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Die Hades-Zone

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Nr. 336

Die Hades-Zone

Der Weg durch die tödliche Unterwelt von Atlantis

von Hans Kneifel

Die Erde ist wieder einmal davongekommen. Pthor, das Stück von Atlantis, dessen zum Angriff bereitstehende Horden Terra überfallen sollten, hat sich dank Atlans und Razamons Eingriffen wieder in die unbekannten Dimensionen zurückgezogen, aus denen der Kontinent des Schreckens urplötzlich materialisiert war.

Atlan und Razamon, die die Bedrohung von Terra nahmen, gelang es allerdings nicht, Pthor vor dem neuen Start zu verlassen. Zusammen mit dem Kontinent und seinen seltsamen Bewohnern befinden sie sich auf einer ungesteuerten Reise ins Ungewisse.

An eine Kursbestimmung von Pthor ist noch nicht zu denken, und so werden es Al­gonkin-Yatta und seine exotische Gefährtin, die beiden Reisenden durch Zeit und Raum, die seit langem nach Atlan suchen und die den Arkoniden, als er noch auf der Erde weilte, nur knapp verfehlten, es schwer haben, sich weiter an seine Fersen zu heften.

Der Arkonide ist jedoch kein Mann, der in Tatenlosigkeit verharrt. Während Odins Söhne nach dem Tod der Herren der FESTUNG ihre Herrschaftsansprüche auf Pthor geltend machen, beginnt Atlan, nach dem verborgenen Steuermechanismus des »Dimensionsfahrstuhls« zu suchen.

Nach dem Zwischenspiel mit den »lebenden Toten« führt Atlans Weg in unbekann­te Tiefen von Pthor und in DIE HADES-ZONE …

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Die Hautpersonen des Romans:Atlan - Der Arkonide auf dem Weg in die Hades-Zone.Elkohr - Ein Roboter mit speziellen Fähigkeiten.Kortmikel - Ein Dimensionsforscher vom Planeten Dellop.Urtyn - Der letzte der Zyklopen.Larstropha - Königin des lichtlosen Gebiets.

1.

Das zischende Geräusch erfüllte seinen Schädel und wurde lauter. Er blinzelte und bemerkte einen vagen Lichtschimmer. Über ihm glänzte nasses Metall. Weiße Flecken breiteten sich entlang der Metallnähte aus. Metall? Seine letzten Erinnerungen waren ganz anders. Der Kampf um Thalia und die Ungeheuer, die ihn in den See verschleppt hatten. Der harte Schlag, der sein Bewußt­sein raubte.

Auf die Beine! Du bist irgendwo unter­halb des Seegrunds, beschwor ihn der Extra­sinn.

Atlan hob mühsam den Kopf. In seinen Ohren zischte und dröhnte es noch immer. Seine umhertastenden Finger fanden einen festen, wenn auch seltsam feuchten und glit­schigen Untergrund. Ächzend stemmte er seinen Oberkörper hoch und sah sich keu­chend um. Er öffnete das Kopfteil seines Anzugs. Die Luft war kühl, feucht und schmeckte nach Moder und Fäulnis.

Offensichtlich war er tief unter dem Bo­den von Atlantis. Bewegte sich dieser kleine Kontinent noch immer durch Zeit und Raum?

Warum war er noch am Leben? Die Nobarcs hatten ihn in das eisige Was­

ser des runden Sees mit den Steilufern ent­führt. Der Anzug der Vernichtung, jenes Goldene Vlies, schien abermals sein Leben gerettet zu haben.

»Die Ungeheuer haben mich hier bewußt­los liegengelassen. Vermutlich werden sie mich später umbringen wollen«, sagte er und stand auf. Um seine Füße bildete sich eine stinkende Wasserlache.

Wieder musterte er voller Spannung seine

Umgebung. Jetzt erkannte der Arkonide, daß er in ei­

nem etwa dreißig Schritt langen Metallkorri­dor stand. In der Mitte der gewölbten Decke verlief ein Band aus milchigen Vierecken, die durch das hohe Alter gelb und schmutz­verkrustet waren. Überall wucherten weiße und graue Schwämme. Von einigen Vor­sprüngen hingen bartähnliche Fäden herun­ter.

Dieses Rauschen! War es das Geräusch, mit dem sich Pthor bewegte?

Nein. Es war unverkennbar das Strömen und Rauschen von Wasser. Atlan ging lang­sam in die Richtung des Korridors, die durch Feuchtigkeitsspuren gekennzeichnet war. Dort entdeckte er die Hebel, Riegel und Drehlager eines Schleusentors von beträcht­licher Größe. Auch hier wucherten Flechten und Gespinste am korrodierten und schmut­zigen Metall und besonders an jenen Stellen, auf denen die Dichtungen auflagen. Als At­lan probeweise einen Hebel zu bewegen ver­suchte, hörte er hinter sich Schritte. Er fuhr herum. Am anderen Ende des Korridors tauchte in der gelben Beleuchtung eine selt­same Gestalt auf.

Sie war nicht groß und wirkte zierlich. Entweder war es ein Robot oder ein Wesen, in eine Rüstung aus makellos glänzendem Silber gekleidet. Atlan konnte weder eine Waffe erkennen, noch machte dieses … Ding Anstalten, sich auf ihn zu stürzen. »Wer bist du? Was willst du von mir?« frag­te Atlan in langsamem Pthora. Die zierliche Gestalt machte ein paar schnelle Schritte und erwiderte:

»Ich bin Elkohr. Ein Roboter aus Wolter­haven.«

Elkohr hatte eine knabenhaft helle Stim­me. Sie paßte merkwürdigerweise zu seiner

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grazilen Figur, die dennoch alles andere als den Eindruck von Kraftlosigkeit machte.

»Ein Roboter, sagtest du?« Elkohr kam schnell näher und blieb weni­

ge Schritte vor dem Arkoniden stehen. Atlan schüttelte verwirrt den Kopf. Seine Gedan­ken gingen zurück zu jenem kleinen, muti­gen Robot, der Balduur bedient hatte.

»Richtig. Ein Robot namens Deckenwie­zel konstruierte mich. Andere Robotbürger Wolterhavens stellten mich fertig, nachdem Deckenwiezel als Geschenk der Stadt zu Balduur gebracht wurde. Ich muß sagen, daß du dich hervorragend gegen die Nobarcs ge­wehrt hast.«

»Danke«, brummte Atlan. »Ich … hast du etwas damit zu tun, daß ich noch lebe und mich hier in diesem stinkenden Korridor aufhalte?«

»So ist es. Ich folgte dir und deinen häßli­chen Entführern. Dabei gelang es mir, wenn auch unter erheblichen Mühen, dich zu be­freien. Ich brachte dich hierher.«

Atlan lächelte kurz und antwortete: »Wofür ich mich herzlich bedanke.« »Ich bin kein Freund der Herren der FE­

STUNG, und daher ist jedermann zu unter­stützen, der gegen sie kämpfte. Was sind deine Pläne? Wie ist dein Name?«

»Ich bin Atlan. Ich suche die Schaltstel­len, von denen Pthor gesteuert wird. Wo be­finden wir uns?«

»Tief unter der Kruste von Pthor. Wir bei­de, denke ich, haben zumindest teilweise dasselbe Ziel«, erklärte der Robot mit sei­nem hellen Organ. »Sollten wir den Weg nicht gemeinsam gehen?«

»Gern. Und was suchst du, Elkohr? Und warum bist du gegen die FESTUNG?«

Atlan und der Robot sahen sich an. Ein seltsames Zusammentreffen! Atlan mußte mehr über diesen Retter erfahren, denn er dachte, daß Elkohr mehr über Pthor und des­sen Einrichtungen wissen würde als viele andere. Mehr jedenfalls als er, Atlan, selbst.

»Du hast eine bestimmte Mission?« er­kundigte er sich voller Neugierde.

