des Kommandanten Hux, der verzweifelt nach seinen heimlichen Passagieren Ausschau hielt und keine Spur von ihnen entdeckte.

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2.Obwohl der Raum sehr hoch war und die stickige, warme Luft ständig nach oben abfloß, war auch auf der Bodenfläche fast nichts genau zu erkennen. Das Licht war trüb, und die Luft war von Rauchschwaden geschwängert. Viele fremdartige Gerüche vermischten sich. Die lärmenden Gestalten vervollständigten dieses wirre Bild.

Parillyon atmete schneller, aber auch das half wenig. Er hatte Atemnot. Pjik und Tatzo hielten sich in seiner unmittelbaren Nähe auf. Die beiden angeworbenen Helfer waren noch immer etwas benommen, denn die Paralyse war trotz der Gegendroge noch nicht vollständig von ihnen gewichen.

Der Yiker begrüßte diesen Umstand, denn so konnten die beiden wenigstens nichts Falsches anstellen. Auch war er mit dem bisher Erreichten zufrieden.

Unbemerkt von den crynnischen Wachorganen hatte er seine Helfer aus einem Lagerraum befreien können.

Nun galt es den nächsten Schritt zu tun. Das war für Parillyon gleichbedeutend mit der Suche nach dem Aufenthaltsort der Facette von Kontagnat, der Hexe Zulgea von Mesanthor. Einen Haken hatte die Sache allerdings. Aus den dürftigen Informationen, die Parillyon besaß, wußte er, daß man auf Crynn nicht einfach nach Zulgeas Aufenthaltsort fragen konnte und durfte. Das würde unnötigen oder gar tödlichen Verdacht wecken.

Aus diesem Grund hatte der Yiker als Zwischenziel auf seinem Weg zur Hexe diese üble Spelunke in der Nähe des Raumhafens ausgewählt. Im Untergrund oder in dessen Nähe ließen sich die notwendigen Informationen noch am leichtesten bekommen. Das war auf allen Welten von Alkordoom so gewesen, die Parillyon bisher besucht hatte.

In keiner Sekunde vergaß er seine Mission, die er freiwillig für seine Freunde übernommen hatte. Nur wenn er den Verdacht hatte, telepathisch belauscht zu werden, lenkte er seine Überlegungen auf Banalitäten, wie sie ein harmloser Besucher denken würde.

In Ordardor würde man auf eine positive Nachricht von ihm warten. Seine Freunde würden sich gedulden müssen, denn noch war er erst einen Schritt in Richtung seines Zieles gelangt.

Der grüngeschuppte Pjik warf ihm einen fragenden Blick zu und deutete auf den breiten, hölzernen Schanktisch, der aus dem Gemenge von Nebel und Dunkelheit vor ihnen auftauchte. Parillyon verstand die Geste und nickte.

Die drei schoben sich durch die Reihen der finsteren Gestalten, bis sie den Tresen erreichten. Pjik bestellte bei dem Bedienungsroboter ein spezielles Fruchtsaftgetränk mit dem Namen Itzerbitzer, aber der Roboter kannte dieses Getränk nicht.

»Wohl fremd hier?« fragte die Metallgestalt.

Parillyon drängte sich rasch an Pjik vorbei, bevor dieser weitere verräterische Aussagen machen konnte.

»Mein Freund liebt dumme Scherze«, beschwichtigte er den Roboter. »Natürlich weiß er, daß es kein Getränk namens Itzerschwitzer gibt. Wir möchten drei…«

»Itzerbitzer!« erklärte Pjik so laut, daß die Umherstehenden aufmerksam wurden. »Ich kenne das Zeug aus meiner Zeit…«

»Halt den Mund!« zischte Parillyon und trat dem Schuppigen mit dem Knie in den Magen. Pjik krümmte sich vor Schmerzen, aber er schwieg nun endlich.

»Drei Crynnwasser.« Der Yiker lächelte dem Bedienungsroboter zu und legte eine große Münze auf den Schanktisch. »Der Rest ist für deinen Herrn.«

Der Roboter war’s zufrieden. Im Handumdrehen zauberte er die Getränke herbei und strich die

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Münze ein. Als er sich anderen Gästen zuwandte, packte Parillyon Pjik am Hals.

»Noch so eine Dummheit«, fauchte er, »und ich erwürge dich.«

Einlenkend und abwehrend hob Pjik seine Arme in die Höhe. Für Parillyon war die Sache damit erledigt, nicht jedoch für den Mann, der neben ihm stand.

Der stieß ihn vor die Brust, um die Aufmerksamkeit des Yikers auf sich zu lenken.

»Du langbeiniger Wurm«, grunzte er. »Ich mag es nicht, wenn sich einer in meiner Gegenwart aufspielt.«

Parillyon musterte den Typen gelassen. Angehörige dieses Volkes kannte er nicht. Der Unbekannte sah nicht gerade kräftig aus, aber das konnte täuschen. Und Ärger konnte Parillyon jetzt gar nicht gebrauchen.

»Du hast vollkommen recht«, lenkte er ein. »Ich mag das auch nicht. Aber Pjik ist mein Diener, und er hat sich schlecht benommen. Trink einen mit, und vergiß die harmlose Geschichte.«

»Du hast dich schlecht benommen, langhaariger Erdfresser«, antwortete der andere. Dann nahm er sein Glas und goß es langsam über Parillyons schwarzes Fell. Die darin befindlichen Streifen nahmen eine braune Farbe an, als sie von der Flüssigkeit getränkt wurden.

»Und jetzt«, kicherte der Fremde, »kannst du mir einen neuen Drink ordern. Das Zeug heißt übrigens Zulgeamost, und mein Name ist Most. Man nennt mich auch den Alleswisser oder den Gefährlichen.«

»Ich habe eher das Gefühl, daß du gefährlich lebst.« Einen Augenblick zögerte der Yiker noch. Er war sich nicht darüber im klaren, ob er nachgeben sollte oder nicht. Vielleicht würde der Eklat ihm sogar helfen, schneller ans Ziel zu kommen. Bestimmt besaß dieses Großmaul nicht nur Freunde hier. Und wenn Not am Mann war, konnte sich Parillyon auch noch auf Pjik und Tatzo verlassen.

Er bestellte das Getränk.

»Den Namen solltest du besser nicht benutzen!« raunte ihm jemand von der Seite zu. Parillyon erkannte im Halbdunkel einer Nische eine zerlumpte Gestalt, die einen leeren Becher in den Hautlappen seiner Hand hielt. »Es ist noch keinem gut bekommen, über die Hexe Witze zu reißen.«

»Vollkommen richtig, mein Freund.« Parillyon lächelte und nahm die braune Flüssigkeit. Mit einem Ruck schüttete er sie dem Großmaul ins Gesicht.

»Da hast du deinen Most, Most!«

Der Rüssel des Getroffenen zuckte nach vorn, und seine kräftigen Arme wollten den Yiker packen. Aber Parillyon war schon in die Knie gegangen. Mosts Extremitäten packten ins Leere.

Die Umherstehenden begannen zu johlen. Ein paar rückten zur Seite. Ganz offensichtlich erwarteten sie nun einen Kampf. Aus den Zurufen konnte Parillyon entnehmen, daß sich sofort zwei Lager bildeten. Wetten wurden abgeschlossen.

Der Roboter hinter dem Schanktisch steuerte die Musik etwas lauter, so daß diese das Geschrei der Gäste noch übertönte. In das Gerangel mischte er sich jedoch nicht ein. So etwas schien hier zur Tagesordnung zu gehören.

Prustend kam Most (oder wie er wirklich heißen mochte) wieder auf die Beine. Er fuhr seine Stielaugen aus, um seinen Gegner besser zu sehen.

»Ihr haltet euch erst einmal heraus«, gebot der Yiker seinen Begleitern. Gehorsam schoben sich Pjik und Tatzo in den Hintergrund.

Parillyons Gegner war eine Mischung aus Zweibeiner und Rüsselwesen. Seine Haut war glatt und stumpf. Sie wirkte lederartig. Der Yiker würde kräftig zuschlagen müssen, um eine Wirkung zu erzielen. Aus dem Verhalten Mosts schloß er aber, daß dieser entweder angetrunken war oder allzu

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blindlings in die Auseinandersetzung ging.

Der Rüssel und die Arme fegten durch die Luft. Blitzschnell sprang Parillyon zur Seite. Dabei schnappte er nach dem Rüssel, der doppelt so lang war wie die Arme. Er riß mit aller Kraft daran.

Most stolperte nach vorn und stürzte zu Boden. Im Fallen bekam er aber die Beine des Yikers zu fassen. Die beiden Gestalten wälzten sich auf dem Boden. Wer diesen Kampf beenden würde, war noch nicht abzusehen.

Gerade als Parillyon einen Faustschlag am Kopf seines Gegners landen wollte, flammten grelle weiße Lichter in der Spelunke auf. Der Yiker wurde geblendet. Seinem Gegner erging es nicht anders. Die flammende Helligkeit währte nur Sekunden, dann war wieder alles in das Halbdunkel getaucht.

Zu Parillyons Erstaunen ließ Most schlagartig von ihm ab. Aber das war nicht die einzige Überraschung. Die Gespräche in der Spelunke verstummten fast vollständig. Der Barroboter drehte die Musik auf ein erträgliches Maß zurück. Keiner kümmerte sich mehr um die beiden Streithähne, und insbesondere Most tat so, als sei nichts geschehen. Er stellte sich an den Schanktisch und bestellte ein neues Getränk.

»Heh!« sagte Parillyon fast schon zu laut für die Stille. »Seid ihr alle übergeschnappt?«

Der Zerlumpte kam aus der Nische und drängte sich an seine Seite.

»Du scheinst das Signal nicht zu kennen, Fremder«, flüsterte er heiser. »Ich erkläre es dir später. Nun halt die Klappe und stell dich zu den anderen und verhalte dich etwas normaler als normal.«

Der Yiker nickte. Das kurze, grelle Lichtsignal hatte also weder Most noch ihm gegolten. Im ersten Augenblick und unter dem Eindruck des Kampfes hatte er das angenommen.

Er dirigierte mit einer Handbewegung Pjik und Tatzo an seine Seite. Dann strich er sein Fell glatt und entfernte dabei die Reste der Nässe.

»Wahrscheinlich suchen die von der Brigade wieder jemand«, sagte sein Nachbar leise zu einer anderen Gestalt.

Brigade! durchzuckte es Parillyon. Über die Existenz der Crynn-Brigade, der Hilfstruppe Zulgeas, war er ausreichend informiert. Dies Truppe kümmerte sich nicht nur um alle denkbaren Belange der Hexe. Es befanden sich angeblich auch zahlreiche Mutanten darunter.

»Vorsicht, Freunde!« Er stieß seine beiden Begleiter an. »Ihr sagt kein Wort. Und denkt nur unverfängliches Zeug!«

Parillyon verfolgte aus den Augenwinkeln, wie die Umherstehenden immer wieder kurz zum Eingang schielten. Man erwartete also jemand. Es konnte sich nur um ein Suchkommando der Facette handeln. Oder vielleicht um irgendwelche Inspektoren. Oder…

… oder sie suchten am Ende gar ihn! War seine heimliche Ankunft auf Crynn doch bemerkt worden? Ganz ausschließen konnte das der Yiker nicht. Es hätte genügt, wenn die Fracht nach dem Ausladen noch einmal nachgewogen worden wäre.

Eine klapperdürre Gestalt schob sich wieselflink durch die Schwingtür. Sie eilte auf ihren vier Beinen zum Schanktisch und wedelte erregt mit einer Extremität, die einem ausgefransten Blatt glich, dem Roboter. Parillyon konnte hören, was sie aus der Sprechblase am oberen Körperende blubberte.

»Integral. Glaub, ’s ist ›Dreiunddreißig-Neununddreißig‹, also der Zopp.«

Die Bedeutung der Worte blieben dem Yiker ein Rätsel. Der Zerlumpte schien seinen fragenden Gesichtsausdruck bemerkt zu haben. Er drängte sich wieder an Parillyons Seite.

»Alles klar? Oder kann ich dir helfen?«

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»Nichts ist klar«, antwortete Parillyon leise.

Der Zerlumpte nahm das Glas des Yikers und leerte es in einem Zug. Der ließ ihn widerspruchslos gewähren.

»Es ist ein Integral im Anmarsch. Verstehst du jetzt?«

Parillyon schüttelte verneinend den Kopf. Wollte man einen Scherz mit ihm machen? Ein Integral! Er kannte diesen Begriff aus der Zeit der wissenschaftlichen Ausbildung auf seiner Heimatwelt Kippelkart. Es handelte sich um einen mathematischen Begriff. Hier war offensichtlich von einem Lebewesen die Rede. Und ein Volk, das sich Integrale nannte, kannte er nicht. Ihm wurde bewußt, daß er doch ohne ausreichende Vorkenntnisse nach Crynn gekommen war.

»Ich verstehe nichts«, erklärte er wahrheitsgemäß dem Zerlumpten.

»Es wird gleich da sein.« Parillyons Gesprächspartner lachte hämisch und zeigte dabei seinen zahnlosen Mund. »Krieg ich noch einen?« Er deutete auf das leere Glas. Der Yiker verstand.

Er nahm Tatzos Glas, der nur einmal an der Flüssigkeit genippt hatte, und schob es dem Zerlumpten hin.

»Integrale sind die direkten Helfer der Leuchtenden«, erläuterte der merkwürdige Kerl. Dann trank er die Hälfte des Inhalts weg. »Wichtig ist erst einmal, daß du ihnen immer die Wahrheit sagst. Sie haben ein untrügliches Gefühl für Wahrheit und Lüge. Besser ist, wenn du gar nichts sagst. Alles andere erkläre ich dir später. Wenn du dann noch hier sein solltest.« Der Zahnlose kicherte. »Natürlich nur gegen einen Drink.«

Die letzten leisen Gespräche verstummten, als die Flügeltüren zur Seite gestoßen wurde. Parillyon erwartete eine mächtige Gestalt, etwa vom Format eines Thaters. Er mußte seine Überraschung verbergen.

Das Integral betrat den Raum nicht. Es schwebte herein und blieb wenige Schritte von der Tür in Kopfhöhe reglos in der Luft stehen. Parillyon hatte ein solches Wesen noch nie gesehen. Er konnte nicht einmal einen Vergleich mit einer anderen Lebensform ziehen, obwohl er schon weit in Ordardor, Kontagnat, Janzonborr und Jabbaddisch herumgekommen war und damit halb Alkordoom kannte.

Der Körper des Integrals bestand im wesentlichen aus einem Diskus, dessen Durchmesser die Hälfte von der Körpergröße des Yikers betrug. Die Haut war milchig-weiß. Vom unteren Ende des Leibes bis zur oberen »Polklappe« des Diskuskörpers betrug die Distanz vielleicht seine Unterarmlänge. Das Integral wirkte also allein schon von seiner Größe her nicht besonders eindrucksvoll. Ob es sich mit technischen Mitteln über dem Boden hielt, vermochte Parillyon nicht zu sagen. Da aber keine Beine oder etwas Ähnliches erkennbar waren, nahm er an, daß das Integral sich auf natürliche Weise schwebend bewegen konnte.

Auf jeder Seite des scheibenförmigen Körpers ragte ein Armpaar heraus. Die Arme endeten in vierfingrigen Händen. Eine dieser Hände hielt eine Waffe, eine andere ein kleines Gerät, wahrscheinlich einen Telekom oder etwas Vergleichbares.

Am Außenrand des Körpers entdeckte der Yiker mehrere dunkle Stellen. Da keine anderen Auffälligkeiten zu sehen waren, folgerte Parillyon, daß dies Sinnesorgane sein mußten.

»Hallo, Zopp!« grölte eine Stimme aus dem Hintergrund. »Lange nicht gesehen, alter Schweber. Wie geht’s der alten Hexe? Versteckt sie sich immer noch im Pyramidon? Sag ihr, sie soll mich endlich einmal besuchen kommen. Ich möchte einen mit ihr trinken. Ihre Psi-Mätzchen kann sie aber zu Hause lassen.«

»Verdammt. Hicks ist total betrunken«, zischte Most verärgert. »Das wird sich rächen.«

Parillyon sah, wie die Waffenhand des Integrals in die Höhe zuckte.

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»Schweig!« Die Stimme des Integrals besaß einen überraschend angenehmen Klang. Sie wirkte aber auch sehr überzeugend.

»Stell dich nicht so an, du Riesenpfannkuchen«, lamentierte der Betrunkene, den Most Hicks genannt hatte. »So etwas wie dich verspeise ich zweimal am Tag zum Frühstück! Holst du jetzt die alte Hexe aus dem Pyramidon, oder soll ich selbst gehen, he?«

Das Integral ließ seine Waffe antworten. Der sirrende Klang lag für einen Sekundenbruchteil in der Luft. Hicks sackte mit einem Seufzer in sich zusammen.

»Hat er noch einmal Glück gehabt«, meinte der Zerlumpte. »Es hätte ihn auch töten können.«

»Still, Alter!« zischte jemand in Parillyons Nähe. Zweifellos meinte er damit den Zerlumpten.

Das Integral setzte sich plötzlich und sehr schnell in Bewegung. Es kam direkt auf Parillyon zu. Der merkte nicht, daß die Umher stehenden zur Seite wichen. Auch Pjik und Tatzo waren mit einem Mal nicht mehr an seiner Seite, und so stand der Yiker dem Schwebewesen allein gegenüber.

»Was hast du gesagt?« fragte das Integral und deutete auf Parillyon.

»Nichts, Integral«, antwortete dieser wahrheitsgemäß.

»Für dich bin ich 3339.«

»Ich habe nichts gesagt, 3339«, wiederholte der Yiker.

Das Integral zögerte einen Moment.

»Name?« wollte es dann wissen.

Parillyon überlegte in Windeseile. Wenn das stimmte, was der Zerlumpte gesagt hatte, dann durfte er nicht lügen. Er nannte seinen wirklichen Namen.

»Nur einfach Parillyon?«

»Richtig.«

»Heimatplanet?«

»Kippelkart.«

»Ankunft auf Crynn?«

»Heute, 85. Tag im Jahr 5000 des Erleuchteten.« Auch das entsprach der Wahrheit.

Das Integral war’s zufrieden und ließ von Parillyon ab. Der war noch so benommen, daß er nicht verfolgte, wie das Wesen Fragen an weitere Besucher der Spelunke stellte. Welches Ziel es dabei verfolgte, war ohnehin nicht zu erkennen. Schließlich verschwand das Integral wieder.

Langsam kamen die Gespräche wieder in Gang. Most bestellte einen Drink für den Yiker. Er schien durch den Zwischenfall wieder zur Besinnung gekommen zu sein. Von der angezettelten Rangelei wollte er nichts mehr wissen. Und Parillyon war das nur recht.

Der Zerlumpte drängte sich heran.

»Ich schulde dir noch ein paar Auskünfte«, geiferte er. »Und du mir einen doppelten Otio.«

Der Yiker orderte die Bestellung, während der Alte erzählte.

»Die Integrale sind die engsten Helfer der Facette. Sie tauchen nur sehr selten auf. Also wird es nicht viele von ihnen geben. Vielleicht ein paar hundert, höchstens tausend. Sie stammen nicht von Crynn, so wie ich oder andere. Sie wurden importiert.«

Der Zerlumpte kicherte, als habe er einen guten Scherz gemacht.

»Du meinst wohl, sie wurden entführt?« fragte Parillyon und schob das Glas auf den Zahnlosen zu. Der nahm einen gierigen Schluck.

Page 15: Die Facette von Mesanthor

»Nenne es, wie du willst, Fremder. Jedenfalls sind das ganz gefährliche Burschen. Sie werden von Zulgea sehr straff geführt. Wahrscheinlich mit diesen Psi-Tricks, die kein Normaler verstehen kann. Die von der Crynn-Brigade sind ein Dreck dagegen. Diese Dummköpfe kann man überlisten. Bei einem Integral ist das sehr schwer. Natürlich gibt’s bei der Brigade auch fähige Burschen, aber die sind irgendwo draußen im Sumpf.«

Sumpf, dachte der Yiker. So nennt man Kontagnat.

»Weiter!« drängte er. »Der Betrunkene erwähnte etwas von einem Pyramidon. Was ist das?«

»Es ist immer gefährlich«, wehrte der Zerlumpte ab, »über diese Dinge zu reden.«

Statt einer Antwort legte Parillyon eine Münze auf den Tisch. Sie verschwand sehr schnell zwischen den Lumpen des Zahnlosen.

»Die Integrale kommen aus dem Pyramidon. So sagt man unter der Hand. Genau weiß das niemand. Und wer es wirklich weiß, der hält den Mund, denn das verlängert das kümmerliche Leben. Man sagt auch, daß Zulgea im Pyramidon herrscht. Gesehen hat sie noch keiner, auch ich nicht. Zulgea regiert sehr streng, aber vollkommen aus der Verborgenheit des Pyramidons. Die Integrale sind geschlechtslos. Bei ihnen gibt es keine Männlein und Weiblein. Und sie kennen keine Gefühle. Mir kommen sie wie biologische Automaten vor. Sie verfolgen ihre Ziele mit einer Konsequenz, wie du sie nur bei mir erlebst, wenn ich etwas zu trinken brauche.«

»Nicht abschweifen!«

»Schon gut, Fremder.« Der Zerlumpte nahm noch einen Schluck, und der Yiker konnte die Wirkung bereits beobachten. Allerdings wurde der Zahnlose dadurch noch geschwätziger. Er sprach dabei aber so leise, daß die anderen Anwesenden ihn kaum hören konnten.

