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This is my dissertation about the sociological aspects of the city life in two German city novels (Berlin). I compared two fin-de-sciecle novels: "Berlin Alexanderplatz" (Alfred Döblin) and "So" (Norbert Zähringer).
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Universiteit GentAcademiejaar 2006-2007
Die Großstadt und das Geistesleben in zwei deutschen Berlin-Romanen
Eine analyse von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz und Norbert Zähringers So
Promotor: Prof. Dr. Elke Gilson Verhandeling voorgelegd aan deFaculteit Letteren en Wijsbegeertevoor het behalen van de graad van
Licentiaat in de Taal- en Letterkunde: Germaanse talen
door
Dennie De Bremaecker
1
2
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
2. Berlin Alexanderplatz
2.0. Einleitung: Döblin als Individuum und Arzt in Berlin
2.1. Rahmen und Struktur des Romans: Prolog und Epilog
2.2. Chaos und Ordnung: die Großstadt aus der Perspektive
des Protagonisten
2.3. Die Großstadt als Protagonist
2.4. Intellektualität und Geldwirtschaft
2.5. Die Großstadt als Ort der Kriminalität
2.6. Die Gewalt und die Apokalypse
3. So
3.0. Einleitung: Norbert Zähringer
3.1. Rahmen und Struktur des Romans
3.2. Versprechungen und Erwartungen
3.3. Das Geld und die Maschinen: die Passivität,
die Unpersönlichkeit und die Versachlichung
3.4. Die Zeit
4. Schlussfolgerung
5. Bibliographie
3
4
1. Einleitung
Berlin regt an, Berlin ist der Hype, der für Künstler, Schriftsteller, Maler und Musiker
so attraktiv ist, dass viele an irgendeinem Moment im Leben sich mit Berlin als
Großstadt und als Phänomen beschäftigen. Auch bei den Schriftstellern erregt die
Großstadt Berlin die Fantasie, die zumindest zu dem Versuch eines Großstadtromans
führt. Wenn man “über die Literatur der letzten Jahre redet, darf [man] vom Berlin-
Roman nicht schweigen”, stellt Phil C. Langer fest.1 Das Thema Berlin war in den
achtziger Jahren jedoch noch nicht so populär. So sagt Franz Schirrmacher, am 10.
Oktober 1989 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung, Folgendes:
Es gibt bei uns seit Jahrzehnten keine Literatur der Metropolen, des städtischen Lebens, der Weltstadt, des Weltlebens. Die Autoren lieben New York; als Passepartout taucht der Name in jedem zweiten Roman auf. Aber sie sind unwillig, das Dickicht ihrer eigenen Städte auch nur zu betreten. Solange die deutsche Literatur sich der Gesellschaft in den Metropolen, der kalten und abgründigen Sozietät in diesem längst zu einer gigantischen Stadt gewachsenen Lande nicht zuwendet, müssen ihre Leser sich mit Idyllen begnügen.2
Seit der Wende, in den neunziger Jahren, gab es aber eine richtige Hochkonjunktur für
Berlin-Romane. Selbstverständlich wollten laut Ulrich Rüdenauer “die Verlage, wer
könnte es ihnen verübeln, ebenfalls vom Berlin-Hype profitieren”.3 Der große Klassiker
in den Großstadtromanen ist jedoch noch immer Berlin Alexanderplatz von Alfred
Döblin. Die Art und Weise, in der die Hauptfigur Franz Biberkopf, das kriminelle
Milieu, aber insbesondere die Großstadt Berlin in Zusammenhang mit den
psychologischen Details des großstädtischen Lebens in diesem Roman geschildert wird,
ist bewundernswert. Aaron Winslow deutet in einer Arbeit über Döblin auch darauf hin:
Using the complex technique of montage Döblin portrays a vision of modern isolation and objectification: characteristics which [Georg] Simmel found to be present in the psychological make-up of the modern city-dweller a quarter century before.4
1 Phil C. Langer: “Mittendrin ist voll daneben. In der Sackgasse: Die kurze Geschichte der jüngsten Berlin-Literatur”. In: Freitag, August 2003. < http://www.freitag.de/2003/34/03341401.php> [Stand: den 21.Juli 2007]2 Frank Schirrmacher: “Idyllen in der Wüste oder das Versagen von der Metropole”. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Oktober 1989.3 Ulrich Rüdenauer: “Der ‘Berlinroman’ – Forderung, Fluch und Versprechen”. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Juli 2001. <http://www.faz.net/s/RubCC21B04EE95145B3AC877C874FB1B611/Doc~E3A7A398B90C64F5D8DDE440CC3BDF64C~ATpl~Ecommon~Scontent.html> [Stand: den 21.Juli 2007]
5
Winslow betont die Tatsache, dass die Merkmale des Großstadtlebens, die Georg
Simmel, ein Soziologe, hervorhebt, auch in Döblins literarischem Bild des
Großstadtlebens zum Ausdruck kommen. Doch ist Berlin Alexanderplatz nicht der
einzige Roman, der mit den soziologischen Merkmalen Simmels verknüpft wurde.
Auch Norbert Zähringers Roman So (2001) wurde von dem Kritiker Ulrich Rüdenauer
mit den Theorien Simmels und mit der Erzählweise Döblins assoziiert:
Zähringers literarische Vorbilder finden sich in den 20er-Jahren: Montagetechnik und Großstädtisches bei Döblin, der lakonische Witz, bei Kästner, der Blick für die sozial Deklassierten bei Fallada, das Absurde des Angestelltendaseins bei Kafka, Theoretisches bei Kracauer oder Simmel.5
Interessant ist, dass Rüdenauer hier den Zusammenhang zwischen Zähringer und Döblin
einerseits, zwischen Zähringer und Simmel andererseits ins Blickfeld rückt. In dieser
Arbeit möchte ich die Beziehung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft in
Döblins Werk Berlin Alexanderplatz und Zähringers Roman So beleuchten. Ich werde
im Folgenden tiefer auf die Merkmale, die Simmel der Großstadt zugeschrieben hat,
eingehen, denn diese werden in dieser Arbeit noch von größter Bedeutung sein. Danach
werde ich das Ziel dieser Arbeit weiter erklären.
Georg Simmel gilt als einer der Begründer der Stadtsoziologie. Er schrieb den
Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben mit Berlin in Gedanken im Jahre 1903,
aber er bekam kaum Anerkennung in Deutschland. Simmel hatte jedoch einen großen
Einfluss auf die Soziologie in den USA und später auch in Europa. Die Hauptgedanken
des Textes werden in Simmels Werk Philosophie des Geldes (1900) kulturgeschichtlich
tiefer untersucht und behandelt.6 Berlin war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine
relativ neue Großstadt, die im Vergleich mit Städten wie Paris und London ihre
Industrialisierungsphase später anfing. Das Landleben und die Großstadt standen sich
damals (und heute noch?) als zwei verschiedene Welten gegenüber: die Großstadt als
neues Phänomen, das Landleben als traditionelles Muster. Die Merkmale, die Simmel,
4 Aaron Winslow: “False Structure in Berlin Alexanderplatz”. In: Chrestomathy: Annual Review of Undergraduate Research at the College of Charleston 2, 2003, S.351-364, hier: S.351.5 Ulrich Rüdenauer: “Norbert Zähringers wundervoller, dreister Debütroman So”. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, den 8.Juni 2001. <http://www.faz.net/s/Rub79A33397BE834406A5D2BFA87FD13913/Doc~E84EC213341DE4059842E5F5C1CDA669B~ATpl~Ecommon~Scontent.html> [Stand: den 29.Juni 2007]6 Georg Simmel: Philosophie des Geldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. In Philosophie des Geldes beschreibt Simmel wie die sozialen Beziehungen stark durch das Geld und die Wirtschaft beeinflusst und bestimmt werden.
6
in seiner Arbeit in den Vordergrund schiebt, werden oft anhand von diesem Unterschied
zwischen dem Land- und Großstadtleben erklärt.
Georg Simmel behauptet am Anfang seiner Arbeit, dass beim Individuum durch
alle neue Phänomene des achtzehnten, neunzehten und auch des zwanzigsten
Jahrhunderts “das gleiche Grundmotiv” auf psychologischer Ebene wirkt: “der
Widerstand des Subjekts, in einem gesellschaftlich- technischen Mechanismus nivelliert
und verbraucht zu werden.”7 Simmel stellt fest, dass der Großstädter unablässig mit
vielen verschiedenen, schnellen und ununterbrochenen aüßeren und inneren Eindrücken
konfrontiert wird, was eine “Steigerung des Nervenlebens” zur Folge hat, denn der
Mensch wird als “Unterschiedswesen” angeregt, die meisten Eindrücke aufzunehmen
und zu verarbeiten.8 Selbstverständlich ist die Frage, ob dieser Überfluss an Eindrücken,
die Simmel im Jahre 1903 als wichtiges Merkmal des Großstadtlebens aufzeigt,
heutzutage noch einen ähnlichen Effekt auf den Großstädter hätte, sehr relevant. Michel
Butor bemerkt Folgendes:
Gehe ich durch die Straßen einer modernen Großstadt, erwarten und bestürmen mich überall Wörter: nicht nur, daβ die Leute, denen ich begegne, miteinander sprechen, sondern vor allem die Schilder an den Gebäuden, an den Stationen derUntergrundbahnen, der Bushaltestellen, durch die ich, falls ich in der Lage bin, sie zu lesen, feststellen kann, wo ich mich befinde, wie ich zu einer anderen Station gelange. 9 [Meine Hervorhebung, D.D.B]
Butor empfindet diese Menge an Eindrücke als positiv, denn die Bestürmung der
Wörter in den Straßen der Großstadt gibt dem Großstädter und den Besuchern wichtige
Informationen her. Nicht nur in der Soziologie (Simmel) oder beim Reisen (Butor),
sondern auch in der Literatur ist diese Idee der Geschwindigkeit der Eindrücke
prominent. In dieser Hinsicht hat Mascha Kurtz ihrem Beitrag über “[d]ie Stadt in der
jungen deutschen Literatur” einen bedeutungsvollen Titel gegeben: “Ein Sack voll
rasender Moleküle”.10
Im Allgemeinen kann “eine Steigerung des Nervenlebens” jedoch als eher negativ
empfunden werden. Das Individuum entwickelt sich infolgedessen eine
intellektualistische Attitüde als Schützorgan gegenüber seiner sich rasch ändernden
Wirklichkeit. Die Großstadt steht “mit dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des
7 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S.8.8 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S.9.9 Michel Butor: Die Stadt als Text. Graz-Wien: Literaturverlag Droschl 1992, S.8.10 Mascha Kurtz: “Ein Sack voll rasender Moleküle. Die Stadt in der jungen deutschen Literatur”. In: Kritische Ausgabe 1. Großstadt, 2004. <http://www.kritische-ausgabe.de/hefte/stadt/stadtkurtz.pdf>
7
wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens” der Kleinstadt oder dem
Landesleben, “mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden
Rhythmus” gegenüber.11 Der intellektualistische Charakter des Großstadtlebens ist
jedoch nicht bloß diesem Unterschied zwischen dem langsamen Klein- und raschen
Großstadtleben zuzuschreiben. Die Geldwirtschaft spielt dabei ebenfalls eine wichtige
Rolle, denn sie ist die Ursache, dass “[d]er moderne Geist [...] mehr und mehr ein
rechnender geworden [ist]”.12 Demzufolge werden die Beziehungen zwischen den
Einwohnern objektiviert oder versachlicht. Diese Sachlichkeit reduziert die qualitativen
Werte auf quantitative und macht außerdem die Beziehungen zwischen verschiedenen
Großstädtern sehr unpersönlich.
Vorher wurde schon auf die unterschiedliche Geschwindigkeit der Eindrücke in
dem Groß- und Kleinstadtlebens aufmerksam gemacht. Dabei wurde deutlich wie sich
das Individuum anhand von seinem Verstand vor diesen Eindrücken zu schützen
versucht. Ein anderes Schützmittel neben den Verstand ist die Pünktlichkeit. Sie gibt
das Chaos des Lebens eine Struktur, ohne die das wirtschaftliche und soziale Leben
nicht funktionieren würde. Zeit und Struktur stehen auf diese Weise dem Chaos und der
Geschwindigkeit der Eindrücke gegenüber. Das alles hängt eng mit der zuvor
besprochenen Verstandeswirtschaft und Geldwirtschaft zusammen, die eine
Unpersönlichkeit in den sozialen Beziehungen zur Folge haben.
Eine der “seelischen Erscheinungen” des großstädtischen Lebens ist laut Simmel
die Blasiertheit:
Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, daß sie nicht wahrgenommen würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, daß die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird.13
Der Groβstädter kann nicht auf alle innerlichen und äußerlichen Eindrücke reagieren.
Deshalb unterlässt er es auf die schwächsten und nach mancher Zeit sogar auch auf die
stärksten Eindrücke einzugehen. Dieses gleichgültige Benehmen gegenüber den
Unterschieden der Dinge nennt Simmel die Blasiertheit. Sie führt zu einer Entwertung
der Dinge und schließlich zu einer Entwertung der eigenen Persönlichkeit. Fast alles ist
dem Großstädter gleichgültig, so auch seine eigene Identität, aber diese Gleichgültigkeit
11 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S.10.12 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S.15.13 Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, S.20.
8
wird er, wie später noch verdeutlicht wird, durch Spezialisierung als eine Form der
Selbsterhaltung bekämpfen.
Wir haben schon das Thema der Unpersönlichkeit in der Großstadt in
Zusammenhang mit der Verstand-und Geldwirtschaft leicht berührt. Simmel geht
jedoch noch ein bisschen tiefer auf die sozialen Beziehungen, die die Großstädter
zueinander haben, ein: “Die geistige Haltung der Großstädter zueinander wird man in
formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen können.”14 In der Kleinstadt gibt es eine
gemütlichere Beziehung zwischen den verschiedenen Einwohnern; es gibt einen
persönlicheren Kontakt als in der Großstadt, in der es unmöglich wäre solche
persönliche Beziehungen mit jedem Passanten zu haben, ohne dass es zum innerlichen
Chaos führte. Die Folgen dieser Reserviertheit sind Gleichgültigkeit, Aversion,
Fremdheit und Abstoßung und sogar Hass und Kampf. Obwohl diese Folgen als eher
negativ betrachtet werden können, sind sie erwünscht im Großstadtleben (mit seinen
vielen Eindrücken!), denn die Reserviertheit und die Antipathie bewirken “die
Distanzen und Abwendungen, ohne die diese Art Leben überhaupt nicht geführt werden
könnte”.15 Dasjenige, was Simmel auch die Dissoziierung der Großstädter nennt, ist
seiner Meinung nach “in Wirklichkeit nur eine ihrer elementaren
Sozialisierungsformen”.16
Die Reserviertheit gibt dem Individuum in der Großstadt jedoch eine größere
persönliche Freiheit als in der Kleinstadt. Das deutet Simmel anhand der Geschichte
jeder Art von Gruppenbildung.17 Der Soziologe bespricht in dieser Passage kurz,
weshalb sich eine Gruppe formt und wie diese Gruppe (und dabei auch eine
Gesellschaft und eine Großstadt) sich in der Geschichte weiterentwickelt hat. Am
Anfang oder bei der Entstehung einer neuen Gruppe gibt es meistens eine geringe
persönliche Freiheit, die mit der Erweiterung der Gruppe immer größer wird. Während
man in der Kleinstadt von Vorurteilen und Bekannten in seinen Möglichkeiten
beschränkt wird, ist man in der Großstadt frei und unbekannt. Die Autonomie des
Individuums ist in größeren Gruppen ein deutlicher Vorteil. Auf die gleiche Weise ist
auch die Selbstständigkeit in der Großstadt durch die Menge der Einwohner und die
Attitüde der Reserviertheit gewährt. Das hat jedoch wiederum einen Nachteil: “[...] es
14 Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, S.23.15 Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, S.25.16 Ebenda.17 Simmel: Die Groβstädte und das Geistesleben, S.26-31.
9
ist offenbar nur der Revers dieser Freiheit, wenn man sich unter Umständen nirgends so
einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl.”18
Außer Freiheit hat das Individuum in der Groβstadt auch viel mehr die
Möglichkeit, andere fremde Lebensarten zu entdecken. Während die Kleinstadt eher in
einem engeren Kreis bleibt, kann die Großstadt über seinen Grenzen hinaus Kontakte
herstellen, die dem Individuum verschiedene professionelle Möglichkeiten anbietet.
Deswegen nennt Simmel die Großstädte “die Sitze des Kosmopolitismus” und ebenfalls
“die Sitze der höchsten wirtschaftlichen Arbeitsteilung”.19 Die Großstadt fordert
außergewöhnliche Leistungen und zwingt das Individuum zu einer Spezialisierung.
Dieser Zwang hat zugleich einige Vor- und Nachteile. Einerseits kann diese
Spezialisierung positiv betrachtet werden, denn dabei wird die Qualität wichtiger als die
Quantität (vergleich Geldwirtschaft), aber andererseits muss das Individuum immer um
einen Arbeitsplatz kämpfen:
Die Notwendigkeit, die Leistung zu spezialisieren, um eine noch nicht ausgeschöpfte Erwerbsquelle, eine nicht leicht ersetzbare Funktion zu finden, drängt auf Differenzierung, Verfeinerung, Bereicherung der Bedürfnisse des Publikums, die ersichtlich zu wachsenden personalen Verschiedenheiten innerhalb dieses Publikums führen müssen. 20
Das Individuum muss die eigene Persönlichkeit in den Vordergrund schieben, was
manchmal zu extremen Formen des Apartseins führt. Auf diese Weise wird nicht nur
der Inhalt, sondern auch die Form des Andersseins vom Individuum hervorgehoben.
Da es fast hundert Jahre zwischen dem Beitrag Simmels und dem Roman
Zähringers gibt, kann man nicht ohne weiteres behaupten, dass die Merkmale des
Großstadtlebens, die Simmel damals betont hat, heutzutage noch zutreffend wären.
Deshalb werde ich im ersten Teil dieser Arbeit untersuchen, ob die Merkmale, die
Simmel dem Großstadtleben zuerkennt, auch dem Großstadtleben, das in dem Roman
Berlin Alexanderplatz vorgestellt wird, zugeschrieben werden könnten. Danach, im
zweiten Teil werde ich auf einige Parallele und Unterschiede, die der Roman So zu dem
Klassiker Döblins hat, hindeuten, mit der Absicht die Verbindung mit Simmels
theorien, auf die schon von Ulrich Rüdenauer hingewiesen wurde, aufzuzeigen.
Selbstverständlich haben beide Romane einen anderen zeitgeistlichen Hintergrund, aber
18 Simmel: Die Groβstädte und das Geistesleben, S.31.19 Simmel: Die Groβstädte und das Geistesleben, S.32 u. S.35.20 Simmel: Die Groβstädte und das Geistesleben, S.36.
10
das verhindert nicht, auf einige typische, möglich übergreifende Genremerkmale des
Großstadtromans hinzudeuten. So stellt Hania Siebenpfeiffer fest, dass man in der
jüngsten Berlinliteratur des letzten Jahrzehnts einige “Charakteristika des Urbanen”,
unterscheiden kann: “Heterogenität, Dichte, Schnelligkeit, Simultanität, Kontingenz und
Gegenwärtigkeit”.21 In dieser Arbeit gehe ich von einer figurenbezogenen Analyse aus,
denn auf diese Art und Weise wird die Beziehung zwischen Individuum und
Gesellschaft, die Darstellung des Großstadtlebens am besten beleuchtet.
21 Siebenpfeiffer, Hania: “Topographien des Seelischen. Berlinromane der neunziger Jahre”. In: Bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2001, S.85-104, hier: S.85.
11
2. Berlin Alexanderplatz
Einleitung: Döblin als Individuum und Arzt in Berlin
Die erste Begegnung Döblins mit der Großtadt Berlin fand 1888, nachdem der Vater die
Mutter und ihre fünf Kinder verlassen hatte, statt. Döblin war damals zehn Jahre alt,
aber trotzdem erinnert er sich einundsechzig Jahre später, im Jahre 1949, nach seinem
Exil in Paris und Hollywood, noch an das Berlin des späten 19. Jahrhunderts:
Damals war Berlin schon Großstadt, Hauptstadt Preußens und des Bismarckischen Reiches. Aber die eigentliche riesenhafte Entwicklung kam erst später über die Stadt. Es gab noch keine Elektrische, keine Autos auf den Straßen, die Wohnungen hatten Gas und das Gasglühlicht war ein großer Fortschritt. Es gab noch kein Telefon, welch selige Zeiten. Dies alles fiel uns dann zu. Ich sah noch auf dem Tempelhofer Feld das erste Flugzeug der Brüder Wright aufsteigen: Siehe, sie kamen wahrhaftig mit ihrem Kasten in die Höhe und hielten sich eine Weile oben. Das war ein Spiel. Später wird man anders zu Flugzeugen aufblicken. Es kamen auch die Warenhäuser und die Untergrundbahn.22
Diese Stelle zeigt, wie stark sich die Großstadt in den Augen Döblins verändert hat. Die
Elektrische, die Autos, das Flugzeug, die Warenhäuser und die Untergrundbahn sind
alle Produkte, die von Menschen hergestellt wurden, und sie werden von Döblin als
Großstadtprodukte betitelt. Man kann vonseiten Döblins eine gewisse Nostalgie
bemerken, wenn er sich über die Zeiten ohne Telefon äußert: “welch selige Zeiten.”