»Jawohl. Es kann nicht schaden, daß ich

Hans Kneifel

dir alles erzähle. Koy der Trommler weiß viel, aber nicht alles – er ist einer deiner Kampfgefährten gewesen, nicht wahr?«

»So verhält es sich«, gab Atlan zu. »Mein Auftrag allerdings wurde von niemandem programmiert. Ich selbst bin der festen Ab­sicht, einige Dinge zu verändern. Und zwar zum Positiven. Auch wenn es schwierig sein wird und lange dauern kann.«

»Vorhaben solcher Größe sind selten in­nerhalb kurzer Zeit durchzuführen«, erklärte Elkohr. »Auch ich muß mir Zeit lassen und lange überlegen. Allerdings liegt meinem Vorhaben ein echter, durchaus mechanisti­scher Vorsatz zugrunde.«

»Darfst du darüber sprechen?« »Selbstverständlich.« Atlan hob die Hand und stoppte den Eifer

des kleinen Robots. »Du kannst mir dein Vorhaben sicher

auch erklären, wenn wir diesen wenig schö­nen und armseligen Korridor verlassen ha­ben?«

»Selbstverständlich. Ich kenne den Weg ziemlich gut. Das heißt genauer: Die Robot­bürger von Wolterhaven kennen die einzel­nen Türen, Gänge, Abzweigungen und Hauptanlagen. Ich bin nur ein Werkzeug, wenn auch ein hochentwickeltes.«

Atlan lachte kurz und registrierte zufrie­den, daß sein verschwundener und in seinen Körper hineingewanderter Zellschwingungs­aktivator sowohl die Schmerzen der Schläge als auch vorübergehend das Hungergefühl besiegte. Aber dann wurde er sich der Schwierigkeit seines Versuches bewußt und biß sich auf die Lippen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was hier auf ihn lauerte. Aber Elkohr drehte sich herum, tänzelte ele­gant bis zum jenseitigen Ende des Korridors und öffnete dort eine hohe, schmale Metall­platte.

»Ein hochentwickeltes Werkzeug und ein alter Arkonide, der versuchen will, diesen Brocken Terror und Scheußlichkeit zu ver­ändern«, bemerkte der schlanke Mann mit dem fast weißen Haar. »Dann fangen wir an! Wie lautet deine Geschichte, Elkohr?«

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»Ich bin ein Robot …« »Bekannt.« »Und Wolterhaven ist die Zentrale aller

kybernetischen Aktivitäten und Innovatio­nen. Die Robotbürger verfügen nicht nur über ein großes, sondern auch über ein riesi­ges geschichtliches Wissen. Sie haben aus­gerechnet, daß in Kürze wichtige Bauteile im Antrieb von Pthor ausfallen können. So­lange Pthor ruht, sind diese Steuerungen un­wichtig, aber im Augenblick sind sie emi­nent wichtig geworden.«

Atlan hörte, wie das Rauschen des Was­sers leiser und das rauschende Geräusch, das die Bewegung Pthors anzeigte, lauter wurde. Er schlüpfte durch die Öffnung, die sich hin­ter ihm selbsttätig schloß.

»Diese Bauteile müssen repariert werden. Dies ist unumgänglich. Also programmierte man mich entsprechend. Weil aber die Ro­botbürger wissen, daß es nicht allein auf die Fähigkeit des Reparierens ankommt, rüste­ten sie mich mit zusätzlichen Fähigkeiten aus.«

»Welche Fähigkeiten?« Sie bewegten sich jetzt auf einer Art

Rampe aus hellem Material, das wie eine Mischung aus Stahl und Kunststoff wirkte. Dieses Band deutete leicht geschwungen in einen halbdunklen Raum hinein, der von rät­selhaften Maschinen erfüllt zu sein schien. Es war warm, und hier roch die Luft abge­standen, aber nicht grundsätzlich schlecht. Atlan ging hinter Elkohr her und hörte auf­merksam zu, während seine Augen versuch­ten, die Dunkelheit zu durchdringen.

»Um hier unten eine Reparatur ausführen zu können, mußte ich erst einmal hierher ge­langen«, führte der Robot aus. »Um hierher kommen zu können, und zwar unzerstört, bedarf es einiger List, Kraft und Geschick­lichkeit.«

»Das kann ich bestätigen«, meinte der Ar­konide. »Weiter!«

»Und wenn ich erst einmal hier bin, sollte es mir nicht ergehen wie meinen sechs Vor­gängern.«

»Wie erging es ihnen?« fragte Atlan und

ahnte Böses. »Keine Ahnung. Es waren bessere und

kräftigere Konstruktionen als ich unter ih­nen. In der Vergangenheit schickten die Ro­botbürger Wolterhaven sechsmal einen Re­parateur hierher. Alle sind verschollen. Und der Auftrag wurde nicht erfüllt.

Deswegen haben sich wohl Deckenwiezel und seine Nachfolger mit der Konstruktion eines Roboters namens Elkohr besondere Mühe gegeben«, fuhr der Robot fort. »Ich besitze besondere Kräfte und Fähigkeiten. Aber – ehe du danach fragst: Ich darf sie nicht preisgeben. Sie sind indessen beacht­lich, denn ohne sie hätte ich dich nicht aus der Gewalt der Nobarcs befreien können.«

Atlan blieb stehen und blickte die Maschi­ne an.

»Wir haben hier nicht viel zu schaffen«, rief Elkohr. »Komm! Wir müssen in die Ha­des-Zone hinuntersteigen.«

»Hades?« wunderte sich Atlan. »Ganz richtig. So werden diese Tiefkaver­

nen genannt.« Abermals mußte Atlan Assoziationen

feststellen. Die Unterwelt der griechischen Mythologie, wisperte der Extrasinn, der Ort, an dem die Geister der Toten sich aufhalten. Das Schattenreich, tief unter der Erde. Auch hier entspricht die Lage diesen Sagen. Kei­nesfalls eine zufällige Übereinstimmung. Atlantis scheint in vielen Fällen die Sagen der Erde geprägt zu haben.

»Und der Teil, der zu reparieren ist, befin­det sich in dieser Zone?« fragte der Arkoni­de wißbegierig.

»Ja. Liegt dein Ziel ebenfalls in der Ha­des-Zone?«

Langsam gingen Elkohr und Atlan auf dem Band weiter. Vor ihnen erhob sich wie eine mächtige Säule eine dunkle, an der Flanke leicht schimmernde Konstruktion in die Höhe. Das Band schien dort zu Ende zu sein.

»Ich bin sicher, daß es dort zu finden ist«, stimmte Atlan zu. »Der Zufall hat uns beide zusammengebracht. Ich weiß nicht, wo mein Ziel eigentlich liegt. Ich weiß aber, daß ich

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es erreichen muß.« »Wir müssen also in die Hades-Zone. Ich

weiß natürlich, daß die FESTUNG gefallen ist. Von den Herren droht uns sicher keine Gefahr mehr. Aber umso mehr von ihren Kreaturen und von denen, die sich im Lauf langer Jahrhunderte hier verborgen haben und ein entsetzliches, lichtloses Leben füh­ren.«

»Es sind die gleichen Gefahren, auf die ich mich eingestellt habe«, versicherte der Arkonide.

Denke daran! Dein Ziel sind die Schalt­elemente. Du mußt den Flug von Atlantis unter Kontrolle bringen! Wenn es nicht ge­lingt, dann landen wir alle entweder in der Schwarzen Galaxis, oder auf dem Weg dort­hin geschieht eine unvorstellbare Katastro­phe! sagte drängend der Extrasinn.

Elkohr machte eine einladende Handbe­wegung. Sie standen vor einem Durchgang, der in die Säule hinein führte. Dort erkannte Atlan eine Wendeltreppe, die ebenfalls aus einem glatten Band bestand. Es gab keine Beleuchtung, sondern das Treppenband leuchtete selbst aus sich heraus. Schweigend gingen der Robot und der Arkonide dieses Band abwärts. Die Geräusche ihrer Schritte klangen auffallend laut und erschreckend.

2.

Vor der mächtigen Kulisse des Berges er­hoben sich eine Menge kleiner, abgerundeter Hügel. Sie waren aus dem Schutt längst ver­gessener Eiszeiten zusammengeschoben. Ur­alte, schwarzblättrige Bäume wuchsen auf den Kuppen und füllten die Täler aus. Sie wirkten düster, geheimnisvoll und schienen Zaubersprüche zu flüstern, wenn der Wind sie bewegte. Die Luft war kalt und frisch und roch nach verwelkendem Laub. Im Zen­trum dieses niederdrückenden Panoramas er­hob sich aus der Flanke eines mittelgroßen Hügels das Sukonth, das schwarzweiß ge­äderte hornförmige Bauwerk Kortmikels.

Das Horn erhob sich etwa fünfzig Torkels hoch, schräg und geschwungen, in die Luft.

