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Die Geheimnisse von Orz-Otan

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

Nr. 621

Die Geheimnisse von Orz-Otan von H. G. Francis

Die Verwirklichung von Atlans Ziel, das schon viele Strapazen und Opfer gekostet hat – das Ziel nämlich, in den Sektor Varnhagher-Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen, scheint nun außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu lie-gen. Denn beim entscheidenden Kampf gegen Hidden-X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bewußtsein, sich die verlorenen Koordinaten wieder besor-gen zu müssen, folgt der Arkonide einer vagen Spur, die in die Randgebiete der Galaxis Xiinx-Markant führt, wo die SOL in erbitterte Kämpfe verwickelt wird. Inzwischen schreibt man an Bord des Generationenschiffs das Ende des Jahres 3807 Ter-razeit. Der hoffnungslos anmutende Kampf gegen das Manifest C, das die SOL in die Ver-nichtung zu führen drohte, ist siegreich beendet – dank den Informationen vom Atlan-Team, das der gefährlichen Zentrumszone von Xiinx-Markant bereits einen Besuch abges-tattet hat. Die erbitterte Auseinandersetzung zwischen Atlan und den Solanern auf der einen und Anti-ES und Anti-Homunk auf der anderen Seite geht jedoch unvermindert weiter. Nur die Szene verlagert sich auf einen Planeten – und dort geht es um DIE GEHEIMNISSE VON ORZ-OTAN ...

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

Die Hauptpersonen des Romans: Atlan – Der Arkonide will gegen Anti-Homunk antreten. Anti-Homunk – Atlans trickreicher Ge-genspieler. Breckcrown Hayes – Seine SOL be-kommt es mit zwei Manifesten zu tun. Hage Nockemann – Der Wissenschaftler nimmt sich der Eingeborenen von Orz-Otan an. Hower Crabb – Ein Solaner macht Ärger. Torekan – Anführer der letzten Orz-Otaner.

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

1.

Anti-Homunk lachte. Auf den Bild- und Ortungsschirmen vor

ihm zeichnete sich die SOL ab. »Du bist ver-gnügt«, stellte Plabistas fest, ein plasmabiolo-gisch stabilisierter Speicherkristall, eine Halbkugel, die neben dem Kunstwesen auf einem Tisch lag.

»Ich habe allen Grund dazu«, erwiderte An-ti-Homunk. »Anti-ES hat mir freie Hand ge-geben. Jetzt habe ich nicht nur die Macht, die SOL zu vernichten, sondern auch die Geneh-migung dazu.«

Anti-Homunk befand sich in einem zentra-len Raum des Leuchtenden Auges, inmitten einer Kommunikationszentrale, die ihm alle benötigten Informationen für seinen Kampf gegen die Solaner lieferte.

»Du wirst die SOL vernichten?« fragte Pla-bistas.

»Ich bin fest dazu entschlossen.« »Mit Hilfe der beiden Manifeste Kaytrin

und Wonatrin kannst du es schaffen.« »Das ist sicher.« Anti-Homunk lachte er-

neut. »Aber was ist dann mit Wöbbeking?« frag-

te der Speicherkristall. Anti-Homunk drehte sich langsam herum.

Er ging zu einem Sessel und setzte sich. »Wöbbeking wird in die Falle gehen. Na-

türlich wird er versuchen, das Ende der SOL zu verhindern, aber selbst ihm wird es nicht gelingen. Die Waffen, die ich mit Kaytrin und Wonatrin habe, sind zu mächtig für die Sola-ner. Sie haben nichts, womit sie sie abwehren können. Ein Posimagnofeld ist wirkungslos gegen sie. Außerdem müßten sie die Manifes-te erst einmal erkennen, wenn sie sie bekämp-fen wollen. Das aber wird ihnen nicht gelin-gen. Bevor sie begreifen, wer Kaytrin und Wonatrin sind, wird es vorbei mit ihnen sein. Ich habe Computerberechnungen durchge-führt ...«

»Und?« Anti-Homunk beugte sich vor und blickte

Plabistas an. Er strich sich mit den Fingerspit-zen über den lippenlosen Mund und schob die Hand dann über den kahlen Schädel, als kön-ne er dadurch seine Gedankentätigkeit anre-gen.

»Kannst du es dir nicht denken?« entgegne-te er. »Der Computer beläßt der SOL nur eine Zufallschance. Also werde ich mich darauf konzentrieren, auch diesen Zufall auszuschal-ten.«

Er ließ die Hand so kräftig auf den Tisch herabfallen, daß der Speicherkristall auf der Platte hüpfte.

»Nichts kann das Ende der SOL verhin-dern. Wöbbeking wird kommen, um noch etwas zu retten, aber es wird zu spät sein. Für die SOL und für ihn, denn wenn er sich hier in Xiinx-Markant sehen läßt, schlägt Anti-ES zu. Und dann ist das Ziel erreicht.«

»Hört sich gut an«, kommentierte der Spei-cherkristall.

»Ist gut«, erwiderte Anti-Homunk selbstbewußt. Er erhob sich und ging zu ei-nem der Monitoren, um einige Zahlen abzule-sen, die ihn über die augenblickliche Position der SOL ins Bild setzen sollten.

»Wer sind Kaytrin und Wonatrin?« fragte Plabistas.

Der Androide drehte sich betont langsam herum. Ein geheimnisvolles Leuchten erfüllte seine runden Augen.

»Du wirst es beizeiten erfahren«, versprach er.

*

Cara Doz führte die SOL behutsam auf eine

kleine, dunkelrote Sonne zu, die von drei Pla-neten umkreist wurde. Die Emotionautin sah müde und abgespannt aus. Sie blickte flüchtig zur Seite, als Atlan die Zentrale betrat, und ihr graues Gesicht wirkte ein wenig frischer.

»Wir sollten etwas tun, Breck«, sagte der Aktivatorträger. »Die Nervosität an Bord wird immer größer.«

Breckcrown Hayes, der in einem Konturen-sessel hinter der Emotionautin gesessen hatte, erhob sich.

Hayes von vielen Falten durchzogenes Ge-sicht schien in den letzten Stunden noch mehr gealtert zu sein. Doch seine Augen verrieten, daß er nach wie vor voller Energien steckte. Er handelte lieber, bevor er etwas sagte. Diese Charaktereigenschaft hatte sich in zahlreichen Fällen als vorteilhaft für die SOL und die So-laner erwiesen. Doch nun befanden sich das

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Raumschiff und seine Besatzung in einer La-ge, in der ein klärendes Wort des High Sideryt die Spannungen und Ängste hätte abbauen können.

»Alles zu seiner Zeit«, entgegnete Hayes. »Vorläufig haben wir keinen Grund zur Pa-nik.«

»Wir wissen, daß ein Angriff auf uns erfol-gen wird«, bemerkte Bjo Breiskoll. »Anti-Homunk läßt die beiden Manifeste Kaytrin und Wonatrin auf uns los. Bisher wurde es bei jeder Attacke schwerer, mit den Manifesten fertig zu werden. Dieses Mal hat er uns ge-härtete Manifeste angekündigt.«

»Richtig«, bestätigte Breckcrown Hayes. »Wir müssen davon ausgehen, daß diese Ma-nifeste gegen das Posimagnofeld immun sind. Dennoch werden wir einen Weg finden.«

»Sicher«, stimmte Atlan zu. »Darum geht es mir auch gar nicht. Ich habe nur festge-stellt, daß einige Besatzungsmitglieder lang-sam durchdrehen. Die meisten von ihnen sind zur Untätigkeit verdammt, was den Kampf gegen Anti-Homunk anbetrifft. Sie fürchten, daß der nächste Schlag tödlich für sie sein könnte, und sie ertragen es nicht, warten zu müssen.«

Breckcrown Hayes schüttelte den Kopf. »Soll ich jedem einzelnen Händchen hal-

ten?« fragte er. Der Arkonide musterte ihn überrascht. Mit

einer derartigen, fast zynisch klingenden Antwort hatte er nicht gerechnet.

Breck steht selbst auch unter Dampf, stellte der Logiksektor fest. Es wäre falsch, jetzt eine Rede an die Besatzungsmitglieder von ihm zu verlangen.

»Was hast du vor?« fragte der Arkonide. »Warten«, erwiderte der High Sideryt mür-

risch. »Was sonst?« Atlan wechselte einen kurzen Blick mit Bjo

Breiskoll. Auch der Katzer schien mit dem Verhalten Breckcrown Hayes nicht einver-standen zu sein.

Breck ist ein Mann der Tat, meldete sich der Extrasinn. Erwarte keine Volksreden von ihm. Es fällt ihm schwer, diejenigen zu ver-stehen, die in Panik verfallen. Warum ver-langst du mehr von ihm als von dir selbst? Dir geht es auch auf den Geist, daß einige überspitzt reagieren.

»Anti-Homunk will uns mürbe machen«, stellte Insider fest. Er hielt eine Tasse Tee und zwei Tassen Milch in seinen Händen und trank abwechselnd aus den verschiedenen Tassen. »Das gehört zu seiner Taktik. Die Wirkung der beiden Manifeste ist viel größer auf uns, so meint er, wenn wir vorher lange genug gewartet haben und möglichst verunsi-chert sind. Breck hat recht. Wozu auf seine Taktik eingehen?«

Er kippte die Tee- und Milchreste in eine Tasse und trank diese dann auf einen Zug aus.

»Es geht um etwas anderes«, wandte der Arkonide ein. »Mich beunruhigt die Stim-mung an Bord. Wir dürfen die Dinge nicht einfach treiben lassen.«

»Also schön«, entgegnete Breckcrown Hayes. »Ich werde ein paar Worte sagen. Spä-ter.«

Er verließ die Zentrale. »Was ist mit ihm?« fragte Insider, als sich

das Schott hinter ihm geschlossen hatte. »Er ist anders als sonst.«

»Ich habe nichts Ungewöhnliches festge-stellt«, bemerkte Bjo Breiskoll. Die senkrech-ten Schlitze seiner katzenhaften Pupillen ver-engten sich. Er gähnte verhalten und spannte dann die gesamte Muskulatur seines Körpers, wobei sich sein Rücken leicht krümmte. »Macht euch keine Sorgen um ihn. Breck ist in Ordnung.«

Er blickte Atlan an. »Du hast dir so deine Gedanken gemacht,

nicht wahr, Arkonide? Du hast dich gefragt, ob Kaytrin oder Wonatrin sich schon bemerk-bar gemacht haben.«

»Durch Breck?« Der Katzer lächelte. »Warum nicht? Ich habe Breck auch beo-

bachtet. Er kam mir seltsam vor, und ich dachte, eines der Manifeste könnte ihn beeinflußt haben.«

»Aber das ist es nicht?« »Wäre ich sonst noch so ruhig?« Breiskoll

ging hinaus. »Er muß es wissen«, sagte Insider. »Wenn

irgend etwas sein sollte, fällt es ihm und den anderen Telepathen zuerst auf.«

Du läßt dich auch schon nervös machen, kritisierte der Extrasinn.

Atlan ging über diese Bemerkung hinweg,

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als habe er sie nicht vernommen.

»Wir sollten die Beiboote im Auge behal-ten«, sagte er.

»Warum?« fragte Insider, der Allround-mann. »Du glaubst doch nicht, daß sich ir-gend jemand absetzen will?«

»Ich kann das nicht ausschließen.« »Ich habe alles im Griff«, erklärte die Emo-

tionautin in ihrer knappen Art. Sie hielt jedes weitere Wort für überflüssig, da jedem be-kannt war, daß sie zusammen mit SENECA das ganze Raumschiff ständig überwachte. Nirgendwo konnte eine Schleuse geöffnet werden, ohne daß eine Anzeige in der Zentra-le erfolgte, und keines der Beiboote konnte unbemerkt starten.

»Ich werde mich ein wenig umsehen«, sag-te der Arkonide. »Verständige mich, wenn sich irgend etwas tut.«

»Wenn du nichts dagegen hast, werde ich dich begleiten.« Insider glitt aus seinem Ses-sel und folgte Atlan.

»Hast du jemals von einem Mann namens Hower Crabb gehört?« fragte Atlan, als sich das Schott der Zentrale hinter ihnen geschlos-sen hatte.

Insider legte zwei seiner Hände an den Kopf und stemmte die anderen beiden in die Hüften.

»Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor«, erwiderte er. »Crabb, ist das nicht ein Transformforscher?«

»Genau den meine ich.« »Was ist mit Hower Crabb?« »Er macht Ärger«, erklärte der Arkonide.

»Ich habe vorhin von der CHYBRAIN gehört, daß er in einem benachbarten Hangar aufge-taucht ist.«

»Und jetzt willst du ihn dir ansehen?«

* »Notfalls müssen wir die SOL verlassen«,

sagte Hower Crabb. »Wenn der High Sideryt weiterhin so uneinsichtig bleibt wie bisher, dann müssen wir unsere Haut eben allein ret-ten. Niemand kann von uns verlangen, daß wir still und starr wie die Kaninchen vor der Schlange in der SOL ausharren, bis die beiden Manifeste Kaytrin und Wonatrin zuschlagen und uns umbringen.«

Seine Worte riefen stürmischen Beifall bei den annähernd vierzig Männern und Frauen hervor, die ihn in der Hangarmesse V der SOL umgaben. Angst und Hilflosigkeit zeichnete die Gesichter der Solaner.

Hower Crabb hatte nichts dazu getan, diese Versammlung zustande zu bringen. Er hatte sich einfach nur seinen Freunden und Be-kannten gegenüber zu der Situation geäußert, in der sich das Raumschiff befand, und seine Worte hatten Zustimmung gefunden. Es schien geradezu so, als hätten viele Männer und Frauen in seiner Umgebung nur darauf gewartet, daß irgend jemand von ihnen das Wort ergriff und eine Führungsposition ein-nahm.

Verwundert hatte der Transformforscher festgestellt, daß kaum jemand sich zu orien-tieren wußte. Die meisten warteten darauf, daß der High Sideryt ihnen erklärte, welche Gefahr der SOL drohte, und was die Schiffs-führung unternahm, um ihr zu begegnen. Doch abgesehen von ein paar nichtssagenden Worten hatten sie nichts von Breckcrown Hayes gehört.

Jeder wußte vom bevorstehenden Angriff der beiden Manifeste, und jeder fragte sich, wer oder was diese Manifeste waren. In wel-cher Form traten sie auf? Aus welcher Rich-tung würde der Angriff erfolgen? Gegen wen würde er gezielt sein? Zunächst nur gegen den High Sideryt und seine wichtigsten Mitarbei-ter oder gegen die gesamte Besatzung? Würde der Angriff in seinen Ansätzen überhaupt er-kennbar sein, oder hatten diejenigen recht, die behaupteten, er würde so plötzlich erfolgen, daß niemandem mehr eine Abwehrchance blieb?

Angst machte sich breit. Das Gefühl, nichts tun zu können, erzeugte

neurotische Spannungen, unter deren Druck viele Solaner zusammenbrachen. Sie verloren die Orientierung und hasteten in panischer Hilflosigkeit durch die SOL – immer auf der Suche nach jemandem, an den sie sich anleh-nen konnten.

War es so, wie manche argwöhnten? War die sich ausbreitende Angst selbst eines der beiden Manifeste?

Griff Anti-Homunk mit psychologischen Waffen an und versuchte er, die Kampfmoral

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der Solaner zu brechen?

Hower Crabb hatte sich plötzlich und für ihn selbst überraschend inmitten einer ständig wachsenden Gruppe von Männern und Frauen gefunden, die ihm zuhörten.

Er war ein kleiner, blonder Mann mit aus-drucksstarkem Gesicht. Von seinen blauen Augen ging etwas Zwingendes aus, dem sich in dieser Situation kaum jemand entziehen konnte und wollte. Ein kräftiger, borstiger Bart zierte seine Oberlippe. Wenn Crabb sprach, verschränkte er die Hände vor der Brust, als müsse er sich mit ihrer Hilfe jedes Wort abringen.

»Warum bleiben wir denn noch?« rief eine blonde Frau.

»Wir könnten von Bord gehen und später zurückkehren«, schlug einer der Männer vor.

Hower Crabb hob die Hände, um den auf-kommenden Beifall abzudämmen und weitere Zwischenrufe zu verhindern.

»Es hat keinen Sinn, wenn wir durcheinan-der schreien.« Mit seiner tiefen Stimme über-tönte er mühelos das Gebrüll einiger Männer, die am liebsten sofort aufgebrochen wären. »Wir sollten darüber abstimmen, was wir tun sollen. Da wir alle zum technischen Stab ge-hören, könnten wir im Fall eines Kampfes ohnehin nichts ausrichten. Wir müßten taten-los zusehen, wie andere kämpfen, und wenn der High Sideryt verliert, könnten wir uns gegen unser Ende nicht wehren.«

»Laßt uns doch verschwinden«, schrie ein dunkelhaariger Mann. »Niemand kann von uns verlangen, daß wir an Bord bleiben.«

Hower Crabb war überrascht über die Re-aktion, die er mit seinen Worten erzielt hatte. Dies war eine völlig ungewohnte Situation für ihn. Normalerweise befaßte er sich aus-schließlich mit seinen Forschungsarbeiten und kümmerte sich um nichts anderes. Aber vor einigen Stunden hatte ihn die Angst überfal-len. Ihm war bewußt geworden, daß er sich völlig in seine Arbeit vergraben hatte und wie ein Teil des Raumschiffs, nicht aber wie ein Mensch, lebte. Er erinnerte sich kaum noch daran, daß er die SOL jemals verlassen hatte. In all den Jahren zuvor war ihm das auch nicht wichtig gewesen. Er hatte sich sogar ein wenig vor dem gefürchtet, was außerhalb der SOL war. Doch nun war alles anders gewor-

den. Plötzlich fühlte er sich wie in einer Falle gefangen, und er hatte Angst, von einem ge-waltsamen Tod in ihr überrascht zu werden.

Er sah, daß einige Frauen weinten. Mit zunächst vorsichtigen, dann aber im-

mer lauteren Worten hatte er seiner Angst Luft gemacht und dabei festgestellt, daß auch andere unter solchen Gefühlen litten, und be-vor er sich dessen bewußt geworden war, was er tat, war die Zahl seiner Zuhörer auf über vierzig angewachsen, und immer mehr Män-ner, Frauen und Kinder kamen in die Messe. Niemand widersprach ihm. Wenn überhaupt jemand nicht einverstanden war mit dem, was er sagte, dann nur, weil er noch nicht dazu aufgefordert hatte, eines der Beiboote zu stürmen und die SOL damit zu verlassen.

»Reden, reden, reden«, rief eine grauhaari-ge Frau. Ihr volles Gesicht war gerötet vor Erregung. Energisch drängte sie sich nach vorn. »Bis zum Hangar sind es nur ein paar Schritte. Los doch. Laß uns endlich handeln, Hower.«

Crabb merkte, wie ihre Worte auf die ande-ren wirkten, und er spürte, daß er nicht mehr länger im Mittelpunkt stehen würde, wenn er sich weigerte, dieser Aufforderung nachzu-kommen.

Die Angst drängte seine Zuhörer zum Auf-bruch. Auch er wollte nicht mehr länger an Bord der SOL bleiben, schreckte jedoch noch davor zurück, ein Beiboot zu besetzen, denn er hatte eine Reihe von Bedenken. Doch nun erkannte er, daß sich das Interesse von ihm abwenden und er wieder in die alte Bedeu-tungslosigkeit versinken würde, wenn er sich dem Wunsch der Menge nicht beugte. Das Verlangen, im Mittelpunkt zu stehen, wurde mit einem Mal stärker als die Angst.

Abzuhauen und etwas zu unternehmen, das ist allemal besser, als tatenlos auf das Ende durch die Manifeste Anti-Homunks zu war-ten, schoß es ihm durch den Kopf.

»Du hast recht, Doreen«, antwortete er. »Wir haben wahrhaftig genug geredet. Der High Sideryt kümmert sich nicht um uns. Al-so werden wir handeln. Folgt mir, Leute. Wir gehen zum Hangar. Wir besetzen die CHYBRAIN und zwingen sie zum Start. Sie soll uns aus der Gefahrenzone bringen.«

Die Männer und Frauen zögerten, sich ihm

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anzuschließen, und er erkannte, warum. Sie brauchten einen Vorwand für ihre Flucht.

Sie wollten sich nicht nachsagen lassen, sie hätten sich feige abgesetzt. Sie wollten ihre Entscheidung durch irgendeine Ausrede ver-brämt wissen.

»Wir werden das Geschehen aus sicherer Entfernung beobachten«, fuhr Crabb fort. »Sobald wir wissen, wer oder was die beiden Manifeste sind, kehren wir zurück und neh-men den Kampf zusammen mit den anderen auf.«

Seine Zuhörer klatschten ihm begeistert Beifall. Er drängte sich durch die Menge und eilte auf den Ausgang der Messe zu, ent-schlossen, die im Hangar stehende CHYBRAIN zu stürmen.

2.

»Du glaubst doch nicht, daß Hower Crabb

versuchen wird, sich die CHYBRAIN unter den Nagel zu reißen?« fragte Insider.

»Das würde ihm wohl kaum gelingen«, er-widerte Atlan.

Die beiden Männer durchquerten einen La-bortrakt auf ihrem Weg zum Hangar der CHYBRAIN. Die Arbeit ruhte. Männer und Frauen standen diskutierend auf den Gängen. Ihre Gesichter waren von Angst und Ratlo-sigkeit bezeichnet. Einige Frauen sprachen Atlan an und fragten ihn, ob der Angriff schon begonnen habe, und ob irgendwelche Informationen über die beiden Manifeste vor-lägen.

»Mir wäre wohler, wenn ich ihnen irgend etwas sagen und sie beruhigen könnte«, sagte der Unsterbliche, als er mit dem Freund wei-terging.

Insider hob zwei seiner vier Hände. Auch er wußte nicht, was getan werden konnte, um die Besatzung der SOL zu beruhigen und die psychischen Spannungen abzubauen.

Ein brünetter, schwergewichtiger Mann trat Atlan in den Weg.

»Wir müssen aus dieser Gegend ver-schwinden«, forderte er. »Warum tun wir das nicht? Warum bleiben wir hier, obwohl Anti-Homunk einen tödlichen Angriff auf uns an-gekündigt hat?«

»Das weißt du genau«, erwiderte der Arko-

nide gelassen. »Ich weiß nur, daß ich überleben möchte.

Alles andere interessiert mich nicht. Ihr habt kein Recht, mein Leben aufs Spiel zu setzen.«

»Niemand tut das. Rede nicht so einen Un-sinn. Wir wollen ebenso überleben wie du auch, aber wir alle werden den bevorstehen-den Angriff der beiden Manifeste nur abweh-ren, wenn wir die Nerven behalten.«

Der Mann blickte zum Hangarschott hin-über, das noch etwa zwanzig Meter von ihm entfernt war. Mittlerweile hatten sich zwölf Männer und Frauen zu ihnen gesellt. Sie hör-ten angespannt zu.

»Wo willst du hin?« fragte er mit lauter Stimme. »Zur CHYBRAIN? Sie steht in dem Hangar dort hinten.«

»Spricht etwas dagegen?« »Ich meine schon – falls du vorhast, die

Flucht zu ergreifen.« »Das würde auch zu mir passen«, gab Atlan

ironisch zurück. »Das haben die vergangenen Ereignisse wohl zur Genüge bewiesen.«

Einige Männer und Frauen lachten. »Du machst dich lächerlich, Briok«, rief ei-

ne blonde Frau. Das Schott zum Hangar glitt auf, und das

Geschrei einer erregten Menge hallte herein. Atlan schob Briok zur Seite und eilte weiter. Der Lärm kam aus dem Hangar, in dem der Kreuzer MT-1 CHYBRAIN stand. Vor der offenen Hauptschleuse des Raumschiffs hat-ten sich nahezu hundert Solaner versammelt. Erregt schrien sie auf Uster Brick ein, der in der Schleuse stand und sie daran hinderte, das Schiff zu betreten.

»Da ist Atlan«, brüllte einer der Männer. »Ruhe«, forderte Hower Crabb, der auf ei-

nen Container kletterte und von dort aus die Menge überblicken konnte. Er fuchtelte mit beiden Armen in der Luft herum. »Seid end-lich still.«

Das Geschrei verstummte. »Natürlich sind sie nicht damit einverstan-

den, wenn wir das Schiff an uns bringen«, sagte er und zeigte auf den Chefpiloten, der eine Energiewaffe in der Hand hielt. »Und es ist auch nicht überraschend, daß Atlan hier erscheint, um Uster zu unterstützen. Sie wol-len das Schiff für sich. Sie werden uns sagen, daß sie mit der CHYBRAIN starten wollen,

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um dem Angriff der Manifeste zu begegnen. Aber das ist nicht die Wahrheit. Wir alle wis-sen, daß Kaytrin und Wonatrin noch nicht angegriffen haben. Atlan, Uster Brick und die anderen wollen sich absetzen. Sie wollen uns allein lassen, weil sie sich nicht zu helfen wis-sen.«

»Woher willst du wissen, daß der Angriff noch gar nicht begonnen hat?« schrie ein un-tersetzter Mann. »Er kann sogar schon vorbei sein.«

Hower Crabb stutzte. Dann hellte sich sein Gesicht auf.