»Die Integrale besitzen unaussprechliche Namen. Den, der hier war, nennen wir Zopp. Du kannst ihn an dem blauen Flecken erkennen, der zwischen seinem rechten Armpaar am Außenrand zu sehen ist. Ein übler Bursche. Will immer mit seiner Nummer angesprochen werden. Das ist offiziell bei den Integralen so üblich.«

»Die Crynn-Brigade und die Integrale. Wie verträgt sich das?«

»Hier auf Crynn haben die Integrale das Sagen. Außerhalb von Crynn wirst du keine von ihnen finden. Vielleicht gibt es irgendwo noch eine Welt, auf der welche existieren, aber davon habe ich noch nichts gehört. Die hiesigen Integrale müssen alle im Pyramidon geboren worden sein, denn ewig können sie nicht leben, aber es gibt sie schon ewig hier. Vor Zulgea, der Leuchtenden, hatten wir eine andere Facette. Ich habe deren Auswirkungen noch zu spüren bekommen.«

Der Zerlumpte reckte Parillyon einen Armstummel entgegen.

»Das Pyramidon.« Der Yiker lenkte mit dieser Frage auf sein eigentliches Anliegen. »Was ist das? Wo ist das? Wo befindet sich Zulgea?«

Er drückte dem zerlumpten Zahnlosen eine weitere Münze in die Hand, woraufhin dieser sich erst einen neuen Drink bestellte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er nach dem ersten Schluck. »Es soll irgendwo auf Crynn einen Berg geben, der Mauntenn genannt wird. Da es hier viele Zonen gibt, die keiner ungestraft betreten darf, weiß ich auch nicht, wo das sein könnte. Wahrscheinlich liegt Mauntenn auf der Nordhalbkugel und nicht allzu weit vom Äquator entfernt, wo die großen Pflanzungen sind. Warum interessiert dich das?«

»Nur so.« Parillyon blieb ausweichend. Aber insgeheim war er zufrieden. Er hatte im ersten Anlauf mehr erfahren, als er sich erhofft hatte. Die Spur zu Zulgea war deutlicher geworden. Er würde sie mit aller Konsequenz verfolgen. Was in Kontagnat geschah, brauchte ihn nicht zu interessieren. In Ordardor, dem Herrschaftsbereich von Gentile Kaz warteten seine Verbündeten. Und sie brauchten Zulgea!

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Er schirmte seine wahren Gedanken über diesen Punkt auch jetzt ab.

»Ich danke dir«, sagte er jovial und versetzte dem Zerlumpten einen freundlichen Klaps. Daß wenige Meter weiter Most betrunken umkippte, registrierte Parillyon nur am Rande.

»Dein Interesse ist merkwürdig.« Der Zerlumpte leerte sein Glas und bestellte sofort ein neues von dem Geld, das er erhalten hatte. »Du führst doch nicht etwas Bestimmtes im Schilde?«

»Natürlich nicht«, beschwichtigte Parillyon, der nun auch etwas leutseliger geworden war. »Du hast doch gesehen, wie harmlos das Integral reagiert hat.«

Der Zerlumpte kicherte. »Wenn du etwas Bestimmtes beabsichtigt hättest, hätte Zopp es gemerkt.«

Das glaubte Parillyon nun gar nicht.

Er winkte Pjik und Tatzo. Selbstbewußter und entschlossener denn je verließ er die Spelunke. Seine angeheuerten Helfer folgten wie willige Hunde.

Draußen las der Yiker noch einmal den Namen des Ortes, in dem er die wichtigen Informationen unauffällig erhalten hatte.

»Zur rostigen Raumfähre!« Parillyon lachte verhalten. »Tatzo, du kümmerst dich um eine passende Unterkunft. Pjik, du besorgst einen Gleiter, mit dem man ein paar Tagesausflüge hintereinander unternehmen kann. Hier ist das notwendige Kleingeld. Wir treffen uns dort drüben in der Imbißstube.«

»Wenn ich etwas Bestimmtes im Schilde führen würde«, murmelte Parillyon zufrieden. »Hast du eine Ahnung, zahnloser Schwätzer! Und du, Hexe von Mesanthor, du wirst auf mein Angebot eingehen. Es gibt nichts Besseres für meine und für unsere Zwecke als dich.«

Pjik und Tatzo waren längst in der hereinbrechenden Dunkelheit verschwunden.

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3.Das Integral mit der Nummer 3339 und dem Eigennamen Zrtoppr (weswegen es Zopp genannt wurde, denn nur Integrale waren untereinander in der Lage, diese unaussprechlichen einsilbigen Namen zu artikulieren) führte seinen Auftrag konsequent durch, wie es seinem Wesen entsprach.

Einen Hinweis auf die Fremden, die mit Sicherheit auf Crynn oder zumindest im Kahrmacrynn-System weilten, fand es nicht. Nirgendwo war es auf etwas gestoßen, was mit Celestern oder gar mit den Celestern Atlan oder Arien in Verbindung zu bringen gewesen wäre.

3339 hatte seinen Auftrag ordnungsgemäß erfüllt, aber das Integral hatte nicht dazu beitragen können, das gesetzte Ziel zu erreichen. Darüber war Zrtoppr nicht im mindesten beunruhigt, denn es hatte getan, was getan werden sollte. Und Gefühle kannte es kaum.

Pflichtgemäß setzte es sich nach Beendigung der Inspektion mit dem Pyramidon über die geheime Funkverbindung in Kontakt. Nach der kurzen Zusammenfassung berichtete es über alle Einzelheiten, die sein kleines Gerät gespeichert hatte. Über 6000 aller Wahrscheinlichkeit nach unwichtige Fakten liefen in Sekundenbruchteilen über die kodierte Funkstrecke in den Zentralspeicher des Pyramidons, wo sie nicht weniger schnell ausgewertet wurden.

»Zrtoppr«, hörte das Integral. »Hier spricht Kmrythsk. Der Zentralrechner kündigt einen Widerspruch an. Hast du einen Fehler begangen?«

»Es gab keine Spur der Celester in meinem Auftragsbereich.«

Zopp und Myth, so nannte man diese beiden Integrale, die sich in den Außenkontrollen regelmäßig abwechselten. Ihre wirklichen Namen konnte kein anderes Wesen formulieren, und ihre Nummern (3339 und 13.815) waren eigentlich bedeutungslos.

»Es muß sich um etwas anderes handeln«, berichtete Myth. »Warte!«

Da es klar war, daß 3339 warten würde, ersparte sich das Integral eine Antwort. 13.815 und 3339 waren zu Genüge aufeinander eingespielt.

»Du hast unter anderem von einem Typen namens Parillyon berichtet«, meldete sich Myth wieder. »Ja?«

»Ja. Eine unwichtige Nebensache, die nichts mit den Celestern zu tun haben kann.«

»Sie hat nichts damit zu tun, aber trotzdem ist da etwas faul. Dieser Parillyon behauptet, am heutigen Tag, dem 85. des Jahres 5000 des erleuchteten Juwels auf Crynn angekommen zu sein. Hast du überprüft, ob er die Wahrheit sagte?«

»Du weißt, daß ich das immer tat und auch immer tun werde.«

»Dann hat der Zentralrechner eine Spur gefunden, die beachtet werden muß. Es landete nämlich heute kein einziger Passagierraumer auf Crynn.«

3339 zögerte nicht mit einer Antwort.

»Dieser Parillyon stand nahe genug bei Untereinheit ROB-971. Du solltest seine Informationen abrufen. Teile sie mir mit. Ich bleibe hier und sehe mich nach diesem Burschen um. Was weiß der Zentralrechner über den Planeten Kippelkart?«

»Nichts. Unbekannt. Die Anfrage an den Barroboter ROB-971 läuft. Warte bitte!«

Zopp glitt langsam über das Dach des Hochhauses und faßte sich in Geduld.

»Die Antwort ist da. Dieser Parillyon hat sich in auffälliger Weise nach der Facette und ihrem Aufenthaltsort erkundigt. Irgendein Idiot hat das Pyramidon erwähnt, und der Kippelkarter ist darauf angesprungen wie das Juwel auf eine Sondersendung an Psi-Potential.«

Die Redewendung kannte 3339, und das Integral wußte, daß nicht einmal Zulgea eine Vorstellung

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davon hatte, wie das Juwel aussah oder der Erleuchtete im Nukleus von Alkordoom reagierte. Daß er nach Psi-Potentialen, nach abgespeicherten Bewußtseinskomponenten mit psionischen Kräften gierte, war allen Integralen bewußt. Die Crynn-Brigadisten schafften heran, was als Tribut verlangt wurde.

»Die Leuchtende muß informiert werden«, meinte Zopp.

»Der Zentralrechner hat das abgelehnt. Das Problem der Celester und ihres seltsamen Raumschiffs ist zu stark. Behalte du Parillyon im Auge. Ab sofort bist du nur für diesen zuständig. Die Erlaubnis zur Eliminierung liegt vor.«

»Verstanden, 13.815.«

»Warum so förmlich, Zopp?«

»Ich spüre den Druck der Leuchtenden. Sie hat lenkend eingegriffen. Auch sie will das, was du und der Zentralrechner gesagt haben. Ich kümmere mich um diesen Parillyon. Er hat zwei Burschen bei sich, die nicht gerade harmlos aussehen.«

»Es blühe Kontagnat«, sagte Myth. »Ich höre von dir.«

Damit war das Gespräch beendet.

Als Zopp (Zrtoppr, 3339) die »Rostige Raumfähre« an diesem Abend noch einmal aufsuchte, fand er keine Spur von Parillyon und dessen Begleitern. Auch die anderen Figuren, die in seiner Nähe gewesen waren, waren irgendwo untergetaucht.

Es hatte die Spur vorerst verloren, aber das beunruhigte es nicht. Ein Integral besaß mehr als Hartnäckigkeit. Es war durch und durch konsequent.

Aber das konnte der Yiker nicht wissen.

Als das Schwebewesen der Facette durch die nächtlichen Straßen der Raumhafensiedlung glitt und sich dabei in großer Höhe bewegte, damit es nicht gesehen werden konnte, waren seine Sinne weit geöffnet. Die akustischen Wahrnehmungsorgane registrierten jede Einzelheit, und der Logikapparat in dem Diskuskörper sondierte das Gehörte.

Unter den aufgenommenen Informationen war auch die grölende Stimme eines thatischen Frachterkommandanten, der angetrunken durch die Straßen torkelte und sang:

»Hab’ dein Geld versoffen,hast mich bös getroffen.Doch eins, Parillyon, laß dir sagen,liegst nicht mehr in meinem Magen!Morgenrot – morgen tot.Morgen tot!«Das Integral folgte der vagen Spur.

Als die Sonne Kahrmacrynn ihre ersten Strahlen über den Herrschaftsplaneten der Facette von Kontagnat schickte, wußte 3339 oder Zrtoppr oder Zopp wie Parillyon nach Crynn gekommen war und wer seine Begleiter waren. Das Integral wußte auch, daß Parillyon aus dem Sektor Ordardor, der von dem Leuchtenden Gentile Kaz geführt wurde, angereist war und daß er dies heimlich getan hatte. Es wußte nicht, wo sich dieser Eindringling jetzt herumschlich, aber das herauszufinden war nur eine Frage der Zeit.

3339 hatte eins gemeinsam mit Hux, dem thatischen Frachterkommandanten. Beide wußten nicht, was Parillyon wirklich auf Crynn wollte.

Sie hatten aber auch etwas Entscheidendes nicht gemeinsam.

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3339 lebte. Und er war weiter auf der Spur des Fremden, der sich nach Crynn gewagt hatte.

Der Thater war tot. Und sogar der Zentralrechner des Pyramidons wußte von seinem Tod, denn 3339 hatte pflichtgemäß von dieser Vollstreckung berichtet.

Das war nun einmal die Methode, mit der die Handlanger der Hexe funktionierten. Und so, wie es im Augenblick auf Crynn und in Kontagnat aussah, würde das ewig andauern.

Ewig? 3339 machte sich keine Gedanken darüber. Das Integral hatte schon der früheren Facette gedient. Hier drehte sich alles nur um eins, um die Facette von Kontagnat, um die unnahbare und unbekannte Zulgea von Mesanthor.

Zopp recherchierte das, was er wußte, als aus dem Pyramidon keine Informationen mehr kamen. Der Agrargürtel am Äquator. Nördlich davon lag das Pyramidon! Parillyon hatte einen Hinweis. Wie sollte er an diesen Ort gelangen? Hux würde ihm nicht mehr helfen können, egal wie hoch der Preis war, denn Tote können nicht handeln.

Also brauchte Parillyon ein Gefährt.

Das Integral besaß eine Spur, denn es gab eine leicht abzählbare Summe von Möglichkeiten, sich ein Fortbewegungsmittel zu beschaffen.

Es empfand allmählich Spaß daran, diese Aufgabe erfüllen zu müssen. Neid und Eifersucht verboten die geistigen Impulse der Leuchtenden. Der Drang, aktiv zu bleiben, war Zopp jedoch geblieben.

»Parillyon! Entweder du taugst etwas für die Ziele meiner Facette, oder du bist jetzt so tot wie der Thater Hux. Hast du vergessen, daß du im Herzen des Sumpfes Kontagnat bist?«

Der Zentralrechner des Pyramidons übermittelte die Namen und Adressen aller Gleiterverleiher der näheren Umgebung des Raumhafens. 3339 stellte sich eine Reihenfolge zusammen, um seine Nachforschungen schnell zu einem positiven Ergebnis zu bringen.

*

Als die dichten Morgennebel noch gegen den anstürmenden Tag ankämpften, lag die Raumhafensiedlung schon zwei Stunden hinter Parillyon. Der Dunst der Nacht erlaubte zwar keine besonders weite Sicht, aber der Gleiter verfügte über gute Navigationseinrichtungen. Pjik, der jetzt müde auf dem Rücksitz lag und vor sich hin döste, hatte eine gute Wahl getroffen.

Der Nebel schränkte aber auch eventuelle Beobachter ein, die den Gleiter hätten sehen können. Der Yiker war also mit der Entwicklung der Dinge ganz zufrieden. Es war ihm sogar gelungen, eine handgefertigte Landkarte zu ergaunern, nach der er sich nun richtete. Tatzo steuerte das Gefährt nach seinen Anweisungen.

Meile um Meile legten sie zurück. Parillyon verglich immer wieder die Daten der Navigation mit denen, die ihm die Miniaturgeräte in seinem linken Armreif lieferten. Es stimmte alles. Sie näherten sich dem Äquator von Crynn von Süden her. Das geheimnisvolle Pyramidon sollte ja auf der Nordhalbkugel liegen.

Die Nebel zerflossen endgültig und gaben den Blick auf die Landschaft frei. Die Ortung zeigte kein Echo. Parillyon nahm in Ruhe die neuen Eindrücke in sich auf.

Crynn war eigentlich ein Allerweltsplanet ohne hervorstechende Merkmale. Weite Landstriche bestanden aus Wüste oder Steppe. Hier fehlte jegliche Bebauung. Erst in der Nähe des Äquators stieß er auf die erwarteten Pflanzungen. Die meisten Betriebe, auch das ließ sich aus der Höhe erkennen, arbeiteten vollrobotisch. Diese Tatsache bedeutete eine weitere Verringerung einer frühzeitigen Entdeckung.

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Parillyon war sich darüber im klaren, daß er über kurz oder lang Schwierigkeiten bekommen würde, denn die Facette hatte ihre Trutzburg bestimmt bestens gesichert. Mit einer wirklichen Gefahr für sein Leben rechnete er nicht, denn er hatte nicht vor, in irgendeiner Weise aggressiv aufzutreten. Es kam ihm nur darauf an, schnell zu Zulgea zu gelangen. Ein Weg über die Behördeninstanzen oder durch die Befragungszentren der Crynn-Brigadisten schied daher für ihn aus. Im rechten Moment würde ihm schon das Passende einfallen. Und sein Angebot an die Facette war schließlich auch nicht schlecht.

Zumindest glaubte Parillyon das.

Er ließ erst von seinen Überlegungen ab, als aus seinem rechten Armreif ein leiser Summton erklang. Die Mikrogeräte hatten etwas geortet. Der Yiker überprüfte das Signal, aber er mußte enttäuscht feststellen, daß sich der Inhalt der aufgenommenen Nachricht nicht entziffern ließ. Das Gerät streikte. Es zeigte nur an, daß etwas in der Luft lag. Pjik und Tatzo hatten davon nichts bemerkt.

Parillyon ließ den Funkempfänger des Gleiters über alle Kanäle laufen. Hier waren nur ein paar normale Gespräche vom fernen Raumhafen zu hören. Diese Signale konnten es nicht gewesen sein, die den kleinen Orter aktiviert hatten.

»Paßt gut auf!« rief er seinen Begleitern zu.

Pjik reckte sich in die Höhe und strich sich über den schuppigen Leib. »Was gibt’s?« kam es müde über seine Lippen.

»Du sollst aufpassen.« Parillyons Stimme klang etwas unsicher. »Und du, Tatzo, fliegst etwas höher. Kurs Westen!«

Der Behaarte befolgte die Anweisung kommentarlos. Nach einer Weile verstummte der Summton, und Parillyon beruhigte sich wieder. Sie flogen entlang des Agrargürtels nördlich des Äquators gen Westen der fliehenden Nacht entgegen. Bald verloren sich auch die Funkgespräche im Bordempfänger. Parillyon schaltete ihn wieder auf Suchlauf. Er rechnete damit, von den Helfern der Facette angefunkt zu werden, wenn er in die Nähe des Pyramidons kommen würde. Er wartete geradezu auf ein solches Signal. Es würde zwar Gefahr bedeuten, aber auch anzeigen, daß er auf dem richtigen Weg war.

Auf Crynn gab es nur wenige Berge, die eine beachtliche Höhe erreichten. Das Pyramidon sollte ja auf einem Berg, dem höchsten sogar, so hatte Parillyon in der Imbißstube erfahren, liegen. Weit und breit waren jedoch nur ebene Landstriche zu erkennen. Er schaltete die Fernortung ein und machte zwei Erhebungen aus, die jedoch noch jenseits des Horizonts lagen.

»Schneller!« rief er Tatzo zu, und der Behaarte beschleunigte den Gleiter bis zu den höchsten Werten.

Die erste Erhebung, die Parillyon geortet hatte, tauchte schon bald auf. Für die hiesigen Verhältnisse war es wirklich ein stattlicher Berg. Er nahm ein Fernglas aus seiner Ausrüstung und spähte hindurch.

»Mir scheint«, bemerkte er zufrieden, »ich habe mehr Glück als ihr beide Verstand. Diese lausige Karte scheint gar nicht so schlecht zu sein. Der Einsatz der…«

Weiter kam der Yiker nicht.

Es war, als ob der Gleiter gegen eine unsichtbare Betonwand geflogen sei. Es gab einen donnernden Schlag. Metall- und Plastiksplitter flogen durch die Luft. Parillyon wurde aus dem Sitz geschleudert und prallte gegen die Frontscheibe, die noch unversehrt war.

Vom Bug des Gleiters war nicht mehr viel zu sehen. Die Heckaggregate heulten laut auf, dann folgte eine Detonation. Die Robotstimme des Gefährts plärrte etwas, aber in dem Durcheinander verstand keiner ein Wort.

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Pjik kroch plötzlich über Parillyon hinweg. Er blutete am Oberkörper, und aus seinem Hals ragte ein Metallsplitter.

Das Wrack des Gleiters schmierte zur Seite ab und raste der Planetenoberfläche entgegen. Parillyon fühlte Tatzos Hand, die ihn in den Sitz riß. Er drehte sich um und erkannte, daß der Grüne den Aufprall am besten überstanden hatte, weil er angegurtet gewesen war.

»Notlandung!« quetschte der Yiker über seine Lippen. Seine Träume waren plötzlich in alle Winde zerstreut.

»Halt dich fest, Chef!« entgegnete Tatzo. »Der Notantigrav arbeitet auch nur noch stockend. Der Normalantrieb ist hinüber.«

Parillyons Helfer lenkte den Gleiter, beziehungsweise das, was von ihm noch übrig war, geschickt in die Tiefe. Eine Buschsteppe tauchte auf, in der Flammen emporzüngelten, die von den schneller abgestürzten Trümmern herrührten.

Die Landung war hart, aber die drei überstanden sie. Mit der Bodenberührung sprengte Tatzo das Verdeck ab und schnallte sich los. Er packte den verwundeten Pjik und schwang sich ins Freie. Parillyon folgte ihm.

Sie rannten ein Stück von dem Wrack weg und sanken dann erschöpft zu Boden.

»Das war knapp«, stöhnte der Yiker. »Kümmere dich um Pjik. Er ist verletzt.«

»Pjik?« Erklang eine Stimme in ihrem Rücken. »Ist das der Chef?«

Parillyon fuhr herum. Seine Glieder schmerzten, und er war zu keiner raschen Reaktion mehr fähig.

Wenige Schritte entfernt schwebten zwei Integrale in Kopfhöhe. Eins der beiden hatte gesprochen.

»Der Boß«, antwortete Tatzo und deutete auf den Yiker, »ist der.«

Es waren seine letzten Worte.

Die Integrale feuerten gleichzeitig. Eines erledigte Tatzo, das andere streckte Pjik nieder.

»Seid ihr wahnsinnig?« brüllte Parillyon. »Ich bin ein wichtiger Bote, der Zulgea sprechen muß.«

Die Integrale kamen näher. An ihrem kühlen Verhalten war nicht festzustellen, ob sie die Worte des Yikers überhaupt wahrgenommen hatten oder ob sie darauf reagieren würden.

»Ihr dürft mich nicht töten!« quälte sich Parillyon über die Lippen. »Die Facette muß mein Angebot hören.«

Ein Integral kam ganz dicht an ihn heran. Es hob zwei Arme, und dabei erkannte er den blauen Fleck.

»Zopp!« rief er. »Du weißt doch, daß ich harmlos bin!«

Das Integral antwortete nicht. Es schlug zu, und Parillyon versank in das Reich der Träume.