Berlin hatte wegen ihrer späten industriellen Revolution eine sehr rasche
Transformation am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Einwohnerzahl wuchs in den
zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts stark an. Der Verkehr verändert sich
denn auch wegen der Notwendigkeit der Massenmobilität. Berlin war nicht nur das
politische, sondern auch das kulturelle, wirtschaftliche und wissenschaftliche Zentrum.
Die Stadt war deswegen auch sehr attraktiv für Künstler. Döblin, der jedoch noch vor
dieser industriellen Revolution in Berlin angekommen war, schreibt 1930, dass seine
Werke immer von Berlin und dem Großstadtleben beeinflusst wurden:
Um von dem Charakter meiner Arbeiten etwas zu sagen: mein Denken und
22 Alfred Döblin: Leben und Werk in Erzählungen und Selbstzeugnissen. Hg. Von Christina Althen. Düsseldorf: Patmos Verlag 2006, S.148.
12
Arbeiten geistiger Art gehört, ob ausgesprochen oder nicht ausgesprochen zu Berlin. [...] Diese Mietskasernen und Fabriken sind durch Jahrzehnte mein Anschauungs – und Denkmaterial gewesen, und ob ich von China, Indien und Grönland sprach, ich habe immer von Berlin gesprochen [...].23
Berlin ist in allen Werken Döblins auf irgendeine Weise von größter Bedeutung. Der
Umzug nach Berlin 1888, das ärmliche Leben dort und die Konfrontation mit den
dunklen Seiten Berlins spielen wahrscheinlich eine wichtige Rolle in den Romanen
Döblins. Für den Roman Berlin Alexanderplatz ist auch seine Arztpraxis, mit Hinsicht
auf Biberkopf und das kriminelle Milieu, in dem dieser sich aufhält, sehr wichtig.
Es wäre eine lange Geschichte zu erzählen, wie ich zum Stoff und zu dem Grundmotiv des Buches kam. Hier will ich nur sagen: Mein ärztlicher Beruf hat mich viel mit Kriminellen zusammengebracht. Ich hatte auch vor Jahren eine Beobachtungsstation für Kriminelle. Von da kam manches Interessante und Sagenswerte.24
1905 promoviert Alfred Döblin über ein psychiatrisches Thema und arbeitet dann als
Assistenzarzt an verschiedenen psychiatrischen Kliniken, auch in Buch, der Klinik, in
die Franz Biberkopf nach seinem Zusammenbruch eingeliefert wird. Einige Jahre
später, im Jahre 1911, eröffnet Döblin seine eigene kassenärztliche Praxis im Berliner
Osten. In den Kriegsjahren (1914-1918) ist er als Militärarzt tätig. Diese Erfahrungen
des Arbeits- und Großstadtlebens in Berlin sind von entscheidender Bedeutung für die
Gestaltung und den Inhalt des Buchs Berlin Alexanderplatz.
23 Döblin: Leben und Werk in Erzählungen und Selbstzeugnissen, S. 141-142.24 Matthias Prangel: Materialien zu Alfred Döblin, “Berlin Alexanderplatz”. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 43.
13
2.1 Rahmen und Struktur des Romans: Prolog und Epilog
Im Prolog des Romans Berlin Alexanderplatz werden schon einige Elemente, die sehr
wichtig sind im weiteren Lektüreverlauf vom Erzähler vorweggenommen. Der Erzähler
des Prologs, der “berichtet von einem ehemaligen Zement- und Transportarbeiter Franz
Biberkopf in Berlin”, gibt eine kurze Zusammenfassung des Geschehens.25 Durch diese
Information hat man schon eine gewisse Orientierung in der Geschichte und auf diese
Weise kann man sich vor allem auf deren Inhalt konzentrieren. Döblin beruft sich hier
auf die Idee der epischen Distanz, welche die kritische Einstellung des Lesers stimuliert.
Diese Technik der epischen Distanz beruht auf Brechts Theorien über das epische
Theater (Verfremdungseffekt), das “eine Identifikation mit dem auf der Bühne
dargestellten Geschehen und den akteuren verhindern [soll]”, sodass die Geschichten
“nicht suggestiv wirken, sondern der Erkenntnis dienen, das Bewusstsein des
Zuschauers verändert.”26 Ob der Erzähler im Roman Berlin Alexanderplatz vielleicht
auch das Bewusstsein der Leser verändern möchte, kann man aus dem Inhalt des
Prologs nicht schließen, aber dieses Problem versuche ich später in der
Schlussfolgerung im Zusammenhang mit dem Problem einer möglichen Kritik des
Erzählers in der Geschichte zu lösen.
Einerseits wird vom Erzähler schon berichtet, dass der Protagonist in der
Geschichte drei Schläge erhalten wird. Andererseits wird beim Leser durch
Unbestimmtheiten über die drei Schläge, ihren Ursprung und ihren genauen Inhalt doch
noch Spannung und Neugier beim Leser erweckt. Biberkopf wird bedroht mit “etwas,
das von außen kommt, das unberechenbar ist und wie ein Schicksal aussieht”; der
Erzähler setzt diese Unbestimmtheit später noch fort, denn es “wird ihm [Franz
Biberkopf] auf eine Weise, die ich hier nicht bezeichne, der Star gestochen.”27 Der
berichtende Ich- Erzähler, der außerhalb der Geschichte steht und der uns hier mitteilt,
25 Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2001, S.11. Für die ganze Arbeit habe ich diese kommentierte von Werner Stauffacher herausgegebene Gesamtausgabe des Textes benutzt. 26 Volker Meid: Das Reclam Buch der deutschen Literatur. Stuttgart: Philip Reclam jun. 2004, S.430.27 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.11.
14
wie es dem Protagonisten im Leben geht, formt plötzlich als Erzählerfigur eine Einheit
mit dem Leser28:
Wir sehen am Schluß den Mann wieder am Alexanderplatz stehen, sehr verändert, ramponiert, aber doch zurechtgebogen. Dies zu betrachten und zu hören wird sich für viele lohnen, die wie Franz Biberkopf in einer Menschenhaut wohnen und denen es passiert wie diesem Franz Biberkopf, nämlich vom Leben mehr zu verlangen als das Butterbrot.29 [Meine Hervorhebung, D.D.B.]
Aus dieser Stelle kommt deutlich hervor, dass dasjenige, was Biberkopf erlebt, jedem
passieren kann. Obwohl die Geschichte über ein Individuum berichten wird, hat sie
jedoch die Absicht, dem Leser auch über das Großstadtleben im Allgemeinen, über die
Masse sogar, etwas beizubringen. Außerdem wird das Exemplarische der Geschichte
betont (“es wird sich für viele lohnen”), was vielleicht vonseiten des Lesers, obwohl in
Widerspruch mit der Idee der epischen Distanz, zu einer gewissen Identifikation mit der
Hauptfigur führt. Der Erzähler will einerseits, dass man sich mit der Hauptfigur
identifiziert, dass man versteht, dass noch viele Andere wie Biberkopf in Berlin leben,
aber andererseits versucht er auch eine gewisse Distanz zur Hauptfigur (zur Geschichte)
zu bewirken. Auf diese Weise behält der Leser das Interesse und kann er zugleich durch
die Distanz eine bessere wohlerwogene Position gegenüber die Geschichte einnehmen.
Auch der ironische Ton des ganzen Prologs trägt zu dieser Diskrepanz zwischen
Identifikation und Distanzierung bei.
Vom Prolog gibt es einige Entwürfe und Reste von Frühfassungen. Diese
verdeutlichen manchmal den Inhalt und man bemerkt auch die Entwicklungen, die zur
endgültigen Fassung geführt haben. Eine dieser Frühfassungen fängt mit der sozialen
Lage des Protagonisten an: “Hier wird von einem Mann berichtet werden, der weder zu
den großen Helden noch den Volksführern gehört.”30 Hier wird auf die Identifikation
mit der Hauptfigur gezielt, aber trotzdem spielt die epische Distanz, die man auch in der
endgültigen Version findet, in den Frühfassungen eine noch größere Rolle, denn darin
wird dem Leser genauere Information über die drei Schläge mitgeteilt:
28 Christoph Dunz: Erzähltechnik und Verfremdung. Die Montagetechnik und Perspektivierung in Alfred Döblin, “Berlin Alexanderplatz” und Franz Kafka, “Der Verschollene”. Bern: Peter Lang AG, Europäischer Verlag der Wissenschaften 1995, S.16.29 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.11-12.30 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.817.
15
Er wird betrogen von einem Freund, er kommt wider seinen Willen mit Verbrechern zusammen, er will sich entziehen, und Franz Biberkopf verliert seinen Arm [...] Und damit nicht genug, man nimmt ihm seine Braut.31
In zwei anderen Versionen werden die Leser sofort am Anfang mit “Ihr” angesprochen
und sie werden vom Erzähler in die Stadt, “in eine Gegend Berlins, die einigen von
Euch gut vertraut ist, zum Alex, dem Alexanderplatz”, geführt.32 Diese Version des
Prologs gibt eine Beschreibung der raschen Veränderungen in der Stadt und am
Alexanderplatz. In der dritten Frühfassung des Prologs wird vom Erzähler eine
poetologische Reflexion, in der er sich selber und seine Geschichte mit einer
bestimmten Tradition vergleicht, eingeschoben. Der Erzähler – vielleicht in diesem Fall
auch der Autor – sagt:
[...] jetzt kommt die längst fällige Anklage gegen die Gesellschaft und den Staat Der Mann wird nicht anständig bleiben und die Gesellschaft hat mal wieder gezeigt, wie hilflos sie ist, wie schlecht sie ist und das ist endlich mal von dem Autor ein gutes soziales Buch. Das tut uns bitter not, davon kann es nicht genuggeben und der Autor hat endlich einmal seine Pflicht gegen die Gesellschaft erfüllt [...]33
Diese Passage hat als poetologische Reflexion einen ironisierenden Zweck, denn
obwohl die Leser vielleicht eine “Anklage gegen die Gesellschaft” oder “ein gutes
soziales Buch” erwarten, bleibt der Autor hinter den Erwartungen zurück. Es gibt im
ganzen Roman und auch an seinem Ende nämlich überhaupt keine direkte Verurteilung
der Gesellschaft. Wollte Döblin die Interpretation und die Lehre der Geschichte dem
Leser überlassen? Muss der Leser mit einer gewissen Distanz zur Geschichte selber zur
Einsicht gelangen? Der Epilog ist viel kürzer als der Prolog und er kann nicht wirklich
als eine Schlußfolgerung des Romans gedeutet werden. Eher wird auf eine neue Welt
und ein neues Leben des Protagonisten hingewiesen. Der neue Biberkopf kann die
raschen Veränderungen und Erneuerungen der Großstadt am Ende des Buchs besser
verarbeiten. Er versteht die Rolle des Schicksals jetzt besser. Das Schicksal des
Individuums in dieser neuen Welt und Großstadt wird vom Zufall bestimmt.
[...] wir ziehen in den Krieg, es ziehen mit uns hundert Spielleute mit, sie trommeln und pfeifen, widebum, widebum, dem einen gehts grade, dem andern gehts krumm, der eine bleibt stehen, der andere fällt um, der eine rennt weiter, der andere liegt stumm, widebum widebum.34
31 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.817.32 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.818.33 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.819-820.34 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.455.
16
Das Motiv des Krieges wird hier benutzt und meines Erachtens wird das
(Großstadt)Leben auf diese Weise als einen Kampf des Individuums gegen den Zufall
betrachtet. Das merkt man vor allem in der Formel “dem einen gehts grade, dem andern
gehts krumm.” Dasjenige, was den Großstädtern passiert, fällt ihnen zu und sie sind
deswegen vom Zufall abhängig. Die Stelle kann auch die Tatsache, dass die ganze
Geschichte sich immer wiederholen wird, betonen. Die Geschichte wäre dann wie ein
Teufelskreis zu interpretieren, denn am Ende steht Biberkopf genauso wie am Anfang
wieder in der Großstadt und obwohl der Protagonist aus seinen Erfahrungen gelernt hat,
muss er doch einen neuen Anfang schaffen, eine neue Begegnung und Konfrontation,
vielleicht einen Streit (vergleich Kriegsmotiv) mit der Gesellschaft aufnehmen.
17
2.2 Chaos und Ordnung: die Großstadt aus der Perspektive des Protagonisten
Am Anfang des ersten Buches wird Franz Biberkopf aus dem Gefängnis entlassen und
so steht er aufs Neue in der Großstadt Berlin. Das Chaos der Großstadt überwuchert
Franz am Anfang und es bildet einen starken Kontrast zum Gefängnisleben, das von
ihm eher mit Ordnung assoziiert wird. Vor allem im ersten Buch tritt das Bild des
Chaos am deutlichsten hervor. Biberkopf erfährt seine Entlassung gar nicht als Freiheit,
sondern als eine Strafe: “Die Strafe beginnt.”35 Dieser Satz spielt am Anfang des ersten
Buchs als einzige plötzliche Präsensform zwischen den Präteritumformen eine zentrale
Rolle. Die Strafe ist jetzt eigentlich vorbei, denn Franz hat vier Jahre im Gefängnis
gelebt, aber offensichtlich hat er diesen Aufenthalt außerhalb der Gesellschaft als eine
Art Schutz erlebt und deshalb ist die Entlassung für ihn jetzt eine Erfahrung, die ihn mit
dem wahren Leben, mit seiner kriminellen Vergangenheit, mit seiner eigenen
Persönlichkeit und vielleicht jetzt auch mit einem Trauma, nämlich mit der Erinnerung
an sein Verbrechen und an sein Leben vor seiner Verhaftung, konfrontiert. Obwohl die
ersten Sätze des ersten Absatzes eine Beschreibung der Geschehnisse darstellen, gibt es
doch Elemente, die stark auf die Erfahrungswelt des Protagonisten hinweisen:
Der schreckliche Augenblick war gekommen (schrecklich, Franze, warum schrecklich?). [...] Die schwarzen eisernen Torflügel, die er seit einem Jahre mit wachsendem Widerwillen betrachtet hatte (Widerwillen, warum, Widerwillen).”36
In dieser Stelle wird tiefer auf die Gedanken der Hauptfigur eingegehen, während
Biberkopfs Position gegenüber seine Entlassung zur Schau getragen wird. Die Fragen,
die in Klammern stehen, können nicht jemandem eindeutig zugeschrieben werden. Sie
können als eine Art Selbstreflexion des Protagonisten über seine eigene Lage und Angst
im Text fungieren. Zugleich könnten die Fragen als einen Kommentar des Erzählers
gedeutet werden. Das Gefühlsleben, die Angst und der Zweifel des ehemaligen
Sträflings kommen auf jeden Fall deutlich in dieser Passage zum Ausdruck. Die
Erfahrungswelt des Protagonisten wird weiter in der Geschichte noch stärker betont,
aber in erster Instanz wird diese Erfahrungswelt auf den Kontrast zwischen dem
Gefängnisleben und dem Stadtleben beschränkt. Das Gefängnisleben ermöglichte
35 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.15.36 Ebenda.
18
Biberkopf sich zu verstecken. In folgender Stelle sehnt er sich nach der Struktur des
Gefängnisses:
Die Gefangenen werden in Einzelhaft, Zellenhaft und Gemeinschaftshaft untergebracht. Bei Einzelhaft wird der Gefangene bei Tag und Nacht unausgesetzt von andern Gefangenen gesondert gehalten. Bei Zellenhaft wird der Gefangene in einer Zelle untergebracht, jedoch bei Bewegung im Freien, beim Unterricht, Gottesdienst mit andern zusammengebracht. Die Wagen tobten und klingelten weiter, es rann Häuserfront neben Häuserfront ohne Aufhören hin. Und Dächer waren auf den Häusern, die schwebten auf den Häusern, seine Augen irrten nach oben: wenn die Dächer nur nicht abrutschten, aber die Häuser standen grade. Wo soll ick armer Deibel hin, er latschte an der Häuserwand lang, es nahm kein Ende damit. Ich bin ein ganz großer Dussel, man wird sich hier doch noch durchschlängeln können, fünf Minuten, zehn Minuten, dann trinkt man einen Kognak und setzt sich. Auf entsprechendes Glockenzeichen ist sofort mit der Arbeit zu beginnen. Sie darf nur unterbrochen werden in der zum Essen, Spaziergang, Unterricht bestimmten Zeit. Beim Spaziergang haben die Gefangenen die Arme ausgestreckt zu halten und sie vor- und rückwärts zu bewegen.37
Am Anfang und am Ende dieser Stelle bekommt man den Eindruck, die Vorschriften
eines Gefängnisses zu lesen. Der strikte Verlauf und die deutliche und feste Struktur
dieses Gefängnislebens werden von Franz mit einem heimischen und sicheren Gefühl
assoziiert, denn zwischen diesen beiden Gefängnismontagen wird das Motiv der
abrutschenden Dächer als Element des Chaos verwendet. Beide Welten, die des
Gefängnisses und die der Großstadt, greifen ohne Übergang aufeinander ein. Dasjenige,
was Franz sieht, wirkt stark auf ihn ein. Die Bemerkung “aber die Häuser standen
grade” relativiert das Chaos und verdeutlicht, dass es sich hier um die sehr subjektive
Erfahrung Biberkopfs handelt, vor allem wenn man die Bemerkung mit dem Satz “seine
Augen irrten nach oben” verknüpft. Der Protagonist hat zuerst Selbstmitleid, aber
trotzdem versucht er sich zu erholen, wenn er denkt, dass die Situation sich in fünf oder
zehn Minuten mit einem Kognak bessern wird. Laut Sabine Hake ändert sich nach
diesem Ereignis einiges im Benehmen Biberkopfs: “From then on, his relationship to
Berlin vacillates between identification with the city’s strength and projection of his
anxieties onto the urban landscape.”38 Die Stadt Berlin ist nicht notwendigerweise der
Antagonist des Protagonisten. Einerseits identifiziert er sich mit der Kraft der Großstadt,
aber andererseits projiziert er seine Angste auf die Stadt.
37 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.16-1738 Sabine Hake: “Urban Paranoia in Alfred Döblin’s Berlin Alexanderplatz”. In: The German Quarterly, 3 1994, S.347-368, hier: S.352.
19
Wenn Biberkopf das erste Mal, am Anfang des Buchs, die Freiheit gegeben wird,
versucht er die chaotische Großstadt und ihr bedrohendes Gefühl in einem der
Hinterhöfe zu entfliehen. Hier fängt er “[k]riegerisch fest und markig” zu singen an:
“[e]s braust ein Ruf wie Donnerhall” und damit verabschiedet er sich von der Welt des
Gefängnisses, denn “[e]r sang mit so lauter Stimme, wie er im Gefängnis nie hätte
singen dürfen.”39 Das Lied, das er singt, heißt “Die Wacht am Rhein” und wurde 1840
von Max Schneckenbürger geschrieben. Es wurde danach als nationales Volkslied von
den deutschen Bürgern übernommen, obwohl der ursprüngliche Anlass für dieses Lied
die mögliche Bedrohung eines neuen Kriegs mit Frankreich war. Dass Döblin hier ein
Kriegslied verwendet, ist kein Zufall, denn die Kriegsmotive werden weiter im Text
noch häufiger auftauchen.40
Die Ordnung ist sehr wichtig für Franz und sie wird weiter im zweiten Buch, vor
allem im vierten und fünften Kapitel, eine wahre Obsession für ihn. Die beiden Kapitel
spielen vor allem in der Kneipe und handeln von einem Streit zwischen Franz und
einigen Kneipebesuchern. Wenn Franz ein Gedicht des Sträflings Dohms aufsagt, wird
es deutlich, dass Franz sich wiederum nach der Ruhe und Ordnung des Gefängnisses
sehnt: “[...] und die Zelle ist da, der Spazierhof, er kann sie ruhig ertragen, was mögen
jetzt für Jungens drinstecken; er geht jetzt selbst auf dem Spazierhof [...].”41 Nicht nur
das Gefängnisleben, sondern auch seine Entlassung sind noch in seiner Erinnerung. Aus
diesem Grunde singt er in der Kneipe wieder das Lied “Die Wacht am Rhein”, was von
den Kneipengästen nicht geschätzt wird: “Einer brüllt hinter Franz: ‘Heil dir im
Siegerkranz, Kartoffeln mit Heringsschwanz’”.42 Obwohl diese Stelle selbstverständlich
eine Parodie ist, ist es doch bemerkenswert, dass hier wieder das Lied “Heil dir im
Siegerkranz”, genau so wie im früheren Text “Östlich um den Alexanderplatz” (1923),
auftaucht. Wenn Franz seine Wut gegenüber den anderen Kneipengästen zu beherrschen
versucht, wird das Motiv der rutschenden Dächer und der einstürzenden Häuser wieder
39 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.18.40 Das Singen Biberkopfs in Berlin Alexanderplatz zeigt viele bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit einem Abschnitt aus einem früheren Text Döblins mit dem Titel “Östlich um den Alexanderplatz”. Dieser Text verfasste Döblin unter dem Pseudonym Von Linke Poot im Jahre 1923. In diesem Text singt ein junger Mann “Heil dir im Siegerkranz”, ein nationales Lied, das von 1871 bis 1918 als kaiserliche Hymne des deutschen Reiches bekannt war. Siehe: Doblin: Leben und Werk in Erzählungen und Selbstzeugnissen, S.144. 41 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.90.42 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.96.