»Aber ja doch, James, du hast recht. Der Kampf könnte schon vorbei und verloren sein. Und jetzt wollen Atlan und Genossen ver-schwinden.«

»Schluß, Hower«, rief der Arkonide. Er schob sich energisch durch die Menge voran. »Du weißt selbst, daß du nichts als puren Un-sinn von dir gibst. Du machst die Leute ver-rückt, anstatt dafür zu sorgen, daß sie die Nerven behalten. Komm herunter von dem Container.«

Unsicher blickte der Transformforscher auf den Arkoniden hinab.

»Wir werden dich als Geisel nehmen«, sag-te er. »Dadurch können wir Uster Brick zwin-gen, uns den Weg in die CHYBRAIN frei-zugeben.«

»Geht von mir aus an Bord«, erwiderte der Arkonide gelassen. »Los doch! Worauf wartet ihr? Und vergeßt nicht, euch einen Piloten zu besorgen, der die CHYBRAIN fliegt. Uster Brick wird das nämlich nicht tun.«

»Oder habe ich mich getäuscht, Uster?« Brick lachte. »Du hast völlig recht, Atlan. Ich fliege die

CHYBRAIN nicht.« »Haltet den Arkoniden fest«, rief Hower

Crabb. »Haltet ihn fest. Er darf uns nicht ent-kommen. Wir brauchen ihn als Geisel.«

Drei Männer, die neben Atlan standen, grif-fen zu. Sie packten ihn an den Armen und hielten ihn fest.

Hower Crabb triumphierte: »Natürlich wirst du uns fliegen, Uster. Wir haben Atlan, und wir werden ihn töten, wenn du nicht tust, was wir dir befehlen.«

»Ihr habt sie wohl nicht alle?« fragte In-sider erzürnt. »Wieso verliert ihr jetzt schon

die Nerven? Es ist doch überhaupt noch nichts los.«

Brick schüttelte den Kopf. »Es langt«, sagte er. »Glaubt nur nicht, daß

ihr uns ins Bockshorn jagen könnt.« Einer der Männer, die bei Atlan standen,

zog plötzlich ein Messer. Er hielt es dem Ar-koniden an den Hals.

»Ich weiß, daß der Zellaktivator dafür sorgt, daß deine Wunden schnell verheilen«, rief er. »Hilft er dir auch noch, wenn du tot bist?«

In diesem Moment wurde die SOL von mehreren schnell aufeinander folgenden Schlägen erschüttert. Augenblicklich wurde es still im Hangar. Die Solaner ließen von Atlan ab und blickten sich erschrocken an.

»Die Manifeste greifen an«, stammelte je-mand. »Habt ihr es gemerkt? Der Boden hat gezittert. Es ist soweit. Sie greifen an, und sie haben die SOL getroffen.«

*

»Klatsch-uuh«, rief Insider, während er ne-

ben Atlan herlief. »Da scheint einiges schief-gegangen zu sein.«

Niemand hielt sie auf. Wohin sie auch ka-men, überall machte man ihnen Platz. Die Besatzung der SOL schien davon überzeugt zu sein, daß der Angriff der beiden Manifeste tatsächlich begonnen hatte.

Atlan glaubte nicht daran. Er wartete auf eine Attacke des Leuchten-

den Auges, und in den schweren Erschütte-rungen sah er einen Beweis dafür, daß diese nun erfolgte. Er war sicher, daß die Schiffs-führung mit dem High Sideryt an der Spitze davon nicht überrascht werden konnte.

Insider dachte ähnlich wie er. »Das mußte ja kommen«, sagte er. »Anti-

Homunk läßt es sich eben doch nicht so ohne weiteres gefallen, wenn wir versuchen, mit der SOL zum Leuchtenden Auge vorzusto-ßen.«

»Wir werden es mit einer Space-Jet versu-chen«, erwiderte der Arkonide.

»Glaubst du, daß wir es damit schaffen können ohne einzuschlafen?«

»Wir werden Roboter ohne Biozusätze an Bord nehmen. Irgendwie kommen wir damit

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durch.«

Sie betraten die Hauptleitzentrale der SOL, in der sich neben der Emotionautin und eini-gen anderen auch Breckcrown Hayes, Bjo Breiskoll, Joscan Hellmut, Sternfeuer, Feder-spiel, der kauzige Hage Nockemann mit dem Roboter Blödel, Sanny und Argan U aufhiel-ten.

Atlan blickte auf die Ortungsschirme, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches fest-stellen. Die SOL befand sich in unmittelbarer Nähe des sonnennächsten Planeten des klei-nen Systems.

»Was ist passiert?« fragte Insider. »Was hat uns getroffen?«

»Das Leuchtende Auge schießt Raketen auf uns ab«, erwiderte Breckcrown Hayes. »Ich möchte sie Hy-Raketen nennen, weil diese Körper zwischen Unter- und Überlicht wech-seln können. Das ist in diesem Sternengewirr wohl auch notwendig.«

»Wir haben die Annäherung erst im aller-letzten Moment bemerkt«, fügte Bjo Breiskoll hinzu. »Die Schutzschirme haben das Schlimmste verhindert.«

»Da ist der nächste Schwarm«, rief Cara Doz.

Auf dem Ortungsschirm erschienen Dut-zende von leuchtenden Punkten, die rasch zu beängstigender Größe anwuchsen.

»Wir haben versucht, sie abzuschießen. Vergeblich«, erklärte Breckcrown Hayes. »Wir haben sie mit elektromagnetischen Stör-feldern beschickt. Ohne jeden Erfolg.«

»Ausweichmanöver sind sinnlos«, ergänzte der High Sideryt. »Wir müssen die Treffer hinnehmen, ob es uns paßt oder nicht.«

Er hatte kaum ausgesprochen, als die Rake-ten die SOL erreichten und explodierten. Eine Feuerwand schien das Raumschiff zu überde-cken, und abermals liefen Wellen schwerer Erschütterungen durch das Sternenschiff.

Atlan blickte besorgt auf die Instrumente. Sie zeigten an, daß die Schutzschirme bei konzentriertem Beschuß dieser Art zusam-menbrechen würden.

»Wir müssen irgendwo Schutz suchen«, sagte der Katzer.

»Habt ihr es mit Gegenfeuer versucht?« fragte Atlan.

»Natürlich«, entgegnete Hayes. »Aber da-

mit erreichen wir nichts. Unsere Geschosse sind nicht einmal bis in die Nähe des Leuch-tenden Auges gekommen.«

»Was sagte SENECA?« »Wir warten noch auf das Ergebnis von Be-

rechnungen, die SENECA anstellt«, erklärte Hayes.

Im nächsten Moment meldete sich die Zentralpositronik.

»Aus den Flugdaten der Hy-Raketen er-rechnet sich, daß die SOL nur hinter einem gekrümmten und genügend großen Körper Sicherheit finden kann.«

»Ein genügend großer Körper?« fragte der High Sideryt. »Was ist das für eine Antwort? Welcher Körper wäre zum Beispiel groß ge-nug?«

»Der erste Planet des Sonnensystems, in dem wir uns befinden«, erwiderte SENECA. »Die SOL sollte auf der Seite des Planeten landen, die dem Leuchtenden Auge abge-wandt ist.«

Der nächste Raketenschwarm raste heran. Wiederum versuchte der High Sideryt, ihn aufzuhalten, erzielte aber auch dieses Mal keinen Erfolg.

»Wir folgen dem Vorschlag SENECAS«, entschied er danach. »Wir landen auf dem Planeten.«

*

Während die SOL sich auf den ersten Pla-

neten des kleinen Sonnensystems herabsenk-te, wiederholte Atlan seinen Vorschlag, mit einer Space-Jet zum Leuchtenden Auge vor-zudringen.

»Bei mir bleibt die Tiefschlafstrahlung wir-kungslos«, sagte er. »Und wenn ich Roboter bei mir habe, die keine Biozusätze haben, steht mir eine schlagkräftige Truppe zur Ver-fügung.«

»Warte erst einmal ab, ob der Beschuß mit Hy-Raketen aufhört«, entgegnete Breckcrown Hayes. Er blickte auf die Bildschirme, auf denen bereits Einzelheiten der Landschaft zu erkennen waren, in der die SOL landen wür-de. Ein dichter Dschungel breitete sich von Horizont zu Horizont aus. Aus ihm ragten vereinzelt rubinrote Felsnadeln hervor.

SENECA blendete die Meßwerte ein, die

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über die Lebensbedingungen auf dem kleinen Planeten informierten. Er teilte mit, daß es sich um eine Welt mit für die Solaner günsti-ger Atmosphäre handelte, auf der man sich aller Wahrscheinlichkeit nach ungefährdet bewegen konnte.

Es war die übliche Mitteilung, die auf ers-ten, groben Ermittlungsergebnissen aufbaute, und die lediglich eine gewisse Orientierung erlaubte.

»Bis jetzt sieht es so aus, als ob Anti-Homunk den Beschuß eingestellt hätte«, sagte Atlan. »Es kommen keine Hy-Raketen mehr.«

»Ich fliege mit zum Leuchtenden Auge«, bot sich Bjo Breiskoll an. Er ließ sich mit kat-zenhaft geschmeidiger Bewegung in einen Sessel sinken. »Ich glaube auch, daß wir mit einer Space-Jet gute Chancen haben, bis dort-hin vorzustoßen.«

»Du wirst einschlafen, Bjo«, erwiderte der Arkonide. »Du kannst mir nicht helfen. Lei-der.«

»In der Nähe des Leuchtenden Auges ver-liert sich die Wirkung der Schlafstrahlung vielleicht.«

»Du weißt selbst, daß wir auf einem Viel-leicht nicht aufbauen dürfen. Dafür ist Anti-Homunk zu gefährlich.«

Bjo sah ein, daß er Atlan bei dem geplanten Flug nicht begleiten durfte. Er wäre nur eine Last für ihn gewesen.

»Aber ich kann dabei sein«, erklärte der Roboter Blödel. Er fuhr einen seiner dünnen Arme aus und griff sich an seinen grünen Bart, als befasse er sich gerade mit einem schwerwiegenden Problem.

»Wie kommst du darauf?« fragte der Arko-nide. »Dein Plasmaanteil reagiert auf die Strahlung. Das weißt du doch.«

»Ich kann mein Plasma desaktivieren«, er-widerte der Roboter. »Und ich kann es wieder aktivieren, sobald dies angebracht ist. Ich kann dir also helfen.«

»Ich auch«, bemerkte Wuschel, der Bak-wer. Die Pelzkugel glitt lautlos über den Bo-den auf Atlan zu. »Ich habe zwar auch ge-schlafen, als wir mit der Tiefschlafstrahlung angegriffen wurden, bin aber jetzt immun dagegen. Ich habe gelernt, zumindest für mich die Strahlung zu fressen und damit wirkungs-los zu machen.«

»Na gut. Einverstanden«, erwiderte der Ar-konide. Er sah sich suchend um. »Und dann hätte ich Sanny gern dabei.«

»Und mich«, fügte Hage Nockemann hin-zu. Er versuchte, einen Fleck aus seinem Pulli zu entfernen, gab jedoch sofort auf, als er merkte, daß seine Bemühungen fruchtlos blieben.

»Na gut. Ihr könnt es versuchen«, sagte Breckcrown Hayes. »Ich stelle euch die Space-Jet BLINDER VOGEL zur Verfügung. Vorläufig aber warten wir ab.«

Cara Doz landete die SOL. Sie führte das riesige Raumschiff behutsam auf den Dschungel hinab. Ihr wäre lieber gewesen, wenn sie die SOL auf ein Felsplateau hätte setzen können, da die Meßinstrumente ihr nur wenige Informationen über den Untergrund lieferten, der das Raumschiff tragen sollte. Doch auf der ganzen Halbkugel bot sich kein geeigneteres Gelände an. Sie hatte keine an-dere Wahl, und so grub sich die SOL mit ih-rem ganzen Gewicht in den Urwald. Die aus-gespreizten Beine streckten sich dem Boden entgegen, und die mächtigen Landeteller zer-malmten Urwaldriesen, als bestünden diese lediglich aus faulig gewordenem Holz, und die verdrängten Luftmassen schleuderten die abgesprengten Holzreste zur Seite.

Über dem Hantelraumer wölbten sich die Energieschirme, um das Schiff gegen die Ge-walt heranstürmender Hy-Raketen zu schüt-zen. Doch es schien, als habe Anti-Homunk die SOL aus den Augen verloren, denn keine einzige Rakete stürzte aus dem leicht bewölk-ten Himmel herab.

*

Anti-Homunk beobachtete die SOL. Auf

einem der Bildschirme vor ihm konnte er se-hen, wie sie hinter der Rundung des kleinen Planeten verschwand.

Er lächelte. Er war zufrieden mit der Entwicklung der

Dinge. Die Besatzung der SOL verhielt sich exakt so, wie er es erwartet hatte.

*

Atlan kehrte gerade aus dem Duschraum

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

zurück und wollte sich zu Iray an den Tisch setzen, als Hage Nockemann eintrat. Der Ga-lakto-Genetiker strich sich das graue Haar aus den Augen und blickte den Arkoniden mit einem seltsamen Ausdruck der Verwunderung an, so als falle es ihm schwer zu begreifen, daß jemand die Dusche häufiger als unbedingt notwendig benutzte.

»Setz dich zu uns«, forderte Atlan ihn auf, doch der kauzige Wissenschaftler schien ihn gar nicht gehört zu haben. Er ging zum Bild-gerät und schaltete es ein.

»Bei der Landung haben wir etwas ange-richtet«, erklärte er. »Dafür müssen wir wohl geradestehen.«

Er tippte einige Daten in die Tastatur und rief damit einen Film ab, der während der Landung aufgenommen worden war.

Als die ersten Bilder des sturmgepeitschten Urwalds erschienen, veränderte er den Bild-ausschnitt, bis einige zerbrechlich aussehende Holzhäuser erkennbar wurden. Sie standen auf einer Lichtung zwischen zwei steil aufra-genden Felsnadeln. Zahlreiche humanoide Gestalten bewegten sich zwischen den Ge-bäuden.

»Den Sturm hat die SOL bei ihrer Landung ausgelöst«, erklärte Hage Nockemann über-flüssigerweise. Er zwirbelte seinen kräftig gestutzten Schnauzbart und schien irritiert zu sein, weil die Barthaare ungewohnt kurz wa-ren. »Gleich geht es los.«

Der Sturm wuchs zum Orkan an. Die Bäu-me bogen sich im Luftstrom, und plötzlich schien eines der Holzhäuser zu explodieren. Das Dach hob ab, und die Holzkonstruktion löste sich auf. Unmittelbar darauf gaben auch die anderen Holzhäuser dem Luftdruck nach. Baumstämme, Äste und getrocknetes Laub wirbelten davon, während die Bewohner des Dorfes in Erdlöchern Schutz suchten.

»Ich habe durch Zufall entdeckt, was sich da abgespielt hat«, berichtete der Wissen-schaftler. »Für mich steht fest, daß wir etwas tun müssen, um den Schaden auszugleichen.«

»Was sagt Breck dazu?« fragte der Arkoni-de.

»Ich habe ihm die Bilder noch nicht ge-zeigt. Ich bin auf dem Wege zu ihm. Er wird meiner Meinung sein.«

»Klar, daß wir etwas tun müssen«, sagte I-

ray. »Wahrscheinlich gibt es Verletzte. Wir müssen ihnen helfen, denn wir sind für den Schaden verantwortlich.«

Hage Nockemann rief den Film erneut ab, stoppte ihn dieses Mal jedoch schon bei den ersten Bildern. Versonnen deutete er auf das Standbild.

»Es ist nicht einfach ein Dorf«, erklärte er. »Diese Wesen waren mitten in irgendeiner Zeremonie. Ich weiß noch nicht genau, um was es dabei ging, ich vermute jedoch, daß sie bei einem Totenfest waren. Dieser Behälter hier könnte so etwas wie ein Sarg sein.«

»Wir werden Kontakt mit diesen Wesen aufnehmen«, entgegnete Atlan.

*

Sie standen in einer langen Reihe neben-

einander unter den Bäumen, kleine, haarige Gestalten, die bis auf die tellerförmigen Hüte unbekleidet waren.

Atlan, Bjo Breiskoll und Hage Nockemann, dem Blödel und der Bakwer Wuschel folgten, näherten sich ihnen. Wegen der geringen Schwerkraft von nur 0,7 g bewegten sie sich leicht und mühelos. Längst hatten sie mit Hil-fe von Richtmikrophonen Gespräche der Ein-geborenen abgehört. Daher wußten sie, daß diese ihren Planeten Orz-Otan und sich selbst Orz-Otaner nannten. Die Mikrophone hatten so viele Sprachinformationen aufgefangen, daß man sich nun mit Hilfe der Translatoren verständigen konnte.

An Bord der SOL war man sich einig darin, daß man den Orz-Otanern helfen mußte. Man hatte ihnen großen Schaden zugefügt und wollte alles tun, ihn wieder auszugleichen.

Fünf Meter vor der Reihe der Eingeborenen blieben die Solaner stehen. Atlan sprach eine Begrüßungsformel, die zugleich eine Art Freundschaftsbeweis war, und die sich in zahllosen Fällen bewährt hatte.

Mehrere der affenartigen Wesen flüchteten erschrocken auf die Bäume. Ein Mann, der die anderen deutlich überragte, löste sich je-doch aus der Gruppe der Orz-Otaner und kam selbstbewußt auf Atlan und seine Begleiter zu. Er hatte ungemein ausladende Schultern und einen mächtigen Brustkorb. Sein mäßig behaartes Gesicht lag im Schatten seines Hu-

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

tes, so daß Atlan die tiefliegenden Augen kaum sehen konnte. Dafür leuchteten die hel-len Zähne um so deutlicher aus dem Dunkel hervor.

Er hat das Gebiß eines Raubtiers, erkannte der Arkonide. Damit könnte er mich glatt zer-reißen.

Der Orz-Otaner, in dem Atlan den Stam-mesführer vermutete, legte beide Fäuste auf die Brust.

»Ich bin Torekan«, stellte er sich mit dumpf klingender Stimme vor. »Ich bin der Herr dieses Landes, und ich fordere Sühne von euch. Ihr habt das Dorf Erehas vernichtet und die Geister vertrieben, die unsere Toten auf ihrem Weg in die Ewigkeit durch das Laby-rinth Dorespharein führen sollen. Ihr werdet bleiben, bis sie zurückgekehrt sind.«

Das kann Jahre dauern, stellte der Extra-sinn kühl fest.

»Wir werden euch helfen, das Dorf wieder aufzubauen, und wir werden mit euch warten, bis die Geister zurückkehren, um eure Toten auf ihrem weiteren Weg zu begleiten«, ver-sprach Atlan, der bereit war, den ersten Teil seiner Zusage einzuhalten, der jedoch nicht daran dachte, länger zu bleiben als unum-gänglich war.

»Wir wußten, daß ihr kommen würdet«, fuhr Torekan fort. »Die Priester haben uns schon lange vorhergesagt, daß eine letzte Prü-fung naht, die wir nur bestehen werden, wenn wir die Freundschaft suchen.«

»Freundschaft«, murmelte Hage Nocke-mann. »Das hört sich vernünftig an.«

Es geht alles ein bißchen zu leicht, kritisier-te der Logiksektor.

Ein Blitz zuckte durch das Blätterdach her-ab und schlug etwa hundert Meter entfernt ein, und ein Donnerschlag erschütterte die Luft. Unmittelbar darauf stürzte wolken-bruchartig Regen herab.

Die Orz-Otaner schienen den Regen nicht zu bemerken. Sie standen nach wie vor in einer langen Reihe nebeneinander und ließen das Wasser mit stoischer Ruhe auf sich her-abprasseln. Sie hatten allerdings den Vorteil, daß sie Hüte trugen. Diese reichten bei den meisten bis über die Schultern hinaus und leiteten das Wasser ab. Atlan und seine Be-gleiter dagegen wurden in wenigen Sekunden

durchnäßt bis auf die Haut. »Wann beginnt ihr mit dem Aufbau des

Dorfes?« rief der Arkonide. »Wir müssen es wissen, damit wir euch helfen können.«

»Noch heute«, erwiderte Torekan. »Sobald es aufhört zu regnen. Kommt mit, wir zeigen euch, wo das Dorf entstehen soll.«

»Ihr wollt es nicht an der gleichen Stelle er-richten?«

»Nein, denn damit würden wir die Toten beleidigen.«

Atlan sah ungeahnte Komplikationen auf sich zukommen. Fragend blickte er Bjo Breiskoll an, doch der Telepath nickte ihm beruhigend zu.

»Keine Sorge«, sagte der Katzer. »Es soll alles in unmittelbarer Nähe der SOL passie-ren.«

Es geht alles viel zu leicht! warnte der Ext-rasinn. Wieso ist Torekan so freundlich?

Atlan drängte die Warnung zurück. Warum sollte der Orz-Otaner nicht freundlich sein? Die SOL hatte bei der Landung ein Dorf zer-stört, aber sie hatten sich bereit erklärt, den Schaden zu beheben. Ein solches Angebot mußte den Eingeborenen willkommen sein.

Sie sind einfach, fast primitiv, stellte der Logiksektor fest. Sie müßten voller Ehrfurcht sein. Sie müßten dich für einen Gott halten.

Warum? Wir haben schon öfters erlebt, daß Eingeborene geradezu unbeeindruckt ange-sichts der SOL blieben. Wer sagt denn, daß dies das erste Raumschiff ist, das hier landet?

Atlan spürte, daß er die Einwände seines Extrasinns nicht so ohne weiteres zur Seite schieben durfte. Anti-Homunk befand sich in der Nähe. Konnte er das Volk der Orz-Otaner nicht beeinflußt haben, so daß es in seinem Sinn handelte? Er durfte eine solche Mög-lichkeit nicht ausschließen.

Hage Nockemann trat auf einige Eingebo-rene zu und tastete ihre Arme ab. Der Regen prasselte auf ihn herab, und die immer wieder in der Umgebung einschlagenden Blitze er-hellten seine gebeugte Gestalt.

»Sieh dir das an, Atlan«, rief er. »Hier ist noch mehr zu tun. Es genügt nicht, nur das Dorf aufzubauen.«

»Was ist los?« fragte der Arkonide. »Die Männer und Frauen meines Volkes

sind krank«, erklärte Torekan. »Einst gab es

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

zahlreiche Völker auf diesem Planeten. In vielen Dörfern blühte das Leben, und wir wurden reich durch den Handel. Doch dann kamen Krankheit und Tod über uns, und wir mußten uns weiter und weiter zurückziehen. Heute sind nur noch wenige von uns übrig-geblieben.«

Atlan ging an ihm vorbei zu den Männern hin, bei denen der Wissenschaftler stand. Jetzt sah er, daß bläuliche Beulen ihre Arme und Beine verunstalteten.

»Wir wissen nicht, ob wir euch helfen kön-nen«, sagte Nockemann. »Wir haben Ärzte an Bord. Sie müßten eure Kranken untersuchen.«

»Diese Hilfe ist mehr wert als alles ande-re«, erwiderte der Häuptling der Orz-Otaner. »In diesem Wald leben nur noch siebenhun-dert Männer, Frauen und Kinder, und die meisten von ihnen sind krank. Sie werden sterben, und die, die noch gesund sind, wer-den ihnen bald folgen.«

»Du hast gesagt, daß es einst viele Völker auf diesem Planeten gegeben hat«, sagte At-lan. »Wo sind sie geblieben? Sind sie alle gestorben? An dieser Krankheit?«

»Ja. Wir sind die letzten Orz-Otaner. In den anderen Wäldern dieser Welt leben nur noch Tiere.«

Damit steht fest, daß du länger auf diesem Planeten bleiben wirst, als du dir vorgestellt hast, bemerkte das Extrahirn. Du kannst die-ses sterbende Volk nicht allein und ohne Hilfe lassen. Du mußt dafür sorgen, daß diese Männer, Frauen und Kinder geheilt werden, und du mußt dich auf den anderen Kontinen-ten nach weiteren Orz-Otanern umsehen.

Hage Nockemann, der Wissenschaftler, war nun in seinem Element. Mit Hilfe des Robo-ters Blödel untersuchte er einige Orz-Otaner, schnitt Beulen auf und entnahm ihnen Gewe-beproben. Er war sich dessen ganz sicher, daß er das medizinische Problem an Bord der SOL lösen konnte.