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Schon die ersten Abendnebel hüllten die Mitte des Bauwerks ein; die treibenden Wol­ken zerrten daran, tagsüber und auch nachts. Wie auch jetzt – die Nacht war halb vorüber, die lange, finstere Nacht von Dellop, der Heimat der Brunker.

»Deine Laune ist niemals gut«, zwitscher­te Mikel junior. »Aber heute ist sie so schlecht wie das Wetter.«

»Still!« grunzte Kortmikel. »Das beste Wetter für den Durstrüssel!«

»Unfug. Eines Tages wirst du Dimensi­onssporen, Sternenbazillen oder Dunkelne­belseuchen einsaugen. Und dann wird deine Laune noch schlechter sein.«

Kortmikel erzeugte mit dem Schnabel­mund ein knatterndes Geräusch, das seinen Unmut kennzeichnete. Er watschelte von dem großen, steinernen Labortisch zurück zum Kamin und zuckte zusammen, als ein Funken heraussprang und sein Federkleid zu versengen drohte.

»Hihi!« machte Junior. Er hatte sechs lan­ge, schuppige Beine und einen ebensolchen Hals. Der Körper bestand aus zwei stumpf­kegeligen Schalen. Der runde Kopf, runzlig und hellgrau, bewegte sich wie die großen, knopfartig hervorstehenden Augen ununter­brochen. Eine Laune der Evolution hatte den Mund recht skeptisch ausfallen lassen; ein ständiger Quell der Ärgernis für Kortmikel, den listigen Wissenschaftler.

»Schon wieder Lust auf einen kolossalen Rausch?« pfiff und zwitscherte der halbin­telligente Partner des »Wissenschaftlers«.

»Ja. Nur im Rausch kommen mir die gu­ten und wissenschaftlich korrekten Einfäl­le!«

»Ich habe noch nicht erlebt, daß es einen wissenschaftlichen Einfall gegeben hätte«, quiekte Kortmikel junior. Der Wissenschaft­ler hatte Kortmikel junior, eines der selten­sten und skurrilsten Halbtiere dieser Welt, eines Tages halbverhungert am Fuß seines Wohnhorns gefunden und gesundgepflegt. Junior versorgte jetzt den Haushalt und war Partner der Gespräche. Aus einem Grund, den der Wissenschaftler nicht einmal erah­

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nen konnte, waren die Dialoge von seiten des Knochenschildwesens hämisch und sar­kastisch. Vermutlich glich sich Junior der skeptischen Betrachtungsweise seines Ret­ters an.

»Du bist nicht in der Lage, festzustellen, ob ich einen Einfall habe oder nicht«, erklär­te Kortmikel und blieb vor dem großen, me­tallenen Rahmen des Dimensionsrüssels ste­hen. Diese Anlage war es, die von Junior als Durstrüssel bezeichnet wurde – eine irgend-wie treffende Feststellung.

Kortmikel war tatsächlich süchtig nach den Energien oder Energieteilchen aus den anderen Dimensionen!

»Warum bleibst du nicht bei deinen nor­malen Tätigkeiten und erfindest etwas? Vielleicht ein Ding, das heizt, ohne Baum­stämme zu verbrennen?«

Mit seiner krächzenden Stimme erwiderte Kortmikel schrill:

»Ahnungsloser! Bleibe geistig bei der Hausarbeit! Verirre dich nicht in höhere Sphären!«

Wieder stieß Junior ein kreischendes Ge­lächter aus, zog sich mit den Krallen an ei­ner Drapierung hoch und krabbelte auf den Labortisch. Seine runde Nase stieß neugierig an dicke Kabel, an die verschiedenfarbigen kleinen Geräte, die unverhältnismäßig schwer waren, an die Klemmen und die Ver­bindungen. Die Skalen, erkannte Junior, wa­ren zwar erhellt, die Kontrollichter strahlten, aber keiner der Zeiger schlug aus.

Noch war der Dimensionssauger nicht in Tätigkeit.

Der Nachtwind heulte schauerlich um das Wohnhorn. Vor den runden, vertieft ange­brachten Fenstern wirbelten lange, vielfarbi­ge Wolkenstreifen und Nebelfetzen vorbei.

Junior warf einen langen Blick hinüber zu Kortmikel. Der Wissenschaftler war nicht sehr groß, etwa dreimal so groß wie Juniors Körper lang. Eine schwarze Gestalt, zusam­mengesetzt aus Tausenden kleiner, glänzen­der Federn, aus denen die Ärmchen und Beinchen nur kurz hervorragten. Der Kopf dieses mürrischen, skeptischen Wesens war

bemerkenswert: Er sah aus wie ein verdros­sen blickender Vogel mit riesigen Augen.

Junior ahnte, daß dieser Wissenschaftler tatsächlich viel intelligenter war, als es den Anschein hatte. Vor allem aber war er träge, fett und genußsüchtig. Überall in den Räu­men standen Schalen voller Samen, die ge­zuckert oder gesalzen, gebrannt oder ge­röstet waren. Unaufhörlich steckte sich Kortmikel diese Leckerbissen in seinen hor­nigen Mund. Er wurde immer dicker davon.

»Und wo sind sie, deine höheren Sphä­ren?« zwitscherte Junior, als er in der Mitte des Tisches angekommen war und mit sei­nen rollenden Augen ein weißes Kabelbün­del verfolgte, das im kunstvoll gearbeiteten Rahmen des dimensionssaugenden Schlau­ches endete.

»Die Zeit ist noch nicht gekommen«, war die mürrische Antwort.

Die Beinchen, auf denen sich Kortmikel vor dem Rüssel hin und her bewegte, ende­ten in sechs Krallen. Sie schabten und scharrten bei jedem Schritt über den warmen Kachelboden des Raumes. Die winzigen hellgrünen Gliedmaßen standen in krassem Gegensatz zu dem spitzkegeligen schwarzen Körper, aus dessen Grundfläche sie nur ein wenig hervorragten.

»Niemand wird begreifen, warum du so süchtig bist«, keifte Junior. »Das wird ein böses Ende nehmen!«

»Es ist meine einzige Freude. Ich bin nicht so wie die anderen Brunker.«

»Das mag stimmen. Ich kenne keinen an­deren, der so zänkisch ist.«

»Du bist undankbar!« »Aber ich spreche die Wahrheit. Ein La­

ster, dieses Energiesaugen aus anderen Di-mensionen!«

Wenn die Anlage eingeschaltet war, er­füllte ein helles, röhrendes Sausen das La­bor. Wie eine Windhose drehte sich der Rüs­sel durch den Raum und fuhr, nachdem er unruhige Windungen beschrieben und dün­ner geworden war, aus der Spitze des Su­konth. Von dort aus war er nur noch wenige Torkels weit sichtbar, dann verschwand der

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Tubus in einer anderen Dimension, in der Unendlichkeit oder sonstwo. Jedenfalls wur­de er richtiggehend unsichtbar.

»Meine einzige Freude, du Ignorant.« Der Wissenschaftler verließ seinen Platz

vor dem Kamin und näherte sich dem Di­mensionsquadranten, einem Gerät aus dün­nen, goldfarbenen Drähten mit komplizier­ten Einteilungen, geraden Justiereinrichtun­gen und der undurchsichtigen n­dimensionalen Lupe. Vorsichtig sah der Wissenschaftler zu, wie sich die Konstella­tionen verschoben und immer neue Bezugs­systeme bildeten. Kortmikel drehte an den Einstellknöpfen und las eine lange Ziffern­folge ab, die er sich notierte.

»Was tust du da?« zwitscherte Junior auf­geregt. Er haßte den Zustand, in den Kortmi­kel verfiel, wenn der Sauger eingeschaltet war.

»Ich lese die Zeit für den nächsten Be­zugspunkt ab«, krächzte Kortmikel und starrte Junior mit seinen großen, gelben Au­gen an. Dann schloß er mehrmals die horni­gen Lider und stieß ein krakeelendes Lachen aus. »Du gönnst mir nicht, daß ich nachher ausgeglichen und zufrieden bin.«

»Ich fürchte mich!« »Unsinn! Es kann gar nichts passieren.

Ich ernähre mich schon seit Urzeiten da­von.«

»Du ernährst dich von diesem Zeug dort!« schrillte Junior und deutete mit den beiden vordersten Gliedern auf eine große Schale, in der sich die Samenkörper türmten.

»Das sind nur Appetithappen, Kröte!« schloß Kortmikel und bewegte seinen Kopf mehrmals schnell hin und her. Die dun­kelblauen Federbüschel über den fast un­sichtbaren Ohren spreizten sich fächerför­mig auseinander.