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4.Der erste Griff nach dem Erwachen ging zu den Handgelenken. Sie hatten ihm die beiden Armreife gelassen. Offensichtlich hatte die Tarnung als Schmuck ihre Wirkung nicht verfehlt. Aber alle anderen Ausrüstungsgegenstände, die er am Körper getragen hatte, fehlten.

Erst nach diesen Feststellungen sah sich Parillyon um. Er lag auf einer einfachen Liege in einer schmucklosen Kammer. Die Wände waren glatt und zweifellos aus Metall. Sie schlossen ihn von drei Seiten und von oben und unten ein. Die vierte Wand des Raumes fehlte vollständig. Parillyon erhob sich und trat langsam auf die Öffnung zu. Dahinter erstreckten sich drei breite Gänge, die in verschiedene Richtungen führten. Kaltes, weißes Licht schien aus runden Leuchtflächen, die an den Decken und Wänden in gleichmäßiger Reihenfolge angebracht waren. Einer der seitlichen Korridore war gekrümmt. Dort entdeckte er weitere Öffnungen, die denen seines Raumes glichen.

Etwas stimmte hier nicht, sagte sich der Yiker.

Er war in Gefangenschaft geraten. Das war für ihn nicht weiter tragisch, denn er hatte damit gerechnet. Die Hauptsache war, daß er zu der Leuchtenden gelangte. Sie mußte er anheuern oder überreden.

Er hatte Pjik und Tatzo verloren. Die Integrale waren noch rücksichtsloser vorgegangen, als er es vermutet hatte. Einen Sinn hatte der Tod der beiden angeheuerten Helfer doch gehabt. Die Aufmerksamkeit war dadurch auf ihn gelenkt worden. Möglicherweise brachte ihn das ein gutes Stück näher an die Facette des Sumpfes Kontagnat. Dafür war ihm kein Preis zu hoch.

Bedeutete die Öffnung, daß man ihn als Gast behandelte? Konnte er gehen, wohin er wollte? Ein unbestimmtes Gefühl hielt ihn davon ab, sich einfach auf die Suche zu machen. Vielleicht beobachtete man ihn und wartete nur auf eine aggressive Reaktion, um ihn dann zu töten. Er mußte behutsam an die Sache gehen.

Ein Integral tauchte aus dem Seitengang auf und glitt schnell draußen vorbei.

»Heh, Zopp!« schrie der Yiker, aber das Gleitwesen reagierte nicht. Es verschwand aus seinem Blickfeld.

»Immerhin etwas.« Er sah auch jetzt in erster Linie die positiven Aspekte. Wenn hier Integrale waren, dann bedeutete das mit großer Sicherheit, daß er sich in dem geheimnisvollen Pyramidon befand. Das wiederum hieß, das Zulgea in der Nähe sein mußte.

Er trat noch einen Schritt auf die Öffnung zu und prallte gegen ein unsichtbares Hindernis. Ärgerlich preßte er seine Hände auf den kugelförmigen Kopf, um so die Schmerzen zu lindern, die durch den Stoß entstanden waren. Dann tastete er die nicht erkennbare Wand ab. Sie war glatt und gleichmäßig wie die anderen Wände, nur eben nicht sichtbar.

An seiner Gefangenschaft gab es nun keinen Zweifel mehr. Er hockte sich wieder auf die Liege. Draußen schwebten mehrmals Integrale vorbei, aber auch sie reagierten auf seine Rufe nicht.

Er war im Sitzen eingedöst, als ihn etwas berührte. Er schoß in die Höhe. Direkt vor ihm hing ein Integral in der Luft.

»Da!« Das Gleitwesen deutete auf den Boden. Parillyon entdeckte ein Tablett mit verschiedenen Speisen. »Ich hoffe, es ist etwas dabei, was deinem Körper entspricht.«

Einige Dinge sahen in der Tat verlockend aus, und der Yiker spürte plötzlich Hunger.

»Danke, Integral. Deine Nummer weiß ich leider nicht.« Er griff nach einem dampfenden Pflanzenstengel, den er in ähnlicher Form einmal auf Puurk gegessen hatte, und biß hinein. Das Zeug schmeckte wirklich so gut, wie es aussah.

»13.815, Kmrythsk«, sagte das Integral. »Wenn dir das zu schwer ist, kannst du mich Myth nennen. Ich bin dein Betreuer.«

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»Du meinst wohl Bewacher, Myth.«

»Nein. Zu bewachen brauchen wir dich nicht, denn aus dem Pyramidon gibt es ohne das Einverständnis der Facette kein Entkommen.«

»Einverstanden.« Parillyon legte sich einen Plan unter den veränderten Umständen schnell zurecht. »Du mußt wissen, Myth, daß ich nicht beabsichtige zu fliehen. Ich bin gekommen, um die Facette zu sprechen.«

»Du bist gar nicht gekommen«, entgegnete das diskusförmige Wesen konsequent. »Du bist von uns hierher gebracht worden. Und ob die Facette dich sprechen will, entscheidet sie allein. Im Augenblick sind deine Chancen sehr schlecht. Zulgea und wir sind mit wichtigeren Dingen beschäftigt als mit einem lausigen Spion Gentiles.«

»Ich bin weder ein Spion, noch komme ich von Gentile Kaz.« Um seine Gelassenheit zu demonstrieren, kramte er auf dem Tablett herum und schenkte dabei dem Integral keinen Blick.

»Hux kam aus Ordardor. Und dort bist du irgendwo an Bord gegangen. Womöglich war es auf Kardoll, Gentiles Hauptwelt.«

»Du bist gut informiert. Das spricht für die Qualität deiner Leuchtenden.« Parillyon rührte mit einem Plastikstäbchen in einer Schale mit grünem Brei. »Aber Kardoll war es nicht.«

»Stimmt. Wenn du sprichst, kann ich erkennen, ob du die Wahrheit sagst. Rede ruhig weiter. Es kann nur zu deinem Vorteil sein.«

Der Brei schmeckte nicht, und der Yiker schob ihn zur Seite. Genüßlich trank er einen Becher mit Fruchtsaft.

»Ich verhandle nur mit Zulgea. Laß sie wissen, daß ich ihr das anbiete, was sie erstrebt. Die Gegenleistung, die ich verlange, ist im Vergleich dazu gering.«

»Ich sagte dir schon, Parillyon, daß die Facette mit wichtigen Dingen beschäftigt ist.« Das Integral schwankte leicht. Dann glitt es auf die Öffnung zu. »Hier geschieht nicht das, was du willst.«

Das Wesen beschleunigte plötzlich und schoß durch die Öffnung. Parillyon war mit einem Satz auf den Beinen und rannte hinterher. Er erreichte das Gleitwesen noch in Höhe der unsichtbaren Wand, aber er prallte wieder auf das Hindernis. Das Integral schwebte von dannen.

Wütend ging der Yiker zur Liege zurück. Das Tablett mit den Speisen bekam einen Tritt und flog gegen die Energiewand. Früchte und Gegrilltes purzelten durcheinander. Ihm war das gleichgültig, denn plötzlich war ihm der Appetit vergangen.

*

Ich merkte es erst sehr spät und dann auch nur verteufelt ungenau. Etwas war in dem Essen gewesen, das mich veränderte. Meine Sinne wurden umnebelt. In keiner Sekunde vergaß ich, was ich wollte. Zulgea! Nur mit ihrer Hilfe würde ich das erreichen, was meine Freunde mir mitgegeben hatten. Der Weg war schwieriger, als ich es gedacht hatte. Aber so leicht bekommt niemand Parillyon auf die andere Seite.

Die Seite der Verzweiflung, der Niederlage! Da gehöre ich nicht hin. Die Beule an meinem Kopf schmerzte noch immer. Die Metallwände des Pyramidons schlossen mich noch immer ein.

»Parillyon weiß, was er will«, sprach ich. Ich tat das nicht, um mir Mut zu machen, denn Mut besaß ich noch.

Die Einsamkeit in diesem Raum war bedruckend. Ich versuchte, diese Eindrücke zu negieren. Es gelang mir nicht. Aber dann geschah draußen etwas. Eine Anzahl von Integralen erschien. Und drei

Page 24: Die Facette von Mesanthor

Fremde, Gefangene. Zweibeiner. Einer, der so war, wie ich mir Zulgea vorgestellt hatte. Eine Frau mit einem schüchternen Lächeln und einem verzehrenden Weitblick. Und ein Mann mit einem stählernen Weitblick und einer mit der Gelassenheit, wie sie nur Dhonat kannte.

Ich versuchte, etwas aus den dürftigen Gesprächen herauszuhören. Der mit dem ruhigen Blick hieß Arien. Der gelassene Schweiger, auch ein Gefangener – wie ich –, hieß Atlan. Er gefiel mir durch seine äußere Haltung fast so gut wie der braunhäutige Arien.

Und die Frau? Verwirrt!

»Heh!« brüllte ich.

Sie sahen mich an. Und die Frau sagte etwas Unverständliches.

Sie sprach diese Worte aus:

»Nichts zu tun mit Marie. Auch ein Gefangener. Aber nichts zu tun mit meiner Schwester.«

Die Integrale packten die drei Zweibeiner in einen Raum, in den ich noch einsehen konnte. Der Raum glich dem meinen.

Ich fühlte mich nicht mehr so wohl wie an Bord von Hux’ altem Frachter. Und ich dachte an Pjik und Tatzo.

Und an Zulgea! Es gab nichts Besseres als sie!

Wirklich?

Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, daß Zulgea auch nicht besser war als Gentile oder die anderen Leuchtenden. Hatte meine Mission auf Crynn überhaupt noch einen Sinn?

Meine Gedanken waren zu verwirrt. Ich konnte Realität und Traum nicht mehr unterscheiden. Müde sank ich auf der Liege nieder. Die drei Gestalten, die die Integrale gebracht hatten, tauchten vor meinen Augen auf. Ich fuhr hoch, aber da war niemand.

»Eine harmlose Art Wahnsinn«, versuchte ich mich zu beruhigen. »Ich muß warten, bis sich wieder alles normalisiert.«

Der Schweiß tropfte von meiner Stirn auf die Liege, aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich lag nur noch flach da und wartete, bis ich in einen schlafähnlichen Zustand versank.

*

Deine Handlungsweise zeigt keine bestechende Intelligenz. Sie zeigt vielmehr ein erschreckendes Maß an Leichtsinn und Unüberlegtheit. Ich hörte nur mit einem Ohr auf den Extrasinn, der seit unserer Gefangennahme durch die Integrale und die Crynn-Brigadisten fast pausenlos mit Vorwürfen über mich herfiel. Mein Argument ließ er nicht gelten. Immerhin war es uns, also Arien Richardson, Flora Almuth und mir, gelungen, ohne größeres Risiko ins Pyramidon, den Sitz der Facette Zulgea von Mesanthor, zu gelangen.

Als Gefangener hast du keine Chance, hier etwas zu erreichen. Der Logiksektor gab auch jetzt noch nicht auf, mich von meiner vermeintlichen Dummheit zu überzeugen. Oder glaubst du, die Hexe wartet nur darauf, dich zu empfangen? Vielleicht hat sie die Gefangene Marie schon neu eingekleidet und aufgeputzt, damit Flora ihre Schwester endlich in die Arme schließen kann?»Spotten ist nicht deine Stärke«, erwiderte ich halblaut und kühl.

»Was meinst du?« Arien Richardson, den man auf New Marion den Feuerwehrmann nannte, wandte sich mir zu. Er war damit beschäftigt, die Wände abzusuchen.

»Nichts«, wehrte ich ab. »Ich habe nur mit mir selbst gesprochen.«

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Der Celester nickte verstehend. Inzwischen wußte er von meinem zweiten Ich, dem Extrasinn.

Eigentlich war Flora Almuth der Grund dafür gewesen, dieses scheinbar sinnlose Wagnis einzugehen. Sie hatte seit unserer Ankunft auf Crynn immer stärker behauptet, ihre verschollene Schwester Marie, also die Mutter meiner geliebten Sarah, sei eine Gefangene der Facette. Auch jetzt stand die hagere Frau fast unbeweglich da und lauschte mit ihren unbegreiflichen Sinnen.

Um Floras Lippen lag ein herber Zug, zweifellos ein Ausdruck ihrer schrecklichen Vergangenheit. Irgendwann vor etwa 20 Jahren war sie das Opfer einer unbekannten Macht oder eines Zufalles geworden. Sie war in eine Dauerhypnose versetzt worden, die selbst den Spezialisten unter den Celestern verborgen geblieben war. Man hatte Flora für verrückt gehalten und in ein Heim gebracht.

Mehr durch Zufall, aber auch durch Sarahs Bitten, die Vergangenheit ihrer Mutter zu erforschen, war ich auf sie gestoßen. Das Cuzz, die frühere Facette von Kontagnat, hatte uns dabei unwissentlich unterstützt. Und mit dem Ende des Cuzz war dessen Psi-Spalter, ein seltsames Gerät, das wie ein vier Zentimeter breites, rubinrotes Stirnband aussah, in unseren Besitz übergegangen. Der Psi-Spalter hatte endgültig dazu beigetragen, daß Flora alle Belastungen der Dauerhypnose abschütteln konnte.

Leider erinnerte sie sich auch jetzt nicht an die Geschehnisse ihrer Vergangenheit, denn das hätte uns geholfen, mehr über die verschollene Marie zu erfahren. Mit dem Wegfall der Hypnose waren aber andere Kräfte in ihr erwacht. Anfangs hatte ich das für eine Art Hellseherei gehalten, denn Flora konnte überzeugend aussagen, daß sie wisse, daß Marie noch am Leben ist. Ihr Mann, Sarahs Vater, sei jedoch tot.

Mehr noch. Flora war in der Lage, recht genau zu sagen, wo Marie steckte. Sie sei im Pyramidon der Hexe Zulgea, und dort sei sie eine Gefangene. Auch auf mich wirkte Flora manchmal geradezu magisch in ihrer Überzeugungskraft. Selbst Arien, der ein äußerst nüchterner Bursche war, zweifelte keine Sekunde an ihren Worten.

Es war etwas Besonderes an dieser Frau. Das spürte ich.

Du suchst nach einer Ausrede, nach einer Entschuldigung, behauptete der Extrasinn. Du willst deine Schuld auf Flora abwälzen, die doch wirklich nichts für deinen übereilten Entschluß kann.Ich verzichtete auf eine Antwort.

Zugegeben, unsere Lage war nicht rosig. Eine Fluchtmöglichkeit aus der Zelle gab es wohl nicht, es sei denn, es würde gelingen, das Energiefeld abzuschalten, das die einzige Öffnung bedeckte. Auch der kleine Nebenraum, der Hygienezwecken diente, besaß keinen Ausgang und nicht einmal ein Fenster.

Vom Pyramidon selbst hatten wir nicht viel gesehen. Auf der Spitze des Berges Mauntenn lag dieses künstliche Objekt. Es ragte in der Form einer rechtwinkligen Pyramide in die Höhe. Wie weit es in die Tiefe reichte, vermochte ich nicht zu sagen. Wenn mich mein Orientierungsvermögen aber nicht trog, dann befanden wir uns jetzt unterhalb der Oberflächenlinie.

»So nah waren wir Marie noch nie«, sagte Flora Almuth wohl zum zehnten Mal. »Wir müssen einen Weg zu ihr finden.«

»Müßte sie dich nicht auch spüren?« Arien tastete noch immer die Metallwände ab, als könne er etwas Entscheidendes finden.

»Das vermute ich.« Die Celesterin strich sich nervös über die kurzen braunen Haare, die zu kleinen Kräuseln gelegt waren. Dann berührte sie den Psi-Spalter und rückte ihn etwas zurecht. »Aber als Gefangene kann sie sich wohl so wenig bewegen wie wir.«

Unsere Ausrüstung hatte man uns abgenommen. Ich besaß – wieder einmal – nur mein Kombimesser, das man wohl als harmlos eingestuft hatte.

Ich beobachtete die draußen befindlichen Gänge. Kurz nach unserer Ankunft waren dort fast ständig

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Integrale aufgetaucht. Jetzt war das nur noch selten der Fall.

Von unserer Zelle aus konnte ich weitere Räume erblicken, in denen Gefangene untergebracht waren. Celester waren nicht darunter. Und von Marie zeigte sich hier keine Spur.

»Sie ist weiter entfernt als diese Gefangnen«, sagte Flora halblaut. Fast schien es mir, als hätte sie meine Gedanken erfaßt. »Viel weiter! Und viel gefangener!«

Mit der letzten Bemerkung konnte ich wenig anfangen. Meine Aufmerksamkeit wurde auf ein Integral gelenkt, das sich direkt unserem Gefängnis näherte. Ich machte Arien darauf aufmerksam, und der stellte seine Untersuchungen ein.

Zu meinem Erstaunen durchquerte das Schwebewesen die Energiewand, als sei diese nicht vorhanden. Es stellte ein Tablett mit verschiedenen Speisen und Getränken ab.

»Warte!« rief ich, als es sich wieder dem Ausgang zuwandte. »Ich möchte mit dir reden.«

Das Integral verharrte tatsächlich. Es zog seine Extremitäten ein.

»Du mußt dich gedulden, Atlan«, sprach es. »Die Facette ist derzeit nicht…«

Es brach ab und verschwand, als habe es schon zuviel gesagt. Ich schüttelte den Kopf, sah Arien und Flora an, aber die waren auch sprachlos.

Als ich dann wieder meinen Blick auf die Öffnung lenkte, sah ich die kleine Ausbuchtung, die nur einen ganz geringen Schatten warf. Aber dieser Schatten veränderte sich.

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5.»Stopp, Arien!«

Der Celester gehorchte und verharrte in der Bewegung. Ich machte ein paar Schritte zur Seite und behielt die kleine Beule mit dem Schatten im Auge. Dort rührte sich nichts.

Du hast dich täuschen lassen, behauptete der Extrasinn, der natürlich meine Gedanken verfolgt hatte, bevor ich sie mir selbst klar formulieren konnte.

»Arien, komm bitte zu mir.«

Der Feuerwehrmann zuckte mit den Schultern und tat, was ich wollte.

»Etwas entdeckt?« wollte er wissen.

»Vielleicht. Ich glaube, wir werden beobachtet.«

Er folgte meinem Blick, aber er entdeckte nichts. Das ging auch nicht, denn nun bewegte sich dort oben über der Öffnung nichts.

Du hältst dich und Arien für zu wichtig, bemerkte der Logiksektor.

Es konnte stimmen, was er meinte. Außerdem war ich zufrieden, weil er mit seinen ewigen Vorwürfen ein Ende gemacht hatte. Vielleicht hatte er mich sogar auf den richtigen Gedanken gebracht.

»Flora«, bat ich. »Geh bitte in die Hygienekammer.«

»Darf ich wissen, warum?« fragte die Celesterin mit leisem Vorwurf. »Ich habe keine Angst vor Gefahren.«

»Keine Gefahr. Bitte tu, was ich sage.«

Sie murmelte etwas Unverständliches, aber sie befolgte die Bitte.

Und jetzt sah ich es ganz genau. Die kleine Ausbuchtung bewegte sich wieder. Auch Arien erkannte das winzige Wandern des Schattens.

»Was ist das, Atlan?«

»Eine getarnte Beobachtungsvorrichtung. Wahrscheinlich werden wir auch belauscht. Was mich nur wundert, ist eins. Das Ding verfolgt weder dich noch mich. Ganz offensichtlich konzentrieren sich die Beobachter allein auf Flora.«

Um dies zu erhärten, ließ ich die Celesterin kreuz und quer durch unser Gefängnis gehen. Dann gab es keinen Zweifel mehr an meiner Feststellung. Arien und ich konnten tun, was wir wollten. Die Ausbuchtung richtete sich stets nur auf Flora Almuth.

Oder auf den Psi-Spalter, korrigierte mich der Extrasinn.

Ich erklärte Flora, was wir festgestellt hatten. Sie konnte uns auch nichts dazu sagen. So beschränkten wir uns darauf, die getarnte Vorrichtung abwechselnd im Auge zu behalten und Floras Beispiel zu folgen, die sich mit gesundem Appetit über die Speisen hermachte.

Die Minuten verrannen, und in den Gängen draußen wurde es immer ruhiger. Es tauchten keine Integrale mehr auf, und in den anderen Zellen herrschte Stille.

»Spürst du Maries Nähe noch?« fragte ich die Celesterin schließlich.

Flora nickte nur, aber selbst diese Geste strahlte eine tiefe Überzeugungskraft aus.

Arien Richardson gähnte und breitete die Decke auf einer der Liegen aus. »Wenn keine Einwände bestehen«, begann er und deutete auf seine geschlossenen Augen, ohne den Satz zu beenden.

»Nach crynnischen Maßstäben«, sagte ich nachdenklich, »ist es hier später Nachmittag. Das erklärt

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die Totenstille nicht, die im Pyramidon eingekehrt ist. Daß du müde bist, Arien, ist eine andere Sache. Wir sind ja schon etliche Stunden auf den Beinen.«

»Ich verspüre keine Müdigkeit«, warf Flora ein.

»Irgend etwas stimmt hier nicht.« Ich hatte ein unbestimmtes Gefühl, aber ich konnte nicht sagen, was mich befremdete. In Gefangenschaft war ich des öfteren in meinem langen Leben gelangt. Aber daß sich niemand um uns kümmerte, paßte nicht in das aggressive Bild, das ich von Zulgea gewonnen hatte.