Er brach seine Arbeit erst ab, als kaum zehn Meter neben ihm ein Blitz in einen Baum ein-schlug und diesen der Länge nach aufriß. Zer-fetzte Äste und Laub regneten auf die Solaner herab.

Atlan, der direkt neben dem Baum gestan-den hatte, wurde von unsichtbarer Faust zur Seite geschleudert. Er prallte gegen einen

anderen Baum und hielt sich benommen an den Ästen fest.

»Wir gehen an Bord«, entschied er, als er den ersten Schrecken überwunden hatte. Der Regen wurde immer dichter, und der Boden verwandelte sich in einen einzigen Morast. Zudem wurde es nun so dunkel, daß die Sola-ner kaum noch etwas sehen konnten.

»Wir ziehen uns zurück«, teilte Atlan Tore-kan mit. »Wir kommen wieder, wenn es heller geworden ist.«

»Warum?« fragte der Häuptling. »Könnt ihr nicht genug sehen?«

Er ist infrarotempfindlich, signalisierte der Extrasinn. Für ihn ist es nach wie vor hell genug.

»Wir schicken euch unsere metallenen Die-ner. Sie werden euch beim Bau eines neuen Dorfes helfen. Sie werden tun, was ihr ihnen befehlt.«

Torekan verstand offenbar, denn er trat zu-rück und senkte den Kopf.

»Wir sind geduldig«, erwiderte er. »Wir werden warten.«

»Vorsicht!« schrie der Katzer. In dem ein-tönigen Rauschen des Regens und dem fort-währenden Donnern und Krachen der Blitze hatte Atlan ein anderes Geräusch überhört. Jetzt aber entging es ihm nicht mehr. Holz platzte unter ungeheurem Druck. Einer der riesigen Bäume stürzte um.

Welcher war es? Wohin fiel er? »Weg hier, schnell«, rief Bjo Breiskoll. Er

wollte Atlan mitziehen, doch dieser hielt ihn fest.

»Nicht den Kopf verlieren«, warnte er. »Achte auf die Orz-Otaner.«

Die Bäume erreichten eine Höhe von mehr als hundert Metern. Keiner von ihnen konnte einem umkippenden Baum entkommen, wenn er in die falsche Richtung flüchtete.

Torekan war verschwunden. Lauter und bedrohlicher wurde das Krachen

des brechenden Holzes und das Rauschen der Äste im Wind.

»Wo sind sie, Bjo?« Der Katzer zögerte. Er schien grenzenlos

überrascht zu sein. Die schräggestellten Au-gen waren ungewöhnlich geweitet.

»Bjo!« Der Telepath warf sich zur Seite und riß

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

Atlan mit sich. Mit lauten Schreien gab er den anderen an, wohin sie sich wenden sollten. Jetzt war es so dunkel geworden, daß nie-mand mehr etwas sah. Das Gewitter schien vorbei zu sein. Kein einziger Blitz zuckte her-ab und spendete Licht.

Atlan stürzte über eine Wurzel und fiel der Länge nach in den Morast. Wenige Meter von ihm entfernt schlug der Baumstamm auf. Schlamm und Dreck spritzte hoch und deckte den Arkoniden ein, und der Boden erzitterte, als ob eine Bombe in der Nähe explodiert wäre.

»Atlan!« rief der Katzer. »Bist du in Ord-nung?«

»Mir fehlt nichts, Bjo«, erwiderte der Ar-konide, »abgesehen davon, daß ich bis zum Hals im Morast stecke.«

Er stemmte sich hoch und schüttelte den Schlamm ab.

Jetzt meldeten sich auch Hage Nockemann, Blödel und Wuschel. Alle hatten den Zwi-schenfall unbeschadet überstanden.

»Die Eingeborenen sind weg«, sagte Bjo Breiskoll. »Sie sind geflüchtet, ohne uns zu warnen.«

»Das ist vielleicht auch ein wenig zuviel von ihnen verlangt«, erwiderte der Arkonide. »Sie leben hier im Wald. Sie kennen sich aus. Sie wußten, was los war, und wohin sie sich wenden mußten. Sie sind gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß wir – denen sie sich unterlegen fühlen – Hilfe benötigen.«

Erneut zuckten Blitze herab und schlugen in die Bäume.

»Los, kommt«, sagte Atlan. »Verschwinden wir, bevor der nächste Baum umkippt.«

3.

»Störe ich?« fragte Hage Nockemann, als

er eintrat. Atlan und Iray saßen am Tisch ihrer Kabine

und unterhielten sich mit einem positroni-schen Trickspiel.

»Keineswegs«, erwiderte der Arkonide. »Komm. Setz dich zu uns.«

Der Wissenschaftler hatte sich noch nicht umgezogen. Seine Kleidung troff vor Nässe, und in den Hosen klafften mehrere große Lö-cher.

»Du wirst dich erkälten«, gab Iray zu be-denken. »Du solltest trockene Sachen anzie-hen.«

»Später, später«, winkte Hage Nockemann ab und schniefte laut. »Erst muß ich Atlan etwas zeigen.«

Er schob eine Kleinstdiskette in das Video-gerät der Kabine.

»Der Film ist von den automatischen Ka-meras aufgenommen worden, während wir da unten im Wald bei den Orz-Otanern waren«, erläuterte er.

Auf dem Bildschirm waren nur dunkelrote Wolken zu sehen, die den unteren Teil der SOL umhüllten und sich bis an den Horizont erstreckten. Sie lagen etwa fünfhundert Meter unter der aufnehmenden Kamera.

»Ja – und?« fragte Iray ungeduldig. Sie hät-te das positronische Trickspiel gern fortge-setzt.

»Jetzt geht es los«, sagte Hage Nockemann und hustete trocken.

Blitze erhellten die Wolkenbänke. Sie zuckten zunächst vereinzelt durch die Wol-ken, kamen dann aber immer häufiger, bis sie schließlich ununterbrochen aufleuchteten.

»Ich sehe immer noch nicht, was daran Be-sonderes sein soll«, bemerkte die junge Frau. »Sicher, das sieht bedrohlich aus, und es muß auch sehr unangenehm für euch im Wald ge-wesen sein, aber das ist dennoch nichts weiter als ein Gewitter.«

Hage Nockemann kicherte. Er strich sich mit den Fingerspitzen über den Bart und schniefte.

»Nichts weiter als ein Gewitter? Da bin ich aber anderer Meinung. Moment mal.« Er zog die Magnetkarte aus dem Gerät und schob eine andere ein. »Ich habe die Bilder überein-ander kopiert und den Film auf diese Weise auf etwa dreißig Sekunden verkürzt. Paßt gut auf.«

Er ließ den Film anlaufen. Abermals blitzte es auf. Von Sekunde zu Sekunde wurde es heller. Da alle Bilder zu einem kurzen Ab-schnitt zusammengezogen worden waren, schienen die Blitze überhaupt nicht mehr zu erlöschen. Klar erkennbar bildete sich ein hufeisenförmiger, gleißend heller Bezirk her-aus, der etwa hundert Meter lang und vierzig Meter breit war.

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

»In diesem Bereich sind die meisten Blitze

eingeschlagen«, erklärte der Wissenschaftler. »Seltsam«, sagte Atlan erstaunt. »Ja, das ist es wirklich«, stimmte Nocke-

mann zu. »Es ist der Bereich, in dem wir uns aufgehalten haben. Wir haben unglaubliches Glück, daß wir noch leben.«

»Wie ist es möglich, daß die Blitze sich auf einen derartigen Bereich konzentrieren?« fragte Atlan. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Ich auch nicht«, erwiderte der Wissen-schaftler.

»Das muß doch etwas zu bedeuten haben«, sagte Iray. »Meinst du, daß die Orz-Otaner etwas damit zu tun haben?«

»Natürlich nicht.« Hage Nockemann wisch-te sich die Hände an seinem wassertriefenden Pullover ab. »Da muß irgend etwas im Boden sein. Unter dem Waldboden verbirgt sich ir-gend etwas, das für dieses Phänomen verant-wortlich ist. Fragt sich nur, was.«

»Wir werden das untersuchen, sobald sich eine Möglichkeit dazu ergibt«, versprach der Arkonide.

»Das wird notwendig sein. Ich fange an, sobald es aufhört zu regnen.«

»Warte noch etwas«, bat Atlan. »Insider und ich werden in einer Stunde mit einem Gleiter starten und die Orz-Otaner suchen. Sie brauchen unsere Hilfe, und die werden wir ihnen auch geben. Zunächst solltest du dich darauf konzentrieren, ihnen medizinisch zu helfen.«

»Vielleicht hast du recht.« Der Wissen-schaftler zog die Magnetkarte aus dem Vi-deogerät und steckte sie ein. »Bis später dann.«

Damit eilte er hinaus.

* Regentropfen prasselten unaufhörlich auf

die transparente Kuppel des Antigravgleiters, den Atlan durch den Dschungel lenkte. Der Regen fiel so dicht, daß das Licht der Scheinwerfer nur wenige Meter weit reichte. Dennoch hatten Insider und der Arkonide keine Schwierigkeiten, sich zu orientieren, da ihnen verschiedene Ortungssysteme zur Ver-fügung standen.

»Was machen wir, wenn die Orz-Otaner nicht zurückkommen?« fragte Insider.

»Das habe ich bereits mit Breck bespro-chen. Er läßt eine Gruppe von Arbeitsrobotern zusammenstellen, die das Dorf wieder so auf-bauen, wie es vor der Landung der SOL war.«

»Ich verstehe das nicht. Warum sind sie weggelaufen? Du hast mir doch erzählt, daß die Verständigung mit ihnen gut war.«

»Sie haben sich bestimmt nur zurückgezo-gen, weil sie wissen, daß es bei Gewitter zu gefährlich in dieser Gegend ist. Verlaß dich drauf. Sie kommen wieder, wenn das Wetter besser ist. Vielleicht sind sie schon jetzt hier irgendwo.«

Er schaltete den Außenlautsprecher ein, um Torekan zu rufen, als plötzlich eine Riesen-faust den Gleiter zu packen schien und zu Boden schleuderte. Insider und der Arkonide fühlten sich in die Sitze gepreßt, während die Maschine mit großer Wucht in den Morast stürzte.

Schlamm und Schmutz spritzten hoch und überdeckten die Scheiben. Atlan versuchte sich aufzurichten und die Antigravschaltun-gen mit den Händen zu erreichen, doch es gelang ihm nicht. Eine unsichtbare Kraft hielt ihn gepackt und ließ ihn nicht los.

»Insider, hilf mir«, keuchte er. Der Grüne warf sich nach vorn. Für einen

Moment schien es, als werde er aus dem Ses-sel kippen, doch dann erreichten seine Hände die Schaltungen und betätigten sie. Die Ma-schine schoß nach vorn und stieg mit plötzli-cher Beschleunigung steil in die Höhe, als sie von dem Gravitationsdruck frei wurde, der sie an den Boden gehalten hatte. Sie raste in das Blätterwerk der Bäume hinein, durchbrach das Gewirr der Zweige und Äste und schoß über die Baumwipfel hinaus. Dann erst gelang es Insider, sie wieder abzufangen. Sie verharr-te still über den Bäumen, und der Regen pras-selte auf sie herab und spülte den Schmutz ab.

»Klatsch-hurra«, ächzte der Extra. »Das haben wir gerade noch geschafft.«

Atlan richtete sich auf. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn.

»Eine Gravitationsfalle«, sagte er. »Wir ge-hen wieder nach unten. Ein zweites Mal las-sen wir uns nicht überraschen.«

Insider lenkte die Maschine behutsam

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

durch das Blätterwerk in die Tiefe. Er schnippte plötzlich mit den Fingern.

»Da unten ist jemand«, rief er. »Ich glaube, es ist Torekan.«

Er drehte den Gleiter herum und ließ ihn gleichzeitig noch weiter absinken, bis das Licht der Scheinwerfer die gedrungene Ges-talt erfaßte, die neben einem Baum stand und sich mit beiden Händen auf ein Schwert stütz-te, dessen Spitze sie in den Boden gerammt hatte. Es war Torekan.

Der Extra landete und öffnete die Seitentür. »Narr«, sagte der Orz-Otaner verächtlich.

»Jedes Kind weiß, daß es die Inseln der un-sichtbaren Geister meiden muß. Du kannst von Glück reden, daß du ihren Zorn nicht erregt hast, denn sonst hätten sie dich in die Tiefe gezogen, und niemand hätte dich noch retten können.«

»Also keine Gravitationsfalle von Kaytrin oder Wonatrin, sondern offenbar eine für die-sen Planeten ganz normale Angelegenheit«, bemerkte Insider leise. »Wir sollten uns ab-gewöhnen, überall Fallen und Tricks der bei-den Manifeste zu vermuten.«

»Die Geister schrecken uns nicht, Torekan. Wir sind stärker als sie. Wo sind deine Leute? Und wo soll das Dorf errichtet werden? Meinst du nicht, daß es Zeit wird, mit den Arbeiten zu beginnen?«

»Hier und an dieser Stelle soll das Dorf entstehen.«

»So nahe bei den Inseln der unsichtbaren Geister?«

»Die Inseln werden den Mittelpunkt des Dorfes bilden. Auf die Weise werden wir un-sere Toten ehren und ihnen die Würde zu-rückgeben, die du ihnen genommen hast.«

Torekan stutzte. Er beugte sich leicht zur Seite und horchte. Dann riß er sein Schwert aus dem Boden, richtete es auf Atlan und fragte: »Was geschieht? Ihr wagt es erneut, die Ruhe der Toten zu stören?«

Durch das eintönige Rauschen des Regens klang ein fernes Donnern.

»Eines der Beiboote startet«, sagte Insider leise. »Er hat es gehört, und es irritiert ihn.«

*

Der High Sideryt gab den Startbefehl.

Bjo Breiskoll drückte eine Taste an einem Instrumentenpult in der Zentrale der SOL, und eines der Beiboote glitt durch die Schleu-senkammer hinaus. Das kleine Raumschiff war ausschließlich mit Robotern besetzt. Es sollte in den Weltraum vorstoßen und erkun-den, ob die SOL weiterhin durch Hy-Raketen bedroht wurde.

Auf den Ortungsschirmen zeichnete sich das Beiboot deutlich ab, wie es langsam in die Höhe stieg, die Wolken durchbrach und dann stärker beschleunigte. Bald darauf verließ es die Atmosphäre des kleinen Planeten und ver-ließ somit dessen schützenden Bereich.

»Wir haben direkten Sicht- und Ortungs-kontakt mit dem Leuchtenden Auge«, meldete die Bordpositronik des Beiboots.

Breckcrown Hayes beugte sich unwillkür-lich nach vorn, als fürchte er, ihm könne ir-gendeine der zahlreichen Informationen ent-gehen, die in Form von Kodeziffern auf den Bildschirmen erschienen. Jetzt mußte sich zeigen, ob die SOL an den Planeten Orz-Otan gefesselt blieb, oder ob sie die Möglichkeit hatte, wieder zu starten, ohne von Hy-Raketen angegriffen zu werden.

»Ich fürchte, wir sitzen in der Falle«, sagte der Katzer. »Anti-Homunk hat sie aufgestellt, und wir sind hineingetappt. Damit nagelt er uns auf diesem Planeten fest bis in alle Ewig-keit.«

Auf den Bildschirmen erschien ein rotes Warnlicht. Im nächsten Moment teilte die Bordpositronik des gestarteten Beiboots auch schon mit, daß die Ortungsgeräte mehrere Hy-Raketen erfaßt hatten. Weitere Informationen kamen nicht mehr. Die Raketen rasten so schnell heran, daß die Positronik keine Zeit mehr hatte, noch irgend etwas zu übermitteln.

Auf den Bildschirmen der SOL erschien ein Feuerball, der sich über Orz-Otan ausbreitete und unmißverständlich klar machte, daß Anti-Homunk keinerlei Kompromisse einging.

*

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«,

sagte Atlan. »Wir haben nicht vor, die Ruhe der Toten zu stören. Unsere Helfer sind auf dem Weg hierher. Du wirst sehen, daß sie das Dorf sehr schnell aufbauen werden, fester und

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

sicherer, als es je zuvor war.«

Torekan drehte sich ärgerlich fauchend um. Das Schwert wirbelte durch die Luft, fuhr auf einen armdicken Ast herab und trennte ihn vom Baum.

»Schnell. Fest. Sicher. Willst du mein Volk beleidigen?« Der Anführer der Orz-Otaner schritt mit erhobenem Schwert auf den Arko-niden zu.

Atlan schien unbeeindruckt zu sein. Er ver-änderte seine Haltung nicht. Tatsächlich war er jedoch bereit, bei dem geringsten Anzei-chen einer Attacke auszuweichen. Er wollte dem Volk der Orz-Otaner helfen und für den Schaden aufkommen, den die SOL angerich-tet hatte, er dachte jedoch nicht darin, sein Leben zu riskieren.

»Wir kennen die Sitten und Gebräuche dei-nes Volkes nicht«, sagte er. »Es tut mir leid, wenn ich etwas falsch gemacht habe.«

Torekan senkte das Schwert, doch seine Augen funkelten nach wie vor zornig unter dem Hut hervor.

»Schnell? Die Toten haben es nicht eilig. Sie sind in die Ewigkeit eingegangen. Des-halb braucht ihr Dorf nicht an einem Tag er-richtet zu werden. Fest? Der Körper der Toten ist nicht fest. Er löst sich auf, damit die Seele sich befreien und das Nichts erreichen kann. Warum also sollten ihre Häuser fest sein? Sicher? Für wen? Für die Toten? Die Toten brauchen keine Sicherheit. Niemand kann sie gefährden, der nicht selbst vom Leben Ab-schied genommen hat.«

Er lachte verächtlich. »Die Lebenden haben es eilig, denn sie

fürchten, etwas zu versäumen in der kurzen Zeitspanne, die sie unter den Sternen weilen. Fest? Die Lebenden bauen für die Ewigkeit, obwohl ihr Leben kürzer ist als das ihrer Häu-ser. Sicher? Vor wem? Vor sich selbst?«

»Er ist gar nicht mal so dumm, dieser Su-pergorilla«, flüsterte Insider.

Vereinzelte Schreie ertönten. Zahlreiche Orz-Otaner lösten sich aus dem Dunkel des Waldes und eilten zu Torekan. Sie redeten erregt und verängstigt auf ihn ein, bis er ihnen befahl, ruhig zu sein.

»Fremde Krieger kommen in den Wald«, rief er Atlan zu. »Sie nähern sich uns. Wir müssen kämpfen.«

»Fremde Krieger?« entgegnete der Arkoni-de. »Auf Orz-Otan gibt es nur dein Volk. Dort kommen keine Krieger. Es sind meine Diener. Es sind deine Freunde.«

Torekan bewies erstaunlichen Mut. Er ging einige Schritte in die Richtung, aus der er die vermeintlichen Krieger erwartete. Abwehrbe-reit hob er das Schwert.

Unter den Bäumen tauchten die ersten Ro-boter auf. Es waren humanoide Modelle, de-ren Arme mit verschiedenen Werkzeugen für die Holzbearbeitung ausgestattet waren.

»Schlage sie nicht«, warnte Atlan ihn. »Es könnte dich dein Schwert kosten.«

Torekan lachte dröhnend. Er kam zu dem Arkoniden und hielt ihm die Klinge hin. Die-se war tiefschwarz und bestand – wie der Un-sterbliche erst jetzt erkannte – aus Holz.

»Es ist das Schwert der Schlange Karagol«, erklärte der Anführer der Orz-Otaner. »Es ist unzerstörbar. Es durchtrennt selbst den Him-melsbaum, und dessen Fleisch ist härter als alles, was es sonst auf diesem Planeten gibt.«

»Dennoch würde ich es an deiner Stelle nicht versuchen, denn diese Roboter sind nicht deine Feinde, sondern deine Freunde.«

Torekan senkte das Schwert und stieß die Spitze in den Boden.

»Vielleicht hast du recht«, erwiderte er. »Wozu sollte ich kämpfen?«

Plötzlich hörte es auf zu regnen, und es wurde ein wenig heller. Die Stimmen zahlrei-cher Tiere erfüllten den Wald.

»Zuerst müssen wir die Bäume fällen«, er-klärte Torekan. »Ich zeige deinen Robotern an, welche weggeräumt werden müssen.«

Er eilte zu einer Reihe von Urwaldriesen hinüber und kennzeichnete sie, indem er mit seinem Schwert Kerben hineinschlug.

Atlan gab Insider ein Zeichen, und dieser befahl den Robotern über Funk, die Bäume zu fällen, sie anschließend wegzuräumen und aus ihrem Holz nach dem Befehl Torekans Häuser zu errichten. Dann entfernte er sich mit dem Gleiter so weit, daß Insider und er durch um-stürzende Bäume nicht gefährdet werden konnten.

Zahlreiche Orz-Otaner folgten ihnen. »Warum kehren wir nicht zur SOL zu-

rück?« fragte Insider. »Du zumindest brauchst nicht hier zu bleiben. Ich könnte die Roboter

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überwachen. Wolltest du nicht eine Space-Jet ausrüsten, um damit zum Leuchtenden Auge zu fliegen?«

»Das hatte ich vor.« »Dann solltest du nicht damit warten. Je

mehr Zeit wir Anti-Homunk geben, desto günstiger für ihn.«

»Also gut«, stimmte der Arkonide zu. »Bring mich zur SOL.«

Insider übernahm das Steuer und ließ den Gleiter aufsteigen. Er führte ihn durch das Blätterdach der Bäume und bis über die Wol-ken hinaus auf die SOL zu. Mit einem Funk-impuls öffnete er eine Schleuse.

Im gleichen Moment kam ein Notsignal der Roboter aus dem Wald.

*

Hage Nockemann blickte unwirsch auf, als

Hower Crabb sein Labor betrat. »Ich habe zu arbeiten«, sagte er abweisend. »Entschuldige«, erwiderte der Transform-

forscher. »Ich bin mir dessen bewußt, daß ich störe. Dennoch möchte ich dich bitten, mir zuzuhören.«

Hage Nockemann legte die Gewebeprobe zur Seite, die er von den Orz-Otanern ge-nommen hatte. Er seufzte.

»Wenn es denn unbedingt sein muß. Wor-um geht es?«

»Um die beiden Manifeste, die uns angrei-fen werden, wie wir von Anti-Homunk selbst wissen.«

»Und deshalb hältst du mich bei der Arbeit auf? Ich möchte wissen, was du im umge-kehrten Fall sagen würdest?«

Hower Crabb ließ sich nicht einschüchtern. Er wußte, daß Hage Nockemann ein gutmüti-ger Mensch war, dem aber nichts über seine wissenschaftlichen Arbeiten ging. Er war sich darüber klar, daß ihn auch die Unruhen an Bord nicht interessierten, weil sie ihn als Wis-senschaftler nicht tangierten.

»Ich habe erfahren, daß die Eingeborenen unter einer unbekannten Krankheit leiden, und daß du versprochen hast, ihnen zu hel-fen.«

»Das ist richtig«, bestätigte Nockemann. Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase und schneuzte sich. Erklärend fügte er hinzu: »E-

kelhaftes Wetter draußen.« »Wetter ist meistens draußen«, versuchte

Hower Crabb zu scherzen, doch Hage No-ckemann verstand ihn nicht.

Der Transformforscher räusperte sich ver-legen.

»Es hat sich herumgesprochen, daß du Ge-webeproben an Bord genommen hast, Gewe-beproben mit unbekannten Krankheitskeimen, an denen angeblich fast das ganze Volk der Orz-Otaner zugrunde gegangen ist.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Nockemann. »Und?«

»Bist du dir nicht klar darüber, daß diese Mikroorganismen ein Manifest sein könnten? In ihrer Gesamtheit könnten sie Kaytrin oder Wonatrin sein. Und wenn es so ist, dann ha-ben wir uns unseren gefährlichsten Feind selbst an Bord geholt.«

Hower Crabb war von Wort zu Wort erreg-ter geworden. Mühsam unterdrückte Span-nung brach aus ihm hervor. Er packte Hage Nockemann bei den Schultern und schüttelte ihn.

»Eine interessante Überlegung«, sagte der grauhaarige Wissenschaftler. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich werde das einge-hend mit meinem Scientologen erörtern.«

»Hast du wenigstens ...?« »Sicherheitsmaßnahmen getroffen? Ja, ich

denke schon.« »Was soll das heißen?« herrschte Crabb ihn

an. »Weißt du nicht einmal, daß du alle Sola-ner in tödliche Gefahren gebracht hast oder nicht?«

Hage Nockemann schien erst jetzt zu ver-stehen.

Für einen kurzen Moment schien es, als würde er die Ruhe verlieren, doch er fing sich schnell. Er griff nach einem mit einer blauen Flüssigkeit gefüllten Glas.