20
vom Erzähler benutzt. Franz erlebt diese schreckliche Erfahrung aufs Neue: “Die
Häuser, die Häuser wollen wieder einstürzen, die Dächer wollen über ihn her [...].”43
Ordnung und Ruhe werden in den Kneipenszenen und auch am Anfang des
zweiten Buchs mehrere Male mit dem Paradies verknüpft. Die sehr idyllische
Beschreibung des Paradieses am Anfang des zweiten Buchs zeigt eine ideale und
perfekte Welt (“keiner quälte den andern”), in der das Leben wie ein Märchen mit der
bekannten Formel “[e]s lebten einmal”dargestellt wird.44 Wenn Franz mit völkischen
Zeitungen handelt, lautet der Grund: “[e]r hat nichts gegen die Juden, aber er ist für
Ordnung. Denn Ordnung muß im Paradiese sein, das sieht ja wohl ein jeder ein.”45 Der
Reim im letzten Satz veranschaulicht die Einfachheit seines Vornehmens, genauso wie
das Paradies uns am Anfang des zweiten Buchs als eine einfache Welt geschildert wird.
Wenn der Streit in der Kneipe auf die Spitze getrieben wird, wird durch die
Märchenfassung der Bibel, die plötzlich vom Erzähler eingeschoben wird, die
Spannung erhöht: “[e]s lebten einmal im Paradiese zwei Menschen, Adam und Eva.
Und das Paradies war der herrliche Garten Eden. Vögel und Tiere spielten herum.”46
Nach dieser Passage beruhigt Biberkopf sich und der Stuhl, den er hochgehoben hatte,
ist ihm aus der Hand gefallen. Die ideale Welt Biberkopfs, in der Ruhe und Ordnung
herrscht, steht dem Großstadtleben, mit seiner Geschwindigkeit, seinem Chaos, seinen
raschen Änderungen und seiner Unpersönlichkeit gegenüber.
Im Laufe des Romans ändert sich einiges in Hinsicht auf dieses Paradies– und
Dächermotiv. Nach den erwähnten Stellen lassen die Paradiesmontagen nach. Das Ende
des Buchs steht dem Anfang und den anderen Stellen der abrutschenden Dächer
gegenüber: “Die Häuser halten still, die Dächer liegen fest, er kann sich ruhig unter
ihnen bewegen, er braucht in keine dunklen Höfe zu kriechen.”47 Es gibt endlich
Ordnung im Leben Biberkopfs: “Und was er dann tut? Er fängt langsam an, auf die
Straße zu gehen, er geht in Berlin herum.”48 Diese Stellen sind sehr kontrastiv mit dem
Anfang des Buchs, denn am Ende herrscht, zumindest im Kopf des Protagonisten,
Ordnung statt Chaos. Nachdem Franz den Arm verloren hat, erinnert er sich wie er
damals Angst hatte vor dem chaotischen Großstadtleben: “Das war einmal, mein Junge.
43 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.95.44 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.49.45 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.82.46 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.95.47 Doblin: Berlin Alexanderplatz, S.447.48 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.448.
21
Tegeler Gefängnis, Allee schwarzer Bäume, die Häuser wackeln, die Dächer wollen
einem aufn Kopf fallen und ich muß anständig werden!”49
Georg Simmel stellt in seiner sozio- historischen Großstadtanalyse fest, dass das
Individuum in der Großstadt mit unzählbaren Eindrücken überladen wird. Franz
Biberkopf erfährt den Unterschied zwischen Gefängnis und Großstadt als ein Kontrast
zwischen Ordnung und Chaos, bei dem die vielen Eindrücke ihm deutlich überwuchern:
Man mischt sich unter die andern, da vergeht alles, dann merkst du nichts, Kerl.Figuren standen in den Schaufenstern in Anzügen, Mänteln, mit Röcken, mit Strümpfen und Schuhen. Draußen bewegte sich alles, aber – dahinter – war nichts! Es – lebte – nicht! Es hatte fröhliche Gesichter, es lachte, wartete auf der Schutzinsel gegenüber Aschinger zu zweit oder zu dritt, rauchte Zigaretten, blätterte in Zeitungen. So stand das da wie die Laternen – und – wurde immer starrer. Sie gehörten zusammen mit den Häusern, alles weiß, alles Holz.50
Die zahlreichen Eindrücke werden wohl von Franz auf irgendeiner Weise
wahrgenommen, aber er kann keine deutliche Unterschiede mehr machen und deswegen
sind alle Eindrücke ihm fast gleichgültig. Menschen und ihr Leben werden zu einem
“Es” zurückgeführt und werden mit Laternen verglichen. Meiner Meinung nach ist
dieses “Es” ein Verweis nach der unpersönlichen Masse und der Unpersönlichkeit im
Allgemeinen, die trotzdem zugleich auch eine Art Schütz bietet, denn man kann sich
“unter die andern” mischen. Hier kommt die Diskrepanz zwischen Individuum und
Masse, zwischen Selbstständigkeit und Zugehörigkeit schon zum Ausdruck. Diese wird
weiter noch ausführlich behandelt werden.
Der Kontrast zwischen Chaos und Ordnung im dritten Kapitel des ersten Buchs,
wenn Franz die Geschichte des alten Zannowichs hört, wird fast genau so wie bei
Simmel mit dem Landes- und Großstadtleben verknüpft:
Die einen gehen von der Stadt aufs Land, die andern vom Land in die Stadt. Auf dem Land ist mehr Ruhe, die Leute drehen jedes Ding herum und herum, Ihr könnt reden stundenlang, und wenn Ihr Glück habt, habt Ihr ein paar Pfennige verdient. In der Stadt nun, es ist auch schwer, aber die Menschen stehen dichter beieinander, und sie haben keine Zeit. Ist es nicht der eine, ist es der andere.51
In dieser Stelle wird vor allem betont, dass die Großstädter, obwohl sie nah aufeinander
leben, keine Zeit für einander haben. Simmel wurde noch weiter hinzufügen, dass “die
körperliche Nähe und Enge die geistige Distanz erst recht anschaulich macht” und
49 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.253.50 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.16.51 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.22-23.
22
außerdem, dass “man sich unter Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als
eben in dem großstädtischen Gewühl.”, in dem das Individuum noch stärker fühlt, wie
es ohne Unterschied in der Masse aufgeht.52
2.3 Die Großstadt als Protagonist
52 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S.31.
23
Das erste Buch des Romans, das den Leser mit einer – zumindest aus der Perspektive
Biberkopfs – chaotischen Großstadt konfrontiert, die mit ihren unzählbaren Eindrücken,
ihrer Geschwindigkeit und ihrer Unpersönlichkeit das Leben des Individuums bedroht,
steht dem zweiten Buch, das dem Leser eine objektivere Darstellung und ein
Nebeneinander von Tatsachen und Ereignissen der Großstadt präsentiert, gegenüber. Im
zweiten Buch wird die Großstadt Berlin als selbstständige Größe, das heißt als
autonomes System vorgestellt. Die Stadt ist in ihrer Existenz nicht abhängig vom
Protagonisten. Während die Montage im ersten Buch vor allem dem Psychologischen
diente, wird sie am Anfang des zweiten Buchs die dominante Erzähltechnik.53 Die
verschiedenen Textmaterialien der Stadt – Schlagzeile von Zeitungen, Vorschrifte,
Werbung und Ikone – die im zweiten Buch zusammengetragen werden, führen zu einem
Bild eines geordneten Systems. Auch das vierte, fünfte und siebente Buch fangen mit
Beschreibungen der Großstadt als System verschiedenartiger, ökonomischer und
sozialer Knotenpunkte an. So kann man im ersten Kapitel des fünften Buchs folgende
Stelle finden:
Loeser und Wolff, Berlin-Elbing, erstklassige Qualitäten in allen Geschmacksrichtungen, Brasil, Havanna, Mexiko, kleine Trösterin, Liliput, Zigarre Nr.8, das Stück 25 Pfennig, Winterballade, Packung mit 25 Stück, 20 Pfennig, Zigarillos Nr.10, unsortiert, Sumatradecke, eine Spezialleistung in dieser Preislage, in Kisten zu hundert Stück, 10 Pfennig.54
An dieser Stelle wird vor allem der Betrieb eines ökonomischen Knotenpunkt
beschrieben und dabei kommt auch die Bedeutung der Geldwirtschaft in der Großstadt
zum Ausdruck. Die Leser, wie die Großstädter, bekommen viele Information, die sie
wahrscheinlich nicht verarbeiten können. Diese Tatsache ähnelt Simmels Betrachtung
über die zahlreichen Eindrücke, die oft vom Individuum in der Großstadt ignoriert
werden. Hermann Kesten vergleicht in seiner Studie Verboten und Verbrannt die
verschiedenen Netzwerke der Großstadt mit dem Nervensystems eines Großstädters:
Wie die Gedanken der Betroffenen, die mal an diesem, mal an jenem Eindruck sich abstoßen, fortwirkend Verbindungen schaffen zu Nahem und Fernem, genauso ist die Stadt von Verkehrsnetzen, Lichtleitungen, Telefonsträngen und einem vielmaschigen Nexus menschlicher Beziehungen durchdrungen. Kaum minder empfindlich als ein Nervensystem, warten sie nur darauf, an irgendeiner
53 David B. Dollenmayer: “An Urban Montage and Its Significance in Döblin’s Berlin Alexanderplatz”. In: The German Quarterly 53, 3 1980, S.317-336, hier: S.320-321. 54 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.166.
24
Stelle berührt zu werden, um hier und, sogleich weiterleitend, an vielen ferneren,oft unvorhersehbaren Stellen aufzuzucken.55
Im zweiten, vierten, fünften und siebenten Buch des Romans wird die Stad als “ein
diffizeles Netzwerk feiner aufeinander abgestimmter, auf Kalkulierbarkeit angelegter
Wechselwirkungen” geschildert, während im ersten Buch die Stadt in “seiner Reizfülle
und seiner Türbulenzen chaotisch, zusammenhanglos, bedrängend und bedrohlich für
den einzelnen”, dargestellt wird.56
Durch die Montagetechnik einerseits, der innere Monolog und die erlebte Rede,
die an manchen Stellen auftreten, andererseits, gibt es zwei große Erzählebenen, die
sich überschneiden:
[…]die zwei Erzählebenen, die personale psychologische und die objektive der neuen Welt, sind hier zu einem einzigen Erzählstrang verbunden, zu einer Realität, die den Menschen von seiner Außenwelt nicht mehr unterscheidet.57
Es gibt oft im Roman keine deutliche Trennung mehr zwischen der subjektiven
Erfahrung der Welt, in der der Erzähler Franz Biberkopfs Gedanken und Psychologie
beschreibt, und der objektiven Welt. Der Erzähler führt den Leser durch die Großstadt,
deutet auf ein anderes Leben als dessen Biberkopfs hin. Auf diese Weise wird die
Großstadt genauso wie Franz Biberkopf eine autonome Hauptfigur in der Geschichte. .
Die Großstadt tritt außerdem im Roman als Hure Babylon auf den Vordergrund, aber
auf diese Symbolik werde ich im Teil über die Gewalt und den Untergang in der
Großstadt tiefer eingehen (siehe 2.6.). Fast verliert der Erzähler Franz Biberkopf aus
dem Auge, aber dann, als wäre es Zufall, gerät man wieder in der Nähe des
Protagonisten und man vertieft sich weiterhin in seine Gedanken.
2.4 Intellektualität und Geldwirtschaft
55 Hermann Kesten: Verboten und verbrannt. München: Kindler 1947, S.110.56 Peter Bekes: Alfred Döblin. Berlin Alexanderplatz. München: Oldenbourg 1995, S.65-66.57 Dieter Forte: “Ein Nachwort”. In: Berlin Alexanderplatz. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1999, S.483-490, hier: 486.
25
Die zahlreichen Eindrücke, die Chaos im Kopf Biberkopfs verursachen, werden laut
Simmel von den Großstädtern einerseits mit dem Verstand aufgenommen und
verarbeitet, aber andererseits werden viele der Eindrücke einfach ignoriert, was
letztendlich zu einer Entwertung aller Dinge führt. Außerdem werden viele Werte dem
finanziellen quantitativen Wert gleichgesetzt. Die Intellektualität und die Geldwirtschaft
sind sehr wichtig im dritten Kapitel des ersten Buchs. Im ersten Kapitel, nachdem Franz
das Lied “Die Wacht am Rhein” gesungen hat, wird vom Juden schon auf eine direkte
Weise auf die Geldwirtschaft hingedeutet: “Ihr habt schön gesungen. Ihr habt wirklich
schön gesungen. Ihr könntet Gold mit einer Stimme verdienen, wie Ihr habt.”58
Eigentlich versucht der Jude mit dieser Aussage Biberkopf nur zu beruhigen, aber
trotzdem fällt auf, wie der Jude sofort das Finanzielle betont.
Die Geschichte, “Belehrung durch das Beispiel des Zannowich”, die der Jude
Nachum dem Protagonisten erzählt ist eine Parabel, “eine lehrhafte Erzählung, die wie
die Fabel einen Vorgang aus einem anderen Vorstellungsbereich veranschaulicht.”59
Diese Parabel erfüllt jedoch die lehrhafte Funktion für Franz nicht und das wird, wie ich
glaube, noch vor dem Erzählen der Geschichte, anhand eines montierten Bibelzitats des
Propheten Jeremia verdeutlicht: “Sprach Jeremia, wir wollen Babylon heilen, aber es
ließ sich nicht heilen.”60 Biberkopf will eigentlich nicht vom Juden geholfen oder
geheilt werden. Der erste Teil der Parabel handelt vom alten Zannowich, der durch
seinen Schwindel und Betrug Geld verdient hatte. Dabei wird sofort die Wichtigkeit des
Verstands erwähnt:
Er hat ä Geschäft daraus gemacht, daß die Leute in der Stadt keine Zeit haben und unterhalten sein wollen. Er hat sie unterhalten. Es hat sie schweres Geld gekostet. Ein Betrüger, ein Falschspieler der alte Zannowich, aber einen Kopf hat er gehabt.61
Die Geschichte des alten Zannowich geht in die des jungen Stefan Zannowich über. Er
kann dank seines Vaters studieren und sich ein besseres Leben erschaffen, denn wenn er
reist, hält er sich immer für einen anderen als Stefan Stannowich. Er sagte den Leuten
über sich und seine Familie genau das, was sie hören wollten. Auf diese Weise war er
einmal Graf, Fürst, Adliger und Baron Warta. Aus dieser Geschichte soll Franz vor
allem eine Lehre ziehen: “Aber die Hauptsache am Menschen sind seine Augen und 58 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.18.59 Kurt Rothmann: Kleine Geschichte der deutschen Literatur. Stuttgart: Philipp Reclam jun 2001, S.81.60 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.21.61 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.23.
26
seine Füße. Man muß die Welt sehen können und zu ihr hingehn.”62 Der Jude will
Biberkopf die Augen aufmachen, aber Biberkopf will nicht sehen, vor allem will er
seine Schuld nicht einsehen. Dass er seine Schuld nicht erkennt, merkt man vor allem
wenn Eliser, der andere Jude, die Geschichte des Zannowichs weiter bis zum schlechten
und furchtbaren Ende erzählt. Er sieht Stefan Zannowich und sich selber als ein Opfer
eines Systems:
Da, kucken Se her, meine Hose. So dick war ich, und so steht sie ab, zwei starkeFäuste übereinander, vom Kohldampfschieben. Alles weg. Die ganze Plautze zum Deibel. So wird man ruiniert, weil man nicht immer so gewesen ist, wie man seinsollte. Ich gloobe nicht, daß die andern viel besser sind. Nee, det gloob ick nicht. Verrückt wollen sie eenen machen.63
Franz empfindet sich als Opfer der Gesellschaft und hat, auch wenn er später die
Schicksalschläge erlebt, vor allem viel Selbstmitleid. Die typische Distanz und das
Misstrauen zwischen Großstädtern, die Simmel betont, kommen auch, wenn Eliser, vor
und nach der Vervollständigung der Zannowichgeschichte, Nachum fragt, warum dieser
den Fremden, “einen Zuchthäusler”, zu seinem Haus mitgebracht hat, zum Ausdruck.64
Trotz seines Misstrauens gegenüber Franz, teilt Eliser ihm doch noch die Lehre, die das
Ende der Geschichte enthält, mit: “Man kann manchmal nicht alles, was man möchte, es
geht manchmal auch anders.”65 Diese zweite Lehre bekommt Franz aber nicht mit, denn
wenn er sich von den Juden verabschiedet, ist er entschlossen in den Kampf zu ziehen,
“(Luft muß man sich machen, Luft, Luft und weiter nischt)” und er hat nur die erste
Lehre im Kopf: “Sie haben doch erzählt von die Füße und die Augen. Ick habe die
noch. Mir hat die keener abgehauen.”66 Biberkopf will die Stadt erobern, will zu den
Menschen gehen und doch anständig sein. Er will jedoch seine Schuld nicht sehen oder
erkennen und ist noch immer blind für die zweite wichtige Lehre. Diese Blindheit wird
auch im Laufe des Buches noch einige Male betont.
In einer früheren Fassung des ersten Buches wird vom Juden auch eine Geschichte
erzählt, aber sie handelt nicht von dem jungen und dem alten Zannowich, sondern von
Napoleon und von der Art und Weise, in der er die Macht ergriffen hat. Wiederum
taucht die Idee, dass man sich nicht fürchten soll, auf: “der fürchtete sich nicht vor
62 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.25.63 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.29-30.64 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.3065 Ebenda.66 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.31.
27
Menschen und nicht vor Dingen. Er war ein sehr großer Mann, wenn auch etwas klein
von Statur.”67 Trotz seiner Statur ist er doch von größter Bedeutung für die Geschichte
Frankreichs und Europas gewesen. Der Jude will Franz zeigen, dass er nicht der Einzige
ist, der glaubt, nicht weitergehen zu können. Sogar der große Napoleon gehört zu dieser
Gruppe, aber Napoleon ist sich dessen bewusst geworden, dass er nicht der Einzige ist,
der sich fürchtet, der es nicht wagt weiter zu gehen. Er hat dieses Bewusstsein benutzt:
“Und warum ist er Kaiser geworden? Ich werd es Euch sagen! Weil andere – auch nicht
gekonnt haben.” Auch in dieser Geschichte gibt es die Lehre, dass man zu den
Menschen gehen soll, denn alle haben Angst. Ebendiese hat Napoleon zu benutzen
gewusst, denn durch die Angst der Soldaten konnte Napoleon, der Ordnung und Ruhe
versprochen hatte, an die Macht kommen:
Bis die Soldaten Angst bekommen haben und meinten, es wäre doch besser, mit Napoleon zu gehen. Warum? Ach, da gab es noch Soldaten hinter ihnen in der Stadt, die hielten zu dem General, und da dachten sie: es wird gefährlich, wenn die kommen aus der Stadt und fangen mit uns an. [...] Er ist noch in derselben Nacht Direktor von Frankreich geworden. Das ist die große Tat Napoleons, von der in der Geschichte steht. Was steckt dahinter? Die Furcht der Soldaten. Braucht einer,ein großer Held zu sein.68
Angst ist dasjenige, was Napoleon hinter sich gelassen hat und das war seine Größe, das
hat ihn von den Soldaten unterschieden. Auch der alte Zannowich, Stefan Zannowich
und Franz Biberkopf wollen sich von den Andern unterscheiden. Dieses
Unterschiedsbedürfnis wurde von Georg Simmel als ein Merkmal des Großstadtlebens
gedeutet(siehe Einleitung). Die Betonung, dass man trotz dieses Bedürfnisses zu den
Menschen gehen soll, ist sowohl in der Zannowich- als auch in der Napoleongeschichte
sehr wichtig. Das bringt uns zur Frage, warum Döblin in der endgültigen Fassung seines
Romans die Zannowichparabel der Napoleongeschichte vorgezogen hat. Die Wahl, die
der Autor hier getroffen hat, dient dem exemplarischen Charakter des Romans und der
Idee, dass dasjenige, was anderen passiert, jedem passieren kann. Napoleon ist in dieser
Hinsicht eine zu große Figur, während Stefan Zannowich, zumindest am Anfang, mehr
dem kleinbürgerlichen Milieu angehört.
Franz schätzt nach der Erfahrung mit den Juden die Kunst der Rede sehr:
“Biberkopf aber zog es unwiderstehlich zu dem Redner. ‘Meck, das ist ein Redner, ein
67 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.821.68 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.822.
28
Mann, wie gemacht für die Welt.’”69 Die Idee, nicht bloß von der Welt aufgelöst zu
werden, sondern eine bedeutende Rolle zu spielen, ist hier anwesend. Ein wenig später,
wenn Franz seine neue Lebensphilosophie mitteilt, kann man wiederum merken, wie
wichtig die Intellektualität für ihn ist: “Die Hauptsache ist, Kopf haben, und daß man
ihn gebraucht, und daß man weiß, was um eenen los ist, daß man nicht gleich
umgeschmissen wird.”70
Simmel hat in seinem Beitrag über die Großstadt die Intellektualität und die
Geldwirtschaft miteinander verknüpft. In Berlin Alexanderplatz spielt das Geld im
Leben Biberkopfs eine bedeutende Rolle. Im ersten und zweiten Buch wird in einigen
Kapitelüberschriften deutlich auf die Geldwirtschaft hingewiesen. Nachdem Franz die
Idee, anständig zu sein, aufgegeben hat, wird ihm das Geld, ob ehrlich verdient oder
nicht, noch viel wichtiger. Im folgenden Abschnitt aus dem sechsten Buch werden der
Verstand und das Geld von Franz und Willi miteinander verknüpft:
[...] ‘Nee viel machen kannste nich. Aber wenn du schlau bist, kannste doch noch was. Wenn ich dir zum Beispiel täglich was gebe, was zu verkoofen oder unter der Hand abzusetzen und du hast gute Freunde und ihr könnt dich halten, dann setzt du das ab und du verdienst schön mit.’ Und das will Franz. Durchaus will er das. Er will auf eigene Beine stehen. Was rasch Geld bringt, will er. Arbeiten, Quatsch. [...] Geld her, Geld verdient, Geld braucht der Mensch.71 [Meine Hervorhebung, D.D.B]
Franz glaubt nicht mehr an eine gute richtige Arbeit, denn er will nur Geld verdienen
und so möchte er vor allem Selbstständigkeit gewinnen. Auf diese Weise gerät er noch
tiefer im kriminellen Milieu und dadurch erhält er schließlich den letzten und dritten
Schlag, in der seine Freundin Mieze von Reinhold ermordet wird.