Eine Vermutung von hoher Wahrscheinlichkeit, meldete sich der Logiksektor. Die Ruhe trat erst nach unserer Ankunft ein. Vielleicht haben wir etwas damit zu tun. Oder besser gesagt, Flora ist der Grund. Sie ist es, die beobachtet wird. Du und Arien, ihr seid unwichtige Randfiguren. Wenn der heimliche Beobachter die Facette selbst ist, dann muß sie zumindest eins merkwürdig finden. Ihre, neue Gefangene, also Flora, sieht so aus wie ihre alte, also Marie. Und dann ist da noch der Psi-Spalter. Er könnte eine besondere Bedeutung haben. Das Cuzz wollte damit den psionischen Zwang Zulgeas durchbrechen. Wenn das Gerät noch funktionsfähig ist, könnte es für Zulgea eine Gefahr bedeuten.Ich erklärte meinen Gefährten, was mein zweites Ich gefolgert hatte.

»Mir gefällt nicht«, antwortete Flora, »daß ich plötzlich wichtig sein soll.«

Ehe ich mich versah, streifte sie den Psi-Spalter vom Kopf, und ließ das stoffähnliche Ding lose in der Hand, baumeln.

»Was soll das, Flora?« fragte Arien unwirsch.

»Du hältst den Mund, Celester!« fauchte die Frau. Im nächsten Moment hing sie mit beiden Händen an Ariens Gurgel. Der Feuerwehrmann war vollkommen überrascht. Er wehrte sich nicht.

Ich sprang mit einem Satz hinzu, riß Flora den Psi-Spalter aus der Hand und streifte ihn ihr über den Kopf. Das Ding saß noch nicht richtig, als sie sich schon wieder beruhigte.

»Was ist geschehen?« lallte sie benommen. »Was habt ihr mit mir gemacht?«

Ihre Augen strahlten einen deutlichen Vorwurf aus.

»Du hast mich angefallen.« Arien rieb sich den Hals, wo die Würgemale zu erkennen waren. »Vielleicht erklärst du uns, was geschehen ist, als du dieses Stirnband abgenommen hast.«

»Ich?« Flora faßte sich mit beiden Händen an die Brust. Sie torkelte zu einer Liege und hockte sich hin. Ich gab Arien ein Zeichen, daß er schweigen solle. Die Frau vergrub ihr Gesicht in den Händen.

Es dauerte Minuten, bis sie wieder aufblickte. Ihre Augen strahlten wieder Ruhe und Selbstsicherheit aus.

»Entschuldigt bitte«, kam es leise über ihre Lippen, »aber es war nicht ich, der Arien töten wollte. Es war die Hexe. Sie befahl es mir.«

»Das habe ich mir gedacht«, munterte ich Flora auf. »Erzähl weiter!«

»Ich spürte Marie. Und ich spürte Zulgea. Sie rangen miteinander, aber die Hexe gewann. Ich fühlte auch eine Kraft in mir, die stark genug gewesen wäre, mich allem zu widersetzen. Aber ich wagte es nicht, diese Kraft einzusetzen. Erst als der Psi-Spalter mich wieder abschirmte, gewann ich die Herrschaft über mich zurück.«

»Sagtest du uns nicht auf New Marion, daß deine Schwester sehr wahrscheinlich eine Mutantin war?« fragte ich.

»Ja, das war sie. Aber die Einzelheiten sind in der Vergangenheit verschüttet.«

Ich wurde nachdenklich. Wenn Marie psionische Kräfte besessen hatte oder noch besaß, dann lag es nahe, daß auch Flora solche entwickeln konnte. Etwas anderes konnten ihre Worte kaum bedeuten.

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Marie als Mutantin, das war auch eine Erklärung für das Interesse der Facette an ihr. Daß Zulgea vorwiegend mit psionischen Mitteln arbeitete, war im Sumpf Kontagnat hinreichend bekannt. Auch die Celester hatten damit schon ihre Erfahrungen sammeln müssen.

Sie lenkt sicher auch ihre Integrale psionisch, bekräftigte der Extrasinn meine Überlegungen. Und da sie jetzt abgelenkt ist – durch Flora oder den Psi-Spalter, oder durch beide –, kümmert sie sich nicht mehr so intensiv um ihre Vasallen. Das erklärt die Ruhe im Pyramidon und das Verschwinden der Integrale.»Es kommt noch etwas hinzu«, meinte Arien. »Du, Atlan, bist gegen psionische Angriffe sowieso gefeit. Und bei mir ist es wohl auch so, wie die Ereignisse auf der ROULETTE und die danach bewiesen haben. Der Medizinmann McMooshel hat ja sogar eine Möglichkeit gefunden, dieses Zeug künstlich herzustellen. Es hat bei den anderen Celestern eine zeitlich begrenzte Wirkung, aber bei mir produziert der Körper das Anti-Moosh von selbst. Zulgea kann also weder dich noch mich in ihre geistige Zange nehmen. Und Flora schützt der Psi-Spalter.«

»Ich könnte mich auch selbst schützen«, behauptete die Frau und spielte damit erneut auf die Kraft an, die sie in sich fühlte. »Zulgea weiß das auch. Und deshalb hat sie Angst vor mir.«

»Sie hat Angst vor dir?« Arien verbiß sich das Lachen. »Wie kommst du auf diesen Unsinn?«

»Es ist kein Unsinn.« Ihre Worte strahlten wieder diese tiefe Überzeugungskraft aus. Ich hatte das Gefühl, daß immer dann, wenn sie etwas sprach, ein unsichtbarer geistiger Fluß auf mich einströmte, der keinen Widerspruch und keinen Zweifel duldete. »Ich weiß es einfach. Ich spüre es so deutlich, wie ich dich sehe, Arien.«

Sie wird dir allmählich unheimlich, nicht wahr? fragte der Extrasinn.

»Dir nicht?« gab ich gedanklich zurück.

Nein. Es ist nicht das erste Mal, daß ich es erlebe, wie ein Lebewesen seine übernatürlichen Kräfte entdeckt. Bei Flora sind diese jahrelang blockiert gewesen. Sie muß es erst lernen, sich selbst zu erkennen.Ich überlegte noch, ob ich mit ihr über die Menschen reden sollte, die auf der Erde Mutanten genannt worden waren, als Flora sich erneut von dem Stirnband befreite. Sie blieb ganz ruhig und sah Arien und mich herausfordernd an. Dann streifte sie das rubinrote Band wieder über den Kopf.

»Habe ich euch überzeugt?« Zum ersten Mal kam ein Lächeln über ihre Lippen, und die herben Gesichtszüge glätteten sich ein wenig. »Zulgea hat keine Macht über mich, wenn ich es nicht will. Zugegeben, der Psi-Spalter unterstützt mich sehr intensiv. Aber wenn ich es will, geht es auch ohne ihn.«

Der Extrasinn hatte also richtig gefolgert! Flora Almuth besaß Psi-Kräfte. Und sie bemühte sich, diese unter ihre Kontrolle zu bekommen.

Als sich Stunden später im Pyramidon immer noch nichts rührte, faßte ich einen Entschluß.

»Wir werden aktiv, Freunde«, erklärte ich. »Ich habe die Warterei satt. Soll die Hexe ruhig merken, wen sie sich da in ihr Nest geholt hat. Arien, ich muß auf deine Schultern klettern, um an den Spion zu gelangen.«

Der Celester bildete mit beiden Händen eine Stufe. Ich erklomm seine Schultern und zog mein Kombimesser heraus. Damit drosch ich auf die Beule ein, die sich noch immer auf Flora richtete.

*

Etwa 30 Meter unter der abgeflachten Spitze des Pyramidons saß eine einsame Gestalt in einem

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breiten Sessel. Mehrere Kissen füllten den Raum zwischen den Lehnen und dem Körper des Wesens. Die Wände des Raumes bestanden zum Teil aus technischen Einrichtungen. Zwei Dutzend Bildschirme aller Größen säumten das Halboval. Dazwischen zierten seltsame Bilder die blanken Metallflächen. Da gab es Szenen, die einen flüchtigen Beobachter an die Erde erinnert hätten. Andere Malereien wiederum waren so skurril, daß man die Darstellungen kaum deuten konnte.

Technik und Wandschmuck wechselten sich in unregelmäßiger Reihenfolge und Aufmachung ab. Aus einer Ecke erklang leise Musik, die von krassen Sprüngen in allen Tonarten gekennzeichnet war. An der Decke spielten die Farben einer Leuchtquelle miteinander im bunten Reigen. Alles wirkte ohne Ordnung und ohne System.

Die Bildschirme waren bis auf eine Ausnahme dunkel. Die Lautsprecher schwiegen. Die Leuchtsignale über dem Eingang, die die Anfragen der Integrale signalisierten, beachtete die Gestalt nicht. Ihre Blicke lagen unverwandt auf dem einzigen Bildschirm, der aktiviert war.

Das Wesen im Sessel war nur auf den ersten Blick als Mensch zu bezeichnen. Zwischen den Lumpen, in die es gehüllt war, war ein aufgedunsener Schädel mit zwei tiefliegenden, geröteten Augen zu erkennen. Dicke Tränensäcke und gelbe Beulen verunstalteten das Gesicht. Der Mund war zahnlos. Die Lippen preßten sich so fest aufeinander, daß nur ein dunkler Strich sichtbar blieb.

Zulgea von Mesanthor studierte ihre neue Gefangene. Sie verfolgte jede Bewegung von Flora Almuth mit heftigem Staunen. Der Atem der Facette ging schwer. Die Abhörvorrichtung hatte sie längst deaktiviert. Sie wollte nur sehen, nichts mehr hören.

Daß die drei Marie befreien wollten, rang ihr nicht einmal ein müdes Lächeln ab. Dieses Ansinnen war so absurd, daß es sich nicht lohnte, darüber auch nur einen Gedanken zu verschwenden. Nicht einmal dem Erleuchteten im Nukleus würde das gelingen.

Daß sich die drei Gefangenen ihrem suggestiven Zugriff entzogen, beunruhigte die Facette nicht. Das Pyramidon war das sicherste Gefängnis in Kontagnat. Und die Integrale waren die zuverlässigsten Diener, die man sich wünschen konnte. Selbst jetzt, wo sie sich auf die Frau konzentrierte und deshalb die Integrale nicht direkt mit ihren psionischen Kräften führte, konnte sie sich auf sie verlassen.

Zwischen den Stoffetzen, die den Körper einhüllten, kam eine knochige Hand zum Vorschein. Ein Finger drückte eine Taste in der Sessellehne. Eine robotische Hand erschien hinter dem Sessel und reichte der Facette ein Glas mit rotem Saft. Sie trank es zur Hälfte leer und ließ dann das Gefäß achtlos zu Boden fallen. Ein Reinigungsroboter entfernte die Reste.

Zulgeas Arme formten die Bewegung nach, die Flora auf dem Bildschirm vollführte, bis sie sich in der eigenen Kleidung verhedderte und mit einem ärgerlichen Schrei von diesem Tun abließ.

Die Hände der Facette zuckten erregt in die Höhe, als plötzlich eine Männerhand übergroß auf dem Bildschirm erschien. Einer der beiden Mitgefangenen Floras mußte die versteckte Optik erkannt haben. Sie wollte nach den Integralen rufen, aber im gleichen Moment erlosch das Bild.

Sie sank in ihre Kissen zurück und lachte häßlich. Dann streckte sie ihre Fühler zu den Integralen aus, die sich in der Nähe der Gefangenen befanden. Sie gab keine Befehle, aber sie verfolgte, wie sich einer ihrer Diener auf den Weg zu Flora machte. Sie ließ das Integral gewähren. Sie mischte sich auch nicht ein, als in der Gefangenenzelle Dinge geschahen, die sie normalerweise zu einem sofortigen Tötungsbefehl umgesetzt hätte.

Zulgea von Mesanthor war zu beeindruckt von der Erscheinung Floras. Das Bild der Celesterin stand auch jetzt noch deutlich vor ihren Augen, als der Bildschirm in stumpfem Grau schwieg.

Eine ganze Weile regte sich die Leuchtende nicht. Dann aber begann sie zu handeln. Sie wußte, daß sie Flora Almuth nicht würde töten können. Also mußte es jemand anders tun.

Flora Almuth mußte Flora Almuth töten.

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So würden sich alle Probleme lösen.

Auch der Psi-Spalter würde dann seine Wirkung verlieren, denn mit dem Tod seines Trägers würde dessen Haß verschwinden und damit das Antriebselement des Spalters.

Sie würden sich wundern, diese frechen Celester!

*

Ich nahm die größte Schüssel des Tabletts und schüttete das von den verschiedenen Speisen hinein, was mir für mein Vorhaben geeignet erschien. Dann rührte ich alles kräftig um, bis ein zäher Brei entstanden war. Arien und Flora sahen mir nur staunend zu. Die Schüssel stellte ich auf den kleinen Tisch in der Nähe der Energiewand.

»Jetzt braucht nur noch einer der Schweber zu kommen«, hoffte ich. »Ihr beide werdet das Integral ablenken, damit ich handeln kann.«

»Vielleicht kann ich ihm einreden«, meinte Flora mit starrem Blick, »daß du gar nicht vorhanden bist. Wenn ich meine Kraft schon richtig beherrschen würde, wäre das kein Problem. Aber noch bin ich nicht dazu in der Lage.«

»Versuch’s ruhig«, ermunterte ich die Celesterin.

Tatsächlich brauchten wir nicht lange zu warten. Ein Integral glitt heran. Ich beobachtete es genau, damit mir keine Kleinigkeit entging. Kurz vor Erreichen der Energiewand drückte das Wesen mit einer seiner vierfingrigen Hände in eine Körpermulde am Außenrand. Danach durchquerte es die unsichtbare Sperre.

Arien fiel mit einem Redeschwall über das Wesen her. Er reagierte mit keinem Wort auf die Entgegnungen des Integrals und tanzte wie ein Verrückter um es herum.

Flora stand in der Mitte des Raumes und hielt die Augen geschlossen. Was in ihr vorging, konnte ich nur ahnen.

Das Integral begann zu schwanken. Diese Sekunde nutzte ich. Mit einem Ruck schleuderte ich einen Teil des Breis auf den Außenrand des Schwebewesens, wo dessen Sinnesorgane angebracht waren. Fast gleichzeitig packte ich nach einem seiner Arme und riß es herum. Wütende und verwirrte Augen starrten mich an. Das Integral fuhr seine anderen Arme aus. In einer hielt es auch eine Waffe.

Es kam nicht zum gezielten Schuß, denn der Rest des Gemenges aus Speisen ergoß sich über seine Sinnesorgane.

Es taumelte. Der Schuß löste sich und ging in die Decke. Schließlich bekam es ein Auge frei. Sofort steuerte es in Richtung des Ausgangs.

Mein Plan ging auf. Es ergriff die Flucht!

Ich wartete, bis es den Energieschirm erreicht hatte. Dann hechtete ich mich mit einem Satz auf den Schweber und klammerte mich an ihm fest. Gemeinsam durchquerten wir das Schirmfeld.

Draußen umschlangen mich die vier Arme des Integrals. Aber ich hatte mein Kombimesser schon gezückt. Wo die empfindlichen Stellen des Wesens waren, wußte ich nicht. Ich stach einfach zu.

Das Integral torkelte mit mir zu Boden. Ich drosch mit beiden Fäusten auf es ein, bis ich die Stelle seines Körpers entdeckte, in die es vor der Durchquerung gefaßt hatte.

Ich zerrte ein kleines Gerät heraus. Dadurch war ich für einen Augenblick abgelenkt. Ein Schlag des verwundeten Integrals traf mich und schleuderte mich zur Seite. Im Fallen warf ich das Gerät durch die unsichtbare Wand Arien Richardson zu. Der Celester fing das Ding geschickt auf.

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Mehr sah ich davon nicht, denn das Integral warf sich mit der ganzen Wucht seines Körpers auf mich. Ich hielt ihm mein Messer entgegen, aber es schleuderte meine Hand zur Seite. Sekundenlang sah ich nichts. Aber dann packten die kräftigen Arme Ariens zu und rissen den Leib des Integrals von mir.

Neben Arien stand Flora.

»Es will fliehen«, sagte die Frau.

Tatsächlich raffte sich das Integral noch einmal auf. Diesmal verschwand es endgültig.

Arien reichte mir das kleine Gerät.

»Wir müssen von hier verschwinden«, keuchte ich. »Und wir müssen für etwas Unruhe sorgen. Wartet!«

Ich rannte auf die nächste Zelle zu, in der zwei fremde Wesen kauerten. Mit Körperkontakt zu dem Gerät war es problemlos, die Energiewand zu durchqueren. Ich zerrte die Gefangenen nach draußen, ohne auf ihre Fragen zu reagieren. Die Zeit drängte.

Innerhalb von ein paar Minuten befreite ich alle Gefangenen. Sie zerstreuten sich in alle Richtungen. So würde es erst einmal genügend Verwirrung geben.

Ein mannsgroßer Hominide mit einem schwarzen Fell reagierte am besten. Er blieb dicht bei mir und half mir, weitere Gefangene durch Körperkontakt zu befreien.

»Danke, Fremder!« rief ich ihm zu, als alle Zellen leer waren.

»Ich heiße Parillyon«, antwortete der Bepelzte freundlich. »Ich habe dir zu danken. Wenn du keine Einwände hast, bleibe ich bei euch.«

Ich nickte.

»Diese Richtung!« Flora deutete in einen der Gänge. »Dort ist Marie. Ich weiß es.«

Da ein Weg so gut oder so schlecht wie der andere sein konnte, widersprach ich nicht.

Wir rannten los.

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6.»So rennst du in dein Verderben.« Einer der Befreiten, die uns begleiteten, packte mich am Arm. »Ich kenne mich hier ein bißchen aus, denn ich bin schon über 30 Jahre im Pyramidon.«

Ich hielt an.

»Er sagt die Wahrheit«, warf Flora ein.

»Natürlich«, fauchte der nicht gerade große Bursche. Er erinnerte mich irgendwie an eine Kröte, die auf zwei Beinen läuft. Statt einer Kleidung trug er nur einen Lendenschurz. »Mein Name ist Kjord. Früher nannte man mich auch Cuzzer oder den Treuen. Ich habe schon unter der früheren Facette auf Crynn gedient.«

»Unter Cuzz?« wollte ich wissen.

»Ja. Du hast ihn gekannt?«

Ich wollte mich jetzt nicht in endlose Diskussionen verstricken und über meine Begegnung mit dem Minu-Cuzz und dem Fract-Cuzz sprechen. Das Kapitel war abgeschlossen. Wichtig war für mich nur, daß Kjord uns bei der Suche nach Marie behilflich sein konnte, weil er im Pyramidon nicht fremd war.

»Ich habe von ihm gehört«, gab ich ausweichend zur Antwort. »Wohin sollen wir uns deiner Meinung nach wenden?«

»Wir suchen eine Frau«, mischte sich Flora ein, »die so aussieht wie ich. Sie heißt Marie, und sie muß irgendwo in einem Gefängnis stecken.«

Der Krötenähnliche schüttelte sich, was ich als eine Geste des Unverständnisses deutete.

»Nie von ihr gehört«, zischte er. »Da kann ich euch nicht helfen. Wenn ihr zur Hexe wollt, dann nach oben.«

»Ich weiß nicht, ob das zweckmäßig ist«, wehrte ich ab.

»Ich will zu ihr.« Kjord warf sich in die Brust. »Ich muß den Tod meines Herren rächen. Ich bringe jeden um, der Zulgea unterstützt.«

»Das wird dir nicht so leicht gelingen«, feixte Arien. Er schien den Burschen nicht zu mögen. »Du hast es in 30 Jahren nicht geschafft, also wird es heute auch nicht klappen.«

»Ich bringe sie um«, wiederholte Kjord stur. »Man nennt mich nicht umsonst den Treuen. Mir kann die Hexe wenig anhaben, denn ich bin gegen Suggestivtricks gefeit. Folgt mir! Ich bringe euch erst einmal in ein Versteck, wo wir uns in Ruhe beraten können. Ich wundere mich sowieso, daß die Integrale noch nicht hier sind.«

Aus der Richtung, aus der wir gekommen waren, hörte ich Schreie und auch die Stimmen der Schwebewesen. Die befreiten Gefangenen prügelten sich sicher dort mit ihren Bewachern herum. Helfen konnte ich ihnen jetzt nicht.

So folgten wir Kjord, der uns durch halbdunkle, schmale Gänge führte. Ein baumlanger Hominide mit vier Augen schloß sich uns an. Schließlich erreichten wir eine leere Kammer mit drei Türen. Ich vergewisserte mich, daß, diese sich problemlos öffnen ließen, und prägte mir die weitere Umgebung ein. »Wir werden im Augenblick nicht verfolgt«, behauptete Flora. »Die Hexe ist beschäftigt. Was sie tut, kann ich nicht erkennen. Aber sie läßt den Integralen freien Lauf.«

Ich hockte mich auf den Boden und reinigte mein Kombimesser an der Kleidung. Die anderen setzten sich ebenfalls hin. Nur Arien schlich von Tür zu Tür.

»Kjord«, wandte ich mich an den Krötenähnlichen. »Was weißt du von Zulgea?«

»Fast nichts«, bedauerte dieser. »Ich habe sie nie gesehen. Ich weiß nur, daß sie Cuzz auf dem

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Gewissen hat. Sie ist ein Scheusal.«

Der Vieräugige räusperte sich.

»Ich bin ihr mehrmals begegnet«, behauptete er und stellte sich mit dem Namen Hiljar vor. »Ich habe für sie in Ordardor gearbeitet, aber irgendwann hat mich jemand als Verräter angeprangert. Zulgea weiß nicht genau, ob ich sie hintergangen habe oder nicht. Deshalb hielt sie mich einmal fest. Ich glaube aber, daß sie mich vergessen hat.«

»Wie sieht sie aus?« Ich war wirklich neugierig.