»Halte es mal eben fest«, bat er. »Dafür kommst du mir gerade recht.«

Hower Crabb nahm das Glas. Im gleichen Moment öffnete sich die Tür erneut, und meh-rere Männer und Frauen drängten herein. Ihre Gesichter waren vor Erregung gerötet.

»Was ist los, Hower?« schrie eine rothaari-ge Frau. »Hast du die Wahrheit aus ihm her-ausgeholt?«

Sie hielt eine Lederpeitsche in der Hand

19

ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

und war offenbar fest entschlossen, sie zu gebrauchen.

4.

»Die Roboter«, sagte Insider erschrocken.

»Irgend etwas ist mit den Robotern passiert.« Atlan blickte auf die Monitoren, auf denen

verschiedene Schriftzeichen und Zahlensym-bole blinkten. Sie zeigten an, daß die Ar-beitsmaschinen in Schwierigkeiten geraten waren.

»Wir fliegen zurück«, entschied er. »Ich muß wissen, was da los ist.«

Während Insider die Steuerelemente der Maschine mit zwei Händen bediente und den Gleiter herumzog, schaltete er mit den ande-ren beiden die Ortungsgeräte ein und richtete die Antennen auf den Bereich, in dem sich die Automaten befanden. Verblüfft klopfte er gegen die Scheibe eines Bildschirms.

»Das kann doch nicht stimmen«, sagte er. »Sieh dir das an.«

Atlan schüttelte den Kopf. »Bist du sicher, daß die Geräte in Ordnung

sind?« »Jetzt ja. Eben hatte ich noch meine Zwei-

fel, aber nun nicht mehr.« Er ließ den Gleiter durch das Blätterdach

absinken und schaltete die Scheinwerfer ein. Lautlos glitt die Maschine an den mächtigen Baumstämmen vorbei. Sie tasteten sich lang-sam bis zu der Stelle vor, an der die Roboter an dem neuen Dorf arbeiten sollten.

Ein etwa zwanzig Meter breiter und hun-dert Meter langer Graben klaffte dort, wo To-rekan mit den Männern und Frauen seines Volkes gewesen war. Von den Robotern war keine Spur mehr zu sehen.

»Vorsicht«, warnte Atlan. »Ich möchte nicht noch einmal in eine Gravitationsfalle geraten.«

»Das wird auch nicht geschehen«, erwider-te der Extra. »Diesmal habe ich die Gravitati-onstaster eingeschaltet. Sobald wir irgendwo auf ein Nest erhöhter Gravitation stoßen, heult eine Sirene auf.«

»Die Orz-Otaner sind verschwunden«, sag-te der Arkonide. »Was zeigt der Individualtas-ter an?«

»Nichts. Torekan und seine Leute sind

nicht mehr in der Nähe. Entweder liegen sie da unten im Graben und sind tot, oder sie sind geflüchtet.«

»Und die Roboter?« »Sie sind wenigstens zweihundert Meter

unter uns, und sie sinken noch immer tiefer.« Insider betätigte verschiedene Tasten auf

dem Instrumentenpult und erteilte den Ma-schinen auf diese Weise Funkbefehle. Er wies sie an, sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln nach oben zu arbeiten.

»Keiner der Roboter antwortet«, bemerkte er.

»Sie sind verloren. Es zieht sie nach unten, und sie können nichts dagegen tun.«

Die beiden Männer beobachteten die Or-tungsreflexe auf den Monitoren. Sie ließen keinen Zweifel daran, daß Atlan recht hatte.

»Wie ist das möglich?« fragte Insider voller Unbehagen. »Diese verdammten Automaten sind nahezu perfekt. Einige von ihnen haben sogar Antigravgeräte, mit denen sie sich selbst aus dem Sumpf ziehen könnten.«

»Wenn sie sie einschalten würden«, erwi-derte der Arkonide. »Aber sie tun es nicht. Das begreife ich nicht.«

»Sie reagieren nicht auf die Funkbefehle. Sie sind überhaupt nicht mehr ansprechbar.«

Atlan lehnte sich nachdenklich in seinem Sessel zurück.

»Es sieht ganz so aus, als könnten wir den Orz-Otanern nicht helfen. Wir haben ihr Dorf zerstört, aber irgend jemand scheint nicht da-mit einverstanden zu sein, daß wir den Scha-den wieder gutmachen.«

»Du meinst, die Roboter sind einem An-schlag zum Opfer gefallen. Kaytrin oder Wo-natrin?«

»Warum nicht?« Insider schüttelte den Kopf. »Was könnte die Manifeste dazu herausfor-

dern? Was haben sie denn schon davon, wenn sie ein paar Roboter vernichten? Anti-Homunk weiß doch, daß er nicht gegen Au-tomaten, sondern gegen uns kämpfen muß.«

»Das wird er auch tun. Vielleicht leben wir nur noch, weil wir an Bord des Gleiters geblieben sind.«

»Das halte ich für wahrscheinlich. Wir soll-ten alle davor warnen, die SOL ohne entspre-chende Ausrüstung zu verlassen.«

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

Auf dem Instrumentenpult pulsierte ein

Rufzeichen. Insider schaltete das Funkgerät ein, und auf dem Bildschirm vor ihm erschien das Gesicht Bjo Breiskolls.

»Ich habe das erste Mal telepathischen Kontakt mit den Eingeborenen gehabt«, be-richtete er. »Torekan und seine Leute befin-den sich offenbar in großen Schwierigkeiten. Sie haben Angst und sind verzweifelt.«

»Wo sind sie?« fragte Atlan. »Auf einer Halbinsel südlich von euch.

Mehr kann ich euch leider auch nicht sagen. Der Kontakt war nur sehr kurz.«

»Danke. Wir versuchen, ihnen zu helfen.« Insider schaltete ab und ließ den Gleiter bis

über die Baumkronen ansteigen. Dann flog er mit hoher Beschleunigung nach Süden.

»Weit können Torekan und seine Leute in dieser kurzen Zeit nicht gekommen sein«, sagte der Arkonide.

»Sie sind auf einer Halbinsel. Also muß ir-gendwo ein großer See oder das Meer sein. Irgend etwas scheint sie in die Enge getrieben zu haben.«

Die Wolken lösten sich allmählich auf, so daß die Sicht besser wurde. Nach einem Flug von nur wenigen Minuten erreichte die Ma-schine die Küste eines ausgedehnten Gewäs-sers. Die Ortungsinstrumente zeigten an, daß es wenigstens hundert Kilometer breit und vierhundert Kilometer lang war. Es sah schwarz und unheimlich aus. Roter Gischt brandete gegen das Ufer.

»Hier müssen sie irgendwo sein«, sagte In-sider. »Bjo hat von einer Halbinsel gespro-chen.«

»Dort ist eine Halbinsel.« Atlan wies auf eine von Büschen überwu-

cherte Landzunge, die weit in das Meer hin-einreichte. Eine dünne Rauchfahne stieg von ihr auf. Der Extra zog den Gleiter herum, ließ ihn absinken und flog in nur wenigen Metern Höhe über dem Wasser auf die Halbinsel zu. Schon bald konnten Atlan und er einige Ges-talten ausmachen, die mit Steinen und Lanzen nach einem Gegner warfen, der irgendwo zwischen den Büschen und Bäumen versteckt war.

»Es ist Torekan mit einem Teil seiner Leu-te«, sagte der Arkonide. »Er steht dort an dem einzelnen Baum.«

Der Anführer der Orz-Otaner verteidigte sich mit Steinwürfen, wich jedoch Schritt für Schritt zurück, da der Feind offenbar immer näher rückte.

Insider schrie erschrocken auf. »Sieh dir das an, Atlan! Das Biest versucht,

Torekan und seine Leute ins Wasser zu trei-ben.«

Der Arkonide sah nun auch, was Insider entdeckt hatte. Unter den Bäumen kroch ein bizarr geformtes Wesen hervor. Es war etwa zehn Meter hoch und hatte keine klar erkenn-bare Körperform. Langsam bewegte es sich auf zwölf Beinen voran, die jeweils mit ge-zackten Greifarmen und scharfen Zangen be-stückt waren.

Über diesem Gewirr von Beinen und Ar-men schwankte ein tropfenförmiger Kopf, der mit zahllosen Zacken, Türmchen, fächerarti-gen Gebilden und anderen Auswüchsen ver-sehen war. Vier große, gelb leuchtende Augen waren starr auf die Orz-Otaner gerichtet.

»Da drüben ist noch eins von diesen Bies-tern«, sagte Insider. »Und da noch eins. Und da auch.«

Einer der Eingeborenen versuchte, zwi-schen zwei dieser bizarren Wesen hindurch-zulaufen und in den Wald zu flüchten, doch das gelang ihm nicht. Unglaublich schnell streckten die Tiere ihre Beine zur Seite aus und bildeten eine Sperre, an der sich der Orz-Otaner unweigerlich gefangen hätte, wenn er weitergelaufen wäre. Erschrocken blieb er stehen und kehrte dann zu den anderen zu-rück, die sich weiter und weiter abdrängen ließen.

»Sie können nur noch ins Wasser fliehen«, sagte Insider.

»Sieh genau hin«, forderte der Arkonide ihn auf. »Im Wasser sind noch mehr von die-sen Biestern.«

»Eine perfekte Falle«, stellte der Grüne fest.

Atlan griff nach einem Energiestrahler, der in einem Sicherheitsfach des Gleiters lag. Insider ließ die Sirene aufheulen, um die Orz-Otaner darauf aufmerksam zu machen, daß Hilfe nahte. Atlan öffnete das Seitenfenster und schoß aus einer Entfernung von etwa dreißig Metern auf das Tier, das Torekan am nächsten war. Der Energiestrahl zuckte son-

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nenhell aus dem Projektor und raste auf das bizarre Wesen zu, das ruckartig einige Beine vor den Kopf hob und damit die Energieflut abwehrte. Es wich einige Schritte weit zu-rück, griff Torekan danach jedoch um so wü-tender an.

»Mit dem Strahler ist nichts zu machen«, staunte Insider. »Das Biest wehrt die Hitze ohne weiteres ab.«

»Ja, mit den Beinen«, entgegnete Atlan. »Ich bin gespannt, ob es an den anderen Kör-perteilen auch so unempfindlich ist.«

Er feuerte erneut. Abermals versuchte das fremdartige Wesen, die Energieflut abzuweh-ren, war jedoch nicht schnell genug. Der E-nergiestrahl bohrte sich unterhalb des Kopfes in den Rumpfkörper und verbrannte ihn. Mit einem gräßlichen Schrei brach das Wesen zusammen und verendete.

Torekan streckte triumphierend die Arme in die Höhe, während Atlan sich bereits dem nächsten Wesen zuwandte. Eines der Beine des bizarren Wesens wirbelte ihm entgegen und schlug krachend neben ihm gegen den Fensterholm. Erschrocken fuhr er zurück. Insider riß die Maschine hoch. Die anderen Wesen brachen durch das Dickicht. Auch sie lösten einige ihrer Beine ab und schleuderten sie mit unglaublicher Wucht gegen den Glei-ter. Und fast alle trafen. Die Maschine wurde schwer erschüttert und schwankte stark. Mi-nuten vergingen, bis Atlan wieder eine Gele-genheit fand, einen gezielten Schuß ab-zugeben. Er traf und tötete sein Opfer.

Das genügte. Die vielbeinigen Geschöpfe flüchteten ins

Wasser. »Sie sind immerhin so intelligent, daß sie

erkennen, wie überlegen wir sind«, sagte In-sider zufrieden. »Immerhin haben sie dem Gleiter einige Schrammen verpaßt.«

»Das ist mir weitaus lieber, als wenn ich einen nach dem anderen von ihnen abschießen müßte«, entgegnete der Arkonide. »Lande jetzt.«

Insider nickte. Er ließ die Maschine absin-ken und setzte sie direkt neben Torekan auf. Breit lachend schleuderte der Orz-Otaner ei-nen Ast von sich, den er zur Verteidigung genommen hatte.

»Das war gerade noch rechtzeitig, Freun-

de«, rief er. »Ein paar Atemzüge wären uns noch geblieben, aber dann hätte es kein intel-ligentes Leben mehr auf unserer Welt gege-ben.«

»Es war euer Glück, daß sie nicht mit ihren Beinen nach euch geworfen haben«, bemerkte Insider.

»Oh, die Cazkis wußten genau, was sie ta-ten. Diese verdammten Beine sind mit Gift-drüsen besetzt. Wenn sie uns damit getroffen hätten, wären wir ungenießbar für sie gewor-den.«

Er fuhr sich mit beiden Händen über das verschwitzte Gesicht, dann schlug er mit der Faust auf das Dach des Gleiters.

»Es ist wirklich gut, wenn man fliegen kann. Ich werde es meinem Volk auch bei-bringen, damit uns so was nicht noch einmal passiert. Ich werde meinen Leuten auch so einen Kasten bauen.«

Auch die anderen Orz-Otaner waren wie ausgewechselt. Ihr bisheriges Mißtrauen war verschwunden. Sie schwatzten lachend durch-einander und drängten sich um die Flugkabi-ne, um sie mit den Händen zu betasten und zu beklopfen. Die meisten von ihnen schienen die Todesangst schon vergessen zu haben, unter der sie eben noch gelitten hatten.

»Laßt uns von hier verschwinden«, schlug Insider vor. »Wer weiß, vielleicht holen diese Cazkis Verstärkung und kommen zurück.«

*

»Bist du verrückt geworden, Lister?« fragte

Hower Crabb. »Was willst du mit der Peit-sche?«

»Die ziehe ich dem alten Trottel über den Rücken, wenn er uns keine klare Antwort gibt.«

Hage Nockemann eilte zu Blödel, der in ei-ner Ecke des Labors an einem Analysegerät arbeitete, öffnete eines seiner zahllosen Fä-cher und entnahm ihm eine verschlossene Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit.

»Hower«, schrie die Rothaarige. »Das las-sen wir uns nicht bieten. Was hat er dir ge-sagt?«

»Eigentlich gar nichts«, erwiderte Crabb zögernd.

Die Frau stieß ihn zur Seite, eilte zu dem

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

Wissenschaftler, packte ihn am Arm und riß ihn herum. Die Flasche mit der farblosen Flüssigkeit entfiel ihm. Blitzschnell ließ er sich auf die Knie herabfallen und fing sie wieder auf.

»Vorsicht, Vorsicht«, mahnte er. »Wenn die Flasche zerbrochen wäre, dann wäre es für uns alle vorbei gewesen.«

Lister wich erbleichend vor ihm zurück. Hage Nockemann strich sich lächelnd das

graue Haar aus der Stirn. »In so einem Labor kann es ganz hübsch

gefährlich sein, wenn man nicht aufpaßt«, sagte er. »Was wolltet ihr doch? Weshalb seid ihr zu mir gekommen?«

»Wir wollten wissen, was mit den Proben ist, die du den Affen abgezapft hast«, erwider-te Hower Crabb.

»Ach so, ich verstehe.« Der Wissenschaft-ler griff nach einer versiegelten Flasche, die eine blaue Flüssigkeit enthielt. »Ihr meint dieses Präparat hier.«

»Darf ich mal sehen?« Die rothaarige Frau lächelte mühsam. Sie streckte fordernd die Hand aus.

»Aber gern doch«, sagte Nockemann und reichte ihr die Flasche. »Laß sie nicht fallen. Sie enthält Mikroorganismen, die ...«

»Den Teufel werde ich«, schrie die Frau in panischer Angst. »Ich bringe das Zeug von Bord. Ich werfe es aus der Schleuse in den Dschungel, wohin es gehört.«

Sie lief zur Tür. »So warte doch«, bat der Wissenschaftler.

»Lister, sei doch vernünftig, diese Mikroor-ganismen sind ...«

Sie hastete wie von tausend Furien gehetzt hinaus.

»Ich weiß«, rief sie über die Schulter zu-rück. »Kaytrin oder Wonatrin!«

Mit diesen Worten rannte sie davon. Hower Crabb zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid«, sagte er. »Aber vielleicht ist

es besser so.« Er befahl den anderen, das Labor zu verlas-

sen. Als er als letzter gehen und die Tür schließen wollte, ertönte ein langgezogener Schrei. Danach brach eine Panik auf dem Gang vor dem Labor aus. Männer und Frauen stürmten in sinnloser Angst an der Tür vorbei. Sie rannten Hower Crabb um und trampelten

ihn zu Boden, als er versuchte, sich aufzurich-ten.

Innerhalb weniger Sekunden wurde es wie-der ruhig.

Hage Nockemann eilte zu Crabb, der be-wußtlos vor der Tür lag und aus mehreren Wunden am Kopf blutete.

»Es scheint nicht weiter schlimm zu sein«, sagte er, als er ihn flüchtig untersucht hatte. »Es sind nur Abschürfungen.«

»Was ist passiert?« fragte Blödel. »Das werden wir gleich wissen.« Der Wis-

senschaftler schritt in den Gang hinein, bis er einige Glasscherben auf dem Boden liegen sah, die in einer bläulichen Flüssigkeit schwammen.

»Deshalb sind sie weggelaufen«, sagte Blödel, der ihm gefolgt war. »Dabei hast du doch gesagt, daß die Mikroorganismen ...«

»Ich wollte sagen, daß diese Mikroorga-nismen völlig harmlos sind«, verbesserte der Wissenschaftler den Roboter, »aber ich bin nicht dazu gekommen. Sie wollten mir nicht zuhören.«

»Sie haben gedacht, daß du den Orz-Otanern die Proben entnommen hast.«

»Habe ich aber nicht. Sie haben gefragt, was mit den Proben ist, die ich den Affen ab-gezapft habe. Und das waren diese hier. Sie stammen von den affenartigen Wesen auf dem Planeten ... dem Planeten ... Nun ist mir der Name entfallen. Na, diese Proben sind ja auch schon mehr als zehn Jahre alt. Als ich auf diesem Planeten war, ... diesem Planeten ... äh, also damals gehörtest du meinem Sciento-logen-Team noch gar nicht an.«

Er beobachtete schmunzelnd, wie ein Rei-nigungsroboter kam und die Reste beseitigte. Hower Crabb war mittlerweile wieder zu sich gekommen. Er rappelte sich auf und eilte schreckensbleich davon. Hage Nockemann griff sich in die Tasche und holte einige Am-pullen, die eine bräunliche Flüssigkeit enthiel-ten, daraus hervor.

»Damit sieht es schon anders aus«, sagte er vergnügt. »Dieses Zeug dürfte für uns Men-schen tödlich sein. Für die Orz-Otaner ist es ein Heilmittel, das sie wahrscheinlich für im-mer von ihrer Beulenpest befreit. Habe ich dir eigentlich erzählt, daß diese Seuche vermut-lich von einem Insekt übertragen wird, das es

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

aller Wahrscheinlichkeit in dieser Gegend des Planeten nicht gibt, sondern nur auf den ande-ren Kontinenten?«

»Nein. Mit keinem Wort«, erwiderte Blö-del.

»Wir nehmen uns jetzt einen Gleiter und sehen uns draußen um. Ich muß wissen, ob es auf den anderen Kontinenten noch Orz-Otaner gibt, und wenn es sie gibt, ob sie Abwehrstof-fe gebildet haben gegen die Beulen-Viren. Außerdem müssen wir die überlebenden Orz-Otaner impfen. Wir haben also eine Menge Arbeit zu erledigen. Komm, wir wollen keine Zeit verlieren.«

Er informierte die Zentrale davon, daß es ihm gelungen war, ein Serum zu entwickeln, mit dem er den Orz-Otanern helfen konnte, und erhielt einen Gleiter zugewiesen, mit dem er die SOL verlassen konnte. Bjo Breiskoll teilte ihm darüber hinaus mit, in welcher Ge-gend er Atlan, Insider und die Eingeborenen voraussichtlich antreffen würde.

Als der Wissenschaftler mit dem Gleiter startete, meldete sich der Katzer bei ihm.

»Soeben höre ich, daß gefährliche Krank-heitskeime in der SOL verbreitet worden sind«, sagte er.

»Unsinn«, erwiderte Hage Nockemann. »Nichts als ein Gerücht. Ich staune immer, worüber sich die Leute aufregen. Sie glauben, Kaytrin und Wonatrin greifen an, aber davon habe ich noch nichts gemerkt.«

*

Anti-Homunk tippte einige Tasten am In-

strumentenpult und las die Zahlen laut ab, die auf den Monitorschirmen erschienen.

Er lachte. »Kaytrin und Wonatrin haben ihre Arbeit

längst aufgenommen«, sagte er. »Und was ist mit den Schrumpfmikroben?«

fragte der Speicherkristall. »Sie sind an Bord der SOL«, erwiderte er.

»Ich sagte doch, es könnte nicht besser sein. Der Plan ist perfekt. Jede einzelne Phase ver-läuft wie vorgesehen. Bisher gab es nicht die geringste Abweichung. Du kannst sagen, was du willst, das Ende der Solaner ist sicher.«

»Du könntest schon jetzt losschlagen und die SOL vernichten.«

»Genau das.« »Aber du tust es nicht. Warum nicht?« »Weil ich kein Risiko eingehen werde. Die

beiden Manifeste sind im Einsatz. Sie bereiten die SOL und ihre Besatzung für den letzten Schlag vor. Ich werde nichts überhasten. Eine solche Chance habe ich nur einmal. Ich lasse sie mir nicht entgehen.«

»Anti-ES wird mit dir zufrieden sein.« »Davon bin ich auch überzeugt.« Anti-Homunk ging zu einem Sessel, von

dem aus er alle Instrumente beobachten konn-te, und setzte sich bedächtig.

Er war seinem Ziel so nahe, wie noch nie zuvor.

5.

»Atlan hat sich zuletzt von einer Halbinsel

aus gemeldet, wo er Torekan und einen Teil seiner Leute herausgepaukt hat«, berichtete Blödel. »In der Zentrale vermutet man, daß er sich dort noch immer aufhält.«

Der Gleiter entfernte sich in südlicher Rich-tung von der SOL. Langsam ließ der Roboter die Maschine absinken, blieb einige Minuten lang in den Wolken und tauchte dann steil ab, als er die Küste des Binnenmeers erreichte. Er streckte einen seiner Tentakelarme aus und zeigte auf eine Landzunge, auf der ein Feuer brannte.

»Dort müssen sie sein.« Hage Nockemann antwortete nicht. Er hielt

die Augen geschlossen und stellte einige ge-dankliche Berechnungen an. Er blickte erst auf, als die Maschine auf der Halbinsel lande-te.

»Hier hat ein Kampf stattgefunden«, sagte Blödel. »Atlan hat Torekan und seinen Leuten geholfen.«

Der Wissenschaftler kletterte wortlos aus dem Gleiter, zupfte sich an seinem Bart und blickte sich um. Die Spuren des Kampfes wa-ren unübersehbar. Einige Büsche brannten, aber das sah Nockemann als nicht weiter wichtig an. Der nächste Regen würde bald fallen und die Flammen löschen.

Hage Nockemann untersuchte die Halbinsel mit wissenschaftlicher Akribie. Von allen gelehrten Köpfen an Bord der SOL brachte wohl nur er soviel Geduld und Interesse für

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

eine Angelegenheit auf, die längst erledigt zu sein schien. Jeder andere hätte sich vermutlich auf die Suche nach Atlan und den Orz-Otanern gemacht. Doch Hage Nockemann fand immer wieder etwas, was seinen For-schergeist stimulierte. Dabei befaßte er sich vor allem mit den Resten der bizarren Wesen, die Atlan in die Flucht geschlagen hatte. Er war allerdings vorsichtig genug, die ersten Untersuchungen von Blödel anstellen zu las-sen, und er erfuhr auf diese Weise, daß es tödlich für ihn gewesen wäre, eines der abge-worfenen Glieder der seltsamen Wesen anzu-fassen.

Als er einige Zweige zur Seite räumte, um einen auffällig geformten Stein aufnehmen zu können, fiel sein Blick auf einen dunkelroten Klumpen einer Masse, die sanft pulsierte.

»Hier ist etwas«, sagte er zu dem Roboter. »Untersuche es. Ich möchte wissen, was das ist.«

»Das sieht nach organischer Masse aus«, bemerkte der »Scientologe«. Er fuhr seine tentakelartigen Arme aus, öffnete mehrere Fächer an seinem zylinderförmigen Körper und entnahm ihnen das Untersuchungs-besteck. Dann befaßte er sich fast eine halbe Stunde lang mit der organischen Masse, die Nockemann gefunden hatte. Dieser sah sich währenddessen weiter auf der Halbinsel um, entdeckte jedoch nichts Neues mehr. Schließ-lich kehrte er zu Blödel zurück.

»Nun, was hast du herausgefunden?« fragte er.

Der Roboter begann mit einem Vortrag ü-ber seine Arbeit, wobei er ausführlich erläu-terte, auf welche Art von organischer Masse sie gestoßen waren. Hage Nockemann unter-brach ihn, als er die verschiedenen Aminosäu-ren im einzelnen erklären wollte.