»Bald ist es soweit!« verkündete der Wis­senschaftler und nahm mit spitzen Krallen zwei Samenkörper, stopfte sie in den breiten Schnabelmund und schluckte sie hörbar hin­unter.

»Ich habe wirklich Angst! Du bist wie tot!«

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Ein meckerndes, hämisches Lachen hallte zwischen den Steinwänden hin und her.

»Und nachher werde ich ungeheuer pro­duktiv sein. Dann bin ich geistig satt und körperlich erholt.«

»Schon gut. Eines Tages bist du von den Blitzen zerrissen, und mir gehört das Su­konth, nicht wahr?«

»Von mir aus. Du solltest mir dankbar sein«, meinte Kortmikel und drehte den Kopf, um an den verschiedenen Geräten et­was zu regulieren und zu schalten. Je mehr Lichter flackerten und je mehr Nadeln aus­schlugen, desto mehr begann sich Junior zu fürchten.

»Weil ich dir dankbar bin, möchte ich nicht, daß dich dein Rüssel erwürgt«, schrie der Kleine in hilfloser Wut. Summend und knackend begannen die geheimnisvollen Kä­sten und Kugeln auf dem Labortisch zu ar­beiten. Über das schwarze Federkleid Kort­mikels huschten die Farbreflexe der Lichter.

Junior faltete die Beine unter seinem har­ten Körper zusammen, zog den Kopf dicht an die Öffnung des Panzers und bewegte nur noch die Augen. Er studierte schweigend und in steigender Hilflosigkeit die verschie­denen Schaltungen, die Kortmikel ausführte. Der Augenblick, an dem sich aus dem Rah­men der Rüssel hervorwölben, sich drehen und verfestigen und schließlich durch die Öffnung in die Nacht hinausschrauben wür­de, kam unaufhaltsam näher.

Wo war der erstklassige Verstand des Wissenschaftlers, wenn er wie erstarrt in dem Kugelsessel kauerte?

Was geschah, wenn der Rüssel sich fun­kensprühend und summend bewegte?

Wo war das andere Ende dieses nicht­stofflichen Dinges, das seine seltsamen Energien direkt in Kortmikels Seele und Körper transportierte?

Welche Träume träumte Kortmikel? Die runden Augen Kortmikels juniors be­

wegten sich. Er wartete voller Angst. Kortmikel beendete die Schaltungen,

stellte eine Uhr ein und watschelte zu sei­nem Nest aus dem Geflecht weicher Zweige.

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Es hing an drei straffen Seilen von der ge­schwärzten Decke und federte ein wenig, als der Wissenschaftler hineinkroch und sich zurechtlegte und sich in sein Federkleid zu­rückzog. Nur die Fächer, die blinkenden gel­ben Augen und der Schnabel sahen aus der kugelförmigen Masse schwarzen Flaumes hervor.

Plötzlich fing dieses verfluchte Ticken an. Ein trockenes, unabänderliches Geräusch. Junior fühlte, wie sein Körper zu vereisen begann. Kalte Angst griff nach ihm.

Tick! Aus einem tief unten liegenden Raum er­

scholl ein anschwellendes Summen und ver­ging nach einiger Zeit wieder.

Tick! Der Rahmen begann zu strahlen und zu

glühen. Winzige Flämmchen krochen über ihn hinweg und bildeten wirre Muster. Dann wurde die Mauer, die Junior durch den Rah­men hindurch gesehen hatte, undurchsichtig und verschwand schließlich, als sich ein rauchgrauer Schleier bildete.

Tick … tick! Mit einem dumpfen Laut beulte sich der

Schleier aus, begann sich zu winden und zu drehen. Dann bildete sich der Rüssel aus. Er drehte sich wie rasend, wurde spitzer und länger und zielte nach dem offenen Loch in der Decke.

Tick! Vom Rahmen bis irgendwohin spannte

sich der leicht schwankende graue Rüssel. Das Ticken hörte auf. Jetzt gab es nur noch das hohle Sausen und Fauchen des Rüssels. Kortmikel lag, wie immer, regungslos da.

Lange Zeit verging. Die Nacht schritt weiter fort. Der Sturm heulte und pfiff unheilverhei­

ßend um die Spitze des Wohnhorns. Das Feuer flackerte und züngelte.

Ununterbrochen arbeitete der Dimensi­onsrüssel.

Und dann … Junior hatte die Empfindung, als würde

dort draußen irgendwo ein riesenhafter Ge­genstand in rasender Fahrt vorbeifliegen.

Ein unirdisches Heulen und Tosen klang auf. Die Mauern begannen zu zittern, zwi­schen den Quadern bröselte der Mörtel her­vor. Das Jaulen wurde lauter und beherrsch­te alles.

Der Rüssel! Der graue Dimensionsrüssel schien sich

in ein lebendes Wesen zu verwandeln, das unter unvorstellbaren Qualen zuckte und sich drehte. Aus dem Kamin kam eine Rauchwolke und trieb hoch. Als der größte Teil des Rauches am Rahmen vorbeibrodel­te, schien ein Windstoß den Rauch nicht auf Kortmikel zuzutreiben, sondern durch den Schlauch nach draußen zu reißen. Wohin?

Die geheimnisvollen Laute wurden schär­fer, als ob sich dieses riesige ETWAS direkt dem Wohnhorn näherte. Innerhalb des Di­mensionsrüssels entstand ein Sog. Starr vor Entsetzen sah Junior, wie sich die Federku­gel seines Herrn in die Luft erhob, dort eini­ge Zeit lang schwebte und schließlich mit ungeheurer Beschleunigung durch den fun­kensprühenden Rahmen gerissen wurde.

Dann war Kortmikel nur noch eine Art Verdickung des Rüssels, schoß rasend schnell durch den Raum, verschwand durch die Öffnung nach draußen. Das Getöse er­reichte seinen Höhepunkt und verklang schnell.

Der Rüssel löste sich knallend auf. Ein Gewitter aus Hunderten Blitzen schlug aus der leeren Luft und aus dem Rahmen in die Wände, die Decke und in den Boden. Die Geräte auf dem Labortisch schalteten sich nacheinander aus. Das Feuer erlosch, und Kortmikel junior blieb allein und ratlos zu­rück.

Als der Morgen herankam, wußte er mit untrüglicher Sicherheit, daß er Kortmikel niemals mehr wiedersehen würde.

3.

Als sie das tiefliegende Stück der Wen­delschleife erreicht hatten, wußten sie, daß sie noch längst nicht an ihrem Ziel waren. Es sah aus, als wäre die Hades-Zone weiter

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denn je entfernt. Elkohr sagte, indem er stehenblieb: »Diese Umgebung ist zwar in meinem

Gedächtnis vorhanden – aber ganz gewiß nicht so. Die Jahrtausende scheinen selbst das Wissen der Robotbürger verändert zu haben.«

»Die Zeit«, entgegnete Atlan, »ist ein mächtiger Mechanismus. Ich wundere mich nicht darüber, wie sehr die Zeit Dinge und Erinnerungen verändert!«

Wie wahr! bemerkte der Logiksektor sar­kastisch. Du selbst bist das lebende Zeugnis dafür!

Sie waren in eine phantastische Umge­bung eingetreten. So weit sie sehen konnten, erstreckte sich rund um die Säule ein System von Hallen und domartigen Höhlungen. Es glich dem Innern eines Schwammes; lauter kleinere und größere Blasen, teilweise offen, teilweise verschlossen, ineinander überge­hend, durch Brücken oder Stege von skurri­len Formen miteinander verbunden, durch ein Gewirr von Säulen abgestützt, die wie erstarrte Lava aussahen und in vielen dunklen Farben glühten. Ein fast unhörbares Brausen und Summen lag in der feuchten, warmen und stinkenden Luft.

Die nähergelegenen Höhlen dieses dreidi­mensionalen Labyrinths glichen bernstein­farbenen Bällen mit gezackten Öffnungen. An jeder nur denkbaren Stelle wucherten hier Pflanzen. Oder waren es phantastische Tiere, die irgendwann in grauer Vorzeit den Weg hier herunter gefunden und ihr Leben den veränderten Umständen angepaßt hat­ten.