»Ein häßliches, altes und zerlumptes Wesen. Eben eine Hexe. Ihr scheint das zu gefallen, denn sie könnte sich ohne weiteres mit Prunk zieren. Sie besitzt sehr starke hypnotische und suggestive Kräfte. Wer nicht dagegen immun ist, kann jederzeit ihr Opfer werden. Ihr müßt also auf mich aufpassen. Wenn sie mich zwingt, greife ich euch an.«

Kjord erhob sich und trat auf Hiljar zu. »Du hast für Zulgea gearbeitet?«

Seine Augen funkelten wild. »Dann mußt auch du sterben.«

Er wollte sich auf den Langen stürzen, aber Arien packte ihn am Genick und hielt ihn fest.

»Merkt euch eins«, erklärte ich mit gefährlicher Ruhe. »Wir sitzen alle mehr oder weniger im gleichen Boot. Ich dulde keine internen Streitigkeiten. Und es wird nur das gemacht, was ich sage. Berichte weiter über Zulgea, Hiljar!«

»Mehr weiß ich nicht.« Der Vieräugige blinzelte verlegen. »Daß sie ein machthungriges Ungeheuer ist, weiß ja wohl jeder in Kontagnat und über die Grenzen des Sumpfes hinaus.«

»Die Hexe ist nicht wichtig.« Flora atmete schwer. »Wir müssen Marie finden. Sie allein ist der Grund unseres Hierseins.«

Kjord wollte wieder aufbegehren, aber ich schnitt ihm energisch das Wort ab.

»Ruhe! Flora, kannst du feststellen, in welcher Richtung Marie sich befindet?«

Es dauerte mehrere Sekunden, bis die Celesterin antwortete. »Leider nicht mehr. Ihre Ausstrahlung ist schwach geworden. Etwas überlagert ihre Anwesenheit. Das kann nur Zulgea sein. Aber auch sie spüre ich nur noch ungenau. Woran das liegt, weiß ich nicht.«

Zu allem Überfluß meldete sich nun auch noch der Extrasinn. Du befindest dich in einer Sackgasse. Jetzt rächt sich dein voreiliger Entschluß, freiwillig in Gefangenschaft zu gehen.»Ich will hier raus«, verkündete Hiljar seine Meinung.

Damit stand fest, daß ich auch noch die verschiedenen Zielsetzungen meiner Begleiter unter einen Hut bringen mußte. Kjord wollte Zulgea finden und töten. Irgendwie war das verständlich, wenngleich ich mir sagte, daß ihm das nie gelingen würde. Hiljar suchte sein Heil in der Flucht. Auch dieses Unterfangen versprach wenig Erfolg. Und Flora wollte mit aller Gewalt ihre Schwester finden.

Auch da sind die Chancen sehr schlecht. Der Logiksektor hatte recht. Außerdem steht gar nicht fest, daß es diese Marie hier gibt. Flora kann das Opfer einer Täuschung oder ihrer Einbildung sein.»Marie ist hier.« Wieder empfand ich Floras Äußerung so, als ob sie meine Gedanken oder die des Extrasinns erfaßt hätte. »Hier bleibe ich nicht. Ich gehe sie suchen. An anderen Orten des Pyramidons konnte ich sie deutlicher spüren.«

Kjord und Hiljar gefiel diese Bestimmtheit nicht. Sie wagten es aber nicht zu widersprechen, denn auch ihnen war klar, daß wir nur gemeinsam Erfolg haben würden. Nur Parillyon schwieg. Er hielt sich total zurück, was ihm meine Sympathien einbrachte. Der Bepelzte schien wirklich ein vernünftiger Bursche zu sein. Ich fragte ihn nach seiner Meinung.

»Um Zulgea zu töten«, antwortete er vorsichtig, »bedarf es anderer Kerle als Kjord. Er wird vom

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blindem Haß getrieben. Wir sollten uns weiter umsehen. Dann wird sich alles schon ergeben. Leider haben wir keine Waffen.«

Das stimmte, aber wieder sorgte Flora für eine Überraschung. Ich hatte das Gefühl, daß sie in der Beherrschung ihrer Kräfte ständig Fortschritte machte, auch wenn sie Marie und Zulgea im Augenblick nicht mehr wahrnehmen konnte.

»Die Ausrüstung befindet sich in einer Kammer am Ende des Ganges hinter dieser Tür.« Sie deutete auf einen der Ausgänge. »Ich spüre das ganz deutlich.«

»Sehen wir nach«, schlug Arien vor. »Wenn es stimmt, hätten wir endlich einen klaren Beweis für deinen sechsten Sinn.«

Wir verließen die Kammer. Ich bildete mit Flora den Anfang. Dann folgten Parillyon, Hiljar und Kjord. Arien Richardson sicherte nach hinten.

*

Wir hatten unsere Ausrüstung wieder und den Beweis für Floras außergewöhnliche Fähigkeiten. Aber Arien klagte über Kopfschmerzen.

»Die Hexe tastet mit Macht in mein Gehirn«, behauptete er. »Ich bin nicht so immun wie ihr.«

Damit fiel er als Bewacher unserer Begleiter aus. Einer mußte ständig Hiljar und Parillyon im Auge behalten, denn von den beiden wußte ich nicht, wie sie auf die Suggestivkraft der Facette reagieren würden. Ich begab mich ans Ende unserer Gruppe und überließ den beiden Celestern die Führung. Flora war sich ziemlich sicher, daß sie auf dem richtigen Weg zu Marie war.

Sie schritt zügig voran und blickte kaum einmal zurück. Die Gefahr, in der wir alle schwebten, war ihr nicht bewußt.

Ich grübelte noch darüber nach, warum die Facette sich so passiv verhielt, als sich rechts von uns der Gang öffnete und den Blick in eine große Halle freigab. Etwa 20 Meter unter uns hetzte eine Gruppe von Integralen hinter den flüchtigen Befreiten her. Letztere besagen kaum eine Chance. Die Schwebewesen kreisten sie ein und führten sie ab.

Dann entdeckte ich plötzlich eine Frau, die sich ungehindert zwischen den Integralen bewegte. Ich mußte zweimal hinsehen, um eine Täuschung auszuschließen. Da sich die Gestalt in einer abgedunkelten Zone befand, war ich mir auch jetzt noch nicht sicher. Wenig später verschwand sie unbehelligt in einem Seitengang.

Ich blickte zu meinen Begleitern, die ebenfalls in die Tiefe starrten. Die Frau schien niemand von ihnen bemerkt zu haben.

Ich rief die kurzen Szenen erneut in mein Gedächtnis. Ein Irrtum war eigentlich ausgeschlossen. Die Frau da unten zwischen den Integralen hatte so ausgesehen wie Flora Almuth. Das konnte nur eins bedeuten. Es hatte sich um ihre Schwester Marie gehandelt.

Es war absurd, daß sie sich frei bewegt hatte. Eigentlich konnte das nur bedeuten, daß sie auf der Seite der Hexe stand. Wenn das wirklich stimmte, würde Flora eine böse Überraschung erleben. Ich beschloß daher, meine Beobachtung für mich zu behalten. Irgendwie war die Sache mehr als rätselhaft.

»Weiter!« drängte ich die anderen. »Hier können wir nichts mehr ausrichten.«

Der Extrasinn schwieg. Das konnte ein Zeichen dafür sein, daß er intensiv nachdachte. Es konnte aber auch bedeuten, daß er mit meinen Schlußfolgerungen einverstanden war.

Nein, sagte ich zu mir selbst. Das ist undenkbar. Hier stimmt etwas ganz und gar nicht. Meine

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Überlegungen wurden gehemmt. Der Verdacht drängte sich mir auf, daß Zulgea etwas damit zu tun hatte. Wie stark ihre hypnosuggestiven Kräfte waren, wußte ich ja nicht.

Flora hatte die Richtung feststellen können, in der Marie angeblich war. Warum hatte sie dann nicht auf die Gestalt geblickt?

Wir gingen weiter. Ich behielt Parillyon, Hiljar und auch Arien im Auge, denn ich rechnete jede Sekunde mit etwas Ungewöhnlichem.

Das kam auch, aber aus einer ganz anderen Richtung.

»Flora!« gellte ein Schrei durch den Korridor.

Keine fünfzig Schritte von uns entfernt war das Ebenbild der Celesterin aus einem Seitengang aufgetaucht. Ich war etwas verwirrt. Zweifellos warmes die Frau, die ich wenige Minuten zuvor unten in der Halle gesehen hatte, eine zweite Flora – also Marie. Sie hatte gerufen.

Flora blieb wie vom Schlag getroffen stehen.

»Zulgea hat mich freigegeben«, rief Marie und breitete ihre Arme aus. »Komm zu mir, Schwester. Auf uns wartet die gemeinsame Freiheit.«

Flora setzte sich in Bewegung. Die anderen waren nicht weniger verdattert als ich.

Die Warnung des Extrasinns kam noch rechtzeitig. Ich erkannte, was nicht stimmte. Marie trug die gleichen Kleider wie Flora. Selbst die geringsten Details stimmten überein.

Und war schlicht und einfach unmöglich!

Irgendein übler Trick der Hexe! Schnell! verlangte der Extrasinn.

Ich verließ mich blind auf mein Gefühle denn viel Zeit zum Überlegen hatte ich nicht. Es konnte sein, daß ich genau das Falsche tat, aber ich handelte.

So schnell ich konnte, rannte ich an den anderen vorbei. Hiljar warf sich mir entgegen und wollte mich aufhalten, aber Parillyon riß ihn im letzten Moment zur Seite und warf sich auf ihn. Im Nu war ich an Flora vorbei, die wie eine Schlafwandlerin auf ihr Ebenbild zueilte. Ich erreichte dieses wenige Schritte vor der Celesterin. Die angebliche Marie nahm keine Notiz von mir, was meine letzten Zweifel ausräumte.

Ich packte die Frau und warf sie in hohem Bogen über das Geländer hinab in die große Halle.

Flora Almuth stieß einen spitzen Schrei aus. Gleichzeitig spürte ich einen stechenden Schmerz in meinem Kopf.

Psionischer Angriff von Flora! warnte der Extrasinn.

Ich kam zu keiner Entgegnung. Dort, wo sich der Körper des Ebenbildes befand, zuckte eine grelle Stichflamme auf. Die Druckwelle riß uns alle von den Beinen. Ich wurde gegen die rückwärtige Wand geschleudert und prallte mit dem Hinterkopf auf das harte Metall. Nur noch halb bei Sinnen rutschte ich zu Boden. Zu dem stechenden Schmerz gesellte sich der des Aufpralls.

Parillyon stand mit einem Mal neben mir und zog mich in die Höhe.

»Geht es wieder?« fragte er besorgt.

Ich nickte und faßte an meinen Hinterkopf. Meine Hand zeigte Blutspuren, aber die Wunde war harmlos. Der [{(Zellaktivator)}] Zellaktivator würde für eine rasche Heilung sorgen.

Endlich ließ das Stechen in meinem Kopf nach. Ich konnte mich wieder bewußt umsehen. Die anderen erhoben sich gerade wieder. Nur Flora Almuth stand schon (oder noch?) auf ihren Beinen. Ihr Blick war starr, bis sich unsere Augen trafen.

Sie kam auf mich zu.

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»Entschuldige, Atlan«, sagte sie. »Ich wollte dich tatsächlich umbringen, weil… ich hoffe, du verstehst das.«

»Schon gut, Flora.« Ich winkte ab. »Mir war ja selbst nicht klar, was hier gespielt wurde. Erst im letzten Augenblick erkannte ich, daß dieses Wesen nie und nimmer Marie sein konnte. Ihre Kleidung war absolut identisch mit deiner. Die Hexe muß auch mich zeitweise mit ihren Psi-Kräften abgelenkt oder betäubt haben, denn eigentlich hätte jeder von uns merken müssen, daß etwas nicht stimmte. Dieses Wesen trug ein Stirnband, das dem Psi-Spalter glich.«

Die anderen scharten sich um uns. Hiljar hatte sich wieder beruhigt, aber der bepelzte Parillyon blieb ständig in seiner Nähe.

»Woher wußtest du«, wollte Flora wissen, »daß in dieser Nachbildung eine Bombe war?«

»Ich wußte es nicht«, gab ich zu.

»Ich hätte es spüren können.« Die Celesterin wirkte arg mitgenommen. »Aber ich war so fasziniert vom Anblick meiner vermeintlichen Schwester, daß ich alles um mich herum vergaß. Jetzt spüre ich Marie wieder ganz deutlich. Es ist nicht weit bis zu ihr.«

Sie bedankte sich noch einmal sehr überschwenglich bei mir und versprach, in Zukunft weniger leichtgläubig zu sein.

In meinen Gedanken beschäftigte ich mich wieder mit den Kräften, die Flora entwickelt hatte und die offensichtlich ständig stärker wurden. Wenn ich nicht mentalstabilisiert gewesen wäre, hätte mich ihr psionischer Impuls glatt umgebracht. Ich mußte wachsam bleiben.

Parillyon entdeckte die Integrale zuerst, die in unserem Rücken auftauchten. Ich warf ihm eine meiner Waffen zu. Wir suchten Deckung hinter Vorsprüngen und schossen zurück, als die Integrale feuerten. Sie schossen schlecht, aber sie trafen Hiljar tödlich. Danach mußten sie sich vorübergehend zurückziehen, denn Arien deckte sie mit seinem Feuer zu.

»Ihr könnt aufhören«, sagte eine weibliche Stimme wenige Meter hinter mir. »Diesmal bin ich es wirklich. Gemeinsam können wir die Macht der Hexe brechen.«

Flora und ich fuhren herum. Leere Hände streckten sich uns entgegen. Ein erneutes Ebenbild? Oder war es tatsächlich Marie? Ich wußte es nicht. Die Ähnlichkeit mit Flora war vorhanden, aber viele Dinge stimmten nicht überein. Die Kleidung war ganz anders. Das Stirnband fehlte. Der Gesichtsausdruck war gelöster als der Floras.

»Nicht schießen«, bat die Frau. »Ich bin es wirklich.«

Ich warf Flora einen fragenden Blick zu, aber die hatte die Augen geschlossen und beachtete mich nicht. Arien und Parillyon wehrten noch immer die Integrale ab. Kjord hatte sich irgendwo verkrochen.

»Versuche ruhig, die Bombe zu zünden.« Flora hielt noch immer die Augen geschlossen. Ihre Hände glitten langsam denen der ähnlichen Frau entgegen. Ich hielt meinen Kombistrahler schußbereit, aber ich wußte nicht, was ich tun sollte. Um diese Marie zu entfernen, reichte die Zeit nicht.

»Zulgea muß sich etwas Besseres einfallen lassen«, stieß Flora hervor, als sie die Fingerspitzen ihres Fast-Ebenbildes berührte. Das bewegte sich plötzlich, wie von Geisterhand getragen, von uns weg. Die Gestalt strampelte, als sie durch die Luft glitt, direkt in das Feuer der Integrale.

»Deckung!« brüllte ich und riß Flora nach unten.

Wieder ging ein Sprengsatz hoch, aber diesmal richtete er bei mir weniger Schaden an.

Als der Rauch verweht war, waren auch die Integrale verschwunden.

»Zwei zu null für uns.« Arien Richardson steckte seine Waffen ein und hieb Parillyon

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freundschaftlich auf die Schultern.

»Sie konnte die Bombe nicht zünden.« Flora Almuth sah mich unsicher an, als befürchtete sie einen Tadel. »Ich wollte es nämlich nicht.«

»Gut so«, lobte ich sie. »Du brauchst nicht so verzweifelt zu schauen.«

»Doch, Atlan. Ich war mir nicht sicher, ob es sich nicht doch um Marie handelte. Erst jetzt weiß ich es. Und außerdem ist es furchtbar, jemand oder etwas in den Tod zu schicken, das so aussieht wie man selbst.«

Ich nickte verstehend.

»Die nächste oder übernächste Marie könnte die Richtige sein«, fuhr die Celesterin fort. »Meine Kräfte wachsen, aber der Anblick dieser Wesen verunsichert mich zutiefst.«

Ein primitiver Roboter tauchte aus einer Nische auf. Er kümmerte sich nicht um uns, die wir erschrocken auseinanderstoben. Er saugte die Reste der Explosion auf und nahm dann den Leichnam Hiljars und verschwand.

Die Szene weckte Ekelgefühle in mir. Alles war so kalt und herzlos.

»Weiter!« sagte ich. »Und gut aufpassen!«

Flora ging voran.

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7.Wir blieben längere Zeit unbehelligt. Das war widersinnig, und ich fand keine Erklärung dafür.

Vielleicht spielt die Hexe mit uns Katz und Maus, meinte der Extrasinn. Wenn sie es nicht will, kommst du hier nie heraus.Ich beschäftigte mich mit einer anderen Frage. Marie war vor etwa 20 Jahren verschwunden. So, wie es schien, war sie seit dieser Zeit eine Gefangene der Facette. Ihr mit großer Sicherheit vorhandenes Psi-Potential hatte die Leuchtende nicht an den Erleuchteten verscherbelt. Warum hielt sie die Celesterin aber dann so lange fest?

Du setzt voraus, warf der Logiksektor ein, daß Flora die Wahrheit gesagt hat. Bewiesen ist das jedoch nicht.Ich ging in der Tat von dieser Voraussetzung aus. Zweifel an Flora hatte ich nicht. Das ließ ich mein zweites Bewußtsein wissen, das daraufhin schwieg.

Meine Gedanken kehrten zu den offenen Fragen zurück. Warum hielt Zulgea die Celesterin so lange gefangen? Es gab eigentlich nur eine Erklärung. Die Facette nutzte das Psi-Potential Maries für ihre Zwecke. Wenn ich in Betracht zog, wie schnell Flora ihre unfaßbaren Kräfte entwickelt hatte, wurde deutlich, daß ihre Zwillingsschwester eine ausgereifte und fähige Mutantin sein mußte.

Es mußte, wirklich etwas ganz Besonderes an Marie sein, daß Zulgea sie entführt und in ihre Gewalt gebracht hatte. Mir fielen Parallelen aus meiner Vergangenheit ein. Vielleicht existierte Marie nur noch als bloßes Bewußtsein. Oder als Gehirn, das an ein Lebenserhaltungssystem angeschlossen war. Es gab viele Möglichkeiten, und alle waren nicht sehr vielversprechend. Mit Flora konnte ich kaum darüber sprechen. Sie war zu besessen von der Idee, ihre Schwester zu finden. Und ich folgte ihr eigentlich nur, weil ich Sarah versprochen hatte, das Rätsel ihrer Mutter zu lösen.

Hatte diese Aufgabe eigentlich noch etwas mit meinem Auftrag zu tun, den ich von den Kosmokraten übernommen hatte? Zu meinem Erstaunen bejahte der Extrasinn die selbstgestellte Frage.

Jede Facette bringt dich näher an den Erleuchteten und damit an dein Ziel EVOLO.Obwohl mir keine unmittelbare Gefahr drohte, liebäugelte ich in diesen Sekunden mit dem Gedanken, diese Mission auf Crynn einfach abzubrechen. Direkt ging das nur durch den generellen Verzicht, den Auftrag der Kosmokraten durchzuführen. Ob sie mir einen neuen Start mit dem bis jetzt erworbenen Wissen gestatten würden, war eine andere Frage. Ich kannte die Antwort darauf nicht.

Deine Überlegungen sind sehr unfair! Der Extrasinn klang ungewöhnlich hart. Du kannst jederzeit aussteigen! Du würdest es sogar tun. Und du würdest sogar auf Sarah verzichten!Er hatte einen wunden Punkt getroffen. In seiner Logik wußte er genau, wie er meine Gefühle einzuschätzen hatte.

Die Kosmokraten würden es dir nicht vorwerfen, fuhr der Logiksektor bissig fort, wenn du Sarah auf New Marion sitzenläßt. Schließlich bist du nicht nach Alkordoom gekommen, um deine Amouren um ein Erlebnis zu bereichern!Da es wenig Sinn hatte, über solche Themen zu diskutieren – auch wenn es nur in den eigenen Gedanken war –, verzichtete ich wieder einmal auf eine Antwort.

Warum meldete sich Marie nicht direkt bei Flora? Sie mußte doch eine fähige Mutantin sein? Oder stimmte etwas in meinen Überlegungen nicht?

Warum schlug Zulgea nicht erbarmungslos gegen uns zu? Die Möglichkeiten hatte sie fraglos. Lag es wirklich an dem seltsamen Psi-Spalter oder an Flora? Vielleicht erhofft sie sich eine zweite

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Marie, die sie unterjochen und für ihre Zwecke nutzen kann.

»Die Spur aus Maries Gedanken wird leiser«, unterbrach Flora meine Überlegungen. »Es muß eine Phase geringerer Aktivität sein. Oder die Hexe läßt sie endlich einmal in Ruhe. Genau erkenne ich das nicht. Aber wir sind auf dem richtigen Weg.«

Ich fürchte, erklärte mir der Extrasinn, wir sind auf dem völlig falschen Weg. Und deine Annahmen und Schlußfolgerungen sind auch nicht hieb- und stichfest.

*

Nun entwickelt sich alles doch ganz anders. Ich bin überrascht, aber auch beunruhigt. Etwas an Tess’ Überlegungen war falsch. Zulgea ist zu unnahbar. Und besonders fähig kann sie auch nicht sein, denn sonst hätte sie den Ausbruch Atlans niemals so hingenommen. Auch habe ich das dumpfe Gefühl, daß sie in ihrer Verwirrung die Kontrolle über ihre Integrale verloren hat. Das ist ein Beweis der Schwäche. Eine solche Person können wir für unsere Pläne nicht gebrauchen. Sie würde versagen. Soll sie sich in ihrem Pyramidon verstecken. Ich muß umdenken.

Dieser Atlan gefällt mir. Er macht aus einem Speisenbrei eine Waffe, aus der verschüchterten Flora ein Wesen mit unheimlicher Kraft. Er verzagt nie. Er läßt sich nicht beirren. Und sein Instinkt läßt ihn eine lebende Bombe erkennen. Diesen Mann müßte ich gewinnen. Dagegen spricht leider unsere jetzige Situation. Auch die Pläne des Weißhaarigen, unbedingt diese ominöse Marie befreien zu wollen, gefallen mir nicht.