»Schon gut«, sagte er. »Wenn ich dich rich-tig verstanden habe, dann decken sich deine Untersuchungsergebnisse mit denen, die ...«

»... die wir vorher von den Orz-Otanern gewonnen haben.«

Hage Nockemann fuhr sich mit beiden Händen durch das graue Haar.

»Das ist an sich nicht verwunderlich«, sagte er. »Alles Leben auf diesem Planeten hat den gleichen Ursprung.«

»Die Übereinstimmung ist einmalig«, be-

tonte Blödel. »Sie ist hundertprozentig. Es gibt nicht die geringsten Unterschiede. Dieser Organklumpen könnte der lebende Rest eines Orz-Otaners sein. Wenn es nicht zu unseriös für einen Scientologen wäre, würde ich sagen, dies ist ein Orz-Otaner.«

Hage Nockemann schüttelte den Kopf. Er nieste kräftig, fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase und musterte den Organklumpen, der nach wie vor in einer Mulde auf dem Bo-den lag.

»Dieses Ding ist so nicht lebensfähig«, sag-te er. »Nimm es mal hoch, daß ich es ganz sehen kann.«

Blödel griff in die Mulde und hob den Klumpen organischer Masse heraus.

»Er wiegt ungefähr dreißig Kilogramm«, bemerkte er dabei.

»Rund wie ein Ball. Völlig glatt. Keinerlei Ausläufer.«

»Und keine erkennbaren inneren Organe.« Der Roboter legte die Masse wieder auf den

Boden, wo sie sanft pulsierend liegenblieb, ohne irgendeine Reaktion zu zeigen.

»Willst du das Ding mit an Bord nehmen?« fragte er.

»Auf keinen Fall. Wer weiß, was sich dar-aus entwickelt.«

Hage Nockemann horchte auf. Von See her kam ein eigenartiges Rauschen.

»Was ist das?« fragte er. »Hörst du es nicht?«

»Schwer zu sagen. Es könnte eine Welle sein.«

Der Wissenschaftler erschrak. Er eilte zu einem Baum, dessen Äste bis auf den Boden herabreichten, und kletterte daran etwa zwei Meter in die Höhe. Dann konnte er über die Büsche hinweg auf das Wasser hinaussehen. Eine riesige, schwarze Welle wälzte sich auf die Halbinsel zu. Er schätzte, daß sie etwa zwanzig Meter hoch war. Unfaßbar schnell schoß sie heran.

Hage Nockemann ließ sich vom Baum her-abfallen.

»Eine Welle«, schrie er. »In den Gleiter. Schnell. Wenn sie uns erwischt, sind wir ver-loren.«

Er stolperte über einen Grasbüschel und stürzte der Länge nach zu Boden. Blödel hatte inzwischen den Gleiter erreicht und hangelte

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

sich hinein. Er sah, daß Hage Nockemann in Schwierigkeiten war, erkannte zugleich aber auch die ungeheure Gefahr, die durch die Rie-senwelle drohte. Er mußte sich in Bruchteilen von Sekunden entscheiden. Er konnte nicht mehr aussteigen, zu dem Wissenschaftler hin-laufen, ihn aufnehmen, zum Gleiter zurück-bringen und wieder starten. Er konnte auch nicht starten, zu ihm hinfliegen und ihn mit-nehmen. Dazu blieb ihm keine Zeit. Er konnte nur noch versuchen, die Maschine zu retten.

Er riß die Flugkabine steil in die Höhe und beugte sich dabei zur Seite, um Hage Nocke-mann nicht aus den Augen zu verlieren. Die-ser warf sich gegen einen Baum und um-klammerte ihn mit beiden Armen. Kaum hatte er diesen Halt gefunden, als die Riesenwelle die Halbinsel auch schon überrollte. Brüllend und zischend schoß das Wasser über das Land und riß mit urtümlicher Gewalt alles mit, was nicht fest verwurzelt war.

Das Wasser peitschte gegen den Gleiter und schleuderte diesen wie einen Spielball in die Höhe.

Blödel beobachtete, wie Hage Nockemann von den Wassermassen begraben wurde, sah zugleich aber auch zwei Orz-Otaner, die etwa zwanzig Meter von dem Wissenschaftler ent-fernt aus einem Erdloch hervorkamen und versuchten, in den Wald zu flüchten. Die Welle packte sie, wirbelte sie herum und schwemmte sie hinweg. Sie ruderten mit Ar-men und Beinen, um sich an der Oberfläche zu halten, verschwanden jedoch in dem schäumenden Gischt.

*

Torekan trottete neben dem Gleiter her, in

dem Atlan und Insider saßen. Die beiden So-laner hatten die Fenster heruntergelassen, so daß sie sich mit dem Anführer der Orz-Otaner unterhalten konnten. Torekan hatte es abge-lehnt, in der Maschine mitzufliegen. Die Be-quemlichkeit, die ihm diese bot, reizte ihn nicht. Und bald wurde auch deutlich warum.

Die affenähnlichen Wesen kletterten hin und wieder auf die Bäume, um sich Pilze zu holen, die in den Astgabeln wuchsen. Sie be-wegten sich mit unglaublicher Geschicklich-keit und Schnelligkeit, und immer wenn einer

von ihnen einen Pilz entdeckt hatte, begannen ein wahrer Wettlauf und ein lautstarker Streit um diese Köstlichkeit. Stieg Torekan jedoch auf einen Baum, um sich einen Pilz zu holen, dann ließen ihm alle anderen den Vortritt. Keiner wagte es, ihm die Leckerei streitig zu machen.

Großmütig bot der Anführer der Gruppe Atlan und Insider ein paar Pilze an, doch die-se lehnten ab.

»Schade, daß wir Wuschel nicht dabei ha-ben«, sagte der Extra. »Er könnte die Pilze essen, ohne um sein Leben fürchten zu müs-sen.«

Aus dem Dunkel des Waldes kamen immer mehr Orz-Otaner heran und schlossen sich ihnen an. Keiner von ihnen schien an eine Gefahr zu denken. Doch als sie sich der Stel-le, an der das neue Dorf errichtet werden soll-te, bis auf etwa zwei Kilometer genähert hat-ten, schrien einige von ihnen plötzlich auf. Die Menge stob auseinander, und auch Tore-kan flüchtete. Er wählte den Weg nach oben und hangelte sich blitzschnell an einem Baum empor.

Insider, der die Maschine steuerte, schloß die Fenster.

»Was ist los?« fragte er. »Keine Ahnung«, antwortete der Arkonide.

»Ich weiß nur, daß wir schleunigst von hier verschwinden sollten. Am besten nach oben.«

Zwischen den Bäumen wuchs ein dichtes Geflecht in die Höhe. Es stieg mit atemberau-bender Geschwindigkeit aus dem Boden auf wie ein Fangzaun, der in die Höhe gezogen wird. Armdicke Ranken schossen knisternd von Baum zu Baum und ringelten sich um die Äste.

Insider lenkte den Gleiter nach oben, kam jedoch nicht weit. Von einem der Bäume brach ein riesiger Ast ab, stürzte auf die Ma-schine und schleuderte sie mehrere Meter weit nach unten.

Bevor Insider irgend etwas unternehmen konnte, prallte ein weiterer Ast auf den Glei-ter und klemmte ihn zwischen zwei Bäumen ein, während sich das Lianengeflecht verdich-tete.

»Wir werden regelrecht eingesponnen«, sagte der Grüne. »Als ob wir einer Spinne ins Netz geraten wären.«

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

Er schob den Beschleunigungshebel vor

und versuchte, die Flugkabine mit der Kraft ihrer Antigravmotoren aus der Umklamme-rung zu befreien. Doch das gelang ihm nicht, zumal weitere Äste auf sie herabfielen und mehrere Lianen sie umschlangen.

Insider feuerte den Bordstrahler ab. Ein sonnenheller Blitz zuckte aus dem Bug des Gleiters und durchbrach das Geflecht. Der Extra riß die Maschine herum, so daß sie sich auf der Stelle drehte. Dabei löste er die Bord-kanone wieder und wieder aus. Flammen hüll-ten den Gleiter ein, und das Pflanzennetz lich-tete sich ein wenig. Insider nutzte seine Chan-ce und beschleunigte. Krachend zerplatzte das Pflanzengeflecht, gab die Maschine jedoch noch nicht frei, da sich weitere Lianen von außen heranschoben und sich um die Kabine legten.

»Wir schaffen es nicht!« rief Insider. »At-lan, du mußt durch das Fenster schießen.«

»Ich werde mich hüten«, antwortete der Arkonide. »Wenn du die Fenster öffnest, kommt das Zeug herein und bringt uns um.«

Insider sah ein, daß Atlan nichts tun konnte. Er warf den Gleiter hin und her und löste den Energiestrahler immer wieder aus. Damit setzte er schließlich auch die Bäume in Brand, zwischen denen sie eingeklemmt waren, so daß die Maschine inmitten der Flammen hing. Die Hitze drang nicht in die Kabine, und es schien, als sei die größte Gefahr überstanden. Doch dann war es, als habe sich die Natur gegen die beiden Solaner verschworen. In diesem Moment setzte ein Wolkenbruch ein, der die Flammen erstickte.

»Klatsch-uuuh«, stöhnte Insider. »Das kann doch nicht wahr sein!«

Er versuchte erneut, den Gleiter aus der Falle herauszufliegen. Dabei merkte er, daß er die Maschine wider Erwarten stärker bewegen konnte als zuvor. Rasch versetzte er den Glei-ter in schnelle Drehung und löste gleichzeitig die Bordkanone aus, so daß der Energiestrahl das Pflanzengeflecht kreisförmig durch-schnitt. Dann beschleunigte der Extra mit Höchstwerten. Die Maschine warf sich mit aller Kraft gegen das elastische Hindernis. Sekundenlang schien es, als könne sie der Falle trotz aller Anstrengungen nicht ent-kommen, dann aber rissen die Lianen und sie

brach durch. Insider verzögerte jedoch wieder, war je-

doch nicht schnell genug. Er konnte nicht verhindern, daß der Gleiter wuchtig gegen einen Baumstamm stieß. Glücklicherweise traf die Maschine nicht frontal auf, sondern seitlich, so daß sie weggeschleudert wurde, und der Extra sie abfangen konnte. Er ließ sie steil aufsteigen, durchbrach das Blätterdach und lenkte sie bis über die Wolken hinaus.

»Klatsch-hurra«, ächzte er erschöpft. »Das war wirklich knapp.«

*

Die Welle überschlug sich, schäumte auf

und zerstob zwischen den Bäumen, schwapp-te hoch an den Stämmen empor, rollte brül-lend aus und verlor sich schließlich im Wald.

Eine zweite Welle folgte nicht. Blödel ließ den Gleiter absinken und lenkte

ihn zu dem Baum, an dem er Hage Nocke-mann zuletzt gesehen hatte.

Auch jetzt noch hing der Wissenschaftler in den Ästen des Baumes. Er hatte das Bewußt-sein verloren.

Blödel kletterte aus der Maschine und eilte zu ihm hin. Er brauchte jedoch nichts mehr zu tun, denn Nockemann kam bereits wieder zu sich. Benommen schüttelte er den Kopf und spuckte Wasser.

»Seltsam«, krächzte er. »Eine einzige Wel-le. Wo ist sie hergekommen? Wodurch ist sie entstanden? Irgend etwas muß sie doch verur-sacht haben. Ein Seebeben vielleicht? Aber nein, dann wäre nicht nur eine Welle gekom-men. Was sagst du dazu? Wie ist das alles zu erklären?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Blödel. Der Wissenschaftler sah sich um und staun-

te, welche Verwüstung die Riesenwelle ange-richtet hatte. Die meisten Büsche waren hin-weggeschwemmt worden, zwei Bäume waren umgestürzt, und ein kleiner Hügel war weg-gespült worden.

Nockemann schien seine triefend nasse Kleidung überhaupt nicht zu bemerken. Mit wissenschaftlichem Eifer eilte er auf die Stelle zu, an der der Organklumpen gelegen hatte. Ein menschlicher Fuß ragte nun aus der Mul-de hervor. Es war der Fuß eines Orz-Otaners.

27

ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

Hage Nockemann ließ sich auf die Knie fal-

len und untersuchte den Eingeborenen. Be-troffen richtete er sich danach auf.

Das affenähnliche Wesen war tot. »Wo kommt der her?« fragte er. »Der war

doch vorher nicht hier. Wir waren allein auf der Halbinsel.«

»Nein, das ist nicht richtig«, erwiderte Blö-del. »Wir waren nicht allein. Es waren sogar mehrere Orz-Otaner da. Sie waren in Erdlö-chern versteckt, so daß wir sie nicht sehen konnten. Als die Riesenwelle kam, krochen sie heraus und versuchten zu fliehen. Dabei sind sie ertrunken.«

Er führte den Wissenschaftler über die Halbinsel hinweg in den Wald hinein, wo er die anderen Orz-Otaner vermutete. Er hatte gesehen, wie sie in den Wassermassen versunken und in dem brodelnden Gischt her-umgewirbelt worden waren. Sie konnten nicht überlebt haben. Wenn sie nicht ertrunken wa-ren, dann waren sie von der Welle gegen die Baumstämme geschmettert und auf diese Weise getötet worden.

Doch Blödel suchte vergeblich. Von den Orz-Otanern war nichts zu sehen. »Sie haben es überlebt«, bemerkte Hage

Nockemann. »Ebenso wie ich. Und dann sind sie weggelaufen.«

»Nein, das halte ich für unmöglich. Und wo kommt der Orz-Otaner her, der da drüben liegt?« fragte der Roboter. »Das ist eine Fra-ge, die mich als Scientologen nicht losläßt.«

»Da ist noch etwas, was geklärt werden muß. Wo ist der Organklumpen geblieben? Ist er weggespült worden? Dazu war er eigentlich zu schwer, und er hat geschützt in der Mulde gelegen. Irgend etwas muß doch mit ihm ge-schehen sein. Wir müssen das unbedingt klä-ren. Ich spüre, daß sehr viel davon abhängt, daß wir diese Fragen beantworten.«

Der Wissenschaftler ging zum Gleiter und setzte sich hinein.

»Wir suchen jetzt die Gegend nach Orz-Otanern ab«, sagte er.

*

Hower Crabb rannte in panischer Angst ei-

nen Gang entlang. Er wollte zu seiner Kabine, um sich darin einzuschließen. Er nahm sich

vor, sie so abzusichern, daß keine tödlichen Mikroorganismen eindringen konnten.

Als er nur noch etwa fünfzig Meter von seinem Ziel entfernt war, stürmte die rothaa-rige Lister aus einem Seitengang hervor. Sie prallte mit ihm zusammen, und beide wären gestürzt, wenn es ihm nicht gelungen wäre, sich im letzten Moment an der Wand abzu-stützen.

Sie blickte ihn aus angstgeweiteten Augen an, erkannte ihn und beschloß, ihn für sich auszunutzen.

»Schnell«, keuchte sie. »Weg hier. Sie sind hinter uns her. Sie bringen uns um.«

Sie zerrte ihn mit sich. »Warum?« fragte er, während er hinter ihr

her stolperte. »Was habe ich getan?« »Sie haben Angst vor diesem tödlichen

Zeug aus der Laborküche von Hage Nocke-mann, und sie geben uns beiden die Schuld daran, daß die Probe heruntergefallen und ausgelaufen ist.«

Hower Crabb vernahm das wütende Ge-schrei einer Menge, die sich ihnen näherte. Er erinnerte sich daran, daß er seiner Meinung Luft gemacht und damit die Angst vor einem Angriff auf die SOL geschürt hatte. Er beg-riff.

Die Meute sucht immer einen Schuldigen, schoß es ihm durch den Kopf. An dir wird sie ihre Wut auslassen.

»Wohin?« fragte er entsetzt. »Wo sollen wir hin?«

»Wir müssen die SOL verlassen«, drängte sie. »Wir müssen einen Gleiter nehmen und abhauen.«

Dieser Vorschlag überzeugte ihn. Wo konnten sie sicherer sein als außerhalb des Raumschiffs?

»Ich weiß, wo ein Gleiter ist«, rief sie. »Komm. Schnell.«

Er rannte neben ihr her zu einem Schott, eilte hindurch und kam in einen kleinen Han-gar, in dem mehrere Gleiter parkten. Die rot-haarige Frau entschied sich für eine Maschi-ne, die unmittelbar neben der Schleuse stand. Sie setzte sich ans Steuer und lenkte den Glei-ter in die Schleusenkammer. Hower Crabb stieg erst ein, als sich das innere Schleusen-schott schloß.

Aufatmend lehnte sie sich zurück.

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

»Diese Wahnsinnigen«, sagte sie. »Man

kann überhaupt nicht mehr mit ihnen reden. Sie haben schon genug Angst vor einem An-griff der beiden Manifeste. Und jetzt auch noch diese Sache mit den Mikroorganismen aus dem Labor von Nockemann. Das ist zu-viel für sie.«

»Wir haben es gleich geschafft«, erwiderte er überraschend ruhig. »Wenn wir erst einmal draußen sind, erwischen sie uns nicht mehr. Wir können abwarten, bis sich die Lage wie-der stabilisiert hat, und dann ins Schiff zu-rückkehren.«

Das Schleusenschott öffnete sich, und der Gleiter schwebte hinaus. Ein Ruflicht leuchte-te auf, doch die rothaarige Frau dachte nicht daran, sich zu melden. Sie beschleunigte mit Höchstwerten, ließ die Maschine dabei steil herabfallen, bis sie in die Wolken tauchte und flog dann nur noch mit Hilfe der Ortungsin-strumente.

»Geh noch tiefer«, bat Hower Crabb. »Wir sollten uns irgendeinen Platz aussuchen, an dem wir landen und ein paar Tage bleiben können.«

Sie nickte nur und ließ die Flugkabine bis dicht über die Wipfel der Bäume absinken. Sie öffnete die Fenster, um die dünne, aber reine und würzige Luft von Orz-Otan zu at-men. Nahezu lautlos glitt die Maschine dahin. Die blutrot schimmernde Fläche eines großen Gewässers kam in Sicht, und Lister verzöger-te, ging erneut tiefer und flog schließlich in einer Höhe von kaum mehr als zwanzig Me-tern an der Küste entlang.

»Da vorn sind einige Eingeborene«, sagte Crabb. »Sie sammeln irgend etwas.«

Lister hatte die Orz-Otaner bereits entdeckt. Sie waren wegen ihrer hellen Hüte gut zu se-hen. Neugierig steuerte sie die Maschine auf sie zu, als sich plötzlich armlange Pfeile aus den Kronen der Bäume lösten. Sie schossen auf den Gleiter zu und schlugen dröhnend gegen seinen Boden.

»Das kommt von den Bäumen«, rief Hower Crabb. »Die Bäume schießen sie ab.«

Hastig versuchte Lister, die Fenster zu schließen, war jedoch nicht schnell genug. Ein Pfeil traf sie an der Schulter. Sie schrie schmerzgepeinigt auf, vergaß den Gleiter zu lenken und versuchte, den Pfeil herauszuzie-

hen. »Lister«, rief Hower Crabb erschreckt.

»Paß auf.« Der Gleiter geriet außer Kurs. Er flog

schräg in die Tiefe, genau auf die Orz-Otaner zu. Hower Crabb versuchte, an die Steuerele-mente der Maschine zu kommen, doch es ge-lang ihm nicht. So glitt diese in die Gruppe der Eingeborenen hinein und prallte mit zwei-en von ihnen zusammen. Der Transformfor-scher sah, daß die beiden Orz-Otaner zu Bo-den geschleudert wurden. Endlich erreichte er die Schaltungen und hielt den Gleiter an. Die Maschine war mittlerweile über die Kante der hier steil abfallenden Küste hinausgeflogen und verharrte nun auf der Stelle schwebend etwa acht Meter über dem Wasser.

»Zurück zu ihnen«, rief Crabb. »Ich kann nicht«, antwortete Lister weiner-

lich. Sie hielt den Pfeil fest, der in ihrer Schulter steckte, und brachte nicht die Kraft auf, ihn herauszuziehen.

»Dann geh zur Seite, damit ich die Maschi-ne fliegen kann.«

Sie schüttelte nur den Kopf, und sie schrie hysterisch auf, als er an ihr vorbeigreifen und die Schaltungen bedienen wollte.

»Du wirst schon wieder zu dir kommen«, sagte er ärgerlich, öffnete die Tür und sprang kurzerhand hinaus. Er stürzte ins Wasser, schwamm mit wenigen Zügen zum Ufer, klet-terte die Felsen hoch und blieb dann wie an-gewurzelt stehen.

Die beiden Verletzten lagen auf dem Bo-den. Sie wurden von den anderen umringt, die Messer und Lanzen in den Händen hielten und ihn zornig ansahen.

Verdammt, was habe ich gemacht? dachte er erschrocken. Auszusteigen war wohl das Dümmste, was ich tun konnte.

Einer der Männer schritt mit wurfbereitem Speer auf ihn zu.

»Nein«, sagte Crabb. »Warte. Es war ein Unfall. Ich habe versucht, es zu verhindern. Ich ...«

Er blickte bestürzt auf sein Armgelenk. Erst jetzt bemerkte er, daß er sein Kombigerät nicht trug, das neben dem Chronometer, ei-nem positronischen Rechner und dem Bild-funk auch einen positronischen Translator in sich vereinigte. Es lag in der SOL in seiner

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

Kabine.

Er streckte abwehrend die Hände aus. »Ihr könnt mich nicht verstehen, Freunde«,

sagte er mit heiserer Stimme, »aber ihr müßt doch begreifen, daß ich nicht ausgestiegen wäre, wenn wir das mit Absicht gemacht hät-ten.«

Er zeigte auf die beiden Verletzten, die blu-tend auf dem Boden lagen, und dabei fiel ihm plötzlich etwas Sonderbares auf.

Die beiden Orz-Otaner wurden kleiner! Eine Frau wich entsetzt schreiend vor den

Verletzten zurück. Namenlose Angst zeichne-te ihr Gesicht, während die Worte nur so aus ihr heraussprudelten. Und jetzt wurden auch die anderen aufmerksam.

Der Mann, der Hower Crabb mit der Lanze bedrohte, fuhr herum. Auch ihm fiel auf, was mit den beiden geschah, die auf dem Boden lagen. Sie lösten sich regelrecht auf. Ihre Körper schrumpften zusammen, bis sie kaum noch dreißig Zentimeter lang waren, und dann verflüchtigten sie sich, als bestünden sie aus einer Dunstwolke.

Der Prozeß hatte sehr langsam begonnen, hatte sich dann jedoch immer mehr beschleu-nigt.

Mehrere Orz-Otaner gingen zu der Stelle, an der die Verletzten gelegen hatten, und be-tasteten den Boden. Dann blickten sie Hower Crabb voller Ehrfurcht und Angst an.

Doch der Solaner wußte das Geschehen auch nicht zu erklären. Er begriff nur, daß die beiden Verletzten gestorben waren, und daß ihr Tod in einer ganz anderen Form verlaufen war, als die Orz-Otaner es kannten. Er erin-nerte sich an das, was er von ihren Totenritua-len gehört hatte, und er sagte sich, daß man keine Dörfer für Tote baute, die man nicht mehr zu bestatten brauchte, weil sie einfach verschwanden.

»Lister«, brüllte Hower Crabb. »Komm endlich her zu mir.«

6.

Nachdem Blödel den toten Orz-Otaner mit

Zweigen und Steinen zugedeckt hatte, um ihn vor Raubtieren zu schützen, lenkte Hage No-ckemann den Gleiter in den Wald. Er brauchte nicht lange zu suchen, bis er die ersten Einge-

borenen fand. Sie schaukelten nahezu siebzig Meter über dem Boden im Geäst eines Bau-mes in Hängematten, die sie kunstvoll aus Zweigen und Blättern angefertigt hatten, und die offenbar so stabil waren, daß sie keinen Absturz zu fürchten brauchten.

»Sie scheinen vergessen zu haben, was pas-siert ist«, sagte der Wissenschaftler verwun-dert. »Sie scheinen noch nicht einmal daran zu denken, daß sie einen Toten zurückgelas-sen haben, obwohl sie ihre Toten doch sonst offenbar verehren. Seltsam.«

Die Orz-Otaner winkten, als sie den Gleiter bemerkten, und sie hielten Früchte hoch, um sie ihren Gästen als Geschenk anzubieten. Hage Nockemann führte den Gleiter bis un-mittelbar an einen dicken Ast heran und stieg aus. Er setzte sich auf den Ast und wrang sei-nen Pulli aus.

»Das war ziemlich naß, findet ihr nicht auch?« fragte er.