2.5 Die Großstadt als Ort der Kriminalität
Die Haupthandlungen der Geschichte finden auf dem Alexanderplatz, Rosenthaler Platz
und in Kneipen statt. Als Biberkopf Reinhold in einer der Kneipen begegnet, gerät er in
69 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.61.70 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.63. 71 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.253.
29
ein kriminelles und kleinbürgerliches Milieu. Am Anfang hat Franz als Hauptziel,
anständig zu bleiben. Im zweiten Buch verdient er zuerst Geld als
Schlipshalterverkäufer und danach handelt er mit rechtsradikalen Zeitungen. Wenn er
seine Sympathien für die Faschisten anhand seines Bedürfnisses nach Ruhe und
Ordnung verteidigt, wird wieder deutlich, dass er sich eigentlich nach der strukturierten
Welt des Gefängnisses sehnt. Der Leser erfährt von dem Verbrechen, das Biberkopf ins
Gefängnis gebracht hatte, aber die Reaktion des Protagonisten kann man schon auch im
Buch entdecken. Sie deutet darauf hin, dass er seine Schuld für den Mord an seiner
damaligen Freundin Ida zu ignorieren und zu verdrängen versucht:
Ein großes Glück, in diesen Mauern zu wohnen, war aber bloß Totschlag,Körperverletzung mit tödlichem Ausgang, war nicht so schlimm, ein großerSchuft war ich geworden, ein Schubiack, fehlt nicht viel zum Penner.72
Franz hat von dieser Erfahrung nichts gelernt, denn die Betonung, dass es “bloß
Totschlag, Körperverletzung mit tödlichem Ausgang” war, objektiviert nicht nur seine
Tat, sondern minimalisiert auch die Ernsthaftigkeit seines Verbrechens. Das letzte
Kapitel des zweiten Buches führt diese Idee noch weiter:
Franz hat seine Braut erschlagen, Ida, der Nachname tut nichts zur Sache, in der Blüte ihrer Jahre. Dies ist passiert bei einer Auseinandersetzung zwischen Franz und Ida, in der Wohnung ihrer Schwester Minna, wobei zunächst folgende Organedes Weibes leicht beschädigt wurden: die Haut über der Nase am spitzen Teil und in der Mitte, der darunter liegende Knochen mit dem Knorpel, was aber erst im Krankenhaus bemerkt wurde und dann in den Gerichtsakten eine Rolle spielte, ferner die rechte und linke Schulter, die leichte Quetschungen davontrugen mitBlutaustritt.73 [Meine Hervorhebung, D.D.B]
Die Stelle gibt eine sehr detaillierte Beschreibung der Verletzungen, die Ida hatte,
nachdem Franz sie erschlagen hatte. In der Beschreibung gibt es überhaupt keine
Sensitivität oder Feinfühligkeit und der Tod Idas wird auch hier, aber dieses Mal nicht
von Franz, sondern vom Erzähler, objektiviert. Durch die Gefüllosigkeit gegenüber
diesem Ereignis, tritt die Unpersönlichkeit in den Vordergrund, denn Idas “Nachname
tut nichts zur Sache”. Auf diese Weise wird sie nur als unwichtigen Teil eines
Prozesses, als Teil der Masse dargestellt. Dadurch wird ihr Tod eine reine Sachlichkeit.
Die Beschreibung geht noch weiter und dem Leser wird mitgeteilt, wie Biberkopf mit
einem Sahnenschläger Ida verletzt und tötet. Die Sprache, die benutzt wird, erinnert an
72 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.19.73 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.98-99.
30
die Sprache eines Gerichtsakts, daher der objektive, kalte und gefühllose Eindruck. Die
Kraft, mit der Franz mit dem Sahnenschläger geschlagen hatte, wird als eine
wissenschaftliche Berechnung erklärt und wird mit “den Gesetzen von Starre und
Elastizität, und Stoß und Widerstand” verknüpft:
Das zweite Bewegungsgesetz Njutens: Die Bewegungsänderung ist proportional der wirkenden Kraft und hat mit ihr die gleiche Richtung (die wirkende Kraft ist Franz, beziehungsweise sein Arm und seine Faust mit Inhalt). Die Größe der Kraft wird mit folgender Formel ausgedrückt [...].74
In dieser wissenschaftlichen Betrachtung gibt es nur objektive Tatsachen und überhaupt
kein Werturteil oder keine moralische Deutung. Sogar von Schuld ist hier nicht die
Rede. Nach meiner Ansicht kommt hier die typische Intellektualität und
Unpersönlichkeit, die Simmel mit dem Geistesleben der Großstadt assoziierte, zum
Ausdruck, denn der wissenschaftliche Diskurs bringt, als Produkt der Intellektualität,
eine kalte, gefühllose und amoralische Unpersönlichkeit mit sich.
Nach der Entlassung aus dem Gefängnis begeht Franz sofort einen Fehler, wenn er
als Schwarzfahrer in der Elektrischen sitzt: “’Noch jemand zugestiegen?’ Die Schupos
haben jetzt blaue Uniformen. Er stieg unbeachtet wieder aus dem Wagen, war unter
Menschen.”75 Die Tatsache, dass Franz schon an dieser Stelle, als er gerade aus dem
Gefängnis entlassen ist, ein kleines Verbrechen verübt, hat eine ironische Wirkung auf
das ganze Vornehmen der Anständigkeit. Die Freundschaft zwischen Franz und
Reinhold führt zu einem Raubzug, aber wie der Vorrede des fünften Buches zu
entnehmen ist, wird Franz in das “Verbrechen hineingerissen”.76 Letztendlich erkennt er
seinen Fehler, wenn er einsieht, dass er Schmiere stehen soll. Nachdem er vom
Reinhold aus dem Auto geworfen wird, vom Verfolgerwagen überfahren wird und
schließlich dadurch noch den Arm verliert, beschliesst er, dass er nicht länger anständig
sein will, dass er nicht arbeiten will, denn “Vons Arbeiten is noch keen Mensch reich
geworden, sag ich dir. Nur vom Schwindeln”.77 Er zieht das Schwindeln der
Anständigkeit vor. An dieser Stelle tritt auch das Motiv der Eroberung der Stadt hervor:
Es ist die Schlacht geschlagen wohl auf dem freien Feld, rätätätä, ratätäta, rätätätä, wir haben die Stadt gewonnen und das ganze viele schwere Geld genommen, geklommen, ratätätä, tätäta tätä!78
74 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.99.75 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.15.76 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.11.77 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.245.78 Ebenda.
31
Die Eroberung der Stadt hängt auf diese Weise nah mit dem Glauben an die
Kriminalität als Rettungsmittel im Leben zusammen. Auch in der Kapitelüberschrift
“Unrecht Gut gedeihet gut” kommt der Glaube an die Kriminalität und den Schwindel
zum Ausdruck. Das Thema Kriminalität und die Integration der Entlassenen in die
Gesellschaft, war zwischen 1920 und 1933 vor allem in Zeitungen wie die Berliner
Ilustrierte Zeitung ein sehr wichtiges und viel besprochenes Thema.79
2.6 Die Gewalt und die Apokalypse.
Franz Biberkopf versucht in der Großstadt anständig zu sein, aber das gelingt ihm nicht.
Ihm widerfahren drei Schläge, dann “stirbt” der alte Biberkopf und ein neuer Mensch
steht letztendlich wieder in der Großstadt. Die Industrialisierung der Großstadt wird
öfter als Quelle der Gewalt gegen das Individuum dargestellt. Die Dampframme, die am
79 Daniel de Vin: “Berlin Alexanderplatz und die Kriminalität im Berlin der zwanziger Jahre. Eine Vorstudie”. In: Germanistische Mitteilungen, 22 1985, S.41-47, hier: S.43-45.
32
Alexanderplatz Eisenstangen in den Boden rammt, steht Symbol für die Gewalt und die
andauernden raschen Änderungen der Industrialisierung, welche der Hilflosigkeit des
Individuums, des Großstadtlebens und der Großstadt selber gegenüberstehen:
Rumm rumm haut die Dampframme auf dem Alexanderplatz. [...] Ein Mann obenzieht immer eine Kette, dann pafft es oben, und ratz hat die Stange eins auf den Kopf. [...] Nachher ist sie klein wie eine Fingerspitze, dann kriegt sie aber noch eins, da kann sie machen, was sie will. [...] Alles ist mit Brettern belegt. Die Berolina stand vor Tietz, eine Hand ausgestreckt, war ein kolossales Weib, die haben sie weggeschleppt. Vielleicht schmelzen sie sie ein und machen Medaillen draus.80 [Meine Hervorhebung, D.D.B]
Die Hilflosigkeit wird mit dem Satz “da kann sie machen, was sie will” ausgedruckt und
obwohl von einer Stange die Rede ist, die von einer Dampframme in den Boden gehaut
wird, aber die wohl deutlich personifiziert wird, kann man diese Deutung durch die
Körpermetaphorik der Hilflosigkeit auf den Protagonisten und den Großstädter im
Allgemeinen übertragen. Die Einwohner sind den Änderungen und dem Schicksal der
Großstadt überlassen. Das Auditive der Sprache ist auch sehr wichtig in der Stelle der
Dampframme, denn man hat fast den Eindruck, dass man die Dampframme hört.
Weiterhin deutet das Berolinabild auf die ständigen Veränderungen in der Großstadt hin
und es zeigt, wie der Prozess von der alten zur neuen Stadt beinahe ohne großes
Aufsehen und vor allem ohne deutlichen Übergang stattfindet.81 Das Vernichten dieses
kulturellen Symbols hat jedoch einen Vorteil für die Empfänger der Medaillen, die aus
diesem Bild gemacht werden: des einen Tod, des andern Brot.
Das Motiv der Hure Babylon ist ein wichtiges mythisches Motiv, das die
Großstadt apokalyptisch vorstellt. Es stammt aus der Offenbarung des Johannes 17, 1-6,
und wird im Roman mehrfach wiederholt und mit dem Untergang des Protagonisten
verknüpft: “[...] die große Hure Babylon, die Mutter aller Greuel auf Erden. Das Weib
hat vom Blut aller Heiligen getrunken. Das Weib ist trunken vom Blut der Heiligen.”82
Die Hure Babylon symbolisiert die verführerische Stadt, die zum Untergang führt, denn
sie verführt “die Heiligen”, Leute wie Franz Biberkopf mit guten Vorsätzen, trinkt dann
deren Blut und nimmt ihnen das Leben. Sie macht das “anständig sein” und die
80 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.165.81 Wikipedia: “Alexanderplatz”.<http://de.wikipedia.org/wiki/Alexanderplatz#Berolina_.28nicht_mehr_vorhanden.29> Das Berolinabild wurde 1927 den Bau für die U-Bahn von ihrer Stelle vor dem Wahrenhaus Tietz weggenommen. 82 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.237
33
Unschuld des Individuums unmöglich. Das Trinken des Bluts kann man mit einem
Motiv des Bluts, das im Buch vom Erzähler oft wiederholt wird, zusammenbringen:
“Blut muss fließen, Blut muss fließen, Blut muss fließen, knüppelhageldick.”83 So wie
die Stadt Babylon ist auch Franz und eventuell die alte Stadt Berlin zum Untergang
verdammt:
Von Erde bist du gekommen, zu Erde sollst du wieder werden, wir haben gebauet ein herrliches Haus, nu geht hier kein Mensch weder rein noch raus. So ist kaputtRom, Babylon, Ninive, Hannibal, Cäsar, alles kaputt, oh denkt daran. Erstens habeich dazu zu bemerken, daß man diese Stadt jetzt wieder ausgräbt, wie die Abbildungen in der letzten Sonntagsausgabe zeigen, und zweitens haben diese Städte ihren Zweck erfüllt, und man kann nun wieder neue Städte bauen. Du jammerst doch nicht über deine alten Hosen, wenn sie morsch und kaputt sind, dukaufst neue, davon lebt die Welt.84
Diese Stelle beginnt mit einem Bibelzitat, das sofort hindeutet auf die Vergänglichkeit,
die im Rest des Zitats anhand klassischer Beispiele wie unter anderem Babylon, Rom
und Cäsar weiter ausgearbeitet wird. Der Verfall der Stadt, der auch einen Einfluss hat
auf die Einwohner, wird hier mit alten und kaputten Hosen verglichen. Durch dieses
Bild wird der Untergang der Stadt und des Individuums zu einer reinen Sachlichkeit
reduziert. Sie sind nur Teil eines Prozesses, haben “ihren Zweck erfüllt” und sind
einfach ersetzbar. Überdies sind all diese Prozesse, auch die zerstörende, genau das, was
die Welt aufrecht hält, denn “davon lebt die Welt”.
Im ganzen Roman gibt es viele Vorausdeutungen der Schläge, die auf den
Untergang oder auf den zumindest spirituellen Tod des Protagonisten hinweisen. Auf
diese Weise wird das Schnitter- motiv, das im Roman benutzt wird, immer kürzer, wenn
man sich dem Ende des Romans nähert. Das Schnitter- Motiv ist ein Gedicht aus der
Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn, die von Clemens Brentano und Achim von
Arnim herausgegeben wurde. Das Gedicht wollte dem Leser vor allem mitteilen, dass
der Tod jedem, jung und alt, unerwartet treffen kann. Im Roman Berlin Alexanderplatz
hat das Gedicht eine vorausdeutende Funktion, denn es taucht vor allem auf, wenn von
Reinhold die Rede ist. Das Schnitter- Motiv erscheint als ein deutlicher Verweis auf den
Tod Miezes und auf den Untergang des Protagonisten, auf die Gewalt und auf das
Unrecht, die Franz mit dem kommenden Schlag erleben wird. Der Tod bekommt dann
83 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.88.84 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.167.
34
später eine wichtige Rolle und Franz hat im neunten Buch einen Dialog mit ihm. Dieses
Gespräch wird in der Sekundärliteratur öfters als einen Totentanz gedeutet.85
Wenn Franz “zur Strecke gebracht” ist, empfängt er Bilder der Vergangenheit:
“Franz weint und weint, ich bin schuldig, ich bin kein Mensch, ich bin ein Vieh, ein
Untier”.86 Diese Stelle erinnert an die verschiedenen Schlachthofszenen im vierten
Buch. Die Kapitelüberschriften, die aus dem Prediger Salomon 3, 19 stammen, weisen
schon darauf hin: “Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt
er auch”.87 Später gibt es die Weitersetzung des ersten Satzes aus dem Prediger, “Und
haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr denn das Vieh”.88 Der Inhalt
des vierten und sechsten Kapitels ist geprägt von der Gewalt und von der Hilflosigkeit
der Tiere. Der Erzähler zeigt die Zahlen eines Viehmarkts und dann zieht “ein weißer
Stier” die Aufmerksamkeit auf sich:
Das Tier steht, gibt nach, sonderbar leicht gibt es nach, als wäre es einverstanden und willige nun ein, nachdem es alles gesehn hat und weiß: das ist sein Schicksal, und es kann doch nichts machen. [...] Da steht der aber hinter ihm, der Schlächter, mit dem aufgehobenen Hammer. Blick dich nicht um. Der Hammer, von dem starken Mann mit beiden Fäusten aufgehoben, ist hinter ihm, über ihm und dann: wumm herunter. 89
Der Stier wird auf kaltblütige Weise niedergemacht und er akzeptiert einfach seine
Lage, denn sie ist sein Schicksal. Diese Schicksalsergebenheit kann man auch bei Franz
Biberkopf, wenn er seine Schicksalschläge erhält, bemerken. In der Schlachthofszene
gibt es keine identifizierbaren Figuren, es gibt also eine Sphäre der Anonymität. Diese
symbolisiert die Übermacht der Großstadt und des Großstadtlebens und wie sie das
Individuum überwältigt. Der zweite Teil dieses Auszugs erzählt dem Leser, wie der
Hammer das Tier tötet und hat deutliche Ähnlichkeiten mit der Vorrede des siebenten
Buchs: “Hier saust der Hammer, der Hammer gegen Franz Biberkopf”.90 Auch die
Sprache “wumm herunter” erinnert an die Dampframme, welche die Stange in den
Boden haut. An dieser Stelle kommen verschiedene Elemente, die alle auf die Gewalt
des Großstadtlebens aufmerksam machen: das Schlachten, der Hammer und die
Dampframme. Die Formen der Gewalt sind alle Vorzeichen des Untergangs des
85 Peter Bekes: Alfred Döblin. ‘Berlin Alexanderplatz’, S.97.86 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.442.87 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.136.88 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.146.89 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.141. 90 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.301.
35
Protagonisten. Dieser ist der Übermacht der Industrialisierung und des Großstadtlebens
unterworfen. Die alte Stadt und das Individuum sind beide Opfer der ständigen
Veränderung. Sie verlieren sich in der typischen Anonymität, auf die bei Simmel schon
hingedeutet wurde und sind letztendlich zum Untergang verdammt.
3. So
Einleitung: Norbert Zähringer
Norbert Zähringer wurde 1967 in Stuttgart geboren und wuchs in Wiesbaden auf.
36
Nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann, studierte er noch Literatur –und
Theaterwissenschaft. 1991 zog er nach Berlin um und konnte nach fünf Jahren einige
Erzählungen und Kurzgeschichten in Zeitschriften und Anthologien veröffentlichen.
Eine dieser Kurzgeschichten, “Timing”, die 1998 in Sprache im technischen Zeitalter
erschien, ist ein Auszug aus dem Debütroman So, der drei Jahre später im Berliner
Alexander Fest Verlag erscheinen sollte. Sein zweiter Roman Als ich schlief wurde
2006 im Rowohlt Verlag veröffentlicht. Norbert Zähringer lebt heute mit seiner Familie
in Berlin.
Der Roman So erzählt mehrere Geschichten von verschiedenen Figuren, die alle
auf irgendeine Weise eine Beziehung zu einer Filiale der Vereinigten Banken AG
(VERBAG) haben. Diese Filiale, die eigentlich ein Baucontainer auf dem
Abbruchgelände einer ehemaligen Glühlampenfabrik im Osten Berlins ist, wird vom
Direktor der Bank am Anfang des Buchs offiziell eröffnet. Der Filialleiter, der gerade
eine Beförderung bekommen hat, ist Cordt Gummer, die Hauptfigur des Romans. Weil
die erwünschte Kundschaft jedoch ausbleibt, eröffnet Gummer einige Konten fiktiver
Kunden. Dadurch wird er nach einiger Zeit degradiert und muss im Keller der
VERBAG bei reduziertem Gehalt arbeiten. Eine zweite wichtige Figur im Roman ist
Willy Bein, ein Mann, der nach der Schließung der Glühlampenfabrik auf Rache sinnt.
Nach einem misslungenen Banküberfall in der Filiale Gummers versucht er sich via
einen Tunnel einen Weg zum Tresor der Bank zu graben. Dieser Tunnel wird jedoch ein
wahres Labyrinth für Willy. Am Ende des Buchs verbessert sich die Situation Willy
Beins, denn durch Zufall bekommt er einen neuen Job. Gummer verlässt die Bank, geht
in “die Freiheit” und verschwindet am Ende des Romans. Ein Element, das die
verschiedenen Geschichten zusammenhält, ist eine kubanische Drei-Peso-Münze. Diese
taucht bis zum Ende des Buchs verschiedene Male auf und ist an mancher Stelle ein
Knotenpunkt zwischen verschiedenen Figuren.
3.1. Rahmen und Struktur des Romans
Wie wir schon bei Berlin Alexanderplatz gesehen haben, kann die äußere Struktur des
Romans schon einige Merkmale der Geschichte vorwegnehmen. Auch bei So ist dies
der Fall. Das Buch fängt mit einem Motto von John Maynard Keynes (1883 – 1946) an:
37
“[i]n the long run, we are all dead.”91 Keynes war ein britischer Wirtschaftler, der oft als
Begründer der Makroökonomie betrachtet wird. Das Zitat, das Zähringer als Motto
benutzt, kommt aus dem Buch A Tract on Monetary Reform (1923). Man kann den Satz,
der unverbrüchlich mit Keynes verbunden ist, im dritten Kapitel des Buches “The
Theory of Money and the Foreign Exchanges” finden:
In the long run we are all dead. Economists set themselves too easy, too useless a task if in tempestuous seasons they can only tell us that when the storm is long past the ocean is flat again.92
Keynes ist gegen eine Laissez-faire Ökonomie (Adam Smith)93, die sich auf dem
Glauben, dass jedes ökonomische Problem auf die lange Sicht sich selber löst, basiert.