Bisweilen glaube ich, daß sogar Arien Richardson mehr taugt als die Facette. Der Celester hat Schwierigkeiten mit dem Psi-Zwang Zulgeas. Ich habe diese Probleme auch. Und wenn ich die beiden Armreife nicht hätte, die das Neutralisationsfeld über meinem Kopf erhalten, wäre ich auch böse dran. Arien kann sich auf natürliche Weise wehren. Ich muß es mit der ausgefeilten Technik von Kippelkart machen. Ich bin ein Lappen im Vergleich mit dem schwarzhaarigen Celester.

Zulgea werde ich abschreiben. Aber an meiner Mission halte ich fest. Ich habe noch Möglichkeiten, von denen nicht einmal Tess etwas ahnt! Erst müssen wir – Atlan, Arien, Flora und ich – aus dem Pyramidon entkommen, dann heure ich mir alle drei – oder zwei? Einer muß es mindestens sein, am besten der Weißhaarige – an, um meine Aufgabe zu erfüllen.

Du mußt Geduld bewahren, Parillyon, sage ich zu mir selbst.

Die von drei Seiten heranstürmenden Integrale unterbrechen meine Gedanken. Ich muß wieder kämpfen. Ich werde kämpfen, damit dieser Atlan sieht, wer ich bin und was ich kann! Nur eins werde ich nicht tun. Ich werde ihm nicht sagen, daß ich ihn brauche!

*

Arien Richardson verlor auch diesmal nicht den Überblick. Seine Waffen spien Feuer, noch bevor die ersten Integrale gezielt schießen konnten.

Kjord drehte durch. Auch Atlan konnte dem Krötenähnlichen nicht mehr helfen. Er rannte auf das nächste Integral zu, riß diesem eine Waffe aus der Hand und feuerte wild um sich. Der Cuzzer achtete nicht auf seine Deckung. Pausenlos stieß er wilde Flüche auf Zulgea aus. Er nannte sie Sumpfhexe und Mörder, bis ihn ein Schuß niederstreckte.

Für Arien war es ein schwacher Trost, daß er unmittelbar das Integral traf, das Kjord das Leben genommen hatte.

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Parillyon kämpfte mit der Umsicht eines bewährten Haudegen. Diesmal war aber die Übermacht der Integrale zu groß. Immer wieder mußten sich Atlan und Arien zurückziehen. Der Arkonide achtete darauf, daß Flora in seiner Nähe blieb. Plötzlich war Arien Richardson von den anderen abgeschnitten. Die Integrale kreisten ihn ein, aber sie feuerten nicht.

Der Feuerwehrmann von New Marion tat das einzig Vernünftige. Er ließ seine Waffen fallen und fand sich damit ab, daß man ihn wieder in die Zelle mit dem Energievorhang sperren würde. Was mit Flora, Atlan und Parillyon geschah, bekam er nicht mehr mit.

Die Integrale waren schweigsam. Sie funktionierten wieder mit der Exaktheit, wie Arien sie kannte. Daher war es auch sinnlos, etwas zu sagen oder gar einen Fluchtversuch zu unternehmen.

In Begleitung seiner Bewacher gelangte Arien in einen Bereich des Pyramidons, den er noch nicht kannte. Es stand fest, daß man ihn nicht zur Gefängniszelle bringen würde. Innerlich blieb er gelassen, aber seine Neugier wuchs.

Auch seine Unsicherheit.

Ein dumpfes Rumoren wurde in seinem Bewußtsein spürbar.

Aufgeschwemmte, monströse Wesen säumten seinen unfreiwilligen Weg. Gierige Zungen leckten nach Arien, und die Integrale verzogen keine Miene. Der Celester bekam Angst. Die Furcht wurde überdeckt, denn Zulgea faßte ihn an.

Die fetten Leiber der schwammigen Hüter drängten sich an ihn heran. Arien berief sich in seinen Gedanken auf das, was er von Drei-B und McMooshel gelernt hatte. Nur die Ruhe bewahren.

Die Integrale waren plötzlich verschwunden. Arien stand allein zwischen den biologischen Kunstschöpfungen.

Zulgeas Griff:

»Sprich!«

Arien wehrte sich.

Die monströsen Wesen schoben ihn weiter. Der Druck in seinem Kopf wurde stärker und stärker. Aber auch Ariens Widerstandskraft wuchs. Er ahnte, daß er diesen geistigen Kampf verlieren würde, aber daß dieser auch seinen Körper in hohem Maß anregte, das Enzym Anti-Moosh zu produzieren, daß ihn dann vielleicht für immer immun gegen psionische Angriffe aller Art machen würde.

Er nahm seine Umgebung nicht mehr wahr. Die monströsen Wächter schoben ihn in einen Raum.

»Sprich jetzt!«

Diesmal hörte er die Stimme Zulgeas zweifach. Sie erschien als Befehl in seinem Bewußtsein. Und sie drang über seinen Hörsinn in ihn.

Der Feuerwehrmann öffnete die Augen. Er tat auch dies, weil es ihm befohlen wurde. Vor ihm räkelte sich eine seltsame Gestalt in Lumpen auf einem breiten Sessel.

»Ja, Arien«, sagte das zweifellos weibliche Wesen. »Du stehst vor Zulgea von Mesanthor. Du bist in meiner Gewalt. Ich habe lange genug mit euch gespielt. Das ist jetzt vorbei. Du kannst deine Gedanken nicht mehr vor mir verschließen. Wer sind eure Helfer? Sind noch andere Celester nach Crynn gekommen?«

Arien kämpfte mit sich, aber die Worte rannen gegen seinen Willen über seine Lippen.

Er plauderte alles aus, was er wußte. Er verriet ANIMAS Versteck in der Südpolregion, erwähnte McMooshel und seine Söhne Volkert und Spooner.

»Weiter!« drängte die Facette. »Berichte von deiner Heimat! Was hat Flora an diesen Ort geführt?«

Page 42: Die Facette von Mesanthor

Der Celester öffnete wieder den Mund, aber er keuchte nur. Er schien förmlich zu spüren, wie das Anti-Moosh in sein Bewußtsein strömte und die zusammengebrochene Blockade gegen Zulgeas Kraft erneut aufrichtete. Der Druck wurde weniger spürbar, obwohl die Facette ihn verstärkte. Ariens Abwehrkräfte feierten einen Triumph. Er schüttelte heftig seinen Kopf und wischte die letzten Spuren von Zulgeas Macht von sich.

»Ich habe gewonnen, Hexe.« Arien atmete befreit auf. »Du hast keine Macht mehr über mich. Von mir wirst du nichts mehr erfahren.«

»Nicht schlecht, Celester. Ich könnte dich töten.«

»Was würdest du damit erreichen?«

Zulgea antwortete nicht. Sie richtete sich etwas auf und winkte einen Roboter herbei. Stählerne Arme packten den Mann und schleppten ihn hinaus. Es ging wieder vorbei an den monströsen Wächtern. Der Roboter packte Arien in eine kleine Kammer und verriegelte die Tür.

Der Celester hockte sich auf das einzige Möbelstück, eine primitive Pritsche.

»Irgend etwas stimmt hier nicht«, murmelte er und rief sich das Bild Zulgeas ins Gedächtnis. Die alte Hexe hatte ihn an etwas erinnert, aber er kam trotz heftigen Nachdenkens nicht darauf, was es war.

*

»Ich halte das hier drin nicht länger aus«, klagte Spooner Richardson. »Es sind fast zwei Tage vergangen, und wir haben noch immer keine Nachricht von Arien oder Atlan.«

Buster McMooshel, der Medizinmann, und Volkert Richardson hockten an einem Tisch, den ANIMA erzeugt hatte, und vertrieben sich die Zeit mit einem Würfelspiel. Sie reagierten nicht auf den unruhigen Spooner.

»Draußen rührt sich nichts«, meldete sich ANIMA, die die Form einer riesigen Eisscholle angenommen hatte und sich so kaum von der Umgebung unterschied. »Du solltest dir ein wenig die Beine vertreten. Aber zieh dich warm an.«

Volkert, der hier das Kommando führte, gab sein Einverständnis. Wenig später schritt Spooner über die gefrorene Eisflache. Er blickte zurück, um nicht die Orientierung in der Einsamkeit zu verlieren. ANIMAS Tarnung war wirklich perfekt.

Er erklomm einen Eisfelsen und blickte sich um. Die Weite und Leere der Region beruhigte ihn schnell. Seine Gedanken waren bei seinem Vater und Atlan. Was mochte mit ihnen geschehen sein?

Als er sich ein gutes Stück von ANIMA entfernt hatte, piepste sein Armbandfunkgerät.

»Hat man nicht einmal hier draußen seine Ruhe?« grollte der Celester.

»Spooner!« Volkert wirkte erregt. »Komm sofort zurück! Wir haben Signale in der Ortung. Lauf, was du kannst!«

»Deine Witze waren auch schon einmal besser.« Spooner kicherte. »Ihr solltet einmal die frische Luft hier genießen.«

»Es ist bitterer Ernst, Bruderherz. Lauf! Die Signale kommen schnell näher.«

Nun erst erkannte Spooner, daß sein Bruder nicht log.

»Ich komme«, sagte er schnell und spurtete los.

Kurz bevor er ANIMA erreichte, rutschte er auf einem losen Eisbrocken aus und fiel hin. Sein rechter Knöchel schmerzte, als er sich erhob.

Page 43: Die Facette von Mesanthor

»Deckung!« brüllte Volkert aus dem Armbandfunkgerät.

Spooner sah die heranrasenden Schatten. Ein Feuerstoß jagte wenige Meter neben ihm ins Eis. Eine gewaltige Dampfwolke entstand, und der Celester sah nichts mehr.

Weitere Schüsse peitschten durch den Nebel. Spooner tastete sich in die Richtung, in der er ANIMA vermutete. Ein Wasserschwall, der durch die Feuerstöße der Angreifer entstanden war, schwappte über ihn hinweg. Er verlor den Boden unter den Füßen und wurde in eine unbestimmbare Richtung davongetragen. Nirgends fand er noch Halt.

Dann legte sich etwas Dunkles über ihn. Er hatte das Gefühl, in eine Wolldecke gehüllt zu werden. Als er sich umblickte, erkannte er die gewohnten Wände ANIMAS. Die Schlummernde meldete sich auch sogleich.

»Ich mußte dich hereinholen, Spooner«, erklärte ANIMA. »Begib dich schnell zu den anderen. Ich erzeuge einen Gang.«

»Mein Fuß«, klagte der Celester. »Ich kann nicht mehr laufen.«

»Leg dich hin, Spooner. Ich erzeuge eine Bodenwelle, die dich wie auf einer Rutsche trägt.«

Spooner befolgte den Befehl. Wenig später stand er vor Volkert und dem Medizinmann.

»Tut mir leid, Freunde«, stammelt er seine Entschuldigung.

»Die verdiente Ohrfeige bekommst du später«, feixte sein Bruder. »Buster soll sich um dein Bein kümmern. Ich habe etwas Wichtigeres zu tun. Wir werden von Crynn-Brigadisten beschossen. Wie konnten die uns nur so plötzlich entdecken?«

»Verrat«, meinte McMooshel. »Der Knöchel ist angebrochen.«

»Der Beschuß wird stärker, Freunde«, meldete sich ANIMA. »Wir müssen hier weg.«

Sie stellte eine transparente Fläche her, die den Blick nach oben ermöglichte. Mindestens zwanzig verschiedene Kampfgleiter feuerten auf die Schlummernde. Volkert wandte seinen Blick von dem tragbaren Ortungsgerät ab.

»Wenn wir fliehen, erreichen wir nichts«, entschied er. »Also geht es in die Höhle des Löwen.«

»Da wachsen mir doch gleich goldene Haare«, ärgerte sich McMooshel. »Du willst doch nicht etwa zum Pyramidon? Dann können wir gleich aufgeben.«

»Du darfst nicht vergessen, daß dort Dad, Flora und Atlan sind. Wenn wir Crynn verlassen, haben sie gar keine Chance.«

ANIMA startete, ohne auf eine Anweisung zu warten. Sie raste mitten durch den Pulk der Angreifer und erzeugte so eine erhebliche Verwirrung bei den Brigadisten. Zwei Kampfgleiter wurden bei dem Zusammenstoß so schwer beschädigt, daß sie abstürzten.

»Ich kann auch ohne Waffen kämpfen«, freute sich die Schlummernde. »Außerdem bin ich auch der Meinung, daß wir uns auf die Suche nach Atlan machen. In mir seid ihr sicher, denn wirklich gefährliche Waffen können Zulgeas Knechte in der Planetennähe nicht einsetzen.«

»Sehnsucht nach dem Weißhaar?«

McMooshel streifte die Hose über das geschiente Bein Spooners.

»Bloß kein Neid, Glatzkopf«, gab ANIMA zurück. »Laß dir lieber goldene Haare wachsen.«

Volkert beobachtete auf den Orteranzeigen, wie sich die Gleiter der Crynn-Brigade neu formierten und die Verfolgung aufnahmen.

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8.Zur Überraschung der Richardsons drehten die Verfolger ab, als ANIMA in die Nähe des Pyramidons gelangte. Spooner lauschte in sein Armbandfunkgerät und versuchte so, etwas in Erfahrung zu bringen.

»Reger Nachrichtenaustausch«, berichtete er. »Aber keine Spur, und kein Hinweis auf Dad. Wenn ich das eben richtig mitbekommen habe, dann hat die Facette den Abzug der Brigadisten befohlen.«

»Was hat das zu bedeuten?« fragte der Medizinmann.

Im gleichen Moment wurde ANIMA von einem schweren Schlag erschüttert. Für Sekunden waren ihre internen Schwerkraftverhältnisse in Unordnung. Spooner prallte mit dem Kopf gegen eine Wand und schimpfte laut.

»Tut mir leid, Freunde«, bedauerte ANIMA, »aber mit einem solchen Brocken habe ich nicht gerechnet. Das Pyramidon verfügt offensichtlich über Hochleistungsgeschütze. Da wird allmählich eine brenzlige Sache draus. Laßt euch etwas einfallen.«

Die beiden Brüder blickten sich fragend an, und McMooshel zuckte schweigend mit den Schultern.

»Nichts?« ANIMA schüttelte sich unter dem fortgesetzten Beschuß. »Ihr seid mir ein paar Männer! Atlan wüßte, was er zu tun hätte.«

»Atlan! Pah!« Volkert Richardson war verärgert. »Wo steckt denn dein Atlan?«

»Ich werde es in Erfahrung bringen. Da ihr ratlos seid, fälle ich eine Entscheidung. Ich habe die KORALLE entdeckt. Sie liegt in einer Schlucht in einem dichten Wald. Dort setze ich euch in Kürze heimlich ab. Bleibt ruhig dort und wartet, bis ihr alt und grau werdet. Ich lasse mich von den Geschützen des Pyramidons vernichten, damit ich zu Atlan gelange.«

»Jetzt ist sie übergeschnappt.« McMooshel klatschte sich auf die hohe Stirn.

»Absolut nicht«, erklärte ANIMA hart. »Ich weiß genau, was ich tu.«

Sie raste unter dem nächsten Feuerüberfall los, so daß der Anschein entstehen mußte, daß sie fliehen wollte. Aus dem Pyramidon tauchten Gleiter auf, aber sie konnten mit dem Tempo der Schlummernden nicht mithalten. Die Batterien der Geschütze feuerten auch jetzt noch. Staub wirbelte auf, als die Druckwellen den Planetenboden erreichten.

ANIMA schlug ein paar Haken, um die Staubwolken gegen ihre Entdeckung zu nutzen. Gleichzeitig formte sie in ihrem Innern zwei Pseudoarme, die die drei Männer in einen kleinen Raum schoben.

»Achtung!« rief sie. »Gleich werfe ich euch raus. Ich steuere die KORALLE an. Verhaltet euch dort ganz still! Und wundert euch nicht, wenn ich mich abschießen lasse.«

Die Richardsons fügten sich in das Geschehen, und der Medizinmann murmelte wieder einmal etwas von seinen goldenen Haaren, die ihm wachsen würden.

ANIMA machte eine erneute scharfe Wendung. Diesmal glitt sie in die Tiefe. Kurz bevor sie in eine Waldschneise eintauchte, erzeugte sie eine Öffnung. Die Männer purzelten unsanft nach unten. ANIMA zog sofort wieder in die Höhe und setzte den Flug in der alten Richtung fort.

Sie wurde langsamer, damit die Verfolger sie erreichen konnten. Dann wendete sie erneut und flog in Richtung des Pyramidons. Dort bellten wieder die Geschütze auf.

»Ich habe nichts mehr an Bord«, lachte die Schlummernde. »Kein Lebewesen, keine Technik. Ich bin nur noch ich.«

Sie verformte ihre innere Struktur so, daß sich eine Unzahl einzelner Brocken bildete, die entweder für eine begrenzte Zeit allein existieren konnten, oder aber durch kaum wahrnehmbare Fäden miteinander verbunden waren. So wartete sie den nächsten Feuerüberfall ab.

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ANIMA zerfiel. Ihre Teile stürzten zu Boden und bildeten einen weit verstreuten Haufen Trümmer. Das Fragment, das ihr Bewußtsein enthielt, glitt in eine Bodenspalte. Der Kampf war damit beendet. Die Gleiter mit den Integralen und die Facette fühlten sich als Sieger. Der Feind war zerstört worden.

ANIMA hoffte, daß Volkert, Spooner und der Medizinmann sich ruhig verhielten. Ihr Plan wäre sonst ernsthaft gefährdet gewesen. Sie kontrollierte ihre Fragmente, so gut es unter der extremen Aufspaltung möglich war. Gleichzeitig überlegte sie ihre weiteren Schritte.

Ein Zufall kam ihr entgegen.

Ein Gleiter mit Integralen landete, um die vermeintlichen Trümmer zu untersuchen. Als die Integrale ein Fragment der Schlummernden hochhoben, gab ANIMA diesem Stück all das mit, wozu sie noch in der Lage war. Gleichzeitig trennte sie den Verbindungsfaden ab. Das losgelöste ANIMA-Fragment würde keine Intelligenz besitzen, aber es würde im Sinn des Stammkörpers auf instinktiver Basis reagieren.

ANIMA beschloß zu warten. Sie behielt ihre neue Tarnung konsequent bei, während die Integrale starteten und zum Pyramidon zurückkehrten.

*

Es wurde um uns herum plötzlich dunkel.

»Kein Problem«, erklärte ich. In meiner Ausrüstung befand sich ein Scheinwerfer. Ich schaltete ihn ein.

»Dunkelheit ist gut.« Flora Almuth verharrte wieder einmal in jeder Bewegung. »Bitte lösche das Licht, Atlan. In der Dunkelheit kann ich alles besser spüren.«

Ich schaltete den Scheinwerfer aus.

»Ausgezeichnet.« Flora atmete tief durch. »Jetzt sehe ich alles. Ich muß nur meine normalen Sinne blockieren, dann entfaltet sich die Kraft. Ich spüre nun ganz genau, wo Marie ist. Auch Zulgea ist in dieser Richtung. Marie muß unmittelbar bei ihr sein. Es scheint mir, als sei sie von der Hexe unterjocht oder gar ein unmittelbarer Helfer von ihr. Seltsam. Ich meine, daß Marie früher böse war. Mir fällt ein, daß sie mich nicht leiden konnte, aber ich habe sie immer geliebt. Ich habe sogar an ihrer Seite geholfen, daß Sarah gesund geboren wurde. Wenn ich bloß die Einzelheiten nicht vergessen hätte.«

Ich ließ sie reden, weil ich so ein immer besseres Bild von ihr bekam. Fraglos dauerte die Entfaltung ihrer übersinnlichen Fähigkeiten noch immer an. Und damit wurde sie immer wertvoller.

»Du kannst das. Licht wieder einschalten, Atlan.« Ich befolgte auch diese Bitte.

Sie kam zu mir und hob einen Arm.

»In dieser Richtung befindet sich Marie. Die Entfernung beträgt höchstens hundert Schritte.«

»Und dort ist auch Zulgea?«

»So ist es. Ich brauche sie nicht zu fürchten. Die Integrale haben unseren Aufenthaltsort längst festgestellt, aber sie greifen nicht mehr an.«

»Warum?« fragte Parillyon, bevor ich etwas sagen konnte.

»Weil ich es nicht will.« Sie blickte uns sehr selbstbewußt an. Ich mußte an die erste Begegnung mit Flora denken. Sie lag erst wenige Tage zurück. Durch Sarahs Drängen war ich auf die Spur ihrer Tante gekommen, die auf New Marion in einem Heim für geistig Behinderte ein trauriges Leben geführt hatte. Was war in dieser kurzen Zeit aus Flora geworden!

Page 46: Die Facette von Mesanthor

Parillyon schien ähnliche Gedanken zu haben, denn er starrte Flora mit großen Augen an.

»Arien lebt«, berichtete Flora weiter. »Er ist in einer Zelle eingesperrt, die auch in dieser Richtung liegt. Er grübelt über die Hexe nach. Er hat sie gesehen. Sie erinnert ihn an etwas.

Wahrscheinlich hat er einmal von ihr geträumt. Und jetzt ist dieser Traum Wirklichkeit geworden.«

Sie ging einfach los. Die Beleuchtung des Pyramidons flammte wieder auf.

»Bitte«, sagte Flora.

»Wie bitte?«

»Ich habe das Licht eingeschaltet«, erklärte Flora mit einer Selbstverständlichkeit, daß ich eine Gänsehaut bekam. »Das vereinfacht die Sache. Und Zulgea weiß nichts davon.«

Es ist alles ganz anders, meldete sich der Extrasinn reichlich unklar. Es muß anders sein, weil es sonst unmöglich wäre.Was? fragte ich in Gedanken zurück.