Die Orz-Otaner lachten. »Einige von uns wären fast ertrunken«, er-

widerte ein auffallend breit gebauter Mann. »Aber wir hatten Glück. Wir sind davonge-kommen. So wie ihr auch.«

Hage Nockemann beschloß, zunächst nichts von dem Toten zu erzählen und zunächst einmal einige Eingeborene zu impfen. Er sag-te ihnen, daß er mit Medikamenten gekom-men war, und er bat sie, ihn zu einigen Kran-ken zu führen, um die es besonders schlecht stand.

»Ich bin Alkoron«, erwiderte der Orz-Otaner, der diese Gruppe anführte. »Komm mit mir.«

Hage Nockemann und der Roboter folgten ihm durch das Gewirr der Äste, in dem es auch für sie nicht sonderlich schwer war, sich zu bewegen, da sie überall genügend Halt fanden, zu einem Verschlag aus Zweigen und Blättern. Davor kauerte ein Mann, der ein fast schwarzes Fell hatte. Dicke Beulen bedeckten seine Arme und Schultern. Er sah dennoch nicht so aus, als ob er im Sterben liege. Viel schlimmer stand es um die Frauen und Kin-der, die in dem Verschlag auf einigen Matten lagen. Sie waren abgemagert und so schwach, daß sie sich nicht mehr erheben konnten. Der Wissenschaftler zweifelte nicht daran, daß sie verloren waren, wenn sie nicht behandelt

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

wurden.

Er füllte die Hochdruckspritze mit dem Se-rum, das er gewonnen hatte, und injizierte zunächst eine geringe Menge, während Blödel Herz und Kreislauf der Kranken überwachte, um festzustellen, wie sie auf das Medikament reagierten.

»Es ist alles in Ordnung«, erklärte der Ro-boter. »Sie vertragen es gut.«

»Du glaubst, daß sie wieder gesund wer-den?« fragte Alkoron.

»Ich bin ganz sicher«, antwortete Hage No-ckemann. »In einigen Tagen sind sie wieder gesund.«

»Gut. Und jetzt du«, sagte Alkoron zu dem Mann, der vor dem Verschlag kauerte. Er-schrocken fuhr dieser zurück.

»Auf keinen Fall. Rührt mich nicht an.« »Was ist mit dir, Rathron? Du bist krank.

Dieser Fremde kann dir helfen.« »Ich will nicht.« Erregt streckte er die Ar-

me aus. »Faßt mich nicht an, oder ich stoße euch vom Baum.«

»Was soll der Unsinn?« fauchte Alkoron ihn verärgert an. Ihm gefiel nicht, daß Rathron es wagte, sich ihm vor den Augen Nockemanns zu widersetzen. Er verlangte Gehorsam. »Du wirst tun, was ich dir befehle. Knie dich hin und nimm die Heilung entge-gen.«

Rathron sah sich suchend um, fand jedoch keinen Ausweg. Hinter ihm war der Ver-schlag, neben ihm standen Alkoron und der Solaner, und der Roboter versperrte ihm den Weg über den Ast zum Baumstamm hin. Da-her hatte er keine andere Wahl, als zu gehor-chen oder einen Sprung auf einen fünf Meter tieferen Ast zu wagen.

Er entschloß sich, in die Tiefe zu springen. Er drehte sich zur Seite, neigte sich nach vorn und wollte sich fallen lassen, als Alkoron plötzlich zupackte, ihn an einem Arm faßte, herumwirbelte und ihn mit einem wuchtigen Faustschlag an den Kopf niederstreckte. Rathron stürzte bewußtlos zu Boden und blieb liegen.

»Gib ihm das Heilmittel«, knurrte der An-führer der kleinen Gruppe.

Hage Nockemann beugte sich über Rathron und verabreichte ihm eine Injektion. Zufrie-den lächelnd richtete er sich auf. Er war froh,

daß nun keine Gewaltanwendung mehr not-wendig war. Der Geimpfte würde die Wir-kung des Medikaments sehr bald spüren und sich gegen eine weitere Behandlung nicht mehr sträuben.

Der Wissenschaftler hob die Hochdruck-spritze und sagte: »Für einige Patienten reicht der Stoff noch. Wen nehmen wir uns jetzt vor?«

Alkoron antwortete nicht. Er blickte auf Rathron. Seine Lippen zuckten, doch er brachte keinen Laut hervor. Zitternd streckte er eine Hand nach Nockemann aus.

»Was ist denn los?« fragte dieser bestürzt und drehte sich zu dem bewußtlosen Orz-Otaner um.

Rathron war geschrumpft. Er war nur noch etwa fünfzig Zentimeter groß, und seine Arme und Beine waren durchsichtig geworden. Sein Hut rollte zur Seite und segelte in die Tiefe.

»Er wird immer kleiner«, bemerkte Blödel. »Was hast du mit ihm gemacht?« stammel-

te Alkoron. Hage Nockemann eilte zum Verschlag und

blickte hinein. Die anderen Kranken lagen noch so da, wie er sie zurückgelassen hatte.

»Nichts«, erwiderte er. »Wenn er sich ver-ändert, dann hat das allein mit ihm zu tun. Er wußte, daß so etwas passieren würde. Deshalb hat er sich geweigert, sich behandeln zu las-sen.«

»Du hast recht«, entgegnete Alkoron. »Er hat es gewußt.«

Rathron war mittlerweile noch kleiner ge-worden. Er löste sich vollkommen auf. Nicht die geringste Spur blieb von ihm zurück.

»Als Scientologe muß ich sagen, daß wir einem unerklärlichen Phänomen gegenüber-stehen«, sagte Blödel.

Erleichtert stellte Hage Nockemann fest, daß der Anführer der Sippe ihm offenbar kei-ne Schuld an dem Geschehen beimaß. Alko-ron zürnte ihm nicht, sondern suchte Trost und Halt bei ihm.

»Hast du so etwas schon einmal beobach-tet?« fragte der Solaner.

Alkoron streckte abwehrend die Hände aus. »Noch nie. Der Geist verläßt den Leib eines

Sterbenden, aber der Körper bleibt zurück. Niemand hat je davon berichtet, daß auch der Körper eines Sterbenden vergehen kann, es

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sei denn, daß er in den Flammen eines Feuers verbrennt.«

»Wir müssen zur SOL«, sagte Nockemann. »Auf dem schnellsten Weg. Breckcrown Hayes und Atlan müssen wissen, was hier passiert ist. Entschuldige uns, Alkoron, wir kommen später wieder.«

»Ihr werdet uns nicht mehr auf diesem Baum finden«, erwiderte der Orz-Otaner. »Wir werden uns wieder Torekan anschließen und bei ihm Schutz suchen. Wenn die Geister zu uns kommen, müssen wir zusammenrü-cken.«

Aus der Tiefe des Waldes klangen über-raschte Schreie herauf. Alkoron warf sich auf den Bauch und blickte ins Dunkel hinab.

»Ohtraman möge mich schützen«, stam-melte er. »Da unten ist Rathron. Ich kann ihn deutlich sehen. Er spricht mit den anderen.«

*

Atlan und Insider waren auf der Suche nach

Torekan und seiner Sippe, als sie der Ruf Ha-ge Nockemanns erreichte.

»Hier hat sich etwas Seltsames ereignet«, meldete der Wissenschaftler. »Ich habe einen Mann geimpft. Er ist gestorben, und seine Leiche hat sich dabei vollkommen verflüch-tigt. Unmittelbar darauf aber ist dieser Mann wieder erschienen. Er steht keine zehn Meter von mir entfernt. Wenn ich es nicht mit eige-nen Augen sehen würde, ich würde es nicht glauben.«

»Wir kommen«, erwiderte Atlan. »Gib uns ein Peilsignal.«

Insider lenkte den Gleiter durch das Blät-terdach hinaus. Er folgte dem Peilsignal und erreichte schon wenig später Alkoron und seine Sippe. Hage Nockemann und Blödel standen inmitten der Orz-Otaner, die aufge-regt miteinander redeten. Als Atlan und In-sider ausstiegen, wurde es ruhig. Der Wissen-schaftler kam ihnen entgegen. Ein auffallend breiter und muskulöser Orz-Otaner begleitete sie.

»Das ist Alkoron, der Anführer dieser Gruppe«, stellte Hage Nockemann ihn vor. »Er hat ...«

»Entschuldige, wenn ich dich unterbreche«, entgegnete der Arkonide. »Ist dir eigentlich

noch nicht aufgefallen, daß du klatschnaß bist?«

»Unwichtig«, winkte Hage Nockemann ab und hustete. »Es ist so warm auf diesem Pla-neten, daß das keine Rolle spielt.«

Er drehte sich um und zeigte auf einen Mann, der einige Meter entfernt an einem Baumstamm lehnte.

»Das ist Rathron, von dem ich euch berich-tet habe. Ich habe gesehen, wie sich sein Kör-per aufgelöst hat. Er müßte eigentlich tot sein.«

»Was hat er denn über das gesagt, was vor-gefallen ist?« fragte Atlan.

»Überhaupt nichts.« Der Wissenschaftler fuhr sich durch das nasse Haar. »Er behauptet, nichts zu wissen.«

»Nimm ihm eine Blutprobe ab«, schlug der Arkonide vor. »Wenn du ihn geimpft hast, dann müßte das Serum in seinem Blut nach-weisbar sein. Richtig?«

»Richtig«, bestätigte Nockemann. »Aber ich weiß noch nicht, was das soll.«

»Wir werden gleich sehen, ob es sinnvoll ist.«

Der Wissenschaftler wandte sich an Alko-ron und erklärte diesem, daß er bestimmte Maßnahmen ergreifen mußte, um der Beulen-pest wirksam begegnen zu können. Der Orz-Otaner erwies sich als erstaunlich einsichtig und ging mit ihm zu Rathron, der viel zu ver-wirrt und unsicher war, um Widerstand zu leisten. Bevor er recht wußte, wie ihm ge-schah, hatte Blödel bereits eine Nadel ausge-fahren und ihm aus einer Vene etwas Blut abgezapft. Während er die Probe noch unter-suchte, senkte sich ein Gleiter durch das Blät-terdach herab.

»Hower Crabb«, sagte Hage Nockemann überrascht. »Das ist doch dieser Unruhestif-ter.«

Der Transformforscher stieg aus. Er deutete auf eine rothaarige Frau, die blutend auf dem Rücksitz der Maschine lag.

»Das ist Jennifer Clifton, genannt Lister. Sie ist verletzt. Ich muß sie zur SOL bringen, damit sie behandelt werden kann. Vorher aber muß ich euch noch etwas erzählen. Ich habe zufällig euer Funkgespräch abgehört und mich nach dem Peilsignal orientiert.«

»Heraus damit«, forderte der Arkonide ihn

32

ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

auf.

Crabb berichtet, daß sie sich aus Furcht vor den beiden Manifesten Anti-Homunks aus der SOL abgesetzt hätten, und wie die Verletzung Listers dann zu dem Zusammenprall mit den Orz-Otanern geführt hatte.

»Lister hat schließlich auf mich gehört und mich mit dem Gleiter aufgenommen«, schloß er. »Danach bin ich hierher geflogen.«

»Die beiden Leichen haben sich aufge-löst?« sagte Hage Nockemann. »Genau wie bei Rathron. Und dann? Sind sie plötzlich wieder aufgetaucht?«

Hower Crabb blickte ihn zweifelnd an. Er wußte mit dieser Frage nichts anzufangen, bis der kauzige Wissenschaftler ihm erklärte, was vorgefallen war.

»Nein«, erwiderte er darauf. »Ich habe nichts dergleichen beobachtet.«

»Dieser Mann ist nie geimpft worden«, be-richtete Blödel in diesem Moment. »In seinem Blut sind keinerlei Spuren des Serums enthal-ten.«

»Aber das ist unmöglich«, protestierte No-ckemann. »Ich habe es ihm selbst verab-reicht.«

»Insider, du bringst die Frau zur SOL«, be-stimmte Atlan. »Crabb und ich fliegen dort-hin, wo er den Unfall hatte. Schnell. Wir dür-fen keine Zeit verlieren. Wir kommen später wieder hierher zurück.«

Hower Crabb stellte keine Fragen, obwohl er nichts verstanden hatte. Er stieg zu dem Arkoniden in den Gleiter und wies ihm den Weg zur Küste. Die Eingeborenen standen noch auf den Felsen und redeten miteinander. Ohne Scheu sahen sie zu, wie der Gleiter lan-dete. Dann kam einer von ihnen auf die Ma-schine zu.

»Ein Wunder ist geschehen«, sagte er. »Die beiden Männer, die du getötet hast, sind wie-der da. Sie sind gesund und unverletzt.«

»Wo sind sie gewesen? Habt ihr sie ge-fragt?«

Der Orz-Otaner blickte Atlan verstört an. »Warum hätten wir das tun sollen?« ent-

gegnete er. »Wir wollen es nachholen«, schlug der Ar-

konide vor. Er ahnte nicht, wie schwer es werden wür-

de, sich mit den Orz-Otanern über diese ein-

fach erscheinende Frage zu verständigen. Ü-ber eine Stunde verstrich, bis der Unsterbliche sicher war, daß die Eingeborenen ihn richtig verstanden und eine entsprechende Antwort gegeben hatten. Danach stand fest, daß die beiden auf so wunderbare Weise wieder zum Leben erweckten Männer sich nur noch daran erinnerten, wie die SOL gelandet war. Unmit-telbar darauf hatten sie das Bewußtsein verlo-ren. Sie waren irgendwann wieder zu sich gekommen und hatten sich im Wald wieder-gefunden. Sie waren etwa hundert Meter weit bis zur Küste gegangen, wo man sie über-rascht empfangen hatte und nicht begreifen konnte, daß sie noch lebten. Sie erinnerten sich nicht daran, bei dem Zusammenprall mit dem Gleiter verletzt worden zu sein.

Atlan bedankte sich bei den Orz-Otanern, überreichte ihnen einige kleine Geschenke und flog dann mit Hower Crabb zurück zu der Sippe Alkorons.

»Ich verstehe das nicht«, sagte der Trans-formforscher. »Vorläufig ist mir das alles ein einziges Rätsel. Oder glaubst du, daß diese Vorfälle etwas mit Kaytrin und Wonatrin zu tun haben?«

*

»Halte dich zur Verfügung«, sagte Atlan zu

Hower Crabb, als sie zusammen mit Hage Nockemann und Blödel zur SOL zurückkehr-ten. Insider hatte inzwischen Lister an Bord und zu einem Medorobot gebracht. »Ich möchte dich in einer halben Stunde in der Zentrale sehen.«

»Ich werde pünktlich da sein«, versprach der Transformforscher. »Ich möchte mich nur duschen. Und dann muß ich endlich trockene Sachen anziehen.«

Er eilte nach links davon, während Atlan zur anderen Seite in Richtung Hauptleitzent-rale ging, um Breckcrown Hayes zu berichten, was vorgefallen war.

Hower Crabb fühlte sich von einer schwe-ren Last befreit, obwohl er auch jetzt noch nicht wußte, ob der Angriff der beiden Mani-feste bereits begonnen hatte oder nicht. Die Angst war nicht verflogen, aber sie beherrsch-te ihn nicht mehr. Er hatte etwas tun können, und das hatte bereits geholfen.

33

ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

Ihm fiel ein, daß in seinem Labor noch im-

mer ein Versuch lief, und daß er vergessen hatte, die daran beteiligten Apparaturen abzu-stellen. Er beschloß, dies nachzuholen, bevor er unter die Dusche ging.

»Cecil?« rief er, als er das Laboratorium betrat. »Hallo, Cecil!«

Doch sein Assistent meldete sich nicht. Er hatte sich offenbar ebenso von der Angst an-stecken lassen wie er selbst.

Crabb eilte durch die verschiedenen Räu-me, in denen er seine Forschungsarbeiten aus-führte, und schaltete die Geräte ab. Schließ-lich öffnete er einen Schrank, in dem einige positronische Elemente untergebracht waren.

Überrascht blickte er auf einen rötlichen Klumpen, der im Schrank lag. Das Gebilde war eiförmig und hatte einen größten Durch-messer von etwa fünfzig Zentimeter. Es pul-sierte leicht, und Crabb meinte, unter der O-berfläche Adern erkennen zu können.

Erschrocken schlug er die Schranktüren zu. Plötzlich war die Angst wieder da.

Er dachte an die beiden Manifeste Kaytrin und Wonatrin.

Hatte dieser Klumpen damit zu tun? Er be-stand fraglos aus organischer Materie. Aber war das allein schon ein Beweis dafür, daß dies ein Manifest war?

Hower Crabb spürte, wie ihm die Angst den Hals zuschnürte. Er meinte zu hören, daß sich jemand von hinten näherte.

Waren da nicht leise, schleichende Schrit-te?

Vernahm er nicht den Atem eines fremden Wesens?

Er fuhr herum. Sein Assistent Cecil stand in der offenen

Tür und blickte ihn mit einem rätselhaften Ausdruck in den tiefbraunen Augen an. Das strohblonde Haar fiel ihm ungeordnet in die Stirn.

Die Jacke stand offen. »Cecil«, sagte Crabb erleichtert. »Du bist

es.« Er lächelte. »Was ist mit dir los? Warum siehst du mich

so an? Und warum hast du deinen Pulli ver-kehrt herum angezogen? Du hast einen klei-nen zur Brust genommen, wie?«

»Ich muß mit dir reden, Hower«, erwiderte

der Assistent. Er war ein hochgewachsener, athletischer Mann, der freundlich und fried-fertig war, solange er nüchtern war, der aber aggressiv und unberechenbar wurde, sobald er Alkohol getrunken hatte. Zur Zeit schien er nüchtern zu sein, aber das war selbst für einen Mann wie Crabb, der ihn besonders gut kann-te, schwer zu beurteilen.

»Gern«, erwiderte Hower Crabb. »Komm. Wir gehen ins Büro.«

Cecil Quate trat zur Seite und ließ ihn vor-bei.

»Was gibt es denn, Cecil?« »Du weißt schon, was ich meine. Es ist ja

allerhand passiert.« Hower Crabb öffnete die Bürotür. Er wollte

sich umdrehen und Cecil Quate den Vortritt lassen.

In diesem Moment griff der Assistent an. Ein wuchtiger Faustschlag traf Crabb am

Kopf und schleuderte ihn quer durch das Bü-ro. Der Transformforscher prallte gegen ein Regal und stürzte benommen zu Boden. Qua-te folgte ihm und warf sich auf ihn. Mit bei-den Händen packte er ihn an der Kehle und würgte ihn. Crabb begriff, daß der Assistent ihn nicht nur verprügeln, sondern töten woll-te.

Seltsamerweise fiel ihm in dieser für ihn äußerst gefährlichen Situation auf, daß sich keinerlei Gefühlsregung im Gesicht Quates zeigte. Es schien, als erledige sein Mitarbeiter einen Auftrag, ohne emotionell daran beteiligt zu sein.

Das war etwas, was Hower Crabb derart entsetzte, daß es diesem gelang, seine letzten Kraftreserven zu mobilisieren. Er schlug zu-rück, stemmte sich Quate entgegen und löste den Würgegriff.

Der Assistent flog zur Seite. Crabb kroch über den Boden, kam auf die Beine und flüch-tete aus dem Büro. Er fühlte sich Quate unter-legen.

»Hower«, schrie der Assistent. »Lauf nicht weg.«

Crabb erholte sich erstaunlich rasch. Die Angst trieb ihn voran. Er wollte dorthin lau-fen, wo Menschen waren, die ihm helfen konnten.

Doch Cecil Quate war schnell. Er holte ihn noch im Labor ein, warf sich von hinten auf

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

ihn und stürzte mit ihm zu Boden. Er um-klammerte ihn wild und versuchte erneut, ihn an der Kehle zu packen. Hower Crabb vertei-digte sich verzweifelt. In seiner Todesangst konnte er die Hände immer wieder abwehren, doch irgendwann ließen die Kräfte nach, und es gelang dem Assistenten erneut, den Wür-gegriff anzusetzen.

Hower Crabb wälzte sich mit Quate über den Boden. Er schlug um sich, prallte mit ihm gegen Schränke und Tische, und dann spürte er mit einem Mal einen Gegenstand in der Hand, der von einem Tisch heruntergefallen war. Er packte ihn und schlug zu.

Cecil Quate ließ ihn los, blieb jedoch über ihm liegen. Erschöpft rang Crabb nach Luft, während er sich vergeblich bemühte, den Mann von sich zu stoßen.

Allmählich klärten sich seine Sinne, und er merkte, daß Quate leichter und leichter wurde. Entsetzt stieß er ihn von sich, rückte, von grauenhafter Angst gepackt, von ihm ab und konnte die Blicke doch nicht von ihm wen-den. So sah er, wie der Körper des Assisten-ten immer kleiner wurde und sich schließlich völlig verflüchtigte.

Übrig blieb nur das Bündel der Sachen, die Cecil Quate getragen hatte.

Hower Crabb stemmte sich mühsam hoch. Er war so schwach, daß er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Doch er gab seiner Schwäche und dem Verlangen, sich irgendwo hinzulegen und sich auszuruhen, nicht nach. Er verließ das Labor und ging zur Hauptleit-zentrale.

*

»Hier war es«, sagte Hower Crabb, als er

einige Minuten später zusammen mit Breckc-rown Hayes, Atlan, Insider, Sanny, Hage No-ckemann und einigen anderen in sein Labor zurückkehrte. »Ich habe nichts angerührt.«

Er öffnete die Tür und führte die Gruppe in das Labor, in dem der Kampf mit Cecil Quate stattgefunden hatte.

Überrascht blieb er stehen. Sein Assistent stand verlegen lächelnd am

Tisch, bei dem er ihn niedergeschlagen hatte. Die Hose hatte er sich bereits übergestreift. Bluse, Jacke, Unterwäsche, Schuhe und

Strümpfe hielt er in den Händen. »Ich glaube, ich habe einen zuviel getrun-

ken«, sagte er. Er fuhr sich mit dem Handrü-cken über den Mund. »Na ja, so was kommt in den besten Familien vor, nicht?«

»Du warst nicht betrunken, Cecil. Du hast gerade versucht, mich umzubringen.«

Crabb bückte sich nach einem Meßgerät, das auf dem Boden lag. Es war schwer und hatte scharfe Kanten. Damit hatte er seinen Assistenten erschlagen.

»Darf ich mal sehen?« Atlan streckte die Hand aus, und Crabb legte das Instrument hinein.

»Es ist kein Blut daran«, stellte Insider nüchtern fest.

»Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr«, sagte der Transformforscher. »Ich bin doch nicht verrückt.«

Er ging in den Nebenraum. »Hier ist der Schrank«, rief er. Cecil Quate war ihm zusammen mit den

anderen gefolgt. »Woher weißt du, daß ich in dem Schrank

war?« fragte er. »Mann, so betrunken kann ich doch gar nicht gewesen sein. Ich bin in dem Schrank aufgewacht und ich weiß nicht, wie ich hineingekommen bin.«

»In dem Schrank war ein Klumpen, den ich für organische Materie gehalten habe«, erwi-derte Hower Crabb. »Du warst nicht in dem Schrank.«

»Ich bin darin aufgewacht«, behauptete Quate. »Das ist ganz sicher. Ich bin herausge-krochen und habe meine Sachen hier auf dem Boden gefunden.«

»Und du weißt nicht, wie du in den Schrank gekommen bist?« forschte Hage Nockemann. »Woran erinnerst du dich? Was war, bevor du da drinnen aufgewacht bist?«

»Ich weiß überhaupt nichts mehr«, erklärte der Assistent. »Ich habe hier im Labor gear-beitet, und ich habe daran gedacht, mich mit meinem Mädchen in der Messe zu treffen. Ich hatte Durst und wollte ein Bier trinken. Aber was dann war? Ich weiß es nicht.«

Er zuckte mit den Schultern und deutete stumm auf den Schrank.

Nockemann ließ sich den Organklumpen beschreiben, den Crabb gesehen hatte.

»Es stimmt«, sagte er danach. »Genauso

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

sah das Ding aus, das auf der Halbinsel gele-gen hat.«

Blödel zitierte seine Untersuchungsergeb-nisse, um zu veranschaulichen, um was es sich bei dem Klumpen gehandelt hatte.