Laut Keynes soll man dasjenige, was in der Gesellschaft auf ökonomischer Ebene falsch
geht nicht nur beobachten, sondern man soll für eine aggressivere Politik optieren, so
dass man eingreifen kann und die ökonomischen Probleme unterdrücken und lösen
kann. Keynes kritisiert die Passivität der Laissez-faire Ökonomie. Er beruft sich auf die
Quantitätstheorie des Geldes, eine wirtschaftliche Theorie, “die eine kausale
Abhängigkeit des Preisniveaus (und damit des Geldwerts) von der Geldmenge
annimmt.”94 In einer Version der Quantitätstheorie sind die Geldmenge und der Preis
die einzigen Variablen, während die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes und das
Handelsvolumen als Konstanten betrachtet werden.95 Falls es dann eine Steigerung in
der Geldmenge gibt, werden die Preise erhöhen. Genau in diesem Prozess wollte
Keynes eingreifen, zum Beispiel durch eine artifizielle Anpassung der Geldmenge, in
der Absicht, die Preise beeinflussen zu können. Bei Keynes zielt dieser Einfluss vor
allem auf die interne Stabilität der Preise, die nach seiner Meinung zu einer blühenden
Makroökonomie führen.96 Es möge deutlich sein, dass man der Roman So durch das
Motto “In the long run, we are all dead” vor allem in der finanziellen und
ökonomischen Sphäre situieren kann.
91 Norbert Zähringer: So, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2006, S.4.92 John Maynard Keynes: A Tract on Monetary Reform. London: Macmillan 1923, S.80.93 Yousuf Dhamee: “Adam Smith’s Laissez-Faire Policies.” In: The Victorian Web. Literature, history & culture in the age of Victoria, 1996. <http://www.scholars.nus.edu.sg/landow/victorian/economics/laissez.html> [Stand: 12. Juli 2007]94 Wikipedia: “Quantitätstheorie”. <http://de.wikipedia.org/wiki/Quantit%C3%A4tstheorie> [Stand: 12. Juli 2007] 95 Die Formel, die dafür benutzt wird, lautet: P= M . V / Y (P= Preis, M= Geldmenge, V= Umlaufgeschwindigkeit, Y= Handelsvolumen). 96 Brad DeLong: “Monetary Reform. John Maynard Keynes, ‘A Tract on Monetary Reform’ ”. In: Unpublished Book Reviews, Februari 1996. <http://econ161.berkeley.edu/Econ_Articles/Reviews/monetaryreform.html> [Stand: 12. Juli 2007].
38
Das Buch enthält drei Teile: “Aussteiger”, “Cherchez la femme” und
“Thesauros”. Letztgenannter ist wiederum ein Verweis auf das Finanzielle, mehr
spezifisch auf das Bankwesen, denn “Thesauros” war in der griechischen Antike ein
Schatzhaus, in dem kostbare Gaben aufbewahrt wurden.97 Der Titel des ersten Teils
deutet darauf hin, dass der Anfang der Geschichte von Aussteigern, von denjenigen, die
ihre soziale und berufliche Position durch Degradierung oder Entlassung verlieren, von
Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, handelt. “Cherchez la femme”, der
zweite Teil, spielt auf einen Satz des Schriftstellers Alexandre Dumas aus dem Werk
Les Mohicans de Paris (1854) an. Zuerst bedeutete “sucht die Frau”, dass wenn es
irgendwo ein Problem gibt, öfters eine Frau diesem Problem zugrunde liegen muss, aber
später wurde die Bedeutung allgemeiner und lautet deshalb jetzt eher: Suche die
ursprüngliche Ursache deines Problems.98 Der zweite Teil des Buchs könnte also als
eine Suche nach den Ursachen oder nach dem Kern der Probleme, die im ersten Teil
“Aussteiger” vorgestellt wurden, gesehen werden. Wird der dritte Teil dann am Ende
der Geschichte eine eventuelle Lösung vorschlagen?
Das erste Kapitel des ersten Teils und das zweite Kapitel des dritten Teils sind
ähnlich, denn ihr Titel deutet auf eine bestimmte Zeit- und Platzangabe hin: “52° Nord
13° Ost, 10 Uhr 30” beziehungsweise “52° Nord 13° Ost, 10 Uhr 35”. Nur die Zeit hat
sich geändert und es ist fünf Minuten später. Dieser Zeithinweis rückt die Tatsache, dass
der Roman möglicherweise eine Zeitausdehnung der eigentlichen Geschehnisse ist, ins
Blickfeld. Der Roman hat auf jeden Fall keinen chronologischen Verlauf. Außerdem
weiß man nur am Ende, dass die Geschichte von einem unbeteiligten Ich-Erzähler,
einem Pförtner “mit einem offenen Auge aus Glas” erzählt wird.99
3.2. Versprechungen und Erwartungen
Cordt Gummer bekommt eine Beförderung, eine neue Position als Filialleiter im Osten
Berlins. Nach einer Woche hat Gummer noch immer keine Kunden und stellt sofort
einige Erwägungen an: “ [...] [Gummer] fragte sich, wie gut die Idee des Direktors
97 Wikipedia: “Thesauros”. <http://de.wikipedia.org/wiki/Thesauros> [Stand: 12. Juli 2007]98 Wikipedia: “Cherchez la femme”. <http://en.wikipedia.org/wiki/Cherchez_la_femme> [Stand: 12. Juli 2007].99 Zähringer: So, S.396.
39
gewesen war. Und – ob die Leute in dieser Gegend etwas gegen ihn hatten.”100 Dieser
Verdacht entwickelt sich weiter im Buch zu einer leichten Form der Paranoia. Nachdem
seine Mitarbeiterin Frau Hugendobel nach einiger Zeit nicht mehr auftaucht, bleibt
Gummer ganz allein im Baucontainer. Das Ausbleiben der Kunden ändert sich nicht
und der Erzähler äußert sich auf ironische Weise über die einsame Lage des
Protagonisten:
In allen Epochen gibt es Menschen, die sich, ihre sinnlose Existenz vor Augen, an irgendeinen Punkt der Erde begeben, um den verlorenen Sinn wiederzufinden, erleuchtet zu werden oder das große Nichts zu schauen. Meistens wählen sie dazu abgelegene Orte: Berge, Höhlen, Wüsten oder Ähnliches. Manche kommen nach Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten zurück, in ihren Augen der Glanz einer neuen Antwort, ihre dünnen Beine federn bei jedem Schritt, ihre langen Bärte wehen im Wind. Ihre Münder sind zu einem breiten Grinsen verzogen, und sie halten sich die leeren Bäuche vor Lachen, als hätten sie all die Zeit der Einsamkeit nur darauf verwandt, die Pointe eines bestimmten Witzes zu verstehen.101
Der Erzähler macht sich hier über die Situation Gummers lustig, denn die Erfahrung,
die Gummer hat, sollte dazu führen, dass er “den verlorenen Sinn” wiederfindet. Das
stereotypische Bild der Einsicht im Leben (“ihre langen Bärte”) wird mit dem
langsamen Verstehen eines Witzes verglichen und trägt zu dem ironischen Charakter
und Ton dieser Stelle bei. Man könnte diese Passage vielleicht auch mit der Lage des
Lesers verknüpfen, denn durch die Isolierung des Lesens und den Rückzug in den
abgelegenen Ort des Buches versucht er Antworte und Sinn zu finden, die ihm Einsicht
im Leben geben. Die Ironie wird mit einer Reproduktion eines van Gogh, die Gummer
lange Zeit betrachtet und fast analysiert, weitergeführt: “Und in eben diesem Moment
spürte er, daß das Bild etwas verbarg, etwas was ihn anging [...].”102 Gummer glaubt an
einer Art versteckter Bedeutung in diesem Bild, das etwas zu seinem Leben beitragen
könnte. Die Einsamkeit Gummers und wie diese fast zum Wahnsinn führt, werden auf
komische Weise mit einer apokalyptischen Vision vorgestellt: “Die Erde war wüst und
leer [...] vielleicht sind ja alle anderen schon längst tot, und ich bin der letzte, der noch
lebt?”103 Diese Idee, der letzte Überlebende zu sein, ist ein Thema, das häufig in der
Literatur benutzt wird.104 Im Falle Gummers hat der Gebrauch dieses Themas eine
100 Zähringer: So, S.14.101 Zähringer: So, S.15.102 Zähringer: So, S.16.103 Zähringer: So, S.17.104 Ein schönes Beispiel ist hier Arno Schmidt mit seiner Novelle Schwarze Spiegel.
40
ironisierende Funktion. Deutlich ist, dass die große Hoffnung, die Gummer auf seine
Stelle als Filialleiter gesetzt hat in einer großen Enttäuschung mündet, denn seine
Erwartungen werden keineswegs eingelöst.
Willy Bein, dem das ganze zweite Kapitel des ersten Teils gewidmet ist, hat
schon vom Anfang seines Lebens große Erwartungen. Sogar seine kleine Statur und
sein extrem großer Kopf haben nach seiner Ansicht ihre Funktion in dem größeren Plan
seines Lebens:
[...] jeden Rückschlag verstand er tief in seinem Inneren als Versprechen, das Leben halte noch etwas Großes für ihn bereit. [...] So konnte Willy, als ihmnach der achten Klasse nahegelegt wurde, die Schule zu verlassen, nur vermuten, daß in diesem schweren Gehirn unbekannte Talente schlummern mußten, für die die Welt bloß noch nicht bereit war.105
Willy Bein wird nicht zur Landesverteidigung zugelassen, aber selber glaubt er, dass er
zu wichtig ist, sodass “man ihn keinesfalls dem Risiko der Landesverteidigung
aussetzen wollte”.106 Durch seine Faszination für Maschinen und ihr Geräusch wird er
Maschinist in einer Glühlampenfabrik. Willy hat einen Job und heiratet letztendlich eine
sehr schöne Frau, aber dann wendet sich das Blatt, denn die Glühlampenfabrik wird
vermutlich von Südamerikanern aufgekauft und geschlossen. Die Enttäuschung nistet
sich zum ersten Mal in der Existenz Willy Beins ein: “Das Große war nicht eingetreten,
das Versprechen gebrochen; es gab nichts mehr, was ihn von den Anderen
unterschied.”107 Das Bedürfnis, sich von den Andern, von der Masse als Individuum zu
unterscheiden, tritt an dieser Stelle in den Vordergrund. Willy hat sich nicht mehr in der
Gewalt und fängt zu saufen an, bis letztendlich seine Frau, die er der Untreue
verdächtigt, ihn verlässt. Nachdem er dann erfährt, dass die VERBAG das
Fabrikgelände aufgekauft hat, sinnt er auf Rache:
Willy Beins verstreute Gedanken sammelten sich, und er ersann den ersten einerReihe von Plänen, die alle nur ein Ziel hatten: sich vom Leben das zurückzuholen, was ihm, wie auch immer, genommen worden war.108
Dieses Vorhaben ähnelt dem Plan Biberkopfs nach der Zannowichgeschichte im ersten
Buch in Berlin Alexanderplatz leicht. Obwohl Franz Biberkopf die Absicht hat
anständig zu sein, sieht er seinen Plan als einen Kampf gegen etwas Unbestimmtes,
während Willy Bein nicht anständig sein will und er sich doch auf irgendeine Weise am 105 Zähringer: So, S.19.106 Zähringer: So, S.20.107 Zähringer: So, S.22.108 Zähringer: So, S.30.
41
Unbestimmten, an einer Übermacht rächen möchte. Genau wie bei Gummer werden die
Erwartungen Willy Beins nicht erfüllt.
Manchmal verschiebt sich der Blick des Erzählers von den Hauptfiguren zu
Nebenfiguren oder von der Hauptgeschichte zu einer kleineren Geschichte. Immer
werden beide durch eine auf den ersten Blick nebensächliche Gegebenheit miteinander
verbunden. Piet Sternberg und der Blohfeld Automatenservice werden am Anfang der
Geschichte erwähnt und haben bis zum Ende überhaupt keine Beziehung zu einer der
Hauptfiguren. Am Anfang des Romans wird Piet Sternberg von Mandy Fischer für die
Reperatur eines Automaten angerufen. Wenn Sternberg am Ende des Romans das
Problem mit dem Automaten nicht lösen kann, repariert der dann nicht genannte Willy
Bein ihn. Dadurch bekommt letztgennanter einen Job bei dem Blohfeld
Automatenservice. Die Nebenfiguren der kleineren Geschichten sind oft auch frustriert
über die Weise, auf die ihre Hoffnung auf ein gutes Leben wie Schnee an der Sonne
schmilzt:
In den Wohnungen wohnten Angestellte, die bei ihrem Einzug davon ausgegangen waren, nur vorübergehend in der Stadt zu sein oder demnächst befördert zu werden, so daß sie sich etwas Besseres würden leisten können. Die meisten hatten sich in mindestens einem Punkt geirrt. Sie verbrachten Jahre und schließlich Jahrzehnte in ihren Übergangswohnungen, ab und zu luden sie sich gegenseitig zu Partys ein, was sie frustrierte, denn immer war es so, als würde man in seiner eigenen Wohnung feiern.109 [Meine Hervorhebung, D.D.B.)
Auf diese Weise wird verdeutlicht, dass die Protagonisten des Romans nicht die
Einzigen sind, die sich in ihren Erwartungen und in den Versprechungen, die der
Großstadt ihnen zu bieten schien, geirrt haben. Die “Übergangswohnungen” sind keine
Übergangsphase mehr, sondern sie sind die schreckliche Lage, in der sich ein großer
Teil der Großstädter in diesem Roman befindet. Diese Wohnungen könnten
symbolisieren, wie die Masse und die Gleichheit das Individuum unterdrücken und
einschließen, bis es fast das Bedürfnis sich zu unterscheiden verliert und es sich selber
schließlich als nichtig empfindet. Die Gleichheit der Wohnungen wird auf komische
Weise mit einer Passage, in der Gummer in die Wohnung eines Unbekannten hineingeht
und außerdem noch in dessem Bett schläft, auf die Spitze getrieben. Gummer schläft in
Harmels Bett, in einer “mit Peanuts-Comics bedruckte[n] Bettwäsche”.110 Gleich darauf
wird vom Erzähler eine Stelle dieser Peanutsserie, ein Dialog zwischen Schröder und
109 Zähringer: So, S.110.110 Zähringer: So, S.111.
42
Charlie Brown über Baseball montiert. Letztgenannter träumt von einem Homerun. Die
Bedeutung die Charlie Brown einem Homerun gibt, hat, wenn man sie auf Gummer
bezieht, eine sehr ironische Wirkung. Sie macht die Situation des Protagonisten, der im
Bett eines Unbekannten liegt, sehr lächerlich: “HOMERUN bedeutet, bei sich selbst
anzukommen.”111 Dieser Satz deutet auf eine Art Selbstkonfrontation, welche die
Großstädter beim Scheitern ihrer Träume und Erwartungen erleben, hin. Doch sollte
dieses Sinnbild nicht ausschließlich negativ interpretiert werden, denn die Vorstellung
“bei sich selbst anzukommen”, kann auch ein wahres Heimgefühl, einen endgültigen
Ausweg aus dem höllischen Leben, in dem die Mehrheit der Figuren gefangen ist,
beinhalten.
Es mag deutlich sein, dass die Träume der Haupt- und Nebenfiguren nicht in
Erfüllung gehen. Im Gegenteil – und dies gilt vor allem für die Hauptfiguren Gummer
und Willy Bein – ihre Situation und ihr Leben werden im Laufe des Romans eher
schlimmer. Die Erwartungen werden auf die Großstadt und auf das Großstadtleben
projiziert:
Ab und zu gingen sie, vielleicht aus Neugierde, in die Hotelbars. Dort saßen Handelsvertreter, Angestellte auf Dienstreise, kleine Geschäftsleute vor halbleeren Gläsern und sprachen von den großen Erwartungen, den wichtigenGeschäften, den Hoffnungen, die sie in die Stadt setzten.112
Die Großstadt ist hier, weil sie ein wichtiger Wirtschaftsknotenpunkt ist, der auserlesene
Ort der Erwartungen für viele Leute, die vielleicht genauso wie Gummer und Willy
Bein am Ende den Kürzeren ziehen. Diese Idee der Großstadt als Grundlage der Träume
und der unendlichen Möglichkeiten wird häufig in amerikanischen Großstadtromanen
verwendet. Der Roman Bright Lights, Big City (1984) von Jay McInerney hat in dieser
Hinsicht viele Ähnlichkeiten mit Zähringers Roman So (2001). Der Protagonist, der im
amerikanischen Bestseller namenlos bleibt, hat, obwohl er in New York auf einer
Abteilung für Echtheitsprüfung arbeitet, den Ehrgeiz und die Hoffnung eines Tages
Schriftsteller zu werden. Er verliert, genauso wie Gummer und Willy Bein, die
Hoffnung und alles, was er zuvor in seinem Leben hatte: seinen Job, seine Frau und
seine Träume. Das Scheitern der Pläne, das die beiden Großstadtromane miteinander
gemeinsam haben, ist jedoch nicht der einzige Grund, weshalb zwischen ihnen ein
Vergleich gemacht werden könnte. In McInerneys Roman hat die Hauptfigur Träume
111 Zähringer: So, S.112.112 Zähringer: So, S.304.
43
über ein “Komababy”, ein Baby, das nicht von der Gebärmutter getrennt werden will.
Der Protagonist hat diesen Traum, wegen eines Berichts, der von der Abteilung für
Echtheitsprüfung verifiziert werden soll. Im Traum hat er eine Konversation mit dem
Baby:
You approach and discover that her belly is a transparent bubble. Inside you can see the Coma Baby. He opens his eyes and looks at you. “What do you want?” he says. “Are you going to come out,” you ask. “No way, José. I like it in here. Everything I need is pumped in.”113
Diese Stelle und das Komababy symbolisieren die Passivität des Protagonisten, wie er
einfach seine Lage akzeptiert und nichts dagegen macht. Sein Traum könnte in diesem
Fall eine Form der Selbstkonfrontation sein, denn das Baby, genau wie er, will nicht auf
die eigenen Beine stehen. Das Baby und der Protagonist wollen dasjenige, das ihnen
gegeben wird, ohne weiteres, ohne Überlegung auf passive Weise aufnehmen
(“Everything I need is pumped in”). Trotz seiner schrecklichen Lage – er hasst seine
Arbeit und weiss, dass er ihr nicht mehr entfliehen kann – bleibt der Protagonist passiv.
Er beklagt sich aber doch über seine Situation. Auch Gummer kann man diese Passivität
zuschreiben:
[...] auf der Seite “Aus aller Welt” nahm man es mit der Wahrheit nicht so genau. Dieser Umstand war einer der Gründe, warum er diese Seite immer zuerst las. Durch die kleinen Lügen, die unglaubhaften Ereignisse, die phantastischen Errungenschaften, von denen da die Rede war, gewann das Leben etwas von seinen einstigen Möglichkeiten zurück. Als das Telefonklingelte, las Gummer gerade den Artikel “Mann nach 15 Jahren aus dem Komaerwacht”.114
Gummer liest auch etwas über jemanden, der im Koma war, aber hier wird erzählt, wie
ein “Mann nach 15 Jahren aus dem Koma erwacht”. Dieses Erwachen ist vielleicht
genau das, was Gummer braucht, denn er sollte seine aussichtslose Situation in der
kundenlosen Bankfiliale der VERBAG einsehen. Die Passivität, mit der Gummer
konfrontiert wird, wird mit dem montierten Titel des Artikels betont. Obwohl die
Geschichte des Komas sehr wahrscheinlich eine Falschmeldung ist, ist das genau
dasjenige, was Gummer daran interessiert, denn so kann er sich wenigstens in Träumen
und Fiktion noch Möglichkeiten schaffen. Sowohl in McInerneys als in Zähringers
Roman wird die Passivität der Protagonisten auf ironische Weise dargestellt. Im Roman
So habe ich schon darauf aufmerksam gemacht, dass das Motto von John Maynard
113 Jay McInerney: Bright Lights, Big City. New York: Vintage Contemporaries 1984: S.54.114 Zähringer: So, S.31.
44
Keynes die Passivität kritisiert. Im nächsten Teil gehe ich tiefer auf die Bedeutung der
Passivität ein.
3.3. Das Geld und die Maschinen: die Passivität, die Unpersönlichkeit und die
Versachlichung
Als Georg Simmel im Jahre 1900 sein Werk Philosophie des Geldes herausgab, hat er
die Voraussagen über die Gesellschaft des kommenden zwanzigsten Jahrhunderts
gemacht, ohne Ahnung von der zukünftigen Globalisierung. Sein Einfluss auf die
Soziologie ist bis heute noch von größter Bedeutung. Die Frage ist jedoch, ob Simmels
Theorien über das Geld als zentrale und treibende Kraft der Gesellschaft heute
überhaupt noch anwendbar sind? Laut Paschen von Flotow und Johannes Schmidt war
die Voraussage Simmels auf jeden Fall sehr akkurat:
45
Seit knapp zwanzig Jahren erlebt Simmel nun eine Renaissance. Denn es zeigtsich, daß er recht behalten hat: Tatsächlich ist das gesamte 20.Jahrhundert von genau den Trends und Kräften entscheidend geprägt gewesen, die Simmel in seiner vor hundert Jahren erschienenen Philosophie des Geldes darstellt. Geld ist die bewegende Kraft der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung - dies ist die zentrale These seines Werkes.115
Simmels Studie über das Geld und die Gesellschaft hat zwölf Jahre Vorarbeit erfordert
und sie wird oft als eine seiner wichtigsten Arbeiten gesehen. Sie ist außerdem auch die
Grundlage für die später veröffentlichte Arbeit Die Großstädte und das Geistesleben
gewesen. In Philosophie des Geldes wird die historische Dynamik des Geldwesens
anhand von zwei Begriffen verdeutlicht: funktioneller und substanzieller Fortschritt.