Es ist besser, wenn ich schweige. Ich würde den Erfolg, der sehr nahe ist, gefährden. Flora ist stark, aber alles kann auch sie nicht verkraften.Ich folgte der Frau und Parillyon. Neuer Mut beflügelte mich. Ich verstand zwar nicht, was mein zweites Bewußtsein verheimlichte, aber eine Entscheidung mußte herbeigeführt werden. Sarah sollte ihre Mutter wiederbekommen. Die Facette fürchtete ich nicht mehr, denn Flora war für jede Überraschung gut. Die Dinge hatten sich sehr positiv entwickelt.

Eine seltsame Ruhe kehrte ein. Ich schrieb auch sie dem Einwirken Floras zu. Wir kamen schnell voran.

»Eine Energiesperre.« Flora blieb stehen und deutete nach vorn. »Ich kann sie nicht überwinden. Meine Kraft wirkt nicht gegen technische Dinge.«

Ich ging an ihr vorbei und prallte gegen ein unsichtbares Hindernis.

»Hier!« Parillyon reichte mir das kleine Gerät, daß ich bei unserer Flucht aus der Gefängniszelle dem Integral abgenommen hatte. Der Yiker hatte es sorgfältig aufbewahrt.

Auch mit dem Gerät kam ich nicht durch die Sperre.

»Du mußt den Kode ändern, Atlan.« Flora hatte die Augen geschlossen. Dann nannte sie eine Zahlenfolge. Ich erkannte ein Tastenfeld auf dem Gerät. Die Zahlensymbole waren in dem mir vertrauten Alkordisch gehalten. Bevor Flora die Ziffern wiederholte, hatte ich diese eingegeben.

Mein Versuch, die Energiewand zu durchqueren, hatte Erfolg. Ich ging zurück, nahm Flora und Parillyon an die Hand, und gemeinsam kamen wir unserem Ziel wieder ein Stück näher.

»Tötet sie!« kreischte eine Stimme durch das Pyramidon.

»Zulgea«, erklärte Flora gelassen.

Plötzlich umringten uns wabbelige Gestalten. Es konnte sich um keine wirklichen Lebewesen handeln, denn die Formen dieser monströsen Wesen glichen keiner bekannten biologischen Lebensform.

»Zulgeas Leibwächter.« Flora zog Parillyon an meine Seite. »Ich habe keine Macht über sie, aber ich brauche auch keine.«

Die unförmigen Gestalten schwangen ihre keulenartigen Extremitäten. Meine Waffen zuckten hoch, aber Flora drückte meine Arme wieder nach unten. Auch Parillyon durfte nicht feuern.

»Es muß anders geschehen«, behauptete die Celesterin. »Sie müssen sich auch ohne meine Kraft fügen.«

Page 47: Die Facette von Mesanthor

Die Monster gaben plötzlich schrille Schreie von sich. Einige lösten sich zu einer breiigen Masse auf, die anderen flohen in alle Richtungen.

»Sie erkennen mich an«, behauptete Flora. »Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich habe nichts getan.«

Ein weiterer Beweis, meldete sich der Extrasinn.

»Wofür?« fragte ich laut.

Der Logiksektor schwieg, aber Flora sagte:

»Ich verdanke dir nicht nur mein wiedergewonnenes Leben, Atlan. Du hast mich auch vor dem Tod durch mein Ebenbild bewahrt, als meine Kraft noch nicht zur Gänze da war. Ich werde das nie vergessen, Beauftragter der Kosmokraten!«

Woher wußte sie das? Ich hatte mit niemand darüber gesprochen. Selbst Sarah Briggs war nicht in allen Dingen über die tieferen Gründe meines Aufenthalts in Alkordoom informiert.

»Die Monster sind vor dem Psi-Spalter geflohen«, vermutete ich laut.

Narr! antwortete der Extrasinn.

Flora sagte nichts. Sie ging zielstrebig auf ein Schott zu.

»Ich kann es nicht öffnen.« Sie zuckte bedauernd mit den Schultern.

Parillyon hob seine Waffe und blickte mich fragend an. Ich nickte. Der fein gebündelte Strahl schweißte die Verriegelung heraus. Parillyon zog das Schott auf.

»Hallo, Freunde.« Arien Richardson grinste zufrieden. »Danke schön.«

Sein Blick fiel auf Flora, und er schlug die Hände vors Gesicht.

»Nein!« schrie er auf, wie ein kleines Kind jammert, dem man die Mutter genommen hat. »Nein! Nein!«

Ich trat zu ihm hin und zog seine Hände herunter. In seinen Augen standen Tränen.

»Was ist los, Arien?« versuchte ich ihn zu besänftigen.

Der Celester schüttelte den Kopf und preßte die Lippen aufeinander.

»Du kannst mir vertrauen, Feuerwehrmann!«

»Ich weiß es, Atlan.« Er klammerte sich an meine Schultern. »Ich kann es nicht sagen. Etwas anderes ist aber wichtig. Ich habe Zulgea verraten müssen, wo ANIMA, meine Söhne und der Doc sind. Meine Abwehrkräfte waren anfangs nicht stark genug.«

»Die KORALLE?« fragte ich. 1 »Davon weiß die Hexe nichts.«

»Was weißt du noch, Arien?« bohrte ich weiter, diesmal eine Nuance schärfer.

»Es kommt kein Wort über meine Lippen.« Arien blieb hart. »Ich kann euch nur bitten, daß wir allesamt das Pyramidon so schnell wie möglich verlassen. Flora kann meine Gedanken nicht erfassen, und das ist gut so.«

Ein Gedanke blitzte in mir auf. Arien hatte die Facette gesehen. Er hatte sich an etwas erinnert, was Flora seinem Denken noch hatte entnehmen können. Er hatte das aber erst erkannt, als er jetzt wieder Flora gegenüber stand.

Der letzte Beweis, meldete sich der Extrasinn. Die Zusammenhänge werden logisch. Flora ist die geborene Mutantin. Ihre Schwester Marie war und ist es auch. Marie hat Flora damals ausgeschaltet und ihr den Hypnoblock verpaßt, damit sie ihre Pläne nicht mehr stören konnte. Zulgea war wie von Sinnen und halb gelähmt, als sie ihre Schwester wiedersah. Sie vergaß sogar, ihre Integrale gezielt zu steuern.

Page 48: Die Facette von Mesanthor

»Weiter!« drängte ich. »Sprich es aus, aber laß es Flora nicht wissen. Sie würde diesen Schock niemals verdauen. Arien hat das auch erkannt.«

»Was sagst du?« fragte mich Parillyon. Flora starrte in eine andere Richtung und nahm von meinem Selbstgespräch keine Notiz.

Wenn du es deutlich hören willst, erklärte der Extrasinn hart, Marie und Zulgea sind identisch. Flora sucht etwas, was es nicht mehr in der Form gibt, die sie aus ihrer gestörten Erinnerung kennt. Und Sarah ist gut beraten, ihrer Mutter nicht zu begegnen.Es stimmte! Mir war es nun auch klar. Alkordoom war an Grausamkeiten nicht sparsam. Ein Mensch, eine Mutantin, eine Celesterin als Facette!

Arme Sarah! Sie wartete jetzt auf New Marion auf ihre Mutter. Daß sie auch auf mich wartete, spielte in diesem Augenblick keine Rolle mehr.

»Arien«, sprach ich. »Ich habe dich verstanden. Du hast den richtigen Weg vorgeschlagen. Wir schlagen uns durch, um das Pyramidon zu verlassen. Und wir werden Crynn nie mehr betreten.«

»Danke«, antwortete der Feuerwehrmann.

Parillyon blieb ruhig. Er starrte uns an, aber er verstand die Zusammenhange nicht.

»Diese Richtung.« Ich deutete den Weg zurück, den wir gekommen waren. Parillyon setzte eine fragende Miene auf und blieb stehen. Arien setzte sich sofort in Bewegung. Er faßte Flora am Arm und wollte sie mitziehen.

»Dann sind die Verhältnisse ja geklärt«, meinte die Celesterin ganz ruhig. »Ich wünsche euch viel Erfolg bei dem Ausbruchsversuch. Ich werde euch aus der Ferne unterstützen, so gut es geht. Meine Kraft lebt. Sie ist da. Sie kann viel bewirken. Ihr werdet vor mir New Marion erreichen. Ich komme dann später mit Marie nach.«

»Es ist besser«, sagte ich etwas rauh, »wenn du mit uns gehst, Flora. Wir haben hier nichts mehr verloren. Es gibt keine Möglichkeit, deine Marie zu befreien. Sie ist ihre eigene Gefangene.«

»Auf Wiedersehen«, antwortete sie mir in einem Allerweltston. Sie schüttelte Ariens Griff ab. »Ich gehe allein weiter.«

»Ich gehe mit dir, Flora«, erklärte Parillyon.

»Ihr seid alle übergeschnappt«, erregte sich Arien Richardson. »Ihr kapiert nichts. Gar nichts.«

Ich kämpfte mit mir selbst. Da waren Sarahs Wunsch, das Rätsel ihrer Mutter zu lösen, der Auftrag der Kosmokraten, mein Ehrgeiz – und das Gefühlsleben eines Menschen, des Menschen Flora Almuth, der ich einen tiefen Schock ersparen wollte, der alles zunichte machen würde, was in kurzer Zeit ausgebaut worden war. Es gab keine entscheidende Priorität. Mein Gefühl sagte, daß das Schicksal Floras wichtiger war als der Auftrag der Kosmokraten. Mein Verstand behauptete das Gegenteil. Und der Extrasinn schwieg.

Soll ich Flora sagen, daß Zulgea ihre Schwester ist? fragte ich den Logiksektor direkt.

Nein!Ich wußte nicht, was ich tun sollte.

Die Entscheidung wurde mir und auch Arien abgenommen.

»Genug gespielt«, dröhnte eine Stimme durch die Gänge des Pyramidons und brach sich in einem vielfachen Echo. »Ihr werdet vorgeführt und vernichtet.«

Zulgea von Mesanthor!

»Sie ist erwacht«, meinte Flora. Auch jetzt sprach sie noch so, als ob sie vom Wetter redete. »Sie muß Marie herausrücken. Oder ich bringe sie um.«

Page 49: Die Facette von Mesanthor

Arien warf mir einen verzweifelten Blick zu und ballte seine Hände zu Fäusten.

Ich spürte plötzlich einen Sog. Eine unsichtbare Kraft drängte mich auf Arien, Flora und Parillyon zu, eine Energiefessel. Wir wurden auf engstem Raum zusammengepreßt und konnten uns nicht mehr bewegen. Dann hob das Energiefeld uns in die Höhe. Wir bewegten uns weiter, ohne uns selbst rühren zu können.

»Meine Richtung«, sagte Flora. »Wir werden Marie finden.«

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9.Das Fragment ANIMAS besaß keinen Namen. Es war in den Händen der Integrale, die getreu dem Befehl der Facette folgten. Zulgea von Mesanthor wollte wissen, aus welcher Substanz dieses seltsame Raumschiff bestanden hatte, das die Geschütze des Pyramidons vernichtet hatte.

Das Fragment besaß kein Gehirn. Es verhielt sich instinktiv. Auch jetzt, als es ins Pyramidon gebracht wurde und das Interesse der Facette weckte.

Aber das Fragment lebte!

Es blieb ruhig und wartete auf seine Chance, wie es der Instinkt ANIMAS vorschrieb. Es spürte nichts, und es tat nichts. Es ließ sich von den Integralen zu Zulgea tragen. Und als es diese erreicht hatte, tat es noch immer nichts. Es wartete, denn sein Instinkt befahl ihm Geduld.

Es nahm nichts wahr. Es war da, aber doch nicht tot. Es wartete auf ein Zeichen Atlans.

Ich werde untersucht. Das erkannte das Bruchstück ANIMAS. Zulgea will wissen, aus welchem Stoff das seltsame Raumschiff bestand, das Flora nach Crynn brachte.Der scheinbar leblose Brocken lag nun auf einem Labortisch in Zulgeas Heim. Die Facette würde sich darum kümmern, wenn sie die aktuellen Probleme gelöst hatte.

*

Die Energiefessel hielt uns eisern fest. Eng aneinandergepreßt wurden wir durch die Gänge des Pyramidons geschleppt. Ich nahm jede Einzelheit der Umgebung auf. Das Pyramidon war eine rein technische Anlage. Irgendeine Facette lange vor Zulgea mußte es gebaut haben. Das Innere ähnelte teilweise dem eines modernen Raumschiffs.

Arien Richardson schimpfte wie ein Rohrspatz, aber auch er fand kein Mittel, um der Fessel zu entkommen.

»Es ist besser«, sagte Flora ruhig, »wenn du den Mund hältst. Wir sind gleich am Ziel. Da ist es besser, wenn wir die Hexe nicht reizen.«

»Die Hexe! Die Hexe!« äffte der Celester Flora nach. »Du hast ja keine Ahnung, wer sie ist.«

»Ich werde es aber gleich erfahren.«

Ein mehrfaches Schott glitt zur Seite. Wir wurden in einen Raum getragen und dort abgesetzt. Das Fesselfeld öffnete sich ein wenig, so daß wir uns auf ein paar Quadratmetern frei bewegen konnte.

Ich wußte sofort, daß die Alte in dem breiten Sessel Zulgea war. Ihre Ähnlichkeit mit Flora war gering. Zulgea oder Marie mußte biologische Veränderungen durchgemacht haben. Ihr Gesicht war aufgedunsen und abgrundtief häßlich. Ihre Augen waren gerötet. Sie flackerten gefährlich.

Wahnsinn! vermutete der Extrasinn.

Die Facette schüttelte einen Teil der Kleiderfetzen ab und erhob sich. Sie schritt schlurfend auf uns zu.

»Hallo Schwester«, gurgelte sie und brach in schallendes Gelächter aus.

Flora Almuth starrte sie schweigend an. Ihre Lider zuckten nervös. Ich erwartete einen Nervenzusammenbruch oder einen Kollaps, aber Flora blieb auch jetzt ruhig. Sie drehte mir ihr Gesicht zu. Ihre Trauer war tief.

»Du und Arien«, sprach sie kaum hörbar. »Ihr habt’ es schon geahnt, nicht wahr?«

Ich nickte nur.

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»Es ist nicht Marie«, fuhr Flora gedankenverloren fort. »Sie war einmal meine Zwillingsschwester. Jetzt ist sie nur noch ein verabscheuenswertes Untier. Du tust mir leid, Marie.«

»Geschwätz!« fauchte Zulgea. »Du warst immer eine Träumerin. Ich erinnere mich noch gut an dein Gefasel von Güte und Menschlichkeit. Was hat es dir eingebracht? Nichts!«

»Ich bin nicht gekommen, um mich mit dir zu streiten, Zulgea.« Diesmal wählte Flora den angenommenen Namen der Facette. »Ich wollte Marie befreien, aber dieses Ansinnen muß ich wohl aufgeben. Bei dir gibt es nichts mehr zu retten. Also werde ich unverrichteter Dinge wieder gehen.«

»Nichts wirst du!« Zulgea lachte meckernd. »Du und deine Begleiter, ihr glaubt doch nicht, daß ihr das Pyramidon lebend verlassen werdet. Bevor ich euch töte, möchte ich aber wissen, wie du nach Crynn gelangen konntest. Der Hypnoseblock, mit dem ich dich damals zu einer Irren gemacht habe, hätte eigentlich nicht zerstört werden können. Was ist geschehen?«

»Dir habe ich also die 20 Jahre im Heim zu verdanken«, staunte Flora. »Du widerst mich an, Hexe!«

»Antworte ihr«, flüsterte ich Flora zu. »Wir müssen Zeit gewinnen.«

Die Celesterin nickte unmerklich.

»Meine Befreiung verdanke ich deinem Vorgänger Cuzz«, erklärte sie. »Teile des Cuzz haben damals deinen Mordanschlag überlebt. Sie gelangten nach New Marion. Cuzz besaß dieses Gerät, den Psi-Spalter. Er wollte damit deine Macht brechen, aber der Spalter wirkte auch bei mir. Er wirkt gegen alle psionischen Kräfte, die aus deinem kranken Gehirn kommen. Nach der Befreiung entfalteten sich in mir die Kräfte, mit denen du schon jahrelang gespielt hast. Jetzt sind wir gleichwertig.«

»Lächerlich.« Die Facette schien sich zu amüsieren. »Du bist meine Gefangene. Vielleicht war es damals ein Fehler gewesen, dich nicht gleich zu töten. Ich werde das Versäumte nachholen.«

»Damals, Zulgea. Was geschah damals wirklich?«

»Du weißt es nicht mehr?« Zulgea lachte auf. »Wir waren immer gleich gewesen. Und waren wir es nicht. Ich besaß Ehrgeiz. Ich hatte einen starken Willen. Du warst eine Träumerin. Aber das war nicht der einzige Vorteil, den ich dir gegenüber genoß. Meine Psi-Fähigkeiten entwickelten sich früher als deine. Als du die ersten Zukunftsahnungen hattest, konnte ich schon biologisches Zellplasma verformen. Ich wandte diese Gabe auf mich selbst an und veranlaßte mein Gehirn, Psi-Kräfte zu formen. So wurde ich unbesiegbar. Leider mußte ich ein paar Gestalten aus meiner Umgebung entfernen. Zuerst mußte der Verrückte sterben, der meine Fähigkeiten erkannt hatte.«

»Du sprichst von deinem Mann, nicht wahr?«

»Mann!« höhnte Zulgea. »Er war ein Nichts. Er störte mich.«

»Er war der Vater deiner Tochter Sarah«, antwortete Flora.

»Unsinn! Ich habe keine Tochter.«

»Du hast dieses Wissen verdrängt. Du bist in der Tat ein anderes Wesen geworden. Sarah kannst du aber nicht verleugnen.«

Zulgea brauste auf. »Ich will davon nichts hören! Schweig! Oder ich töte dich auf der Stelle.«

»Wie du willst.« Flora lenkte ein, als ich sie sanft anstieß. »Wie war das mit dem Hypnoseblock bei mir?«

»Deine Zukunftsahnungen, Schwester.« Zulgea kicherte. »Du brachtest mich auf die richtige Spur, denn deine Ahnungen verrieten mir, daß ich die Leuchtende von Kontagnat werden würde. Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich heute nicht hier. Natürlich mußte ich dafür sorgen, daß du mir nicht im Wege standest. Auch sollte niemand etwas von meinen Planen erfahren. Also raubte ich dir

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durch eine suggestive Order dein Wissen und pflanzte dir den Block ein, der dich zu einer harmlosen Irren machte. Ich war gnädig mit dir gewesen. Das war damals. Heute kannst du nicht mehr mit meiner Gutmütigkeit rechnen. Du wirst sterben, Flora!«

»Warum hast du dein Kind Sarah nicht auch umgebracht?«

Trotz meiner Warnung schnitt Flora dieses Thema wieder an.

»Ich wollte es tun.« Die Facette lachte abscheulich. »Aber Drei-B hatte Sarah schon gestohlen. Und ich hatte keine Zeit mehr, sie zu suchen. Auf Crynn wartete Cuzz auf seinen Tod. Und ich wartete auf die Macht.«

»Du bist so schlecht, Zulgea«, stieß Flora heftig hervor, »so abgrundtief schlecht.«

»Ich bin stark und schlau.« Die Hexe amüsierte sich. »Ich habe die Macht über alles. Auch über euch!«

»Auch über den Erleuchteten im Nukleus?« mischte ich mich ein.

»Der ist weit weg. Er bekommt seinen Tribut, und damit läßt er mich in Ruhe.«

Ich gewahrte plötzlich eine Bewegung auf einem Tisch in Zulgeas Rücken. Ein armgroßes Stück Masse bewegte sich. Auch Arien sah das Ding. Es kroch wie ein dicker Wurm über die Tischplatte in Richtung der Wand. Dabei veränderte es mehrfach sein Aussehen. Einmal glaubte ich einen Stein zu sehen, dann war es ein Kristall und dann wieder eine formlose Masse. Diese Bilder erinnerten mich zu deutlich an ANIMA. Mir fiel wieder ein, daß Arien der Facette verraten hatte, wo ANIMA und ihre Insassen waren.

»Zulgea!« sagte ich. »Wir sind mit einem biologischen Raumschiff nach Crynn gekommen. Es heißt ANIMA. Wo steckt ANIMA?«

»Ich habe sie vernichtet. Gegen die Geschütze des Pyramidons konnte sie nicht bestehen. Niemand kann gegen mich bestehen!«

Das ist nicht vorstellbar, meldete sich sofort der Extrasinn. Es muß etwas geschehen sein, was Zulgea nicht genau weiß. Der Brocken da hinten, der an der Wand hochklettert, könnte ein Stück ANIMAS sein. Halte die Hexe weiter hin.Das tat Flora von sich aus. Entweder hatte sie mit ihren unbegreiflichen Sinnen die Worte des Logiksektors wahrgenommen, oder sie handelte instinktiv richtig. Sie verwickelte die Facette immer tiefer in eine Diskussion, während ich den armlangen Wurm beobachtete, der nun schon die Decke erreicht hatte. Er haftete an dieser und kroch weiter. Die Richtung, die er wählte, zeigte auf uns.

Als das Fragment ein paar Meter überwunden hatte, schwenkte es etwas zur Seite und hielt auf Zulgea zu.

»Genug geschwätzt«, erklärte diese gerade.

Sie winkte einem Roboter. »Schalte das Energiefeld auf maximale Werte, damit unsere Besucher zerquetscht werden.«

Der Roboter trat an ein Schaltpult, als sich der Wurm mit einem schmatzenden Geräusch von der Decke löste. Zulgea sah ihn noch nahen, konnte aber nicht mehr ausweichen. Der Wurm landete auf ihrer Schulter und rollte sich mit einer blitzschnellen Bewegung um den Hals der Facette.