»Wenn da im Schrank wirklich so ein Ding war«, schloß er, »dann dürfte die organische Masse ähnlich, aber nicht gleich gewesen sein. Wir können schließlich nicht davon aus-gehen, daß irgendein Organismus von Orz-Otan in der SOL weilt.«

»Ist euch überhaupt klar, was hier passiert ist?« fragte Hower Crabb. »Irgend jemand hat Cecil betäubt und weggeschleppt. Dann hat er einen Doppelgänger geschaffen und eine or-ganische Masse im Schrank versteckt. Nach-dem ich den Doppelgänger getötet hatte, hat er die Masse aus dem Schrank geholt und Cecil hineingelegt. Er hat also ...«

»Falsch«, sagte Sanny. »Wir wollen es nicht komplizierter machen, als es ohnehin schon ist. Nach meinen Berechnungen sieht es sehr viel einfacher aus. Die organische Masse im Schrank und Cecil Quate waren identisch. Ein fremdes Wesen ist an Bord gekommen und wurde zum Doppelgänger von Cecil Qua-te. Hower Crabb ist zufällig auf die organi-sche Masse gestoßen. Das war Grund genug für den Doppelgänger, ihn anzugreifen, um ihn zu töten. Doch Hower hat Glück gehabt. Ihm ist es gelungen, den Doppelgänger zu töten. Daraufhin hat sich dieser aufgelöst, und der organische Klumpen verwandelte sich in Cecil Quate zurück.«

»Ein Doppelgänger?« ereiferte sich Hage Nockemann. »Ja, natürlich. Nur so kann es sein. Auf der Halbinsel war auch so ein Klumpen. Das wißt ihr ja schon. Die Riesen-welle hat die Halbinsel überspült und dabei wahrscheinlich nicht nur einen Doppelgänger, sondern auch den Original-Orz-Otaner getö-tet. Versteht ihr? Als das Wasser abgelaufen war, lag ein Eingeborener an der Stelle, an der die organische Masse zuvor gewesen war.«

Sanny kletterte auf einen Tisch. Sie gesti-kulierte heftig, um auf sich aufmerksam zu machen, und die Diskussionen, die durch die Worte Nockemanns ausgelöst worden waren, verstummten. Die runden, hellblauen Augen wirkten ungewöhnlich groß, und der eigenar-tige Kontrast zu dem lindgrünen Pelz wurde

besonders deutlich. »Uns ist wohl allen klar, was das bedeutet«,

sagte sie, wobei sie ihre Worte mit lebhaften Gesten unterstrich. »Das Ausmaß der Gefahr, in der wir schweben, ist noch viel größer ge-worden. Nicht nur bei den Orz-Otanern sind Duplikate aufgetreten, sondern auch hier an Bord der SOL, und bis jetzt kann noch nie-mand sagen, ob es eine Möglichkeit gibt, die-se Doppelgänger zu entlarven.«

»Wir müssen das Schiff nach Organklum-pen absuchen«, schlug Hage Nockemann vor. Er nieste kräftig. »Sie sind nicht sonderlich gut versteckt und müssen relativ leicht zu finden sein.«

»Was hilft uns das schon?« gab Atlan zu bedenken. »So gut wie nichts.«

»Da bin ich aber anderer Meinung«, rief der kauzige Wissenschaftler.

»Kann man einem Organklumpen ansehen, in wen er sich zurückverwandeln wird, wenn wir das Duplikat töten?« fragte der Arkonide.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Hage Nockemann, nieste erneut, wischte sich die Tränen aus den Augen und suchte dann seine Taschen nach einem Taschentuch ab. Er fand keines und fuhr sich deshalb mit dem Ärmel über die Nase. Dann endlich erfaßte er, was Atlan gemeint hatte. Er nickte. »Ja, du hast recht. Die Organklumpen, falls es überhaupt noch mehr davon an Bord gibt, helfen uns gar nichts. Wir können höchstens an ihrer Anzahl ersehen, wieviele Duplikate es gibt.«

An der Tür zum Labor entstand Unruhe. Atlan drehte sich um und blickte hinüber. Er sah, daß sich dort zahlreiche Männer und Frauen drängten und neugierig zuhörten. Ir-gend jemand hatte versäumt, die Tür zu schließen. Nun war es zu spät. In kürzester Zeit würde sich verbreiten, welche neue Ge-fahr für die Besatzung der SOL heraufgezo-gen war.

»Wir müssen etwas unternehmen«, sagte Breckcrown Hayes energisch. »Wir müssen sämtliche Besatzungsmitglieder kontrollieren. Allerdings glaube ich nicht daran, daß es mehr als diesen einen Doppelgänger gibt. Es dürfte schwierig genug für ihn gewesen sein, an Bord zu kommen. Mehr als ein oder zwei Duplikate aber haben die positronischen Si-cherheitseinrichtungen bestimmt nicht über-

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

wunden.«

7.

»Seid ihr zu irgendeinem Ergebnis gekom-

men?« fragte Hower Crabb, als er Atlan beim Essen in der Messe begegnete. Außer ihnen hielten sich nur noch drei Frauen in dem Raum auf, während sonst zu dieser Zeit Hochbetrieb herrschte. Doch die Angst hielt die Solaner in ihren Kabinen zurück.

»Bisher nicht«, erwiderte der Arkonide. »Wir sind keinen Schritt weitergekommen. Von der Besatzung sind uns eine Reihe von Verdächtigen gemeldet worden, aber wir wis-sen nicht, wie wir sie untersuchen und mögli-cherweise entlarven sollen.«

»Können die Telepathen nichts erkennen?« »Nichts. Überhaupt nichts. Dazu muß ich

allerdings sagen, daß sie noch nicht ein einzi-ges Mal mit einem Duplikat konfrontiert wor-den sind. Wir wissen also nicht, ob sie über-haupt eines erkennen können.«

»Glaubst du, daß diese Doppelgänger ir-gend etwas mit dem Angriff der Manifeste auf uns zu tun haben?«

»Auch das läßt sich nicht sagen.« Atlan blickte Crabb forschend an. »Ich hoffe, du drehst nicht wieder durch und machst die Leute verrückt.«

»Nein, das ist vorbei. Du kannst dich auf mich verlassen, obwohl ...«

»Nun?« »Wir haben allen Grund, uns Sorgen zu

machen. Bisher ist ungeklärt, wie dieser Dop-pelgänger überhaupt an Bord gekommen ist. Ich frage mich, ob er überhaupt körperlich war. Und wenn er keinen eigenen Körper hat-te, konnte er dann die Schiffswand durchdrin-gen, ohne irgendeine Schleuse zu benutzen? Und wenn es so gewesen sein sollte, wer kann dann ausschließen, daß vielleicht schon zehn, zwanzig, hundert oder tausend Duplikate an Bord sind?«

Die Tür öffnete sich, und eine Gruppe von mehr als zwanzig Männern und Frauen dräng-te lärmend herein. Sie führten zwei gefesselte Männer mit, die sich heftig wehrten.

Atlan erhob sich und ging der Gruppe ent-gegen.

»Was ist los?« fragte er.

Einer der Männer löste sich aus der Grup-pe. Der Arkonide kannte ihn. Es war der Triebwerkstechniker Roger Krann.

»Das sind zwei Duplikate«, behauptete Krann. »Wir haben zwei Organklumpen ge-funden, und wir haben diese beiden dabei erwischt, wie sie einen Fusionsmeiler fehl-schalten wollten. Wenn wir nicht eingegriffen hätten, wäre der Meiler explodiert.«

Die beiden gefesselten Männer rissen sich los, und da es so aussah, als könnten sie die Messe nicht verlassen, versuchte niemand, sie festzuhalten. Danach ging alles so schnell, daß alle überrascht wurden. Die beiden Dup-likate stürzten sich auf einen Tisch, auf dem Messer lagen, und brachten sich gegenseitig um.

»Wonatrin«, flüsterte einer der beiden Männer.

Jede Hilfe kam zu spät, denn die Körper begannen sich aufzulösen, bevor irgend je-mand etwas unternehmen konnte.

*

Atlan war allein in seiner Kabine, in die er

sich zurückgezogen hatte, um etwas zu trin-ken, als Sanny, Bjo Breiskoll, Hage Nocke-mann und Insider eintraten. Der Extra berich-tete gerade von der Pflanzenfalle, in die sie geraten und aus der sie sich nur mit äußerster Mühe hatten befreien können.

»Wir konnten den Schutzschirm nicht ein-schalten, weil die Positronik zerstört war«, sagte er, als er als letzter eintrat und die Tür hinter sich schloß. »Sie war von Pilzen befal-len und ausgeschaltet worden. Das Ganze sah nach einem planmäßigen Angriff aus.«

»Du glaubst also, daß der Pilzbefall und die Attacke der Rankenpflanzen miteinander zu tun hatten?« fragte der Katzer.

»Ich denke schon.« Sie brachen das Gespräch ab und wandten

sich Atlan zu. »Was führt euch zu mir?«, fragte dieser

verwundert. »Warum diese Versammlung hier bei mir? Weshalb treffen wir uns nicht in der Zentrale?«

»Weil sie nicht sicher sind, ob Breck ein Duplikat hat«, erwiderte Bjo Breiskoll. »Schon seit einiger Zeit ist mir aufgefallen,

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

daß er irgendwie verändert ist.«

»Das ist richtig«, sagte der Arkonide. »Ei-gentlich schon seit der Landung auf diesem Planeten.«

»Ich habe einige Berechnungen angestellt«, verkündete die Molaatin und führte einige paramathematische Formeln an, mit denen keiner der anderen etwas anfangen konnte. »Danach bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß es einen physiologischen Unterschied zwischen dem Original und dem Duplikat geben muß.«

»Tatsächlich?« entgegnete Atlan. »Wel-cher?«

»In den Gehirnen der Duplikate müßte ein winziger Hohlraum sein, den man mit Hilfe der medizinischen Geräte feststellen kann.«

»Dann hätten wir also endlich eine Mög-lichkeit, die Duplikate zu entlarven«, bemerk-te Bjo Breiskoll.

»Die Frage ist, ob wir es uns leisten kön-nen, eine Reihenuntersuchung durchzufüh-ren«, fügte Insider hinzu. »Ich befürchte, das Manifest Wonatrin, das uns in Form dieser Duplikate angreift, läßt uns die Zeit nicht.«

Sanny hob die Hände, um auf sich auf-merksam zu machen.

»Ich bin noch nicht fertig«, rief sie. »Ich habe noch weitergerechnet.«

»Dann heraus damit«, bat der Arkonide. »Wir müssen über die Hälfte der Kopien

auf einen Schlag erwischen und ausschalten. Wenn uns das gelingt, werden für eine kurze Zeit viele Bewußtseinsinhalte Wonatrins frei und erhalten das Übergewicht.«

»Du meinst, das führt dazu, daß diese dann die anderen zwingen, die kopierten Körper aufzugeben?« fragte Atlan.

»Ja, genau das habe ich errechnet, Arkoni-de. Vergiß nicht, daß Wonatrin von Anti-Homunk gezwungen wird, gegen uns zu han-deln. Das Manifest wird uns dankbar sein, wenn es uns gelingt, es zu befreien.«

»Das ist allerdings richtig«, stimmte Atlan zu.

»Ich habe noch einige Zusatzberechnungen angestellt«, erklärte Sanny. »Danach müßte es uns gelingen, mit geeigneten Suchgeräten tatsächlich die Masse der gesuchten Duplikate auf einen Schlag zu finden.«

»Schießt du da nicht ein wenig über das

Ziel hinaus?« zweifelte Atlan. »Bestimmt nicht«, behauptete die Molaatin

selbstbewußt. »Ich habe nämlich ermittelt, daß wir die meisten Duplikate in der Haupt-leitzentrale finden werden.«

Sie lächelte stolz. »Ich habe mich bereits mit SENECA in

Verbindung gesetzt. Wir werden von dieser Seite unterstützt werden. SENECA ist damit einverstanden, wenn wir uns bei unserer ers-ten Aktion voll auf den High Sideryt und sei-ne Mitarbeiter in der Hauptleitzentrale kon-zentrieren.«

»Dann bleibt ja eigentlich nur noch die Frage, welche Suchgeräte wir einsetzen müs-sen«, stellte Atlan überrascht fest.

»Das übernehme ich«, sagte Bjo Breiskoll. »Wir können genügend Geräte aus dem Er-satzteillager für die Medozentralen abziehen und dann in der Nähe der Hauptleitzentrale installieren.«

»Und was tun wir, wenn wir feststellen, daß der High Sideryt und die anderen tatsächlich kopiert worden sind?« fragte Insider.

»Dann müssen wir diese Doppelkörper tö-ten«, erwiderte der Arkonide. »Wir brauchen keine Hemmungen zu haben, denn wir zerstö-ren nur Duplikate, materielle Projektionen, und befreien dadurch die kopierten Personen und das Manifest Wonatrin. Außerdem kön-nen wir dem Angriff Anti-Homunks nur auf diese Weise begegnen.«

»Es ist klar, daß wir ganz sicher sein müs-sen, Duplikate vor uns zu haben«, fügte Bjo Breiskoll hinzu, »denn wir wollen ja auf kei-nen Fall unsere Freunde töten.«

*

Einige Stunden später saßen Atlan, Sanny,

Insider, Hage Nockemann und Bjo Breiskoll vor den Monitorschirmen der Beobachtungs-geräte, die sie mit Hilfe von Montagerobotern unmittelbar vor den Schotten der Hauptleit-zentrale installiert hatten.

»Es ist so, wie Sanny errechnet hat«, sagte Atlan. »Bisher haben alle, die wir bisher ü-berprüft haben, diesen winzigen Hohlraum im Gehirn. Jetzt müssen wir nur noch wissen, was mit Breck ist.«

»Ich verstehe das nicht ganz«, entgegnete

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

Bjo Breiskoll nachdenklich. »Wenn diese Duplikate tatsächlich mit dem Manifest Wo-natrin identisch sind, warum schlägt Anti-Homunk dann noch nicht zu? Mit Breck und seinen Mitarbeitern hat er die Führungsspitze der SOL so gut wie in der Hand. Mit Hilfe der Duplikate könnte er die SOL und uns alle vernichten.«

»Das ist auch seine Absicht«, sagte der Ar-konide. »Wahrscheinlich bereitet er den ent-scheidenden Schlag vor. Deshalb haben wir keine Zeit zu verlieren. Sobald wir wissen, daß Breck ebenfalls eine Kopie ist, schlagen wir zu.«

»Klatsch-uuuh«, stöhnte Insider. »Ein un-angenehmes Gefühl. Wir sitzen auf einer Bombe. Die Duplikate spielen am Zünder herum, und wir müssen warten, bis wir wis-sen, daß sich Breck ebenso wie die anderen in einen Organklumpen verwandelt hat, der ir-gendwo im Schiff versteckt ist.«

»Wir haben keine andere Wahl«, stellte der Katzer fest. »Telepathisch sind die Duplikate nicht als solche zu erkennen. Sie wissen alles, was die Originale wissen, und sie denken auch so. Ich würde mir nie verzeihen, wenn uns gerade bei Breck ein Irrtum unterlaufen sollte.«

»Achtung«, rief Sanny. »Der High Sideryt kommt.«

Auf einem der Monitorschirme war Breckc-rown Hayes zu sehen, der sich dem Haupt-schott der Zentrale näherte. Er bewegte sich seltsam zögernd voran, als überlege er noch, ob seine Anwesenheit in der Zentrale wirklich notwendig sei.

Schließlich blieb er fünf Meter vor dem Schott stehen. Damit fehlten noch zwei Schritte bis zu dem Erfassungsbereich des Beobachtungsgeräts. Zwei Schritte mußte er noch weitergehen, damit die Taststrahlen ihn erfassen und überprüfen konnten.

»Nun geh schon«, sagte Insider leise. »Er hat was gemerkt.« Sanny flüsterte, ob-

wohl Breckcrown Hayes sie auch dann nicht hätte hören können, wenn sie laut geschrien hätte.

Das Schott zur Zentrale öffnete sich, und ein Astrogator trat heraus. Er sah den High Sideryt stehen und blieb ebenfalls stehen. Die beiden Männer blickten sich schweigend an.

Einer von ihnen war ein Duplikat. Das war bekannt. Aber was war mit dem anderen?

»Geh doch endlich«, drängte der Extra. »Es ist alles in Ordnung«, hallte die Stim-

me des Astrogators aus den Lautsprechern an der Decke des Beobachtungsraums. »Wir ha-ben allerdings eine bisher unbekannte Strah-lung bemerkt. Wir sind ihr auf der Spur.«

»Eine Strahlung?« fragte Breckcrown Hay-es argwöhnisch. »Wo?«

Er trat drei Schritte vor und blieb dann er-neut stehen.

»Hier vor dem Schott.« Atlan deutete auf den Monitorschirm, auf

dem sich ein Schattenbild des High Sideryt abzeichnete. Im hinteren Teil des Kopfbildes pulsierte ein grünes Licht.

»Breck ist ein Duplikat«, sagte Bjo Breiskoll. »Jetzt ist es sicher. Ich wußte doch, daß etwas mit ihm nicht stimmt.«

»Wir greifen an«, entschied Atlan. »Wir nehmen Paralysestrahler. Wenn sie sich da-nach nicht auflösen, müssen wir sie töten.«

Er erhob sich und ging den anderen voran. Er war sicher, daß dieser kleine Stoßtrupp genügte, da das Überraschungsmoment auf ihrer Seite war.

Als er an der Spitze der Gruppe auf den Gang hinaustrat, der zur Hauptleitzentrale führte, kamen ihm der High Sideryt und die anderen Duplikate entgegen.

»Schnell«, rief Breckcrown Hayes. »Tötet sie!«

Er hielt einen leichten Energiestrahler in den Händen, und wenn Atlan bis jetzt noch Bedenken gehabt hatte, so schwanden nun die letzten Zweifel. Er wollte den Paralysestrahler auf den High Sideryt abfeuern, doch dieser griff vehement an. Er schoß nicht auf ihn, sondern stürzte sich auf ihn und packte ihn mit beiden Händen am Hals. Achtlos ließ er den Energiestrahler zu Boden fallen, als wisse er nicht, wie wirkungsvoll diese Waffe war. Auch die anderen Duplikate verhielten sich anders als erwartet. Keiner von ihnen benutzte eine Energiewaffe. Alle suchten den direkten Kampf mit den Begleitern des Arkoniden, und da sie zahlenmäßig überlegen waren, schien es, als müßten die Kopien gewinnen. Mit blo-ßen Händen und mit Messern versuchten sie zu töten.

39

ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

Atlan konnte den Würgegriff sprengen.

Danach drehte er sich um und hieb seinem Gegner den Ellenbogen in den Magen. Das Duplikat beugte sich stöhnend nach vorn, wich dann jedoch blitzschnell aus, als der Arkonide zum entscheidenden Schlag gegen seinen Kopf ansetzte. Dabei aber prallte er gegen Bjo Breiskoll, rutschte aus, fiel auf den Boden, schlug hart mit dem Kopf auf und blieb regungslos liegen.

Atlan wollte sich über ihn beugen, um ihn zu untersuchen, mußte sich dann jedoch ge-gen zwei weitere Duplikate wehren, die ihn von hinten anfielen.

Sie waren nicht besonders geschickt, und er konnte sie mit einem Trick überwinden. Da-bei stolperten sie und prallten mit den Köpfen zusammen. Einer von ihnen brach sofort zu-sammen, während der andere sich noch auf den Beinen hielt. Er war jedoch benommen und schwankte stark. Atlan stieß ihn um.

Danach war der Kampf zu Ende. Die Dup-likate lagen auf dem Boden und lösten sich auf.

Atlan blickte Bjo Breiskoll an. Der Katzer stand mitten auf dem Gang und blickte ins Leere. Insider wollte etwas sagen, verstummte jedoch, als er erfaßte, was geschah.

Über den Gang kamen Blödel, Wuschel, Sternfeuer und Argan U heran. Sie stellten keine Fragen.

»Wonatrin meldet sich«, sagte Bjo leise. »Es sind noch vier weitere Kopien an Bord. Er nennt mir die Namen, und er bedankt sich dafür, daß wir ihm zur Freiheit verholfen ha-ben.«

Der Katzer schloß die Augen und beugte sich angestrengt lauschend vor.

»Wonatrin verabschiedet sich«, fuhr er fort. »Er warnt uns vor einem weiteren Manifest, das gegen uns im Einsatz ist, aber er weiß nicht, wer und wo dieses Manifest ist. Er muß zurück in die Namenlose Zeit, und er bittet uns, auch das andere Manifest zu erlösen.«

*

»Eine klare Niederlage«, stellte Plabistas

fest. Anti-Homunk lachte schallend. Er wandte sich von den Monitoren ab, die

er beobachtet hatte und ging zu dem Tisch, auf dem der Speicherkristall lag.

»Eine Niederlage? Wie kommst du dar-auf?«

»Die Duplikate existieren nicht mehr«, er-widerte Plabistas. »Nicht ein einziges.«

Anti-Homunk lachte erneut. »Das ist richtig«, erwiderte er, »und somit

verläuft auch jetzt alles genau nach Plan. Die Solaner glauben, einen Sieg errungen zu ha-ben, aber sie irren sich.«

»Dann ist alles zu deiner Zufriedenheit ver-laufen?«

»Vollkommen«, erklärte Anti-Homunk lä-chelnd. »Einige Male hat es leichte Abwei-chungen vom Plan gegeben, aber das ist nicht weiter tragisch. Ich habe damit gerechnet, schließlich habe ich es mit denkenden Geg-nern zu tun. Doch sie haben den Rahmen des Planes nicht ein einziges Mal verlassen. Sie steuern auf ihren Untergang zu. Niemand wird ihn mehr verhindern.«

»Hoffentlich.« »Das ist ganz sicher. Vergiß nicht, Kaytrin

hat – wie befohlen – die Schrumpfmikroben an Bord der SOL gebracht. Das ist ein weite-rer Trumpf in meiner Hand.«

Er lachte erneut laut auf. »Und jetzt greift Kaytrin selbst an«, fügte

er hinzu.

* Der High Sideryt und seine Mitarbeiter

tauchten Minuten nach dem Kampf vor der Hauptleitzentrale wieder auf. Bei ihnen war es wie bei allen anderen, die zuvor dupliziert worden waren. Sie wußten von nichts, ahnten jedoch, daß Ungewöhnliches vorgefallen war.

Breckcrown Hayes war zutiefst beunruhigt, weil es dem Manifest Wonatrin so mühelos gelungen war, ihn zu überwältigen.

»Ein wenig mehr Entschlossenheit, und sie hätten die SOL in der Hand gehabt«, sagte er zu Atlan.

»Davon bin ich noch nicht ganz über-zeugt«, erwiderte dieser. »Du vergißt, daß da auch noch SENECA ist. Solange die Duplika-te nichts unternahmen, was gegen die Interes-sen des Schiffes und die seiner Besatzung gerichtet war, sah SENECA sich nicht genö-

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tigt, einzugreifen. Doch das änderte sich au-genblicklich, als die Zentralpositronik erfuhr, daß es Duplikate an Bord gibt.«

Die beiden Männer befanden sich in einem Hangar der SZ-1, in der die Space-Jet BLIN-DER VOGEL stand. Mit diesem Kleinraum-schiff wollte der Arkonide starten, um zu tes-ten, ob auch so kleine Objekte von Hy-Raketen angegriffen wurden. Er hoffte, sich mit der Space-Jet rechtzeitig wieder in Si-cherheit bringen zu können, falls er Raketen orten sollte.

Sanny, Hage Nockemann, Blödel und meh-rere Roboter betraten den Hangar. Sie sollten den Flug mitmachen.

Während die anderen sogleich an Bord gin-gen, kam der kauzige Wissenschaftler zu At-lan und dem High Sideryt.

»Ich war inzwischen draußen bei den Orz-Otanern«, berichtete er. »Das Medikament gegen die Beulenpest ist voll wirksam und bestens verträglich. Alle Orz-Otaner, die ich behandelt habe, sind inzwischen so gut wie gesund. Daraufhin habe ich alle weiteren Männer, Frauen und Kinder geimpft, die ich erreichen konnte. Es sind fast siebenhundert Personen. Wenn ich den Aussagen Torekans glauben soll, sind das so gut wie alle Orz-Otaner.«

»Aber du glaubst ihm nicht«, entgegnete der Arkonide.

Hage Nockemann nieste mehrere Male, be-vor er antworten konnte.

»Nein«, erwiderte er und putzte sich die Nase. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß auf den anderen Kontinenten keine Orz-Otaner mehr leben sollen.«

»Was schlägst du vor?« fragte Breckcrown Hayes.

»Ich habe eine Gleiterstaffel zusammenge-stellt, die den ganzen Planeten mit Hilfe von Individualtastern nach weiteren Orz-Otanern absuchen soll«, erklärte der Wissenschaftler. »Jetzt benötige ich nur noch die Starterlaub-nis, um diese Expedition losschicken zu kön-nen. Ich bin sicher, daß die Staffel in zwei Tagen zurück sein kann. Ich meine, wir soll-ten dem Volk der Orz-Otaner diese Chance geben.«

»Ich habe nichts dagegen einzuwenden«, erwiderte Hayes. »Du hast bereits alles vorbe-

reitet?« »Habe ich.« »Worauf wartest du dann noch? Gib der

Staffel den Start frei.« Hage Nockemann eilte zu einem Interkom

und kehrte gleich darauf zufrieden lächelnd zurück.