Lange, weißliche Dinge bewegten sich wie behaarte Tentakel eines phantastischen Unterwassertiers. Blitzschnell rasten mit zuckendem Flügelschlag kleine Vögel oder Flugechsen zwischen den Teilen der Anlage umher. Im fahlen Licht waren Maschinen und Geräte zu erkennen. Atlan sah etwa dreißig Meter weit entfernt einen Roboter vorbeigehen. Der Dello – oder was immer es war – schien blind zu sein und bewegte sich mit stumpfsinnig wirkenden Schritten über

Hans Kneifel

eine Verbindungsbrücke und verschwand in der nächsten kleinen Blase. Die Pflanzenar­me, die nach ihm griffen, zuckten zurück und pendelten enttäuscht hin und her.

Atlan wischte den Schweiß von seiner Stirn und fragte unruhig:

»Bist du sicher, Elkohr, daß du den Weg kennst? Ich glaube, wir können uns hier leicht verirren.«

Atlan folgte Elkohr, der mit energischen Schritten vom Ausgang der zentralen Säule weg in eine unbekannte Richtung ging. Noch immer waren sie auf einem breiten, sauberen Band aus unbekanntem Material, das wie gegossener Stein wirkte und ganz schwach leuchtete.

»Ich kenne den Weg. Ich besitze sämtli­che Grundrisse und Abzweigungen, auch in der Höhe«, sagte der Roboter entschieden. »Aber es mag sein, daß einiges nicht mehr stimmt. Du hast Angst, nicht wieder an die Oberfläche zu gelangen?«

Hinter der gekrümmten, überwucherten Schale einer der zahllosen Blasen tauchte der Komplex einer schwarzen Maschine auf. Gigantische Räder drehten sich lautlos und erzeugten einen fauchenden Wind. Riesige Pleuel bewegten sich hin und her. Es roch nach heißem Öl.

»Allerdings. Ich besitze zwar einen sehr guten entwickelten Orientierungssinn, aber wenn die Anhaltspunkte fehlen …« Atlan beendete den Satz nicht und wich einer lan­gen Ranke aus, die plötzlich aus der Finster­nis über ihnen gefallen war und nach ihm ta­stete. Ein Schwarm weißlicher Tiere stürzte sich auf ihn und schwirrte um den Kopf. Aber das Goldene Vlies schien auch hier schützende Wirkung zu haben.

»Keine Sorge. Wir kommen zurück. Nachdem ich meinen Auftrag durchgeführt habe«, versicherte Elkohr.

Sie verließen den Bereich der schwarzen Maschine und kamen an die erste Abzwei­gung. Elkohr wählte, ohne zu zögern, den Weg nach rechts. Die Strukturen der tierhaft wirkenden Pflanzen, die sich über die Höh­leneingänge spannten, schaukelten gierig.

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Unverkennbar war hier unten alles gefähr­lich und strömte einen Hauch von Verderben aus. Hin und wieder klapperten zwischen den dünnen Ranken weiße Skelette von Tie­ren oder Dellos. Der Arkonide schauderte und bückte sich unter der herunterschau­kelnden Ranke.

Ein anderer Teil der unbekannten Maschi­nerie Pthors tauchte auf.

Ein Gerüst aus Stangen, Kästen und Ku­geln. Alles war mit dicken Schichten Rost bedeckt. Aber Ströme flackerten entlang der spiraligen Kabel. Lampen glühten hinter dem Vorhang aus ekelerregend weißlichen Blättern und Ästen. Wieder schob sich ein Dello aus dem Wirrwarr aus Metall und Pflanze. Er hielt ein speerähnliches Werk­zeug in beiden Händen und schien tatsäch­lich blind zu sein. Atlan hielt Elkohr am Arm fest und drehte ihn halb herum.

»Da! Wieder! Ein Dello mit schwarzer Haut.«

Vier Schritte vor ihnen duckte sich der Maschinensklave zwischen den Kanten leuchtender Gitter hindurch und schien sie nicht wahrzunehmen. Der Roboter war nicht im mindesten verblüfft.

»Ich denke«, sagte Elkohr in seiner scheinbar unerschütterlichen Ruhe, »daß diese unglücklichen Schöpfungen sich an das Elend gewöhnt haben. Sie kennen nichts anderes mehr als die Dunkelheit und ihre Aufgabe. Selbst wenn sie sinnlos geworden sein sollte.«

Elkohr hat recht, meinte der Extrasinn. Atlan fühlte, daß er desorientiert war. Seit

etwa einer halben Stunde befanden sie sich in dem riesenhaften Gewölbe, und er sah keinerlei Möglichkeiten, irgendwo einzu­greifen oder auch nur sinnvoll zu handeln. Schweigend folgte er dem Roboter, der in unveränderter Zielstrebigkeit weiterging.

Wieder verzweigte sich das Band, ver­wandelte sich in zwei Treppen, die aufwärts und abwärts liefen. Kleinere und größere Höhlen taten sich auf und glitten wieder mit­samt ihrem summenden, funkelnden oder klirrenden Inhalt zurück ins Dunkel. Hier er­

schien einer der schwarzhäutigen Dellos, dort saß ein anderer vor einer Schalttafel, ein dritter bewegte in regelmäßigen Abständen mehrere Hebel und ließ rosafarbenen Dampf aus irgendwelchen Düsen entströmen, und je mehr der glänzenden Körper der Eindring­ling sah, desto sicherer wurde er, daß ihnen von diesen Unglücklichen keinerlei Gefah­ren drohten.

Aber etwas anderes bemerkte Atlan: Das dreidimensionale Netz der Pflanzen

schien miteinander verwoben zu sein. Dort, wo sich Atlan und Elkohr gerade befanden, gerieten die Lianen, Blätter und Ranken in immer aufgeregtere Bewegungen. Bisher hatten die herunterschwingenden Lianen auf Atlan wie suchende oder tastende Vorstöße gewirkt. Jetzt kam etwas Bedrohliches in die pendelnden Schwingungen. Lange, weiße Dornen erschienen und blitzten im leuchten-den Widerschein von Instrumententafeln oder Energiegittern auf. Die Geräusche der aufeinanderprallenden Ranken wurden schärfer und härter. Hin und wieder riß ein Ast ab und fiel auf das Band des Weges.

»Die Pflanze ist unruhig«, sagte der Ro­boter.

»Sie bemerkt uns.« »Zweifellos. Du sprichst von der Pflanze.

Es ist ein Organismus?« »Mir erscheint es sicher. Vermutlich ist

sie gefährlich.« Atlan warf sich zur Seite, um einem losen

Bündel von Ranken zu entgehen. Die peit­schenartigen Schnüre voller Dornen und spi­ralig aufgewickelter Nebentriebe klatschten auf den leuchtenden Pfad und versperrten den Weg zwischen Atlan und Elkohr. Der Roboter ging mehrere Schritte weiter, blieb stehen und drehte sich um. Als Atlan mit beiden Händen in das Gewirr schlangenartig wirbelnder Pflanzenteile griff, schossen un­ter den Blättern spindelförmige Insekten hervor und stürzten sich auf den Arkoniden. Sie prallten wie Geschosse gegen den Anzug der Vernichtung und summten zornig.

Unter Atlans Griff durchzuckten schla­gende und funkenknisternde Entladungen

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die Ranken. Kleine Blitze zuckten nach al­len Richtungen, als Atlans Hände die Zwei­ge auseinanderrissen, vorsichtig den Dornen auswichen und immer schneller wurden, wurde die Pflanze abermals aktiv.

Atlan drückte die Lianen zur Seite und sprang darüber hinweg. Die meisten der fin­gergroßen Insekten fielen tot von den Ma­schen des Goldenen Vlieses herunter. Als er die sich aufbäumenden Ranken hinter sich ließ und mit beiden Armen die Insekten von der Brust und den Schultern abzustreifen versuchte, traf ihn ein harter Schlag zwi­schen die Schulterblätter. Er stolperte und krachte vor Elkohrs Füßen zu Boden.

Das Ende der Liane, die ihn von hinten und schräg oben getroffen hatte, wand sich um seinen Oberkörper, drückte beide Ober­arme gegen die Seiten und pfiff, weitere Spi­ralen bildend, durch die Luft. Die vierte Windung legte sich um den Hals des Ein­dringlings und zog sich zusammen.

Atlan sah vor seinen Augen weiße, fahl leuchtende Blätter, deren Ränder voller Er­regung zuckten und zitterten. Fingerlange Dornen bewegten sich wie selbständige Le­bewesen. Sie zielten nach Atlans Haut und näherten sich unaufhaltsam. Atlan dachte an die Skelette und begann zu ahnen, daß die ausgedehnte Pflanze sich vom Blut und den Lebenssäften ihrer zufälligen Opfer ernähr­te.