Mit der Entstehung und Entwicklung der Geldwirtschaft (das Geld als neues
Tauschmittel) sind verschiedene Institutionen entstanden. Das Geld hat eine wichtige
Funktion in der Gesellschaft bekommen, wird denn auch wegen dieser Funktion von
den Menschen begehrt. Das nennt Simmel den funktionellen Fortschritt. Die Folgen
dieses funktionellen Fortschritts sind manchmal paradox: die “Erweiterung der sozialen
Gruppe oder der Gesellschaft” (vgl. die Globalisierung), die Autonomie des
Individuums (Individualisierung) und zugleich dessen Abhängigkeit vom
gesellschaftlichen Wirtschaftsprozess, die Unpersönlichkeit, die Versachlichung.116 In
der Entwicklung der Geldwirtschaft werden laut Simmel nach bestimmter Zeit Produkte
und Kräfte der Natur einbezogen. Das nennt Simmel den substanziellen Fortschritt, der
im Laufe jeder wirtschaftlichen Entwicklung vom funktionellen Fortschritt
minimalisiert wird: das Geld verliert seinen Substanzwert und gewinnt an
Funktionswert. Aus diesem Unterschied zwischen Substanzwert und Funktionswert
stammt die Idee, dass das Geld eine Doppelrolle hat:
Damit meint Simmel, daß das Geld in der Wirtschaft in zweifacher Weise auftritt: indem es Relation ist und indem es Relation hat. Soweit Geld Relation ist, dient es lediglich als neutrales Tauschmittel: es drückt die relativen Werte der verschiedenen Güter aus [...]. Aber gerade und insofern das Geld diese Rolle als bloßes Zeichen der Werte im Bewußtsein der Menschen in befriedigender Weise wahrnimmt, dann hat das Geld auch Relation, es ist selbst ein Wert, es steht “innerhalb der Reihen der konkreten wirtschaftlichen Werte” und wird selbst begehrt.117
115 Paschen von Flotow und Johannes Schmidt: “Globalisierung der Geldwirtschaft – 100 Jahre ‘Philosophie des Geldes’ ”. In: Forum Wirtschaftsethik, 3 2000.<http://www.akademiers.de/wirtschaftsethik/heft3_00/bericht2.htm> [Stand: 14. Juli 2007]116 Von Flotow und Schmidt: “Globalisierung der Geldwirtschaft – 100 Jahre ‘Philosophie des Geldes’ ”117 Von Flotow und Schmidt: “Globalisierung der Geldwirtschaft – 100 Jahre ‘Philosophie des Geldes’ ”.
46
Einerseits ist das Geld Ausdruck der relativen Werte der Güter, andererseits bekommt
das Geld, gerade weil es als Tauschmittel so wichtig wird, selbst auch einen Wert.
Obwohl diese Doppelrolle des Geldes eine positive Wirkung hat auf die wirtschaftliche
Tätigkeit, beinhaltet diese Doppelrolle zugleich wiederum eine allgemeine
Versachlichung. “[D]as Wachstum der ‘objektiven Kultur’” wird von Simmel als
positiv evaluiert, aber trotzdem darf man “die Verluste im Geistig– Seelischen des
Menschen, in der ‘subjektive[n] Kultur’” nicht unterschätzen.118
In Zähringers Roman ist das Geld eine wichtige Triebfeder für die Figuren, aber
auch für die Institutionen, die durch ihre Geldlust das Leben der Figuren beeinflussen.
Manchmal könnte der Leser sich fragen, was überhaupt denn das Ziel der Hauptfiguren
Cordt Gummer und Willy Bein wäre. Sie versuchen beide Teil zu haben an etwas, das
sie nicht erreichen können. Gummer will eine wichtige Funktion in der VERBAG und
erfindet deswegen fiktive Kunden. Willy Bein will eigentlich seine ehemalige Funktion
zurück, will dann an der VERBAG Rache üben mit einem Bankraub. Keine der beiden
Figuren aber, denkt inzwischen an eine mögliche Zukunft. Irgendwie müssen sie
glauben, dass die erwünschte Lage, nach der sie streben, sie glücklicher machen würde.
Diese Idee und der Zustand, in dem die Hauptfiguren sich befinden, könnte bei den
Lesern eine bestimmte Selbstreflexion in Hinsicht auf ihr eigenes Leben und Streben
auslösen. Diese Selbstreflexion könnte dann zu einer allgemeineren und objektiveren
Frage führen: Wie sollte man denn die Beziehung zwischen dem Geld (Status) und dem
Glück betrachten und inwieweit ist die Geldwirtschaft oder das Individuum für diese
Beziehung verantwortlich? Daniel Gilbert, ein amerikanischer Professor Psychologie
deutet darauf hin, dass Psychologen und Volkswirtschaftler sich jahrhundertelang mit
dieser Frage der Beziehung zwischen dem Geld und dem Glück befasst haben. Dabei
wurde die Rolle der Geldwirtschaft und des Individuums in der Gesellschaft oft
besprochen:
Like so many thinkers, Smith [Adam Smith] believed that people want just onething – happiness – hence economies can blossom and grow only if people are deluded into believing that the production of wealth will make them happy. If and only if people hold this false belief will they do enough producing, procuring, and consuming to sustain their economies.119 [Meine Hervorhebung D.D.B]
118 Von Flotow und Schmidt: “Globalisierung der Geldwirtschaft – 100 Jahre ‘Philosophie des Geldes’ ”. 119 Daniel Gilbert: Stumbling on Happiness. New York: Alfred A.Knopf 2006, S.219.
47
Die Beziehung zwischen dem Geld und dem Glück ist eine sehr komplizierte
Angelegenheit, denn einerseits ist die Tatsache, dass das Vermögen das Individuum
glücklicher macht, eine Lüge, aber andererseits brauchen die Geldwirtschaft, die
Gesellschaft und deswegen auch das Individuum für ihre weitere zukünftige Existenz
genau diese Lüge. Solche direkte Erwägungen kann man bei den Hauptfiguren Gummer
und Willy Bein nicht bemerken, aber dennoch kann die ganze Geschichte des Romans
zu ähnlichen Gedanken über die Gesellschaft, die Geldwirtschaft, das Glück und das
Individuum führen. So wird das Leben und Streben der Figuren wie schon zuvor
erwähnt (siehe 4.2) auf ironische Weise relativiert. Vielleicht wäre es möglich, diese
Relativierung auch im Bereich der Leserposition (Selbstreflexion) zu identifizieren.
Im Roman So werden vor allem die negativen Effekte, die die Geldwirtschaft auf
das Individuum hat, verarbeitet: geschildert wird, wie das Individuum vom
gesellschaftlichen Wirtschaftsprozess abhängig ist, wie es durch eine reine
Versachlichung des Lebens ein Gefühl der Unpersönlichkeit und der Gleichgültigkeit
erfährt. Es sieht immer so aus, als ob Gummer und Willy Bein ohnmächtig zusehen
müssten, wie ihr Leben langsam aus den Fugen gerät. Willy Bein erhält die
Rückschläge schon am Anfang des Buchs, denn er verliert seinen Job, seine Frau und
sein Haus. Gummer wird erst am Ende des Buchs degradiert: “Er war degradiert
worden. Oder er hatte sich selbst degradiert. Letztlich war es egal.”120 Gummer ist
unsicher und fragt sich, ob er selber Schuld an seiner Degradierung hat. Diese
Unsicherheit und das bloße Akzeptieren seiner Lage kommen hier zusammen zum
Ausdruck. Das Schuldgefühl und die Akzeptanz seiner Lage treten nicht zufällig öfters
zusammen auf:
Er redete sich ein, daß die Dinge eben so waren, wie sie waren, daß man nichts daran ändern konnte und daß das einzige ihm verbliebene Anrecht war, in Ruhe gelassen zu werden.121
Der Satzteil “[e]r redete sich ein” könnte auf eine Evaluierung, eine Position des
Erzählers hinweisen, in der er eigentlich indirekt unterstellt, dass die Lage des
Protagonisten wohl umkehrbar wäre, falls der Protagonist selber daran glaubte.
Im Kapitel “Thesauros” des gleichnamigen dritten Teils spielt das Geld eine
wichtige Rolle. Der Name dieses Kapitels kann eine ironische Wirkung haben, wenn er
120 Zähringer: So, S.373.121 Zähringer: So, S.381.
48
auf die Lage des Protagonisten im Tresor anspielt. Gummer fühlt sich nämlich gar nicht
wertvoll, sondern eher wertlos (vgl. die kostbaren Gaben) in diesem Tresor, in dem er
selber auch fast aufbewahrt wird. Gummers Auffassung über das Geld, die Art und
Weise, wie es Teil des Menschen wird, zeigt, dass er sich mit seiner Situation zu
versöhnen versucht, aber vielleicht auch, wie er noch immer nicht selbstkritisch sein
kann, denn “[e]r [vermeidet] es nachzudenken”:122
Geld, mußte er feststellen, stank eben doch. Durch zahlreiche Hände gegangen, hatten die Geldscheine einen ranzigen Wachsgeruch angenommen, waren eingerissen, weich wie dünnes Leder. Frische Banknoten rochen schwach bittersüß, nach Tusche und dem Metall der Druckplatten – etwas kindlich Unschuldiges ging von ihnen aus, besonders von jenem geisterhaften Spiegelbild des Wasserzeichens.123
Der Geruch der frischen Banknoten ist “schwach bittersüß”, aber diese Wahrnehmung
Gummers wäre, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass er sich täglich genau mit
demjenigen, das er nicht erreichen oder erwerben kann, nämlich mit dem Geld
beschäftigt, als Paradox und als Reaktion auf diese Art Quälerei und Leiden zu
verstehen. Das Bittersüße betont seine eigene Situation und sein Verhalten gegenüber
dem Geld. Die Diskrepanz zwischen Schuld und Unschuld wird von Gummer mit altem
beziehungsweise neuem Geld verglichen. Dieser Vergleich könnte darauf hindeuten,
dass der Mensch selber an seiner Abhängigkeit des Geldes, sogar an der schrecklichen
Lage, in der das Geld ihn gebracht hat, Schuld ist. Das Geld wird dann, wie Georg
Simmel behauptete, wegen seiner Funktion in der Gesellschaft vom Individuum
begehrt. Da das Geld noch nicht im Umlauf ist, wird es von Gummer als “etwas
kindlich Unschuldiges” betrachtet. Auf ähnliche Weise wäre der Mensch vielleicht auch
kindlich unschuldig, solange er nicht am Leben der Gesellschaft, am Leben des
Geldkreises beteiligt ist. Würde die eigentliche Schuld denn vom Menschen oder vom
Gelde ausgehen? Wäre der Mensch wegen des Geldes schuldig oder umgekehrt? Oder
sollte die Schuld in einer Wechselwirkung zwischen beiden gefunden werden? Wird die
Passivität, die Gummer mehrmals zugeschrieben wird, auf indirekte Weise vom
Erzähler kritisiert, weil sie die Ursache der aus den Fugen geratenen Geldwirtschaft und
Gesellschaft wäre? Selbstverständlich ist das Geld eine Kreation des Menschen und
wird es auch von ihm benutzt. Die Schuldfrage ändert sich jedoch wesentlich, falls die
122 Zähringer: So, S.381.123 Zähringer: So, S.376.
49
Frage, inwieweit der Mensch noch Kontrolle über seine eigene Kreation hat, gestellt
wird. Gummers Passivität könnte so die Machtlosigkeit oder die Ohnmacht des
Individuums gegenüber der Gesellschaft darstellen.
Im Roman werden das Geld und der Mensch auf verschiedene Weisen
miteinander identifiziert. Bei dieser Identifikation werden die Eigenschaften beider
Lebenswelten ausgetauscht. Eine der Beziehungen zwischen dem Menschen und dem
Geld kommt bei Gummers Beschreibung seines Kollegen Willgruber zum Ausdruck:
Umgekehrt hatte Willgruber den Geruch des Geldes angenommen, der sich mit seinem eigenen vermischte: ein süßlicher Duft nach Patschuli, Rasierwasser undaltem Papier umschwebte ihn, wenn er, zusammen mit Gummer jeden Morgen, fünfmal in der Woche, die schwere Tresortür aufschloß.124
Der Einfluss des Geldes auf das Individuum und die Veränderung, die der Mensch
durch das Geld erfährt, werden aufs Neue anhand des Geruchs versinnbildlicht.
Einerseits beeinflusst der Mensch sein eigenes Produkt auf eine eher lächerliche und
ironische Weise: “an Tausenden von Geldscheinen klebte seine Spucke, mit der er
Daumen und Zeigefinger befeuchtete.”125 Andererseits hat das Geld eine viel stärkere
Wirkung auf das Individuum. Manchmal bekommen das Geld und die Geldwirtschaft in
der Geschichte eine autonome Rolle und wird der Mensch überflüssig: “Dort, nahe dem
Herzen, an der Aorta der Märkte saßen die Makler [...].”126 Wie diese Aorta und mit ihr
der Geldkreis lebensfähig zu sein scheint, ist auch für beide, genau wie im
menschlichen Leben, der Tod unvermeidlich:
In einem Verschlag lag auf einem Palettenwagen packenweise totes Geld: Banknoten, die ihren letzten Umlauf getan hatten, die nach einer langen Reise von Hand zu Hand, von Kasse zu Kasse, von Geschäft zu Geschäft aus dem Verkehr gezogen worden waren und in Anbetracht der kommenden neuen Währung nur noch auf ihren Abtransport in eine der Zentralbanken warteten, wo sie in den Öfen zu Asche verbrennen würden.127 [Hervorhebung im Original]
Das Leben eines bestimmten Geldkreises kommt an dieser Stelle zu einem Ende, aber
weil es sich um “totes Geld” handelt, kann man annehmen, wie auch später in der
Geschichte bestätigt wird, dass anderes, neues Geld als Ersatz im Geldkreis auftreten
wird. Genauso wie das Geld im Geldkreis einfach ersetzbar ist, so scheinen auch
Gummer oder das Individuum in einem Geschäft oder sogar in der Gesellschaft einfach
124 Zähringer: So, S.377.125 Zähringer: So, S.377.126 Zähringer: So, S.272.127 Zähringer: So, S.379.
50
ersetzbar. In der oben zitierten Stelle des Romans findet eine Radikalisierung der
menschlichen Position gegenüber dem Geld, eine Art ironische Relativierung des
Geldwertes statt. Außerdem kann die Stelle auch als eine Radikalisierung und
Relativierung des menschlichen Lebenskreises gelesen und interpretiert werden. Die
Rolle des Individuums in der Gesellschaft wird auf diese Weise in Frage gestellt,
relativiert und minimalisiert. Diese komplizierte Beziehung zwischen dem Geld und
dem Individuum im Kapitel “Thesauros” könnte eine Lebensphilosophie oder -
Auffassung in den Vordergrund schieben. Das menschliche Leben auf Erden und die
Geldwirtschaft bilden beide einen Kreis und sind deshalb unsterblich und unvergänglich
(unendlich), aber trotzdem sind die Menschen und das Geld, die nur Teil dieses Kreises
sind, selber sterblich und vergänglich (endlich). Wenn Gummer den Umlauf des Geldes
fast selber zu erleben scheint und er sein Leben und seinen Job im Tresor identifiziert
mit diesem Umlauf, werden die Parallelen zwischen den beiden Kreisen, dem Geldkreis
und dem Lebenskreis, noch besser nachvollziehbar. Gummer fühlt sich wie eine Münze
eines großen Geldkreises:
[...] lange lag er so da zwischen anderen, das Dösen nur unterbrochen vom Ratsch-ratsch der Schubfächer, von gelegentlich vorbeifahrenden Autos, dem schlurfenden Gang alter Männer, bis die große Klappe geöffnet wurde, er wiederin ein Säckchen fiel, wieder durch die Stadt gefahren wurde, wieder zusammenmit den anderen die Röhre hinunterrutschte, hhhhhhuiiiiiiih!, und plumps! wieder auf Säcken, Umschlägen und Pappkartons landete, wo alles von vorn began ...128 [Meine Hervorhebung, D.D.B.]
Die Tatsache, dass das Wort “wieder” bis vier Mal in dieser Passage auftaucht, deutet
darauf hin, dass die Idee, dass der Geldkreis und der Lebenskreis sich ständig
wiederholen, von größter Bedeutung ist. Da das Geld wegen seiner Funktion begehrt
wird (siehe Simmel), bleibt das Geldwesen am Leben und zirkuliert auch das Geld. Man
könnte diesen unendlichen Kreis wiederum mit dem Leben des Individuums
vergleichen. Auf der Ebene des Menschenlebens wäre die Verknüpfung der unendlichen
Wiederholung mit dem Ende des persönlichen menschlichen Kreises (vgl. Verbrennen
des toten Geldes) vielleicht als eine eher pessimistische Auffassung zu verstehen, denn
der Mensch wäre dann in einem unendlichen Kreis gefangen, der ihm letztendlich nicht
weiter oder höher bringt, sondern ihm genau zu der Stelle, wo der Kreis angefangen hat,
zurückbringt, da “wo alles von vorn [beginnt]”.129 Im Falle Gummers ist der Anfang
128 Zähringer: So, S.381.129 Ebenda.
51
eine bedeutungslose und inhaltslose Beförderung, die in einer Degradierung ausmündet.
Das Leben des Einzelnen macht im allgemeinen gesellschaftlichen Leben, das ohne ihn
auch weitergeht, keinen Unterschied mehr. Diese Situation ist dem komplizierten
Verhältnis zwischen dem Geld und dem Individuum zuzuschreiben. Dieses Verhältnis
im Roman wäre wie folgt zusammenzufassen: die Geldwirtschaft beschreibt genau wie
die Gesellschaft einen Kreis, der vermutlich bis ins Unendliche weitergehen könnte. Der
Geldkreis und der Lebenskreis sind jedoch zugleich aus endlichen und vergänglichen
Teilen, dem Geld beziehungsweise dem Individuum, aufgebaut. Die Geldwirtschaft, der
Geldkreis und das Geld werden im Roman als Lebewesen betrachtet, dermaßen, dass
man vielleicht sogar von einer Anthropomorphisierung des Geldes reden könnte. Dabei
symbolisiert die Welt der Geldwirtschaft die des menschlichen Lebens. Die
Anthropomorphisierung kann zu einer radikalen, pessimistischen und aussichtslosen
Lebensphilosophie führen (siehe oben). Wäre diese Darstellung der aussichtslosen,
unentfliehbaren Situation für das Individuum als eine Kritik an der Gesellschaft oder am
Leben selber zu verstehen? Oder könnte man die Darstellung auch als ironische
Reflexion auf die Protagonisten deuten?
Gummers aussichtslose Situation hat deutliche Folgen, denn er objektiviert und
versachlicht seine eigene Existenz durch die Identifikation mit dem Geld. Er fühlt sich
ein “Rädchen in der Maschine”, deshalb hat er auch “das Interesse an allem und jedem
verloren”.130 Die Aversion und der Hass, die man bei Simmel als Folgen der sterilen
Geldwirtschaft deuten kann, äußert sich bei Gummer deutlich in seinem Benehmen
gegenüber Heinrich Voß, dem Archivar. Obwohl Gummer sich mit einem Rädchen
einer Maschine oder eines Automaten identifiziert, ekelt jener Automat ihn an. Das
zeigte sich schon bei seiner Beförderung, als der Direktor anlässlich des Todes des
Arbeiters Schrans über Automaten redete:
‘ [...] Sonst hätten wir den Schrans rechtzeitig durch einen Automaten ersetzt.’ Ein mattgrauer Automat stand seit dem Unfall in der Halle der Hauptfiliale der Vereinigten Banken AG, Gummer kannte ihn nur zu gut, er erledigte alle Geschäfte, er fiel nie aus, er verzählte sich nicht, und wer sein Konto überzogen hatte, konnte keine Gnade mehr erhoffen. Gummer fand diese Automaten sehr unpersönlich.131 [Hervorhebung im Original]
130 Zähringer: So, S.380-381.131 Zähringer: So, S.12.
52
Nicht nur die Ersetzbarkeit des Menschen durch einen Automaten, sondern auch die
Unpersönlichkeit wird anhand dieser Stelle zur Sprache gebracht. Die Betonung, dass
der Automat in der Hauptfiliale kein Versäumnis kennt, immer perfekt ist und keine
Fehler macht, steht im krassen Kontrast mit den Unzulänglichkeiten und den
Unvollkommenheiten des Menschen. Schrans wird, obwohl er bei der Reparatur eines
Automaten umgekommen ist, völlig versachlicht und er wird außerdem von einem
Automaten ersetzt. Die Automaten kennen außerdem keine Gnade und man kann ihnen
überhaupt keine einzige menschliche Eigenschaft zuschreiben. Während Gummer eine
Abneigung gegen Maschinen hat, fühlt Willy Bein eher eine Faszination und Liebe für
sie. Er bevorzugt die Maschinen vor seiner Frau:
Oft jedoch kam Willy nicht nach Hause, was seine Frau nicht weiter störte, sondern blieb in der Fabrik, seiner ersten, tieferen Liebe, nachts, wenn sie Luft holte und neue Kraft schöpfte. Meistens lag er dann auf der eisernen Galerieunter dem Fabrikdach, mit halboffenen Augen, und träumte vom Schlaf der Maschinen.132
Willy Bein hat mit den Maschinen deutlich eine eigenartige Beziehung, die vielleicht
auf die Tatsache, dass er durch seine äußere Erscheinung, seine kurzen Beine, seinen
großen, kippenden Kopf, kein normales soziales Leben führen kann, zurückzuführen
wäre. Willy Bein findet oder erfindet die Seele der Maschinen, weil er vom Leben und
von den Menschen, vor allem nach dem Ehebruch seiner Frau, enttäuscht wird. Die
Beziehung, die Willy mit den Maschinen hat, könnte man in gewissem Maße mit der,
die Victor Hugos Quasimodo mit den Glocken hat, vergleichen. Die hässliche äußere
Erscheinung trägt bei beiden Figuren zu diesem Bild, dass sie vielleicht von der
Gesellschaft in dieser Rolle des Aussteigers gezwungen wurden, bei. Der Zufall ist
Willy Bein gegen Ende der Geschichte jedoch günstig: er bekommt einen Job bei dem
Blohfeld Automatenservice. Gummer und Willy Bein begegnen einander wieder (die
erste Begegnung fand im Augenblick von Willy Beins Banküberfall statt), als Gummer
im Tresor eine Maschine kaputt gemacht hat und Willy diese zu reparieren versucht.