»So«, sagte er. »Nun bin ich bereit für den BLINDEN VOGEL.«

Atlan verabschiedete sich vom High Side-ryt und ging mit dem Wissenschaftler an Bord. Breckcrown Hayes wartete, bis die Space-Jet ausgeschleust und gestartet war. Dann kehrte er zur Zentrale zurück.

8.

Bjo Breiskoll und Insider verließen die

SOL mit einem Gleiter durch eine Schleuse im unteren Drittel der SZ-1, die tief unter den Wolken lag, und obwohl ein trübes Licht herrschte, konnte der Katzer die Landestützen der SOL erkennen, die sich in den Dschungel eingegraben hatten.

»Sieh dir das an«, sagte er zu dem Extra. »Die Landeteller sind von Pflanzen überwu-chert worden.«

Insider neigte sich zur Seite und blickte in die Tiefe.

»Das hört sich so harmlos an, wie du das sagst«, entgegnete er. »Als wenn da nur ein bißchen Moos gewachsen wäre. Aber das da unten sind riesige Schlingpflanzen.«

Bjo lachte. »Du glaubst doch wohl nicht, daß sie die

SOL festhalten können?« »Hm. Wohl kaum.« »Bestimmt nicht. Wenn die SOL startet,

brennt sie das Zeug weg, oder sie reißt sie einfach aus dem Boden. Aber wenn es dich beruhigt, können wir Breck ja informieren.«

»Ist vielleicht ganz gut.« Insider übernahm es, dem High Sideryt zu berichten. Hayes nahm die Nachricht zur Kenntnis, war aber nicht besorgt. Die SOL verfügte über gewalti-ge Kraftreserven. Pflanzen konnten sie nicht festhalten.

Der Gleiter hatte inzwischen das Gebiet der Orz-Otaner erreicht. Roboter arbeiteten daran, ein Dorf nach dem Vorbild des von der SOL zerstörten Dorfes zu errichten. Sie hatten mitt-

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lerweile eine große Lichtung geschaffen, und die ersten Rohbauten waren entstanden. Es waren einfache Holzgerippe, die noch mit den verschiedenen Materialien verkleidet werden mußten, die der Wald lieferte.

»Es sind nur Roboter da«, stellte Insider verwundert fest. »Was ist nun schon wieder vorgefallen? Wo sind die Eingeborenen?«

Bjo schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte er vol-

ler Unbehagen. »Du kannst sie telepathisch nicht erfas-

sen?« Der Katzer schaltete den Individualtaster

ein. »Nein. Sie sind nicht da. Nicht ein einzi-

ger.« Breiskoll ließ den Gleiter bis hoch über die

Wolken steigen. Dann begann er mit dem Individualtaster nach den Eingeborenen zu suchen.

»Wir haben Glück«, sagte er nach einigen Minuten. »Sie sitzen alle auf einem Haufen. Dort an der Küste.«

Durch eine Lücke in den Wolken war ein Küstenstreifen zu erkennen. Der Individual-taster zeigte an, daß die Orz-Otaner sich auf eine der vorgelagerten Inseln zurückgezogen hatten.

»Wir müssen wissen, was da los ist«, sagte Bjo. »Wir fliegen hin. Einverstanden?«

Insider hatte keine Einwände. Das Verhal-ten der Eingeborenen überraschte und beun-ruhigte ihn. Er dachte an das Manifest Kaytrin, das nun angreifen würde. Wiederum fragte er sich, welcher Art das Manifest war, und welche Taktik es wählen würde.

Zeigte sich in der Reaktion der Orz-Otaner der Beginn der Attacke?

Bjo Breiskoll führte den Gleiter bis an die Insel heran und landete zwischen einigen Fel-sen am Wasser.

Torekan und seine Leute kauerten unter den Bäumen und blickten auf das offene Meer hinaus. Es waren kleine, haarige Gestalten, die schweigsam auf der Stelle verharrten und von einem Ausdruck tiefer Melancholie ge-prägt waren. Keine von ihnen trug noch einen Hut.

Bjo und Insider gingen zu Torekan. »Wir sind froh, daß wir euch gefunden ha-

ben«, sagte der Extra. Der Anführer der Sippe reagierte nicht. »Er hat abgeschaltet«, bemerkte der Katzer

leise. »Er ist leer. Wenn da überhaupt noch etwas in ihm ist, dann ist es Trauer. Unendli-che Trauer. Torekan und seine Leute glauben, daß sie das Ende ihrer Existenz erreicht ha-ben. Sie sind davon überzeugt, daß sie bald sterben werden. Und damit wird ihr Volk un-tergehen. Es wird keine Orz-Otaner mehr ge-ben.«

»Wie kommen sie darauf?« fragte Insider leise.

Bjo zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich würde dir gern eine

Antwort geben, aber ich kann nicht. Torekan und seine Leute denken nicht mehr. Sie haben uns noch nicht einmal wahrgenommen.«

»Was schlägst du vor?« »Wir sollten zur SOL zurückkehren. Und

ich meine, daß wir uns dabei beeilen sollten.« Insider erfaßte, was der Telepath damit sa-

gen wollte. Es war wie vor einem schweren Gewitter, wenn jeder spürt, daß etwas ge-schehen muß.

Kaytrin holte zum großen Schlag gegen die SOL aus.

Der Boden erzitterte plötzlich. Bjo blickte auf das Wasser hinaus. Er sah, wie es sich kräuselte. Dann erfolgte eine Reihe von hefti-gen Erdstößen.

Es schien, als versuchte eine ferne Kraft, die Insel zu zerreißen. Die Felsen platzten krachend auseinander. Bäume stürzten um, und eine schmale Bodenspalte erweiterte sich schlagartig um mehrere Meter. Schäumend schoß das Wasser hinein. »Weg hier«, rief Insider. »Bjo – die Wellen.«

Am Horizont waren mehrere Wasserberge zu erkennen, die sich unter der Wucht des Bebens aufgetürmt hatten. Der Katzer erkann-te, daß sich dort draußen riesige Wellen bilde-ten, die in kürzester Zeit über die Insel kom-men und alle Orz-Otaner hinwegschwemmen würden.

Er stürzte sich auf Torekan, packte ihn an den Armen und riß ihn hoch. Der Anführer der Eingeborenen ließ sich jedoch schlaff und kraftlos wieder sinken. Nichts – so schien es – konnte ihn aus seiner Lethargie reißen, bis Bjo ihn mehrmals ohrfeigte. Mit einem Mal

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kehrte das Leben in die Augen Torekans zu-rück. Wütend stieß der Orz-Otaner den Katzer von sich.

»Du wagst es, mich anzurühren?« schrie er. Seine Lippen blitzten vor Zorn, und Schaum quoll ihm über die Lippen. Wie von Sinnen warf er sich auf Bjo Breiskoll, der ihn jedoch mit ausgestreckten Armen von sich hielt, so daß ihn seine Schläge nicht erreichen konn-ten.

»Du hast kein Recht, dein Volk in den Tod zu führen«, rief er ihm zu. »Führe es heraus aus der Not in die Sicherheit. Rette es. Ver-schwindet von der Insel, solange es noch geht.«

Insider riß Torekan herum und zeigte auf das Meer hinaus. Mehrere haushohe Wellen schossen schäumend heran. Noch waren sie einige hundert Meter von der Insel entfernt, aber bald würden sie hier sein und sie mit vernichtender Gewalt überschwemmen.

»Du wirst das Labyrinth Dorespharein nie-mals überwinden, wenn du solche Schuld auf dich lädst. Die Geister werden dich verachten als denjenigen, der sein Volk in den Tod ge-führt hat, anstatt es zu retten.«

Die Worte Breiskolls erzielten eine überra-schende Wirkung. Torekan schrie wie unter fürchterlichen Qualen auf. Er fuhr herum und stieß mehrere Pfiffe aus. Sie waren durch-dringend und laut, und sie schreckten die Männer, Frauen und Kinder seines Volkes aus ihrem Todestraum auf. Er brüllte ihnen einige Befehle zu, und damit leitete er eine wilde Flucht ein. Die Orz-Otaner, die sich eben noch mit ihrem Tod abgefunden zu haben schienen, rannten unglaublich schnell über die Insel, die von weiteren Stößen erschüttert wurde. Sie schienen sie nicht zu bemerken. Sie blickten auch nicht zur Seite, als der don-nernde Krach einer schweren Explosion aus dem Süden herüberklang.

Dort brach eine Insel auseinander. Schutt, Asche und glühende Lava schossen bis über die Wolken hinaus. Bruchteile von Sekunden später entstand noch weiter im Süden ein zweiter Vulkan.

»Zurück zur SOL«, sagte Bjo. »Die Orz-Otaner retten sich. Das soll uns genügen. Wir müssen nicht auch noch in Gefahr kommen.«

Insider stieg wortlos in den Gleiter. Er star-

tete, als der Katzer neben ihm saß, und wenig später sahen sie die Eingeborenen, die zum Festland hinüberschwammen.

»Sie werden es schaffen, wenn sie sich be-eilen«, bemerkte Bjo. »Aber es wird knapp.«

Er zuckte zusammen, als der Planet durch eine erneute Explosion erschüttert wurde.

»Sieh dir das an«, sagte er. »Der Berg dort ist auseinandergeplatzt. Lava schießt heraus.«

Die Druckwellen der Explosionen erreich-ten den Gleiter und trieben ihn voran. Insider lenkte ihn steil in die Höhe, hatte jedoch Mü-he, ihn auf Kurs zu halten. Blitze umzuckten die Maschine.

»Die ganze Welt ist in Aufruhr«, sagte der Katzer. »Was ist denn plötzlich los?«

Die SOL tauchte vor ihnen auf, und der Extra lenkte den Gleiter in eine offene Schleuse. Er stieg aus und blickte zurück. An mehreren Stellen stiegen gewaltige Säulen aus Schutt und Asche durch die Gewitterwolken bis hoch in die Stratosphäre des Planeten auf. Dutzende von Vulkanen schienen entstanden zu sein.

Und dann erzitterte auch die SOL. Sie spürten es deutlich. Eine fremde Macht griff nach dem Hantel-

raumer.

* Atlan saß an den Steuerelementen der

Space-Jet. Ruhig führte er den BLINDEN VOGEL bis in eine Kreisbahn um Orz-Otan hinauf. Er ließ das Kleinstraumschiff auf den Horizont zutreiben, hinter dem das Leuchten-de Auge Anti-Homunks für die Ortungsgeräte erfaßbar wurde. An Bord herrschte ange-spannte Ruhe.

War die Space-Jet klein genug? Gelang es mit ihr, die Ortung Anti-Homunks zu unter-laufen?

Atlan, Sanny und Nockemann hofften, schon in den nächsten Sekunden eine Antwort auf diese Fragen zu erhalten.

»Was ist denn nur los da unten?« entfuhr es dem Wissenschaftler. »Mehrere Vulkane sind ausgebrochen. Und die SOL steht mitten in einem ausgedehnten Gewittergebiet.«

»Da braut sich etwas zusammen«, sagte Sanny. »Man kann es förmlich sehen.«

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

Atlan zögerte, die Space-Jet noch weiter

vordringen zu lassen. Wurde die SOL ange-griffen, oder revoltierte die Natur des Plane-ten aus anderen Gründen, die nichts mit dem Raumschiff zu tun hatten?

»Lassen wir uns doch nicht verrückt ma-chen«, sagte er. »Die Vulkane können nicht mit der SOL im Zusammenhang stehen. Das hieße ja, daß ...«

Er ließ unausgesprochen, was er dachte, Hage Nockemann und Sanny wußten jedoch auch so, was er meinte.

Plötzlich rissen die Wolken auf und ver-flüchtigten sich von einer Minute zur anderen. Die SOL wurde sichtbar.

Atlan lenkte die Space-Jet auf einen ande-ren Kurs. Er blieb unter dem Horizont und damit außer Sicht Anti-Homunks. Er wollte die SOL jetzt nicht aus den Augen lassen.

»Wir sollten die SOL warnen«, schlug No-ckemann vor.

»Warnen? Wovor?« fragte Sanny. »Abge-sehen davon, daß die Vulkane tätig sind und immer noch Schutt und Asche hochschleu-dern, ist alles ruhig. Was sollen wir Breck denn sagen?«

»Kannst du aus den Anzeichen nicht irgend etwas errechnen?« fragte der Arkonide. »Ich spüre, daß etwas geschehen wird.«

»Dann ergeht es dir ebenso wie mir«, erwi-derte sie. »Dennoch bin ich nicht schlauer als du. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was auf die SOL zukommen könnte.«

»Ich auch nicht«, fügte Hage Nockemann hinzu. »Irgendwo da unten ist das Manifest Kaytrin. Das steht fest. Aber welche Waffen hat es?«

Sanny schrie auf, und Atlan kippte die Space-Jet nach vorn, so daß sie durch die transparente Kuppel nach unten sehen konn-ten und nicht mehr nur auf die Monitoren an-gewiesen waren. Deutlich zeichnete sich der silbern schimmernde Hantelkörper der SOL auf dem tiefroten Untergrund des Urwalds ab. Ebenso klar aber war auch auszumachen, daß die Planetenoberfläche auf einer Länge von nahezu hundert Kilometern aufbrach. Ein rot-glühender Graben bildete sich, aus dem die Lava hervorquoll.

Die SOL befand sich in der Mitte des Gra-bens. Sie war jedoch nur noch einige Sekun-

den lang zu sehen. Danach versank sie in der flüssigen Glut und verschwand in der Tiefe.

»Jetzt habe ich es begriffen«, stöhnte die Molaatin. »Kaytrin ist Orz-Otan selbst.«

*

An Bord der SOL heulten die Alarmsire-

nen. Bjo Breiskoll hastete zusammen mit Insider

zur Hauptleitzentrale, als sich der Boden plötzlich scharf zur Seite neigte.

Ein schwerer Schlag traf das Schiff, und die Antigravneutralisatoren versagten. Die Schwerkraft schien ins Uferlose zu wachsen. Insider und der Katzer sanken zu Boden. Ver-zweifelt stemmten sie sich der Kraft entgegen, die sie zu erdrücken drohte, und gleichzeitig fühlten sie, daß die SOL in die Tiefe sank.

Bjo empfing die verzweifelten Gedanken zahlreicher Solaner, die nicht wußten, was geschah, aber auch die Gedanken von jenen, die den wahren Sachverhalt erkannten.

»Der Planet schluckt uns«, ächzte er müh-sam.

Allmählich ließ der Druck nach. Die An-tigravneutralisatoren wurden wieder wirksam. Insider und der Katzer konnten sich hoch-stemmen und zur Hauptzentrale kriechen.

Ihre ersten Blicke galten den Bildschirmen. Doch diese waren dunkel. Sie zeigten keine Bilder.

»Ein Riß ist in der Oberfläche von Orz-Otan entstanden«, brüllte Breckcrown Hayes, der zusammen mit Cara Doz das Schiff zu retten versuchte. »Wir sind von glühender Lava umgeben.«

Die Schutzschirme sind eingeschaltet! dachte Insider erleichtert. Das rettet uns viel-leicht.

Die Schwerkraft normalisierte sich, da die Neutralisatoren nun wieder fehlerfrei arbeite-ten. Die Männer und Frauen in der Zentrale konnten sich wie gewohnt bewegen.

»Wir sind bereits über 15 Kilometer tief abgesunken«, meldete der High Sideryt.

Die SOL bebte und schwankte, und ein be-drohliches Ächzen ging durch das Schiff, als ob es unter der ungeheueren Belastung zu-sammenbrechen werde. Niemals zuvor hatte sie sich in einer derartigen Lage befunden.

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

»Es ist aussichtslos«, sagte Sternfeuer.

»Wir kommen nicht mehr frei.« »Triebwerke hochfahren«, befahl Hayes. Die Emotionautin mobilisierte die Titanen-

kräfte der Triebwerke, doch das Schiff glitt tiefer und tiefer in das Innere des Planeten Orz-Otan, niedergedrückt von übermächtigen Gravitationskräften, für deren Auftreten an dieser Stelle es keine kosmophysikalische Erklärung zu geben schien.

»Es ist Kaytrin«, sagte Bjo Breiskoll. »Kaytrin und Orz-Otan sind identisch mitein-ander. Der Planet ist das Manifest, und er will uns vernichten.«

Atlan meldete sich über Hyperfunk aus dem Orbit. Er war nicht weniger erschrocken als die Besatzungsmitglieder der SOL, und er übermittelte einige Bilder von dem Riß, der sich auf Orz-Otan aufgetan und die SOL ver-schlungen hatte.

»Orz-Otan ist Kaytrin«, schloß er sich der Meinung des Katzers an. »Ihr habt keine an-dere Wahl. Das Manifest will das Raumschiff zerstören. Ihr könnt euch nur retten, wenn ihr den Planeten konsequent angreift.«

»Was willst du damit sagen?« fragte Breckcrown Hayes. »Wir sind jetzt schon mehr als zwanzig Kilometer tief und damit klar unter der Oberflächenkruste von Orz-Otan. Was können wir denn noch tun? Die Lavamassen über uns drücken uns immer tie-fer. Dazu kommt der Gravitationsdruck. Kaytrin richtet alle Kräfte auf uns.«

»Schießt mit allem, was ihr habt«, empfahl der Arkonide. »Sprengt euch den Weg nach oben frei. Eine andere Möglichkeit habt ihr nicht mehr.«

»Du hast recht«, stimmte der High Sideryt zu. »Wir müssen es tun, auch wenn der Planet dabei draufgeht.«

»Wir müssen aber auch versuchen, Torekan und seine Leute zu retten«, betonte Atlan.

»Falls es uns gelingt, wieder freizukom-men, schleusen wir sofort Bergungsschiffe aus«, versprach Breckcrown Hayes. »Bjo wird schon jetzt entsprechende Kommandos zusammenstellen, die die Orz-Otaner retten sollen.«

»Gut so«, erwiderte der Arkonide. »Wir bringen sie dann zu einem anderen Planeten.«

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und

schwieg, brach die Verbindung jedoch nicht ab, so daß er von der Space-Jet aus verfolgen konnte, was geschah. Er übermittelte anderer-seits Bilder von der Planetenoberfläche in die Hauptleitzentrale des Hantelraumers, um dem High Sideryt anzuzeigen, welche Auswirkun-gen seine Maßnahmen hatten.

Breckcrown Hayes zögerte nicht länger. Die Instrumente zeigten an, daß die SOL

fast fünfundzwanzig Kilometer tief abgesackt war.

»Vollen Schub auf die Triebwerke«, befahl der High Sideryt. »Feuer eröffnen.«

Energiestrahlen und Atomraketen schossen hinaus. Sie verließen den Hantelraumer und bohrten sich durch Strukturlücken in den Schutzschirmen in die Lavamassen hinein. Im nächsten Moment erzitterte die SOL unter der Wucht der Explosionen, und mit der ganzen Kraft ihrer Triebwerke stemmte sie sich ihr entgegen, um nicht noch tiefer abzusinken.

Die freiwerdenden Kräfte suchten den Weg des geringsten Widerstands. Sie wichen vor der Masse des Planeten zurück und sprengten die relativ dünne Schicht hinweg, die über der SOL lag. Ungeheure Lavamassen schossen aus dem Riß in die Höhe. Ein riesiger, glü-hender Krater entstand, an dessen Grund die SOL schwebte und sich nachfließender Lava entgegenstemmte. Der Dschungel in der Um-gebung des Risses ging in Flammen auf. Die Kruste von Orz-Otan wölbte sich auf und zer-brach an vielen Stellen, aus denen danach Glutmassen aus dem Innern des Planeten auf-stiegen und Tod und Vernichtung über das Land brachten.

Mit fünf weiteren Atomgeschossen spreng-te sich die SOL den Weg frei, und der Riß verlängerte sich um mehr als zweihundert Kilometer.

Während die SOL aus der Gluthölle auf-stieg, schleuste sie mehrere Expeditionsschif-fe aus, die sich auf die Suche nach überleben-den Orz-Otanern machten.

»Wir haben es geschafft«, meldete Breckc-rown Hayes.

»Gratuliere«, entgegnete Atlan erleichtert. »Wenn ich ehrlich sein soll, muß ich zugeben, daß ich erhebliche Bedenken hatte.«

»Es hätte uns bis zum Mittelpunkt des Pla-neten treiben können«, lachte Breckcrown

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

Hayes. »Aber wir hatten nur die eine Mög-lichkeit, es mit Energiestrahlen und Atom-bomben zu versuchen.«

»Bleibt im Ortungsschatten von Orz-Otan«, empfahl der Arkonide. »Anti-Homunk tobt vermutlich vor Wut und Enttäuschung. Wahr-scheinlich versucht er, die SOL mit Hy-Raketen zu erwischen, sobald sie den Or-tungsschatten von Orz-Otan verläßt.«

Der High Sideryt blickte auf die Bildschir-me. Sie zeigten das Bild eines sterbenden Planeten. Überall auf Orz-Otan brachen Vul-kane aus. Gewaltige Lavamassen ergossen sich über das Land. Schutt- und Aschewolken schossen bis in die Stratosphäre des Planeten hinauf und hüllten diesen mehr und mehr ein.

Hayes zweifelte daran, daß es den Expedi-tionen gelingen würde, überlebende Orz-Otaner zu bergen. Doch er irrte sich. Die Suchkommandos fanden Torekan und über fünfhundert Männer, Frauen und Kinder sei-nes Stammes. Sie wurden geborgen, um spä-ter auf einem anderen Planeten angesiedelt zu werden.

Nach Abschluß dieser Aktion machte der High Sideryt kurzen Prozeß. Er vernichtete Orz-Otan.

Als der Planet auseinanderbrach, meldete sich das Manifest Kaytrin. Bjo Breiskoll fing seine Gedanken auf, und er gab die Nachricht an die anderen weiter, während sich die SOL von den Resten von Orz-Otan, aber auch vom Leuchtenden Auge entfernte: »Das ist das Ende des Manifests Kaytrin. Und es ist zugleich die Befreiung von Kayt-Zount. Er bedankt sich ebenso wie Wonatrin, und er zieht sich ebenfalls in die Namenlose Zone zurück.«

Überrascht war eigentlich niemand mehr, daß sich Kayt-Zount auf diese Weise verab-schiedet hatte. Man wandte sich bereits neuen Aufgaben zu. An Bord gab es viel zu tun. Bei dem Angriff auf die SOL waren Zerstörungen angerichtet worden, die nun behoben werden mußten. So herrschte nur gedämpfte Freude auf den zahllosen Decks des Raumers.

Bjo Breiskoll drückte aus, was die meisten empfanden:

»Wirklich froh bin ich vor allem darüber, daß wir Anti-Homunk aus der Falle entkom-men konnten. Ich bin sicher, daß er vor Wut

und Enttäuschung außer sich ist.«

* Anti-Homunk lachte, als er sah, wie Orz-

Otan auseinanderbrach. Er war keineswegs enttäuscht.

Zufrieden saß er in seinem Sessel und be-trachtete die Bilder des sterbenden Planeten. Er richtete sich erst auf, als eine Botschaft von Anti-ES eintraf.

»Jetzt wirst du dafür sorgen, daß die SOL bis in die unmittelbare Nähe des Leuchtenden Auges gelangt«, forderte Anti-ES. »Und dann wird es endgültig mit ihr vorbei sein.«

»Kein Problem«, erwiderte Anti-Homunk selbstsicher. »Die Schrumpfmikroben sind an Bord der SOL, und außerdem habe ich noch die Teleportationsbomben in der Hinterhand. Ich bin sicher, daß alles so ablaufen wird, wie du es willst.«

Und auch meine Rache wird sich erfüllen, dachte er.

*

Atlan startete mit der Space-Jet. Er war ent-

schlossen, sich dem Leuchtenden Auge so weit wie nur irgend möglich zu nähern.

Schon nach einer kurzen Flugetappe klang eine Stimme in ihm auf. Es war die Stimme von Wöbbeking-Nar’Bon.

Anti-ES wartet nur darauf, daß du hier er-scheinst, erwiderte der Arkonide. Er will dich hierher locken, um dich vernichten zu können.

Ich weiß, aber dennoch muß ich irgend-wann eingreifen. Ich muß dir helfen, weil du es allein nicht schaffen kannst.

Ich werde es allein gegen Anti-Homunk versuchen.

Wöbbeking zögerte. Offensichtlich hielt er einen Erfolg Atlans nicht für möglich.

Ich werde es versuchen. Auf jeden Fall, be-tonte der Arkonide.

Ich verstehe, antwortete Wöbbeking. Dann werde ich dir wenigstens sagen, wer und was dein Gegner ist.

Du sprichst von Anti-Homunk? Allerdings. Ich meine ihn.

ENDE

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ATLAN 122 – Die Abenteuer der SOL

Weiter geht es in Band 123 der Abenteuer der SOL mit:

Anti-Homunk von Hubert Haensel

Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2008, eine Lizenzausgabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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