In Panik schüttelte und drehte er sich. Ein Arm kam frei und riß die nächste dünnere Ranke zur Seite. Als die Finger die schleimi­ge Oberfläche der Pflanze berührten, ging ein starkes Zucken durch den Organismus der Ranken und Zweige, und gleichzeitig zogen sich die Windungen der Fessel enger um den Arkoniden.

Elkohr kam mit einigen schnellen Sprün­gen herbei. Der kleine, grazile Körper ver­wandelte sich binnen weniger Sekunden in eine rasend wirbelnde Kampfmaschine, die vernichtende Hiebe austeilte. Die Hände wurden offensichtlich zu Werkzeugen von der Wucht einer Machete. Die Ranken und Zweige splitterten und rissen auseinander.

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»Hilf mir …«, keuchte Atlan. »Selbstverständlich«, gab Elkohr zurück

und zerfetzte die letzten Schnüre. Er riß At­lan zu sich heran und schlug, ohne hinzuse­hen, nach einer weiteren armdicken Ranke, die aus dem Gewirr der Pflanzen herange­schleudert wurde.

So schnell wie möglich rannten sie weiter. Sie waren schneller als die Lianen und die tödlichen Dornen. In den Zweigen oder in deren Nähe hatten sich Tiere aufgehalten: Insekten aller Größen, fledermausähnliche Wesen und eine Art winziger Katzentiere, die nur aus Zähnen, einem langen Schwanz und scharfen Krallen zu bestehen schienen.

Die Insekten bildeten bald einen gewalti­gen Schwarm, der den Roboter und den Ar­koniden mit bösartigem Surren verfolgte. Vor Elkohr schreckten sie zurück, und die meisten starben bei dem Versuch, das winzi­ge Gittergeflecht des Anzugs zu durchdrin­gen.

Die Pthor-Fledermäuse, so lang wie At­lans Unterarm, gelblich und unheimlich ziel­sicher, griffen von allen Seiten an. Sie hatten zwei sich bewegende Ziele, und auf diese stürzten sie sich. Immer wieder zuckten die Arme und Hände der zwei Eindringlinge hoch, packten eines der Wesen und schmet­terten es zu Boden oder warfen es mit aller Kraft zurück in die Pulks der Angreifer.

Atlans Finger in der seidenweichen Um­hüllung des Fäustlings berührten kurz und zufällig einen der Höcker an der Hüfte. Der Anzug schien plötzlich sein rätselhaftes Ei­genleben zu verstärken. Von den stachelarti­gen Spitzen auf beiden Schultern strömten Wellen oder Impulse hervor; wenigstens schien es dem Arkoniden nicht anders. Die schwirrenden Echsen, die unablässig schrille Schreie ausstießen, fielen tot in die Ranken, wenn sie in die Nähe von Atlans Schultern kamen.

Ein denkender Kampfanzug, meldete sich der Logiksektor.

»Dein Anzug«, sagte Elkohr plötzlich auf­geregt, »er veränderte sich. Die Angreifer fürchten dich auf einmal.«

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»Gilt nicht für alle«, keuchte Atlan und schleuderte mit einem wuchtigen Fußtritt zwei der fauchenden Katzentiere zur Seite. Aber tatsächlich ließen die Insekten von sei­nem Kopf ab, die weißen Gespenster der Fledermäuse schwangen sich mit zitternden Flügelschlägen und gespreizten Krallen zwi­schen den Pflanzenteilen und den Rändern der Höhlen und Nebenhöhlen hinauf.

Atlan und Elkohr liefen weiter. Der Steg schwang in seiner Richtung tief

hinunter, passierte rund dreißig verschiedene Maschinen und Aggregate von sagenhaftem Alter und mehr als skurrilem Aussehen, dann krümmte er sich wieder aufwärts und schräg nach links. Als sich Atlan, ein sprin­gendes Katzentier mit einem harten Hieb des Unterarms aus der Luft zur Seite schmet­ternd, umdrehte, erkannte er längst die Stelle nicht mehr, an der sie diese schauerliche An­lage betreten hatten.

»Kannst du mir sagen, wie weit es noch ist?«

»Das hängt von der Problemlosigkeit un­serer Fortbewegung ab«, wich der Robot aus.

Atlan schüttelte sich und erkannte, daß diese riesige Pflanze offensichtlich tatsäch­lich ein einziger Organismus war. Außerdem schien sie in Symbiose mit den verschiede­nen Gattungen halbblinder Tiere zu leben, die unablässig angriffen.

Der Anzug der Vernichtung wehrte sich auf geheimnisvolle Weise, ohne daß Atlan begriff, wie die Kräfte eingesetzt wurden. Die Angriffskeile der Insekten, die sich mit stählernem Summen auf die Eindringlinge stürzten, wichen im letzten Moment zur Sei­te oder fielen zuckend zu Boden, wenn sie mit dem Goldenen Vlies in Berührung ka­men.

Aber ebenso unverkennbare Gier, hervor­gerufen durch Hunger und die scheinbar si­chere Beute vor Augen, erfüllte die Pthor-Fledermäuse und die großäugigen Katzenar­tigen. Sie lauerten auf die erste Blöße, die sich der zierliche Robot mit der Silberhaut und der große Fremde mit dem gespinstarti­

gen Helm auf dem Schädel gaben. Sie saßen auf wippenden Zweigen, schwangen mit den dünnen Lianen heran und ließen sich fallen, kauerten sprungbereit am Rand der Stufen, der Rampen und des fortlaufenden Bandes. Unwillkürlich wurde der Arkonide schneller und holte Elkohr ein.

»Wohin?« »Immer weiter und tiefer hinunter!« Einige Schritte später fielen mit schauerli­

chem Rasseln und Klappern Knochen aus den Ranken und Zweigen über ihnen. Als die Gebeine auf dem Steg aufschlugen, zer­splitterten sie wie Glas.

An der mutierten Pflanze war keine Spur von Grün zu entdecken. Grau war der dun­kelste Farbton – alles andere war fahlweiß, gelblich, phosphoreszierend. Zwischen den knotigen Astgabeln sonderten sich große, schillernde Schleimtropfen ab und fielen durch die Dunkelheit in abgründige Tiefen. Hin und wieder vernahm man durch das Stampfen und Brummen der Maschinen hel­le, plätschernde Geräusche. Als ob sich über der Sohle dieses dreidimensionalen Irrgar­tens ein See befände. Nichts änderte sich wirklich, je länger der Aufenthalt dauerte: Zwar drangen sie auf einem verwirrenden Zickzackweg immer tiefer in das Höhlensy­stem ein, aber die Maschinen und Geräte gli­chen einander in ihrer dunklen und unbe­greiflichen Tätigkeit, die Dellos wanderten schweigend und stumpf dazwischen umher, und nicht einmal die heiße, feuchte Luft än­derte ihren Geruch. Die Ausdehnung dieser Höhle erschien endlos.

»Wie lange sind wir schon hier unten?« fragte der Arkonide.

»Etwa zwei Stunden«, erklärte der Robo­ter.

Das ist ziemlich exakt, kommentierte der Logiksektor. Es wird Zeit, daß du dich dei­ner selbstgestellten Aufgabe erinnerst.

Der Anzug der Vernichtung strahlte jetzt derart durchdringend, daß sich kein einziges Tier mehr an die Eindringlinge herantraute. In achtungsvollem Abstand folgten die Kat­zenwesen, aber ihre Bewegungen waren gie­

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riger denn je. Hin und wieder surrte ein In­sekt herunter und zwischen den beiden Fremden hindurch wie ein Projektil. Die Pthor-Nachtjäger umschwebten die Köpfe wie eine Schar böser, gelblichstrahlender Dämonen. Fast jenseits des Wahrnehmungs­vermögens schnitten ihre schrillen Rufe durch das Halbdunkel.

Abermals krümmte sich der Steg in meh­reren scharfen Kurven, führte aufwärts und abwärts.

Atlan vermochte es nicht mehr – und er war sicher, daß auch Elkohr trotz seines ge­speicherten Planes Schwierigkeiten haben würde – zu sagen, wie weit sie vom Eingang entfernt waren.