Wie schon gesagt, der Zufall ist sehr wichtig im Leben Willy Beins. Einerseits braucht
er dadurch nicht selber etwas zu unternehmen und kann er passiv bleiben, aber
andererseits wird er vielleicht genau durch den Zufall und die Passivität im zuvor
besprochenen immer wiederkehrenden unentrinnbaren Lebenskreis gezwungen. In
diesem Sinne hat er keine Wahl oder wagt er bloß nicht, etwas gegen seine Lage zu tun.
132 Zähringer: So, S.21.
53
Wird die Passivität dann doch vom Erzähler verurteilt oder billigt dieser, dass das
Individuum und sein ganzes Leben vom Zufall bestimmt werden? Die Antwort auf
diese Frage ist nicht so eindeutig.
Vielleicht könnte man anhand der Parabel des Methodius’ am Ende des Kapitels
“Thesauros” eine nuancierte Antwort auf diese Frage zu formulieren versuchen.133 Diese
Parabel handelt von Berengar dem Dritten und Methodius, die beide glauben, dass sie
und ihr Volk bald “vor das Jüngste Gericht” treten müssen, denn Methodius behauptet,
“er habe es doch ganz deutlich vor sich gesehen.”134 Aber das Vorausgesagte bleibt aus
und die Bürger sind nicht zufrieden. Berengar jedoch kümmert sich nicht darum,
sondern bemerkt nur, dass diese Idee des Weltuntergangs ihn viel Geld (“das Erlassen
der Abgaben für den letzten Monat vor dem Weltuntergang”) gekostet hat.135 Methodius
vermutet, dass man dieses Jüngste Gericht würdig sein muss und dass man das nur
kann, wenn man ein heiliges Elixier hat. Der Dialog zwischen Berengar und Methodius
ist nach meiner Ansicht eine zentrale Stelle im ganzen Roman:
‘Das Elixier wird die Welt neu erschaffen, und Ihr werdet würdig sein.’ ‘Gibt’s da auch andere Möglichkeiten?’‘Ja. Wenn Ihr viele Jahre als Einsiedler in einer abgelegenen Gegend lebt, Euch nur von Beeren ernährt und nicht den Bart schert, dann könntet Ihr auchwürdig werden.’‘Na gut. Wo bekomme ich so ein Elixier her? Ich meine, von wem? Und waswird das so ungefähr kosten?’‘Kosten?’‘Ja – kosten! Wer hat es, was ist es, und was verlangt er dafür?’Methodius’ einäugiger Blick war voller Verachtung.‘Ihr könnt das Elixier nicht kaufen! Ihr müßt es suchen, es finden, es Euch erkämpfen! Ihr müßt Euer Leben in die Waagschale werfen, mannigfaltige Gefahren, Ungeheuer und Versuchungen überwinden. Ihr müßt eine Aventüre bestehen!’‘Nur so bekomme ich das Elixier?’‘Nur so.’‘Und wenn wir nun doch alles so lassen, wie es ist?’136 [Hervorhebung im Original]
Am Anfang dieser Stelle wird, genau wie bei Gummers Gedanken im ersten Kapitel des
Buchs (siehe 4.2), die Idee eines langbärtigen Mannes, der “in einer abgelegenen
133 Zähringer: So, S.387-388. Im Roman wird nicht erwähnt, dass diese Passage eine Parabel ist. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werde ich den Namen ‘die Parabel des Methodius’ als Verweis auf diese Passage benutzen. 134 Zähringer: So, S.387.135 Ebenda.136 Zähringer: So, S.388.
54
Gegend”, in Isolation, langsam, ohne etwas zu machen zur Einsicht kommt, benutzt.
Die Isolation könnte wieder auf die Leserposition, auf den Leser “als Einsiedler”
hindeuten. Das Elixier garantiert einen schnelleren Weg zu einer Einsicht oder zum
Würdigkeitserwerb. Berengars Bemerkung über die Kosten dieses Elixiers illustriert
möglicherweise, wie das Individuum in der Gesellschaft fast immer denken muss:
“[w]er hat es, was ist es, und was verlangt er dafür?” Vor allem die letzte Frage hat eine
zentrale Rolle in der Geldwirtschaft, denn das Elixier bekommt, genau durch die Frage
‘wie viel kostet es?’, einen relativen Wert neben eventuell anderen Produkten.
Einerseits ist das Geld Relation, denn es druckt den relativen Wert des Elixiers aus, aber
andererseits hat das Geld Relation, denn es wird genau durch seine Funktion, nämlich
die Möglichkeit das Elixier erwerben zu können, durch seine Kaufkraft sehr
begehrenswert (siehe oben: Simmel). Man könnte sich fragen, falls der Gedanke der
Anthropomorphisierung des Geldes weitergesetzt wird, ob das Individuum auch neben
anderen Individuen einen relativen Wert bekommt und ob das Individuum durch seine
Funktion in der Gesellschaft begehrenswert wird. Das Individuum wird auf diese Weise
wohl zu einem Wert versachlicht und objektiviert. Diese Objektivierung und auch die
Unpersönlichkeit werden in beiden Werken Simmels, Philosophie des Geldes und Die
Großstädte und das Geistesleben als Folgen der blühenden Geldwirtschaft für das
Individuum angegeben. In der Parabel ist Berengars Benehmen, zum Ärger des
Methodiuses, der behauptet, dass er “eine Aventüre” bestehen muss, völlig von der
Geldwirtschaft beeinflusst. Zum Schluss dieser Stelle kommt dann die lässige Aussage
Berengars: “Und wenn wir nun doch alles so lassen, wie es ist?”, die dasjenige, das
Methodius erklärt hat, widerruft und zunichte macht. Der Name Methodius ist
wahrscheinlich kein Zufall, denn er versucht Berengar verschiedene Methoden, die
Berengar ermöglichen vor das Jüngste Gericht zu treten, zu zeigen.137 Ironischerweise
will Berengar, obwohl er derjenige, der zuerst unbedingt eine Methode herausfinden
will, ist, keine dieser Methoden ausprobieren, im Sinne, dass er grundsätzlich von der
Geldwirtschaft, von seinem Verstand bestimmt wird und deshalb will er das Elixier
bequemlichkeitshalber kaufen. Berengar wird auf diese Weise intellektualistisch
dargestellt: er hat nur noch einen rechnenden und passiven Geist. Tatsächlich treten die
137 Dieser Name könnte auch auf einen Erzbischof des 9. Jahrhunderts hindeuten. Berengar der III., ein wichtiger Graf, der im 11. und 12. Jahrhundert gelebt hat, und Methodius können historisch gesehen nie miteinander geredet haben.
55
Passivität und die Versachlichung oder Objektivierung, wie zuvor schon gesagt, bei der
Figur Berengars in den Vordergrund. Falls man das Ende dieser Parabel mit dem Motto
am Anfang des Buches (siehe Rahmen und Struktur des Romans) verknüpft, kann man
vielleicht doch eine Kritik an der Passivität bemerken. Die Leere der Parabel wäre dann
in Zusammenhang mit dem Motto, dass man nicht passiv sein soll, sondern dass man in
seinem eigenen Leben aktiv eingreifen soll, sodass man seine eventuell schreckliche
Lage bessern kann. Wird dann doch die Passivität in der Geschichte vonseiten des
Erzählers kritisiert und wird diese Passivität eher der Gesellschaft oder dem Individuum
zugeschrieben? Diese Fragen werde ich in der Schlussfolgerung, in Zusammenhang mit
anderen Elementen aus der Analyse der ganzen Geschichte, zu beantworten versuchen.
3.4. Die Zeit
Aus dem vorigen Kapitel über die Geldwirtschaft kam deutlich hervor, dass das Leben
des Individuums und die Triebkraft der Geldwirtschaft als einen unendlichen Kreis, der
sich immer wiederholt, interpretiert werden kann. Wie die Zeit von den Figuren
erfahren wird, spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Veränderung der Großstadt wird
von ihnen wahrgenommen, aber sie ist eigentlich eine Wiederkehr des Gleichen, denn
irgendwie bleibt jedes Projekt in der Großstadt im Aufbau stecken, bis ein anderer Plan,
der wiederum zum Scheitern verdammt ist, gemacht wird. Carola Boldini, eine Frau, die
“als Gruppenleiterin in der ‘Filial-Disposition’” hart arbeitet, weil sie in “die Innere
Abteilung” geraten will und weil “sie nichts weniger sein [will] als absolut
gewöhnlich”, bemerkt die Veränderung der Großstadt. Trotzdem bekommt sie keine
Beförderung, denn man findet jemand anderes für eine Position in der Inneren
56
Abteilung.138 Sie sieht, dass der Plan “beinahe in der Mitte der Stadt, die VERBAG
TRADE UND BUSINESS TOWERS” zu bauen, zwar auf eine Ausbreitung zielt, aber
trotzdem festläuft und misslingt:
Der Bau des Fundaments sollte schon lange abgeschlossen sein, doch war man während des Aushubs auf ein altes Bunkersystem gestoßen – Hohlräume, Tunnel, die auf keiner Karte verzeichnet waren. Der Boden gab nach, verschluckte einen Bagger, Sand rutschte nach, begrub zwei Arbeiter.139
Schon “[d]er Bau des Fundaments” wird auf die lange Bank geschoben und die Pläne
der VERBAG sind deswegen ziemlich aussichtslos. Die Stelle liest sich wie ein Bericht,
der jedoch nicht von Carola Boldini, sondern eher von einem berichtenden Erzähler
ausgeht. Er objektiviert mit diesem sterilen Stil den Tod zweier Arbeiter, die vom
Boden begraben wurden. Auf diese Weise werden das Individuum und der Tod der zwei
Arbeiter versachlicht und als Nebensache betrachtet, denn die Hauptsache in der ganzen
Beschreibung ist die Unterbrechung der Tätigkeiten wegen der Entdeckung eines alten
Bunkersystems. Manches in der Stadt kann als eine fast ewige Übergangsphase oder als
die ewige Wiederkehr des Gleichen betrachtet werden.
Auch die Projekte, die am wichtigsten Ort im Roman, an einem Gelände im
Osten Berlins, geplant werden, versanden, bis sie letztendlich aufgegeben werden und
bis wiederum ein neues Projekt auftaucht. Zuerst gibt es auf dem Gelände im Osten
Berlins eine Glühlampenfabrik, die aufgekauft wird und Bankrott geht. Danach kauft
die VERBAG den Boden und stellt an dieser Stelle einen Baucontainer, in dem
Gummer Filialleiter wird. Auch dieses Unternehmen der VERBAG scheitert und das
Gelände wird für ein neues Projekt aufgekauft. Als Gummer, nachdem er seine Stelle
als Filialleiter verloren hat und in den Tresor versetzt wurde, zu dem Gelände
zurückkehrt, bemerkt der Erzähler Folgendes:
Nun, Monate später, war der Container verschwunden, ein neues großes Schild kündigte das baldige Entstehen eines modernen Einkaufs- und Dienstleistungs- zentrums ‘im traditionellen Ambiente einer historischen Industrieanlage’ an. Die Fundamente waren gegossen, und auf dem Schild war eine Zeichnung abgebildet, wie wunderbar alles aussehen werde, wenn es erst einmal fertig sei. Aber die Arbeiten waren unterbrochen worden, auf der Baustelle sah er keine Bagger, keine Kipplaster, keine Betonmischer, keine Arbeiter. Es schien, als
138 Zähringer: So, S.69-70139 Zähringer: So, S.73.
57
wäre den Bauherren das Geld ausgegangen, oder sie hatten einfach ihr Interesse an dieser Gegend verloren.140
Wieder sind die Arbeiten unterbrochen worden, obwohl am Anfang dieses Projekts ein
Schild mit einer Zeichnung “wie wunderbar alles aussehen wurde” und das “Ambiente
einer historischen Industrieanlage”, vielversprechend zu sein scheinen. Zuvor habe ich
schon auf die Funktion der Erwartungen für die Haupt- und Nebenfiguren in der
Geschichte aufmerksam gemacht (siehe 3.2). Diese Stelle, die sich am Ende des
Romans befindet, könnte man nicht als ein individuelles, sondern eher als eine Art
gesellschaftliches Versprechen interpretieren. Die individuellen und gesellschaftlichen
Verheißungen sind jedoch beide abhängig vom Finanziellen, vom Geld. Wie zuvor
schon angedeutet wurde, ist das Individuum, obwohl selber vergänglich, Teil eines
unendlichen Kreises. Vielleicht könnte man annehmen, dass die individuellen und
gesellschaftlichen Versprechungen und Projekte auch vergänglich und zugleich Teil
dieses unendlichen Kreises sind. Die oben zitierte Stelle zeigt, wie die raschen
Veränderungen das Panorama der Großstadt beeinflussen und vor allem, wie viele
Projekte und demzufolge möglicherweise auch die Großstadt selber im Entstehen
begriffen sind beziehungsweise immer in einer Übergangsphase zu sein scheinen. Diese
Situation könnte man mit dem Zustand in Berlin Alexanderplatz, in dem die Baustelle
und die Dampframme die ständige Veränderung der Großstadt zur Schau tragen,
vergleichen.
Die Veränderungen, die im Roman So geschildert werden, haben eine starke
Auswirkung auf das persönliche Leben der Protagonisten. Gummer und Willy Bein
haben nach den dramatischen Wendungen ihrer Karrieren nicht nur eine andere
Beziehung zum Leben, sondern auch zur Zeit. In der Geschichte hat die Zeit eine
doppeldeutige Funktion in der Gesellschaft, denn einerseits gibt die Zeit dem Leben
durch ihre Pünktlichkeit eine bestimmte Struktur, aber andererseits ist der Mensch
genau durch diese Struktur, dieses strikte Zeitschema nicht frei, denn er muss es immer
befolgen. Peter Bekes bemerkt ähnliches und verknüpft seine Befunde mit dem Text
Simmels über das Großstadtleben:
Auf der einen Seite wird ihnen [den Großstädtern] hier das Leben [...] unendlich erleichtert, indem Impulse, Interessen und Reize sich ihnen aus allen Richtungen aufdrängen ‘und sie wie in einem Strome tragen, in dem es kaum noch eigener Schwimmbewegungen bedarf.’ Auf der anderen Seite erfahren sie, wie sich ihr
140 Zähringer: So, S.389.
58
Leben mehr und mehr aus unpersönlichen Inhalten, institutionellen Verpflichtungen, organisatorischen Erfordernissen zusammensetzt [...].141
Während Simmel behauptete, dass “[w]enn alle Uhren in Berlin plötzlich in
verschiedener Richtung falschgehen würden, [...] sein ganzes wirtschaftliches und
sonstiges Verkehrsleben [...] zerrüttet [wäre]”, so kann man auch von Zähringers
Figuren sagen, dass ihr (Gefühls)leben in gleichem maße zerrüttet wird, wenn ihr
Zeitgefühl durcheinander gerät. 142 Gummers miserabler Zustand im Baucontainer hat
deutliche Folgen für sein persönliches Leben:
[Gummer] sah die Nachrichten, ohne daß die Dinge dadurch klarer wurden. Die Bilder des Tages waren immer die Bilder eines vergangenen Tages, einer vergangenen Stunde, einer vergangenen Minute. Gummer kam es so vor, als seialles schon viel länger vorbei als behauptet, aufgezeichnet in einem fernen Gestern, das dazu verurteilt war, sich auf den Schirmen millionenfach zu wiederholen.143
Erstens kann man bemerken, dass die Bedeutungslosigkeit der Nachrichten, durch die
Tatsache, dass nichts klarer wird und jede Nachricht sich zu wiederholen scheint, betont
wird. Dasjenige, was Gummer erfährt, ist schon Teil einer Vergangenheit. Zweitens
verändert der Verlauf der Zeit nicht, aber Gummers Einbildung (“Gummer kam es so
vor”), die Nachrichten wären von gestern, deutet darauf hin, dass Gummer in der
Vergangenheit lebt und vielleicht sogar gefangen ist. Auch die Idee der ständigen, in
diesem Fall “millionenfach[en]” Wiederholung, wird in dieser Passage wieder in den
Vordergrund gezogen. Genau durch diese Wiederholung fühlt Gummer sich
eingeschlossen, von der Vergangenheit verfolgt und verzehrt. Die Struktur und
Wiederholung der Zeit werden von Gummer jedoch nicht nur negativ bewertet. Obwohl
sein “Zeitgefühl durcheinandergeraten [ist]”, bemerkt er später :
[...] die gleichförmige Wiederholung aller Ereignisse, hatte der Zeit, die verging, wenn schon keinen Sinn, so doch zumindest eine gewisse Struktur und Geschwindigkeit gegeben, eine beruhigende Struktur und Geschwindigkeit, die über die Wirren der Außenwelt erhaben schienen. [Hervorhebung im Original]144
Einerseits wird “die gleichförmige Wiederholung”, die der Zeit “eine beruhigende
Struktur und Geschwindigkeit” gegeben hat, gelobt. Andererseits wird dieses Lob sofort
wieder minimalisiert, wenn die Wiederholung der Zeit offensichtlich “keinen Sinn” gibt
141 Peter Bekes: Alfred Döblin. ‘Berlin Alexanderplatz’, S.119.142 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S.16.143 Zähringer: So, S.47.144 Zähringer: So, S.82.
59
und wenn außerdem die positiven Aspekte, “die über die Wirren der Außenwelt erhaben
schienen”, genau durch die Wortwahl “scheinen” an Bedeutung, Überzeugungskraft und
Ernsthaftigkeit einbüßen. Die Bedeutungslosigkeit der Wiederholung, vielleicht sogar
der Zeit kommt in dieser Stelle durch den Gegensatz zwischen der Struktur und der
Geschwindigkeit auf ironische Weise zum Ausdruck. Obwohl beide als Folge der
Wiederholung vorgestellt werden, sind sie doch eher als Gegensätze zu deuten.
Gummers Beziehung zur Zeit wird mehrmals mit der Vergangenheit verknüpft.
Während seiner Fahrt mit der U-Bahn zum zentralen Gebäude der VERBAG, die er als
“eine Fahrt rückwärts durch die Zeit” erfährt, stellt Gummer zum ersten Mal einige
wichtige Überlegungen, die darauf hindeuten, dass er glaubt, sein Leben verändern zu
können, an: “[w]enn sie ihn rausschmissen was soll’s! Wenn er auf der Straße saß, na
sei’s drum! Es gab auch noch ein anderes Leben als das in ihren Büros, es mußte eines
geben.”145 Trotzdem betont seine Angst, zu spät zu kommen für die Versammlung – die
einberufen worden ist mit der Absicht Gummer in Zusammenhang mit seiner Erfindung
fiktiver Kunden, zur Verantwortung zu ziehen – dass er den Wiederholungen und den
gesellschaftlichen Aufgaben nicht entfliehen kann. Man könnte sagen, dass die Zeit in
der Geschichte fast als Gegner von Gummer auftritt: “über ihm hing eine Uhr” und “[e]r
sah auf seine Armbanduhr und lief schneller, obwohl er keineswegs sicher sein könnte
ob er sich nicht immer weiter vom Ziel entfernte.”146 Nicht nur die Sinnlosigkeit seiner
Eile, sondern vielleicht auch der blöde Streit gegen die Zeit wird hier auf ironische
Weise zur Schau getragen. Gummer hat überhaupt kein Ziel (mehr); er weiß sogar nicht,
ob er sein Leben verändern könnte. Deshalb ist diese Situation, nachdem Gummer auch
behauptet hat, “daß es von Nachteil sein konnte, wenn man ohne Ambitionen, ohne
Ehrgeiz, ohne Ziel war” sehr komisch.147 Die U-Bahn, die immer ein Ziel hat und
deswegen in starkem Kontrast zu Gummer steht, macht die Lage Gummers lächerlich.