Zulgea stieß einen spitzen Schrei aus und versuchte, das Ding von ihrem Körper zu reißen. Als das nicht gelang, rief sie nach dem Roboter. Dieser unterbrach seine Schaltungen.

Das Fesselfeld blieb konstant, aber wir waren wieder auf engstem Raum zusammengepreßt.

Der Roboter riß sich bei dem Versuch, das Fragment vom Hals seiner Herrin zu entfernen, einen Arm aus. Er versuchte es mit einem fein gebündelten Strahl; aber dieser wurde von dem Wurm

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reflektiert.

Ich erkannte unsere Chance.

»Zulgea!« schrie ich laut. »Löse unsere Fesseln! Nur ich allein kann dich von diesem Ding befreien.«

Die Facette torkelte durch den Raum. Ihr Gesicht lief rot an.

»Abschalten!« keuchte sie mit letzter Kraft.

Das Energiefeld verschwand. Wir waren frei.

»Sie kommt auf New Marion vor ein ordentliches Gericht«, erklärte ich. Dann eilte ich zu ihr hin und berührte das seltsame Stück an ihrem Hals. Zweifellos war es Materie AN IM AS. Wie die Schlummernde es fertiggebracht hatte, dieses Fragment in das Pyramidon zu schleusen, würde ich sicher bald erfahren.

»Laß los!« befahl ich dem Brocken.

Der lockerte den Würgegriff, blieb aber dicht am Hals der Hexe liegen.

»Du wirst uns freien Abzug gewähren«, befahl ich der Facette. »Und du wirst uns begleiten. Deine Herrschaft ’ ist zu Ende. Ich verlange von dir, daß du den Integralen die entsprechenden Anweisungen gibst.«

»Nie und nimmer, Atlan.« Zulgea hatte sich schon wieder in Gewalt. »Dieses Ding werde ich gleich entfernt haben. Wenn du es nicht machst, schaffen es meine Integrale.«

Sekunden später wimmelte es in dem Raum von den Schwebewesen.

»Entferne diesen Wurm ganz, Atlan«, drängte die Facette. »Oder ich lasse Flora sofort erschießen.«

»Geh nicht darauf ein«, verlangte die Celesterin.

Ich war verunsichert. Zu schnell und außerhalb meiner Kontrolle hatten sich die Dinge entwickelt. Ich sah aber noch eine Chance für uns, und die wollte ich nutzen. Also schwieg ich.

»Myth!« herrschte Zulgea eines ihrer Integrale an. »Töte diese Frau! Warum befolgst du meinen Gedankenbefehl nicht?«

»Ich empfange zwei Anweisungen von dir«, beklagte sich Myth. »Sie widersprechen sich. Also weiß ich nicht, was ich tun soll.«

Ich warf Flora Almuth einen fragenden Blick zu. Sie nickte kurz.

»Sie erkennen meine Befehle ebenso an wie die der richtigen Facette«, erklärte sie dazu. »Von den Integralen droht uns keine Gefahr mehr.«

Zulgea schien das nun auch zu bemerken. Sie wurde noch wütender und rüttelte wie besessen an dem Integral. Sie versuchte die Roboter auf uns zu hetzen, aber auch damit hatte sie keinen Erfolg. Floras Ausstrahlung mußte schon so stark sein, daß sie keine Chance mehr hatte.

»Du wirst tun, was wir sagen«, wandte ich mich noch einmal an Zulgea. Vielleicht waren meine Worte eine Nuance zu hart, denn prompt zog sich der Klumpen an ihrem Hals wieder zusammen.

»Aufhören!« keuchte die Hexe. »Aufhören.«

Sie taumelte zu Boden. Ich sprang zu ihr hin und legte eine Hand auf das Fragment. Erschrocken zog ich sie wieder zurück. Das Ding war glühend heiß. Die Haut meiner Finger war an ihm versengt worden.

Ich redete auf den Wurm ein, aber ich hatte keinen Erfolg damit. Beharrlich krümmte der sich immer weiter. Dabei glühte er auf. Flora folgte dem Geschehen, ohne eine Miene zu verziehen. Arien schimpfte, und Parillyon verbarg sein Gesicht in den Händen. Auch ich wandte mich von dem

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unschönen Bild ab, denn ich konnte nichts mehr tun.

Sekunden später war die Facette tot. Ein Reinigungsroboter entfernte die sterblichen Reste und den Staub des zerfallenen Fragments.

»Aus«, sagte Flora tonlos. »Ihr konnte niemand helfen. Arme Sarah, nun wirst du deine Mutter doch nie wieder sehen.«

»Es ist besser so«, tröstete ich Flora. »Es wird meine Aufgabe sein, ihr alles schonend zu erzählen. Oder möchtest du mir dabei behilflich sein?«

»Ich?« staunte die Celesterin. »Dazu müßte Sarah ja extra nach Crynn kommen.«

Ich zog die Stirn kraus, weil ich Flora nicht verstand.

»Ihr könnt gehen«, wandte sich die Frau an die Integrale.

Dann kam sie zu mir, nahm meine Hand und blickte mir in die Augen.

»Atlan, ich habe dir viel zu verdanken. Eigentlich alles. Ich werde das nie vergessen.«

»Das ist sehr schön, Flora. Aber was willst du mir wirklich sagen?«

»Ich bin die neue Facette von Kontagnat. Ich werde den Sumpf in eine blühende Insel der wahren Menschlichkeit verwandeln.«

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10.Ich mußte nach dieser Eröffnung erst einmal tief Luft holen. Arien erging es nicht viel anders. Er stand da und starrte Flora mit offenem Mund an. Es kam kein Wort über seine Lippen. Parillyon verhielt sich ruhig.

»Das kann nie und nimmer gutgehen, Flora«, brachte ich schließlich hervor. »Du hast keine Vorstellung davon, wie groß der Sektor Kontagnat ist. Und eine Facette ist gegenüber dem Erleuchteten verpflichtet. Die Crynn-Brigade, die Machtkämpfe mit den anderen Leuchtenden, wie willst du das ohne Kenntnisse der Situation schaffen?«

Zwei Integrale kamen in den Raum, gefolgt von mehreren Robotern.

»Ich beginne mit der Umgestaltung der Zentrale«, erklärte Flora. »Alle persönlichen Spuren Zulgeas werden entfernt. Nur die technischen Anlagen bleiben. Die andere Ausstattung kommt später dran. Hier wird sich viel ändern.«

»Die Technik, Flora. Du hast doch keine Ahnung davon.« Sie reagierte nicht auf meinen erneuten Einwand.

»Komm!« Sie winkte mich an ein Pult und betätigte dort mehrere Schaltungen. Ein Bildschirm erhellte sich. Ich erkannte die Umgebung des Pyramidons. Flora stellte eine Ausschnittsvergrößerung her.

Zwei Integrale steuerten auf den Boden zu.

»Die schwarzen und grauen Brocken, die du dort siehst, sind Teile ANIMAS. Myth und Zopp sind auf dem Weg zu ihr, um ihr von unserem Erfolg zu berichten. Ich hoffe, sie reagiert.«

Allmählich verschlug es mir die Sprache. Ich konnte nur noch mit dem Kopf schütteln.

Tatsächlich formierten sich die Trümmer ANIMAS. Der Vorgang dauerte einige Zeit, dann erblickte ich die Schlummernde wieder in der alten Form. Sie stieg in die Höhe und flog vom Pyramidon weg.

»Sie holt die Richardsons und den Medizinmann«, erklärte mir Flora.

»Sie befinden sich bei der KORALLE.«

»Woher willst du das wissen?«

»ANIMA hat es Myth gesagt. Und mit den Integralen stehe ich in einer geistigen Verbindung. Ich vernehme ihre Gedanken, und sie hören mich.«

»Schön und gut, Flora, aber das ersetzt nicht das fehlende Wissen. Du kannst als Facette nicht bestehen.«

»Doch, Atlan. Es gibt natürlich Probleme, denn ich konnte nicht in Erfahrung bringen, was Zulgea über die Psi-Potentiale und den Erleuchteten wußte. Aber ihr anderes Wissen und insbesondere das über ihre Machtstruktur ist von ihr auf mich übergegangen. Sie hat es seinerzeit mit Cuzz nicht anders gemacht.«

»Übergegangen?« zweifelte ich.

»Du könntest auch sagen, ich habe es mir in ihrem Todeskampf einfach genommen. Meine Kraft ist groß. Sie ist ständig gewachsen, seit der Psi-Spalter die Blockade durchbrach. Die aufgestaute Entwicklung lief an. Durch Wesen wie dich wurde sie noch beschleunigt, denn ich weiß auch über dich Dinge, die du nicht erwähnt hast. Ich weiß, warum du in Alkordoom weilst. Ich werde nicht darüber sprechen, aber ich kann dir eine Stütze sein. Natürlich müßte auch Drei-B einverstanden sein.«

»Ich weiß nicht, wie das geschehen soll.«

Page 56: Die Facette von Mesanthor

»Komm!«

Sie ging zur anderen Seite des Halbovals, wo die Roboter bereits die seltsamen Gemälde von den Wänden entfernt hatten. Zwei Integrale leiteten die Maschinen bei der Arbeit an. Ich gewahrte nicht, wie Flora diese lenkte. Es schien ihr jedenfalls keine Mühe zu machen, alle Integrale gleichzeitig zu kontrollieren.

»Es gibt viel zu tun«, dachte sie laut. »Im Augenblick werden die Gefangenen befreit. Sie können Crynn verlassen, wenn sie es wollen. Ich sage ihnen aber nicht, daß Zulgea nicht mehr existiert. Nach außen hin soll alles in Kontagnat so bleiben, wie es ist. Ich muß Unruhen vermeiden.«

Ein weiteres Integral schwebte herbei. Es führte Floras lautlose Befehle aus.

»Eine Hyperfunkverbindung nach New Marion«, erklärte sie. Die Ruhe und Gelassenheit, mit der sie sprach, übertrug sich allmählich auch auf mich. »Der Zentralrechner, er befindet sich übrigens in einem Nebenraum, stellt gerade nach den Anweisungen Zopps einen Informationssatz zusammen, damit Drei-B schnell und ausreichend informiert wird. Darin ist auch mein Vorschlag über die zukünftige Zusammenarbeit enthalten. Es soll eine ständige und geheime Funkbrücke von hier nach New Marion geben. Ohne meine Celester im Rücken wäre es in der Tat sehr riskant, allein Kontagnat umzukrempeln. Ich werde nicht nur Ratschläge brauchen, sondern auch sicher einmal praktische Hilfe. Da zähle ich auf Leute wie Arien und seine Feuerwehr.«

Auf dem Display der Hyperfunkstation erschien der Kopf von Benjamin Briggs. Das Oberhaupt der Celester staunte nicht schlecht, als es Flora und mich sah.

»Sprich du, Atlan«, forderte mich Flora lächelnd auf.

»Die Sache ist gelaufen, Drei-B«, begann ich. »Sarahs Traum, ihre Mutter noch einmal zu sehen, hat sich allerdings zerschlagen. Über alle anderen Dinge wirst du nun durch einen vorbereiteten Infoblock in Kenntnis gesetzt. Macht euch auf eine saftige Überraschung gefaßt. Grüße Sarah! Und sage ihr, daß ich bald wieder bei ihr bin.«

Flora gab dem Integral ein Zeichen. Der Block, bestehend aus Bildern und Text, wurde abgestrahlt. Ich sah mir alles an und kam zu dem Schluß, daß Flora Almuth der Sache gewachsen war. Erst als ich mich damit abgefunden hatte, wurde mir die Bedeutung der jüngsten Ereignisse klar.

Mit New Marion hatte ich eine neue Heimat gefunden. Mit den Celestern konnte ich wieder unter Menschen leben, und noch dazu unter einem Haufen besonders liebenswerter.

Kontagnat befand sich nun in der Hand Floras. Ein Neuntel von Alkordoom war damit dem unmittelbaren Zugriff des Bösen entzogen. Die Ausgangssituation für die Durchführung des Auftrags der Kosmokraten hatte sich damit ganz entscheidend verbessert. Eigentlich konnte ich mir gratulieren.

Vergiß nicht die ungezählten Gefahren, die noch in Alkordoom lauern! Der Extrasinn teilte – wie üblich – meine Freude nicht. Er ließ mich schon seine nächsten Warnungen hören.

Flora nahm mich mit in einen kleinen Nebenraum. Auch hier waren Integrale und Roboter mit der Umgestaltung der Einrichtung beschäftigt.

»Ich muß dich allein sprechen.« Sie schloß die Tür hinter uns, damit Arien und Parillyon uns nicht mehr hören konnten. »Ich habe das erfaßt, was du den Auftrag der Kosmokraten nennst. Du bist noch weit weg von deinem Ziel. Aber nun brauchst du es nicht mehr allein anzugreifen. Auch ich will, daß die Macht der anderen Facetten und insbesondere die des Erleuchteten zerschlagen wird. Ich will einfach Frieden und Ordnung in Alkordoom. Es wird ein langer Weg werden, aber ich biete dir jede Unterstützung an.«

»Meine Bedenken sind nicht restlos weggewischt«, antwortete ich.

»Aber ich willige ein. Es ist gut, Kontagnat im Rücken zu wissen, wenn du hier die Zügel in den Händen hältst.«

Page 57: Die Facette von Mesanthor

Ich gab ihr meine Hand.

»Danke«, sagte sie.

»Danke, Flora«, antwortete ich fast feierlich.

Damit war unser Bündnis besiegelt.

»Ich bleibe weiter Zulgea von Mesanthor«, erklärte mir Flora noch einmal, als wir uns wieder zu Arien und Parillyon begaben. »Ich werde die Crynn-Brigade ausschließlich zur Sicherung der Grenzen von Kontagnat einsetzen. Gentile Kaz wird immer wieder versuchen, bei uns Unfrieden zu stiften. Und die anderen Facetten sind keinen Deut besser.«

Mehrere Bildschirme waren aktiviert. Ich erkannte ANIMA, die direkt über der Spitze des Pyramidons schwebte. Wenig später waren Spooner und Volkert bei uns. Es gab viel zu erzählen.

Flora entwickelte eine geradezu hektische Aktivität. Sie entließ die monströsen Lebewesen, die Zulgeas Kernwache gewesen waren, in die Freiheit.

Zwei Schiffe der Crynn-Brigade brachten die Kunstwesen, deren Herkunft wir nicht klären konnten, auf einen unbewohnten Planeten.

Die ständige Funkbrücke nach New Marion wurde erprobt. Sie funktionierte ausgezeichnet. Nachrichten liefen in beide Richtung.

Stunden später kam Flora mit Parillyon zu mir.

»Du wirst sicher bald starten wollen, Atlan«, meinte die neue Facette. »Du wirst nicht behindert werden, denn meine wichtigsten Anweisungen sind bereits bei der Brigade bekannt. Einige führende Thater haben sich zwar gewundert und Rückfragen gestellt, aber der Machtwechsel hat sich doch unproblematisch vollzogen. Die Integrale berichten, daß meine Anordnungen sogar begrüßt wurden.«

Ich war mit der Entwicklung der Dinge auch zufrieden. Flora Almuth war es gelungen, meine letzten Zweifel weitgehend zu beseitigen.

»Parillyon hat noch ein Anliegen«, fuhr sie fort. »Er möchte mit euch nach New Marion fliegen. Sein Volk ist ausgestorben oder besser gesagt, ausgerottet. Er hat keine Heimat mehr.«

»Er ist bei uns willkommen«, erklärte Arien Richardson, und ich pflichtete ihm bei.

Eine halbe Stunde später waren wir alle an Bord ANIMAS, um nach New Marion heimzukehren. Flora blieb allein im Pyramidon zurück.

*

Ich wußte nicht, ob ich zufrieden sein konnte. Das Abenteuer mit der Facette hatte ich gut überstanden. Zu verdanken hatte ich das Atlan, Flora Almuth und Arien Richardson. Ohne sie wäre ich vielleicht für immer ein Gefangener des Pyramidons geworden. Im Nachhinein sah es so aus, daß ich für meinen Plan mit Zulgea von Mesanthor ein untaugliches Objekt ausgesucht hatte.

Ich hatte Pjik und Tatzo verloren. Aber ich hatte miterlebt, wie eine grausame Facette gegen eine andere ausgetauscht wurde. Leider war dies am falschen Ort geschehen.

Und mit der neuen Zulgea von Mesanthor konnte ich nichts anfangen. Sie war zu besessen von ihrer neuen Aufgabe. Ich konnte sie nicht einmal auf meine Pläne ansprechen. Es wäre absurd gewesen, und ich hätte mich nur verraten.

Wir waren auf dem Weg nach New Marion. Ich kannte diese Welt nicht, ja, ich hatte bis zu meinem Zusammentreffen mit Atlan und Arien nicht einmal gewußt, daß es sie gab.

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Eigentlich war meine Mission gescheitert. Ich hatte nicht das gefunden, was ich gesucht hatte. Und Zulgea war tot. Zurückkehren konnte ich also nicht. Ich wagte es auch nicht, mit meinen neuen Freunden über meine Probleme zu sprechen, denn die hatten selbst genügend Sorgen. Noch war Kontagnat nicht das, was sich Flora Almuth erträumte. Ich würde also auf New Marion keine Unterstützung finden.

Immerhin war es mir gelungen, mich ausreichend beliebt zu machen. Es hatte keine Probleme gegeben, in der Nähe Atlans zu bleiben. Ihn hatte ich längst auf meiner geheimen Kandidatenliste auf den ersten Platz gesetzt. Der Weißhaarige war ein fähiger Bursche. Er taugte für die Aufgabe meiner Freunde. Die Sache hatte nur einen Haken. Allan war selbst mit einer Mission beschäftigt. Etwas Genaues hatte ich bis jetzt darüber noch nicht erfahren.

Mir blieben also zwei Möglichkeiten.

Entweder gelang es mir, Atlan von der Notwendigkeit zu überzeugen, mir zu folgen. Oder ich mußte meine Tricks anwenden und gewaltsam vorgehen.

Die alte Station auf Kippelkart fiel mir wieder ein. Ich würde dem Weißhaarigen eine Geschichte auftischen müssen. Das schien mir doch der einfachere Weg zu sein.

Zunächst mußte ich abwarten und herausbekommen, was seine nächsten Schritte waren. Er mußte mir seine Ziele nennen, damit ich diese für meine nutzen konnte.

Je länger ich überlegte, desto klarer wurde mein neuer Plan. Skrupel kannte ich nicht. Die Belange von New Marion oder von Kontagnat zählten für mich nicht.

New Marion tauchte unter uns auf. ANIMA schuf ein Fenster, und ich konnte diese wirklich schöne Welt bewundern. Hier würde ich meinen Plan in die Tat umsetzen.

Nach der Landung beobachtete ich, wie Atlan eine Frau in seine Arme schloß und erst danach die anderen Celester begrüßte. Ich empfand nichts dabei und blieb auch dann gelassen, als ich überlegte, daß er sie so bald nicht mehr sehen wurde.

Er war mein Opfer. Er war an die Stelle Zulgeas getreten. Tess würde zufrieden sein, wenn ich ihm diesen Mann brachte. Und daß er dann seinen Willen nicht mehr besitzen würde, stand auch fest.

Ich würde die Sache geschickt einfädeln. Und er würde nichts merken.

*

In den Wäldern von Crynn, unweit vom Pyramidon, hockte eine alte Gestalt an einem Lagerfeuer, Colemayn der Weltraumtramp. Er blätterte in einem alten Notizbuch, das aus einfachem Papier war. Hier hatte er sich verschiedene Dinge aufgeschrieben.

Die Veränderungen auf Crynn waren kaum spürbar, aber Colemayn kannte sie. Er ergänzte seine Eintragungen um ein paar Worte und steckte das Büchlein wieder in den Rucksack. Dabei fiel sein Blick auf den alten, langläufigen Revolver. Die Waffe hatte ein paar Rostflecken angesetzt.

Colemayn suchte weiter und fand einen ölgetränkten Lappen. Mit der Geduld des Alters begann er die altertümliche Waffe zu reinigen. Dann überprüfte er die wenigen Stücke der Munition und schob sechs Patronen in die Kammern.

»Eine davon wird dich töten, Atlan«, murmelte er und lachte dabei freundlich. Die Waffe lag ruhig in seiner Hand.

Wenig später packte er alle Sachen ein und erstickte das Feuer. Aus einer nahen Quelle füllte er seine Wasserflaschen auf.

Die Nacht senkte sich übers Land. Colemayn brach auf. Er kannte seinen Weg, ohne darüber

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nachdenken zu müssen. Bis zum Raumhafen war es eine Stunde Fußmarsch. Von dort mußte er nach Kardoll, der Hauptwelt von Ordardor. Er würde keine Schwierigkeiten haben, an Bord eines der Schiffe zu gelangen, die unter dem Befehl von Gentile Kaz standen. Man würde ihn nicht einmal bemerken.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis er wieder auf den Beauftragten der Kosmokraten treffen würde. Nur würde diesmal alles anders sein.

Er wußte, daß er Atlan töten wurde.

ENDE

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Während Flora Almuth heimlich die Position der Facette Zulgea übernommen hat, um die Zustände in Kontagnat, dem Machtbereich ihrer Vorgängerin, grundlegend zum Positiven zu verändern, folgt

Atlan mit Parillyon und ANIMA einer Spur, die ihn in den Machtbereich von Gentile Kaz führt – und in neue, tödliche Gefahren.

Mehr zu diesem Thema berichtet Hubert Haensel im Atlan-Band 686 unter dem Titel:DIE REBELLEN VON ORDARDOR