Plötzlich erstarrten sämtliche Angreifer. Nach zwanzig schnellen Schritten wurden

Elkohr und Atlan auf diese Regungslosigkeit aufmerksam. Mindestens ein Dutzend stumpfgesichtiger, schwarzhäutiger Dellos starrten aus verschiedenen Höhlen auf sie hinunter.

Achtung! Gefahr! wisperte der Extrasinn. Über Atlan und Elkohr ertönte ein grauen­

haftes Knirschen und Reißen. Ein Netz aus Pflanzenteilen fiel waagrecht herunter. Mit rasend schnellen Reaktionen warfen sich die Fremdlinge vorwärts und rannten im Zick­zack, aber die fallende Fläche war zu groß.

Sie breitete sich auf einer Länge von rund dreißig Metern über den Steg und fiel rau­schend an beiden Seiten daran herunter.

»Verdammtes Atlantis!« schrie der Arko­nide und griff nach den feuchten, triefenden Blättern und den rutschigen Ranken und Ästen.

Dort, wo die Schulterstacheln die Pflan­zenteile berührten, knisterte es. Das Holz löste sich auf und schien mit unsichtbaren Flammen zu brennen, denn eine weißliche Aschenspur sickerte auf den nassen Boden des Stegs. Mit veränderter, tiefer Stimme be­gann Elkohr zu rufen. Atlan verstand, gegen die Pflanze kämpfend, nicht eine Silbe da­von.

Etwas Seltsames geschah jetzt. Von Atlans Schultern ausgehend, verwan-

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delte sich der fast undurchdringliche Tep­pich der Netzpflanze in ein Gewebe, das sich auflöste, immer dünner und nachgiebi­ger wurde und mit marternden Lauten zer­riß. Große schwarzgraue Flächen breiteten sich aus, ihre Ränder fraßen die Pflanze auf und vernichteten sie. Plötzlich fielen die Rankenreste von Atlans Schultern ab und krümmten sich wie Schlangen auf dem Steg.

Die Stimme des Roboters hatte eine ähnli­che Wirkung.

Aber sie löste nicht etwa die Teile der Mörderpflanze auf, sondern jagte die Tiere in alle Richtungen davon. Mit langen Sätzen sprangen die neugierigen Dellos zurück in den Schutz ihrer heißen Maschinen. Die Pflanze flüchtete und zog sich zurück, so gut es ihr noch möglich war. Die dicken Ranken und biegsamen Äste am Rand des Netzes peitschten in die Höhe und rissen die Reste mit sich. Tausende abgefallener Blätter reg­neten herunter und wehten nach allen Seiten. Der Roboter hörte mit seinen unverständli­chen Rufen auf.

Schweratmend blieb Atlan neben ihm ste­hen.

»Was hast du mit deiner Stimme errei­chen können?«

Elkohr packte ihn am Oberarm und zog ihn mit sich, durch die Haufen der Blätter und Äste hindurch, in denen sich unsichtba­res Leben zu befinden schien.

»Ich habe die Tierpflanze nachdrücklich gewarnt«, erklärte das knabenhafte Ge­schöpf leichthin. »Hat geholfen, nicht wahr?«

»Ebenso wie mein merkwürdiger Anzug. Ich entdeckte immer mehr Fähigkeiten die­ses Vlieses«, gab der Arkonide zu. »Wir ha­ben gesiegt, immerhin.«

»Wir werden sicherlich noch seltsamere Wesen hier antreffen und müssen versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen.«

»Was nicht immer möglich sein wird«, beharrte Atlan düster. Er empfand eine fast schmerzliche Sehnsucht nach der Helligkeit des Tages und nach einem frischen Wind­stoß.

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»Für diesen Fall haben wir gezeigt, daß wir uns nachdrücklich durchsetzen können«, sagte Elkohr in schöner Selbstverständlich­keit.

Weder die Pflanze noch die verschiede­nen Tiere machten Anstalten, ihre Angriffe zu wiederholen. Aber im Halbdunkel rund­um lauerten große, glühende Augen und ver­folgten die Eindringlinge, die jetzt auf einer Treppe abwärts gingen.

Die Konstruktion wand sich in wilden, unberechenbaren Schleifen und Kurven leicht nach unten. Sie wirkte wie eine Stra­ße, die den natürlichen Hängen, Schründen und Klüften eines steilen, aber völlig un­sichtbaren Berges folgte.

4.

Mehrere Stunden später waren sie noch immer unterwegs.

Ihr Weg, der aus entweder breiten oder schmalen Teilen des leuchtenden Steges be­stand, aus gewundenen und verschlungenen Treppenanlagen mit merkwürdig großen und flachen Stufen, die hin und wieder durch ei­ne Leiter oder einen kleinen Wendeplatz un­terbrochen wurden, führte sanft nach unten. Die noch immer nur schwach sichtbare Was­seroberfläche kam näher.

Je tiefer Atlan und Elkohr auf ihrer Suche nach einer Steuerzentrale beziehungsweise nach reparaturbedürftigen Maschinenteilen in den Bauch Pthors vordrangen, desto klei­ner wurden die einzelnen blasenförmigen Kammern des Irrgartens.

Ihr Inhalt – uralte Aggregate nicht defi­nierbarer Wirkungsweise – stand untereinan­der in Verbindung. An dieser Stelle von At­lantis schienen Maschinen von großer Wich­tigkeit untergebracht zu sein. Atlan, der die Dellos beobachtete, wußte ziemlich genau, daß es nur periphere Geräte sein konnten. Die Zentrale lag an ganz anderer Stelle.

»Ich schätze dich, Elkohr, als hervorra­genden Kämpfer und als angenehmen Be­gleiter«, sagte er irgendwann.

»Es klingt, als wärest du unzufrieden?«

»So ist es«, erklärte der Arkonide. »Ich vermisse etwas.«

»Dich ärgert, vermute ich, die Ungewiß­heit, nicht wahr?«

»Du hast recht. Ich bin sicher, daß du er­heblich mehr weißt, als du mir auf meine bohrenden Fragen sagst. Wann werden wir die wirklich interessanten Stellen erreichen, Elkohr?«

Mit seiner hellen Stimme stieß der zierli­che Mechanismus ein Gelächter aus, das zwischen den Wänden, Rundungen und Höhlen aus porösem Felsmaterial widerhall­te.

»Du willst eine ehrliche Antwort?« »Ja. Daran ist mir viel gelegen. Ich vertra­

ge auch eine unangenehme Wahrheit!« kon­terte der Arkonide.

»Ich kenne den Weg sehr genau. Ich weiß aber, daß er nicht einfach zu gehen sein wird. Mehrere Gründe gibt es dafür.«

»Einige davon kenne ich sicher.« »Sie sind leicht zu begreifen. Wie gesagt:

Ich kenne den Weg. Aber die lange Zeit hat ihn verändert. Überall ist etwas verschwun­den oder neu hinzugekommen. Dazu müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß die tiefer gelegenen Gänge verschüttet wurden oder zusammengebrochen sind. Normaler­weise, nach meinen Informationen, dauert der Weg bis zur Hades-Zone keine vier Stunden, von dem Platz aus, an dem wir uns getroffen haben, Atlan.«

Angesichts der erwähnten Zeiträume, und es war unschwer zu erkennen, daß es tat­sächlich viele Jahrtausende gewesen sein konnten, waren diese Argumente stichhaltig. Atlan fiel es leicht, sie zu akzeptieren. Na­türlich hatte er es sich keineswegs als leicht vorgestellt, die Hades-Zone zu erreichen oder die Steuerung des dahinrasenden Wel­tenbrockens zu entdecken. Er nickte und er­klärte:

»Ich werde dir folgen, ohne dich weiter mit dummen Fragen zu belästigen.«

Elkohr stieß einen Laut aus, den Atlan als helles Gelächter deuten konnte. Er sagte:

»Ohne dumme Fragen gibt es keine Er­

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kenntnis. Wir sind beide nicht in dieser un­wohnlichen Tiefe geboren.«

Hinter ihnen und über ihnen fingen die Maschinen in einem bestimmten Takt zu ar­beiten an. Oder vielmehr: Ihre Arbeitsge­räusche erklangen jetzt in einem regelmäßi­gen An- und Abschwellen.