Auch Willy Bein hat eine eigenartige Beziehung zur Zeit. Er sammelt Uhren, die
er in “Mülltonnen, in Autowracks, in den Küchen verlassener Wohnungen” findet:
Uhren waren auch wichtig. [...] Einige gingen mehrere Stunden nach – das heißt, sie gingen nicht falsch, sondern Willy hatte sie absichtlich nachgestellt; andere wiederum gingen vor – aus demselben Grund. Er hatte über jeder der Uhren kleine Zettel befestigt, auf denen mit ungelenker Schrift geschrieben stand: ‘vor
145 Zähringer: So, S.336.146 Zähringer: So, S.338.147 Zähringer: So, S.336.
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zwei Stunden’, ‘vor zwanzig Minuten’, ‘in einer halben Stunde’. Auf diese Weise hoffte Willy nicht nur die Gegenwart, sondern auch Vergangenheit und Zukunft, also die Zeit an sich wieder in den Griff zu bekommen.148
Obwohl Willy Bein, wie Gummer “jedes Zeitgefühl verloren hat”, versucht er doch
seine Beziehung zur Zeit ins Gleichgewicht zu bringen. Er versucht die Zeit der
gesammelten Uhren, die er “absichtlich nachgestellt” hat, anhand kleiner Zettel auf den
Uhren zu kontrollieren. Man könnte annehmen, dass Willy Bein durch seine Position
gegenüber der Zeit, sich eigentlich nicht in der Gegenwart, ebenso wenig in der Zukunft
oder Vergangenheit, sondern eher im ‘Nirgendwann’ befindet. Was wäre denn
überhaupt der Zweck dieser verschiedenen Uhren mit verschiedenen Zeiten? Wenn
Willy Bein ins Jetzt guckt, bemerkt er seine eigene schreckliche Lage. Wenn er sich
über seine Vergangenheit nachdenkt, erinnert er sich an die schweren Momente seines
Lebens. Sein Blick auf die Zukunft ist wie “ein schwarzes, gähnendes Loch”.149 Seine
Beziehung zu den Maschinen tritt auch wieder in den Vordergrund, wenn Willy sich die
Welt als das Räderwerk einer Uhr vorstellt. In seiner Welt oder in seinem Räderwerk
“war Sand ins Getriebe gekommen, und seit einem mysteriösen Datum tickten alle
Uhren anders”.150 Sein Leben und sein Zeitgefühl sind durch die Schließung der
Glühlampenfabrik aus den Fugen geraten. Er versucht anhand seiner Kontrolle über die
Uhren und anhand seiner Pläne, die Bank zu plündern, die Zeit (oder sein Zeitgefühl)
und sein Leben wieder in die richtige Bahn zu lenken.
148 Zähringer: So, S.49.149 Zähringer, So, S.50.150 Zähringer: So, S.50.
61
Schlussfolgerung
In dieser Arbeit habe ich in erster Linie versucht die Beziehung zwischen dem
Individuum und der Gesellschaft in den Romanen Berlin Alexanderplatz (Alfred
Döblin) und So (Norbert Zähringer) zu untersuchen. Für den Roman Döblins wurde die
literarische Darstellung dieser Beziehung, mithilfe einiger soziologischen Merkmale des
Großstadtlebens, die Georg Simmel in seiner Arbeit Die Großstädte und das
Geistesleben darlegt, beleuchtet. Da Simmels Text vom Anfang des zwanzigsten
Jahrhunderts datiert, und Zähringers Roman am Anfang des einundzwanzigsten
Jahrhunderts zu situieren ist, kann man nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass die
Merkmale, die Simmel der Großstadt zuschreibt, heute bei Zähringer noch anwendbar
oder zutreffend wären. Deshalb habe ich im ersten Teil vor allem versucht die von
Simmel hervorgehobenen Markmale, die im Roman Döblins literarisch gestaltet
werden, zu akzentuieren. Im zweiten Teil, bei der Analyse von Zähringers Roman habe
ich auf einige Parallelen der beiden Berlinromane aufmerksam gemacht. Durch diese
Parallelen kann man dann vielleicht die Merkmale des Großstadtlebens, die von Simmel
62
erläutert wurden, auch in Zähringers aktuellem, fiktionalem Bild des Großstadtlebens
erkennen. Dabei sollte man jedoch die Unterschiede zwischen beiden Büchern nicht aus
dem Auge verlieren.
Aaron Winslow hat schon auf die Konvergenzen zwischen Simmels
soziologischen und Döblins literarischen Beschreibungen des Großstadtlebens
hingewiesen (siehe Einleitung). Er hat jedoch ebenfalls auf einen wichtigen Unterschied
aufmerksam gemacht:
However, Döblin’s simultaneous use of a Biblical structuring element in his novel, with its portrayal of sacrifice and false order, ironically undercuts Simmel’s conclusion that, in the modern urban sphere, “our task is not to complain or to condone but only to understand.”151
Der Erzähler will nicht nur dem Leser das Großstadtleben zeigen, sondern er will, wie
ich bei der Besprechung des Romananfangs schon deutlich gemacht habe, dass der
Leser, durch den Effekt der epischen Distanz und der Ironie, eine kritische Position
gegenüber der Geschichte einnimmt. Was wird vom Erzähler denn genau kritisiert? Bei
der Analyse der Zannowichgeschichte hat sich herausgestellt, dass man zu den
Menschen gehen soll, aber dass man dabei zugleich nicht übermütig werden darf. Am
Ende des Romans kommt eine bestimmte Kritik an der Passivität des Individuums zum
Ausdruck:
Da werde ich [Franz Biberkopf, D.D.B] nicht mehr schrein wie früher: Das Schicksal, das Schicksal. Das muß man nicht als Schicksal verehren, man muß es ansehen, anfassen und zerstören.152
Biberkopf hat aus seinen Fehlern etwas gelernt: Er steht nicht allein in der Großstadt,
sondern marschiert zusammen mit vielen anderen Leuten durch Berlin. Er weiss am
Ende, dass er nicht nur zusehen, sondern selber eingreifen muss. In diesem Sinne
enthält “die Geschichte vom Franz Biberkopf” eine bedeutungsvolle Lehre, die zugleich
eine scharfe Kritik an der Passivität des Individuums ausübt.
Bei der Besprechung des Mottos “[i]n the long run we are all dead” sowie in der
Parabel des Methodius’ im Roman So habe ich ebenfalls auf eine mögliche Verurteilung
der Passivität hingedeutet. Am Ende des Romans greift Gummer endlich in sein eigenes
Leben ein, denn er verlässt den Tresor mit einer Kopie eines Gemäldes von van Gogh
und verschwindet in der Menge. Gummer durchbricht seine Passivität und glaubt an ein
151 Aaron Winslow: “False Structure in Berlin Alexanderplatz”, S.351-364, hier: S.351.152 Döblin: Berlin Alexanderplatz, S.454.
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anderes, neues Leben, an eine neue mögliche Existenz. Der Erzähler des Romans, der
erst am Ende des Romans als ein schlafender Portier mit einem offenen gläsernen Auge
sichtbar wird, ist jedoch selber passiv. Seine Passivität könnte man als eine notwendige
Position des Erzählers, der die Selbstständigkeit und den kritischen Blick des Lesers in
der Geschichte auszulösen versucht, deuten. Sowohl in Berlin Alexanderplatz als in So
wird die Passivität des Individuums gegenüber seiner Lage kritisiert.
Die Hauptfiguren Gummer und Willy Bein im Roman So sind beide Aussteiger,
die große Hoffnungen auf die Großstadt setzen. Die Versprechungen, die die Stadt zu
enthalten scheint, werden nie eingelöst. Cordt Gummer wird Filialleiter, aber er hat
keine Kunden und wird letztendlich degradiert, während Willy Bein seinen Traumjob
verliert und arbeitslos wird. Franz Biberkopf befindet sich in einer ähnlichen Situation,
denn er glaubt, dass er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis ohne Schwierigkeiten
ein neues Leben in der Stadt aufbauen kann, und dass er die Stadt erobern kann, aber
die drei Schläge, die er erhält, beruhigen ihn und seine Eroberungslust. In beiden
Büchern wird der Untergang der Hauptfiguren beschrieben, obwohl die Romane nicht
mit diesem Untergang abschließen. Ich habe schon die Art und Weise in der das Leben
und die Pläne der Hauptfiguren völlig misslingen, zur Sprache gebracht. Willy Beins
Reaktion auf das Scheitern der Pläne ähnelt derjenigen Biberkopfs, da sie sich beide für
die Kriminalität entscheiden. Letztgenannter will nach dem ersten Schlag nur Geld
verdienen und gerät auf diese Weise in ein kriminelles Milieu. Willy Bein gräbt nach
der Schließung der Glühlampenfabrik einen Tunnel zu dem Baucontainer Gummers, mit
der Absicht den Tresor zu plündern. Bemerkenswert ist, dass Willy Bein in diesem
unterirdischen Labyrinth nie sein Ziel erreicht. Außerdem kann man Willys Blindheit,
nach seinem langen unterirdischen Aufenthalt, genauso wie Biberkopfs Blindheit als
Sinnbild für den Mangel an Einsicht in der eigenen Situation betrachten. Die meisten
Figuren der beiden besprochenen Romane werden von der Gesellschaft, in der sie leben
und an der sie beteiligt sind, enttäuscht.
Die Tatsache, dass Biberkopf, Gummer und Bein sich in der Großstadt als
Individuen Geltung verschaffen wollen, erklärt, weshalb sie ihre Hoffnung auf die
Großstadt gesetzt haben. In dieser Hoffnung kommt das Bedürfnis des Individuums,
sich von den Andern zu unterscheiden, zum Ausdruck. Dieses Bedürfnis hängt in
Simmels Text über die Großstadt eng mit der Idee der Spezialisierung auf dem
64
Arbeitsmarkt zusammen: “[d]ie Notwendigkeit, die Leistung zu spezialisieren, um [...]
eine nicht leicht ersetzbare Funktion zu finden, drängt auf Differenzierung [...].”153
Diese Differenzierung kann einerseits positiv betrachtet werden, da sie die
Heterogenität der Großstädter und die “personalen Verschiedenheiten”154 gewährt, aber
andererseits hat das Individuum die “Schwierigkeit, in den Dimensionen des
großstädtischen Lebens die eigene Persönlichkeit zur Geltung zu bringen”.155 Die
Figuren, Cordt Gummer, Willy Bein und Franz Biberkopf wollen alle ihre Lage bessern,
ihre Persönlichkeit in der Großstadt oder im Betriebsleben zur Geltung bringen. Hania
Siebenpfeiffer erkennt das Streben der Figuren in den meisten zeitgenössischen
Berlinromanen:
So erzählen fast alle Berlinromane Geschichten entwurzelter und krisengeschüttelter Figuren, die die Stadt auf der Suche nach ihrer eigenen Vergangenheit, einer verlorenen Liebe oder einer erhofften Zukunft mehr oder minder zielstrebig durchstreifen.156
Siebenpfeiffer zeigt das Misslingen der Suche, die die Figuren in vielen Berlinromanen
vorhaben, auf. Sie wollen sich nicht nur mit ihrer Persönlichkeit Geltung verschaffen,
sondern möchten auch ihre Identität in der Großstadt finden und entfalten. In beiden
Büchern scheitert die Identitätssuche der Protagonisten. In der oben zitierten Stelle
Siebenpfeiffers kommt die Bedeutung der Vergangenheit und Zukunft in
Zusammenhang mit den Figuren und der Großstadt zum Ausdruck. Im Falle Biberkopfs
kann man bemerken, dass er auf der Suche nach seiner eigenen Vergangenheit ist, denn
er will den Mord an Ida am Anfang des Buchs verdrängen, muss aber schließlich
dasjenige, was er falsch gemacht hat, erkennen. Zugleich sucht er auch eine bessere
Zukunft, in der er anständig sein will. Gummer und Willy Bein sind ebenfalls vor allem
mit ihrer Zukunft beschäftigt, obwohl beide durch die Aussichtslosigkeit ihrer Zukunft
eigentlich eher in der Vergangenheit leben. Gummer hat das Gefühl, in der
Vergangenheit gefangen zu sein, als ob er alle Ereignisse seines Lebens schon einmal
zuvor erlebt hat. Die Wiederholungen und die Eile, die sein Leben beherrschen, werden
vom Erzähler auf ironische Weise mit der Ziel- und Sinnlosigkeit des Lebens verknüpft.
Willy Bein hat ein besonderes Verhältnis zu seinen gesammelten Uhren, auf denen er
Zettel klebt, mit der Absicht, die Zeit in den Griff zu bekommen. Er versucht jedoch auf 153 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S.36.154 Ebenda.155 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S.37.156 Hania Siebenpfeiffer: “Topographien des Seelischen. Berlinromane der neunziger Jahre”, S.87.
65
diese Weise auch Kontrolle über die Uhren, die Zeit und sein Leben zu gewinnen. Was
in beiden Romanen in Bezug auf die Zeit besonder ins Auge springt, ist die Tatsache,
dass die Erfahrungen der Protagonisten sich zu wiederholen scheinen. Das Zeitschema,
dass in der Großstadt prominent ist, beinhaltet eine Struktur, ohne die die Großstadt und
ihr “ganzes wirtschaftliches und sonstiges Verkehrsleben” nie funktionieren könnten:157
So ist die Technik des großstädtischen Lebens überhaupt nicht denkbar, ohne daß alle Thätigkeiten [...] in ein festes, übersubjektives Zeitschema eingeordnet würden.158
Das Zeitschema verursacht jedoch einen Verlust des Zeitgefühls bei den Protagonisten
beider Romane, da trotz ihrer Rückschläge und Mißerfolge, das Leben und dieses
Zeitschema ohne weiteres weiterläuft. Deshalb kan mann sagen, dass die Hauptfiguren
von diesem Zeitschema und von ihrer eigenen Vergangenheit, in der sie zu fliehen
versuchen, eingeschlossen werden. Simmel deutet weiterhin auf die Berechenbarkeit,
auf den sterilen, intellektualistischen Charakter dieses “übersubjektive[n]
Zeitschema[s]” hin. Genau mit diesem Charakter des Zeitschemas werden die
Protagonisten von Berlin Alexanderplatz und So in der Großstadt konfrontiert.
So wie das Leben der Hauptfiguren in den beiden Berlinromanen sich
wiederholt, so sind die Veränderungen in der Großstadt, wenn nicht als eine ewige
Wiederkehr des Gleichen, zumindest als Projekte, die immer in ihrer Entstehungsphase
festlaufen, interpretieren. Im Roman So verwandelt sich das Gelände im Osten Berlins,
das der wichtigste Ort in der ganzen Geschichte ist, drei Male. Nachdem die
Glühlampenfabrik, in der Willy Bein arbeitet, Bankrott geht, wird das Gelände von der
VERBAG aufgekauft, aber die Pläne an diesem Ort eine neue einträgliche Filiale zu
erschaffen, scheitern. Der nächste Plan, der Bau eines modernen Einkaufszentrums,
läuft auch auf nichts hinaus. Mehr als in Zähringers Roman kann die Großstadt in
Döblins Berlin Alexanderplatz als eine Art ‘autonome Figur’ betrachtet werden, was
eine Folge der Industrialisierung als neues Phänomen im zwanzigsten Jahrhundert sein
könnte. Auf dem Alexanderplatz ist alles im Entstehen, obwohl dabei in geringerem
Maße als bei Zähringer behauptet wird, dass man in den Übergangsphasen stecken
bleibt. Die Baustelle und die Dampframme versinnbildlichen die ständige Veränderung
der neu industrialisierten Großstadt Berlin. In beiden Romanen könnte man jedoch die
Großstadt als unfertig bezeichnen. Siebenpfeiffer bemerkt Folgendes:157 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S.16.158 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S.17.
66
In zahlreichen Romanen und Erzählungen der letzten zehn Jahre finden sich die Beschreibungen des Transitorischen und Unfertigen der Stadt Berlin en gros wieder [...]. In dieser Stadtwüste stehen sich die suchenden Figuren und die unfertige Stadt als Spiegelbilder gegenüber. [...] Die wechselseitige Symbolisierung von >Ich< und >Stadt< ist dabei von zwei Seiten her zu denken: Die Stadt ist in der literarischen Figur ebenso gespiegelt wie sich die literarische Figur in der Stadt wiederfindet.159
Die Identitätssuche der Protagonisten kann mit dem Bild der unfertigen und
transitorischen Stadt verbunden werden, im Sinne, dass sie einander als Spiegelbilder
gegenüberstehen. Man könnte behaupten dass die Geschichten in So und Berlin
Alexanderplatz nicht nur eine Identitätssuche, sondern auch eine Existenzsuche der
Figuren in der Großstadt darstellen.
So wie ich die Zeit in Zähringers Roman als eine ewige Wiederkehr des Gleichen, als
einen unendlichen Kreis gedeutet habe, habe ich auch die Geldwirtschaft in der
Geschichte als unendlich charakterisiert. Der Erzähler identifiziert Gummer und seinen
Lebenskreis – der vergänglich ist, sich immer zu wiederholen scheint und außerdem
Teil der unendlichen, unvergänglichen Gesellschaft ist – mit dem Geld beziehungsweise
dem Geldkreis, der ebenfalls die gleichen Merkmale wie Gummers Lebenskreis hat und
außerdem Teil der unendlichen Geldwirtschaft ist. Diese Beziehung zwischen, dem
Geld, dem Geldkreis und der Geldwirtschaft einerseits, dem Protagonisten, dem
Lebenskreis und der Gesellschaft andererseits, habe ich als eine Anthropomorphisierung
des Geldes interpretiert. Der ganze Roman handelt vom Geldwesen und zeigt die
Unpersönlichkeit einer Gesellschaft, die von der Geldwirtschaft, fast wie ein Automat
angetrieben wird. Diese Unpersönlichkeit und Versachlichung werden von Simmel als
Folgen des geldwirtschaftlichen und intellektualistischen Charakters des
Großstadtlebens dargelegt. Das äußert sich im Roman Zähringers vor allem in der
Parabel des Methodius’, in der Berengar diesen intellektualistischen und
geldwirtschaftlichen Charakter des Großstadtlebens zur Schau trägt. Auch in der
Parabel “Belehrung durch das Beispiel des Zannowich” in Döblins Roman, kommt
dieser typische Charakter des Großstädters zum Ausdruck, in dem Sinne, dass der alte
Zannowich sein Verstand benutzt und deshalb viel Geld verdient hat. Nicht nur der
Geldwirtschaft, sondern auch der berichtende Stil des Erzählers ist mit einer bestimmten
Unpersönlichkeit verbunden. Der Erzähler berichtet in Berlin Alexanderplatz vom Tod
159 Hania Siebenpfeiffer: “Topographien des Seelischen. Berlinromane der neunziger Jahre”, S.85-104, hier: S.86-88.
67
Idas. Anhand von wissenschaftlichen physischen Beschreibungen, objektiviert er den
von Franz verübten Mord an ihr. In Zähringers Roman wird der Tod zweier Arbeiter
durch die Tatsache, dass der berichtende Erzähler sie nur nebenbei erwähnt, und dass
die Hauptsache des Berichts die Unterbrechung der Arbeiten für ein altes Bunkersystem
ist, völlig versachlicht. Die Objektivierung oder die Versachlichung führt bei den
Protagonisten zu einer Aversion, sogar zum Hass. Simmel hat die Aversion und den
Hass als Folgen der Reserviertheit, die der Soziologe als typisches Merkmal des
Großstädters umschrieben hat, in den Vordergrund gezogen. Gummer hasst Heinrich
Voß, Willy Bein die VERBAG, die er deswegen plündern will. Franz Biberkopf hasst
alle, die ihn in seinen Plänen stören und er ist sehr misstrauisch, vor allem nach dem
ersten Schlag, bei dem er selber betrogen wird.
Es möge deutlich sein, dass den Merkmalen, die Simmel dem Großstadtleben
zuerkennt, auch dem Leben, das in den Romanen Berlin Alexanderplatz und So gestaltet
wird, zugeschrieben werden könnte. Die Frage ist jetzt, wie man deuten könnte, dass
Zähringers Roman Merkmale, die dem älteren Text Simmels ähneln, aufweist. Eine
mögliche Erklärung ist die Tatsache, dass sowohl Simmels Arbeit als Zähringers Buch
um eine Jahrhundertwende geschrieben wurde. Die Beziehung zwischen dem
Individuum und der Gesellschaft in den beiden Romanen wird charakterisiert von einer
Eigenschaft des modernen Lebens, die Simmel wie folgt beschrieben hat:
Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums die Selbstständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren [...]160
Beim Wechsel vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert war die Industrialisierung
ein neues Phänomen, das den oben erwähnten Anspruch des Individuums in gewissem
Maße bedrohte. Das äußert sich im Text Simmels, aber ebenfalls im Roman Berlin
Alexanderplatz, in dem man mit einer industrialisierten Großstadt konfrontiert wird. Bei
den Beschreibungen der Bauten am Alexanderplatz tritt dieses Bild einer
modernisierten und industrialisierten Stadt in den Vordergrund. Beim Wechsel vom
zwanzigsten ins einundzwanzigste Jahrhundert ist die Globalisierung die wichtigste
Herausforderung für das Geistesleben des Individuums. Im Roman So kann man “den
Prozess der zunehmenden internationalen Verflechtung” besonders in dem Moment
160 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S.7.
68
erkennen, als die Glühlampenfabrik, vermutlich von Südamerikanern, aufgekauft
wird.161 Auch die Automaten spielen in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle, denn das
Individuum wird durch den Eintritt der Automaten ersetzbar. Bei Döblin und Zähringer
werden die Industrialisierung beziehungsweise die Globalisierung, die bei dem
Individuum als neue Phänomene bestimmte Fragen über die eigene Zukunft auslösen,
mit einer Identitätskrise und –suche des Individuums verknüpft. Das Individuum
versucht, obwohl es auf der Suche nach seiner Identität und Funktion in der
Gesellschaft kaum Erlösung zu bekommen scheint, seine Autonomie gegenüber der
Übermacht der Industrialisierung oder der Globalisierung zu bewahren.
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