»Weil wir das Thema ›Fragen‹ eben stra­pazierten«, sagte der Arkonide nach einer Weile. »Wo und wann endet dieses dreidi­mensionale Labyrinth aus offenen Blasen?«

»Dort vorn. Noch etwa eine halbe Stunde Marsch. Dann erreichen wir den unterirdi­schen Schwarzwassersee und seine Ufer aus grünem Sand. Dort zweigen die Gänge in die Hades-Zone ab.«

»Ich habe verstanden.« Die Maschinengeräusche wurden, je tiefer

die Eindringlinge hinunterkamen, härter und schärfer akzentuiert. Sie klangen jetzt wie rhythmische Schläge auf große Trommeln. Auf jene Trommeln, die geschlagen werden, wenn sich ein Angriff ankündigt. Atlan spürte, wie sich die feinen Härchen auf sei­ner Haut aufstellten. Er konnte es sich nicht erklären, warum er ständig an neue, noch unsichtbare Gefahren dachte – die Treppen und Rampen waren frei von jedem Angrei­fer.

Schließlich führte eine Art schwebender Steg auf eine runde Plattform hinaus. Die zwei Fremden blieben an ihrem Rand stehen und sahen sich um. Sie befanden sich etwa fünf Meter oberhalb einer unbeweglichen, riesenhaften schwarzen Scheibe. Dies war der Spiegel des tiefgelegenen Sees. Das Wasser war tatsächlich schwarz wie die Nacht und schien ölige Beschaffenheit zu haben. Die Blätter, die toten Tiere und die Insekten schwammen regungslos darauf. Rechts von Elkohr und Atlan breitete sich ein sanft geschwungener Strand aus, eine Fläche aus dunkelgrünem Sand, die an den Rändern mit der zerklüfteten Wand des Höhlensystems zusammenstieß. Die dröh­nenden Trommelschläge waren jetzt noch lauter und härter geworden. Weder Elkohr noch Allan ahnten, aus welcher Schallquelle

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diese drohenden Geräusche kamen. Die Echos fuhren über den schwarzen Spiegel des öligen Sees dahin und brachen sich an der gegenüberliegenden Wand. Auch dort waren Nischen und säulenartige Strukturen mehr zu ahnen als zu sehen. Die Eindring­linge standen schweigend und regungslos da. Sie waren gleichermaßen beunruhigt. Wenigstens Atlan ging es so; ob der zierli­che Robot ähnlich empfand, war nicht aus­zumachen.

»Wohin, mein Freund?« erkundigte sich Atlan halblaut.

Unruhig bewegte er die Schultern unter dem geschmeidigen, eng anliegenden An­zug, der wie golden schimmerte. Die gesam­melte Helligkeit aus Hunderten winziger Quellen rundum drang bis hierher und ließ Einzelheiten schwach und undeutlich erken­nen. Dieses Licht brach sich auch auf den winzigen Einzelteilen des Anzugs.

Elkohr wies geradeaus auf einen Punkt, an dem See, Felsen und das dunkle Ufer zu­sammenstießen.

»Nach meinen Informationen befindet sich der Eingang dort hinten.«

Atlan starrte in die angegebene Richtung und erkannte runde, dunkle Formen mit eckigen Rahmen. All das ergab lediglich einen verschwommenen Eindruck. Die Ah­nung von unmittelbar bevorstehender Gefahr nahm zu.

Wieder befanden sie sich in unbekanntem Gebiet.

Und was für die Oberfläche von Pthor galt, war auch hier zweifellos gültig. Nichts, aber buchstäblich nichts war unmöglich. Es schien keinerlei Chancen zu geben, den töd­lichen Gefahren auszuweichen oder sie zu umgehen.

»Worauf warten wir noch?« Atlan schüttelte den Kopf, als könne er

dadurch das Dröhnen der Trommelschläge loswerden. Sie erklangen jetzt in einem kra­chenden Marschrhythmus. Neben Atlan sprang der Robot mit einem entschlossenen Satz in den dunklen Sand hinunter. Seine Bewegungen waren keineswegs die einer

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Maschine; sie wirkten wie die eines leben­den Wesens, dachte der Arkonide wieder.

»Dieses verdammte Dröhnen!« rief Atlan und landete neben Elkohr im weichen und feuchten Sand. »Wer erzeugt diese Ge­räusche?«

»Mit einiger Wahrscheinlichkeit«, erwi­derte der silberfarbene Robot und hinterließ, als er sich mit schnellen Schritten entlang des Ufers dem unsichtbaren Eingang näher­te, tiefe Fußspuren, »sind es Maschinen oder Wesen, die entstanden sind, ohne daß dies die Robotbürger von Wolterhaven gemerkt haben.«

Atlan folgte ihm. Der Sand erzeugte unter seinen Füßen leise und knirschende Ge­räusche. Das Trommeln hatte sich nicht ver­ändert. Es war weder leiser noch lauter ge­worden. Zwischen dem Podest und dem rät­selhaften Gewirr zerbrochener Säulen und geschwungener Bögen betrug der Abstand etwa zweihundert Meter. Gedankenvoll be­rührte Atlan einen der stachelartigen Aus­wüchse an der Schulter des Goldenen Vlie­ses. Es war, als würde ihn neue Kraft durch­strömen, so ähnlich wie von den Strahlun­gen des Zellaktivators.

»Die Aussichten, hier zu überleben«, murmelte er, »sind nicht gerade sehr gün­stig!«

»So scheint es«, gab Elkohr zu. Sie legten etwa fünfzig Meter durch den

kristallen knirschenden Sand zurück. Unver­ändert dröhnten die Trommelschläge. Atlan fülrte sich von tausend Augen angeblickt. Er blieb stehen und drehte sich um. Nichts war zu sehen, nichts zu spüren – außer diesem nervenzerfetzenden Dröhnen und Hämmern des akustischen Terrors.

Neben sich hörte Atlan eine Art Rascheln. Es war vielmehr nur eine Ahnung, kein kon­kretes Geräusch. Er wirbelte herum und stieß einen leisen Schrei aus. Alarmiert blieb der Robot stehen und war mit einem einzi­gen Satz an Atlans Seite. Aus unsichtbaren Öffnungen der Gewölbewand krochen weiß­häutige Tiere auf sie zu. Sie sahen aus wie riesige Ameisen oder Krabben und beweg­

ten sich schnell und mit klappernden Gelen­ken.

»Verdammt!« Die Tiere waren etwa unterarmlang und

so weiß, daß ihre Haut, die Panzerteile und die Gelenke fast leuchteten. Sie kamen in mehreren breiten Reihen auf die Eindring­linge zu. Ihre riesigen Augen starrten Atlan und Elkohr an, die scherenartigen Greifer klapperten leise. Aus den langgezogenen Reihen dicht gestaffelter Angreifer wurde schnell ein Viertelkreis, dann ein Halbkreis. Die Tiere drängten, teilweise übereinander kriechend, die Eindringlinge auf das Wasser zu. Der Robot und der Arkonide blieben ste­hen und versuchten, einen Sinn in diesem merkwürdigen Angriff oder der Umzinge­lung zu erkennen. Jetzt erst bemerkten sie, daß sich die Gliedmaßen der ameisenartigen Krabben im Takt der Trommelschläge be­wegten. Es waren inzwischen mehr als tau­send Tiere geworden. Die vordersten – zwi­schen ihnen und den Füßen der beiden be­trug der freie Raum nicht mehr als zwei Me­ter – blieben stehen und hoben die vorder­sten Glieder hoch. An deren Enden öffneten und schlossen sich mit metallischem Schnappen, im Takt der Trommel, lange Scheren.

Ganz langsam wichen Elkohr und Atlan zurück.

Als sie dicht hinter sich den Rand des Sees sahen, blieben sie wieder regungslos. Die Tiere hielten den zuletzt beobachteten Abstand ein.

»Sie greifen nicht an. Oder noch nicht!« brummte Atlan und sah sich nach einem Fluchtweg um.

»Sie verhalten sich tatsächlich merkwür­dig«, gab der Robot zurück.

Zwischen der Flüssigkeit des Sees und der gerundeten Wand des Höhlensystems er­streckte sich eine krabbelnde, weiße Masse. Die Schneiden der Scheren glänzten rhyth­misch auf, wenn sie sich öffneten und schlossen. Dann gab es eine andere Art ab­gehackter Bewegungen. Innerhalb der Mas­se der Tiere öffnete sich eine schmale Gasse.

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Sie war schnurgerade und führte genau dort­hin, wohin die Eindringlinge ihren Weg ge­richtet hatten.

»Soll das ein Zeichen sein?« mutmaßte der Arkonide laut und machte probeweise ein paar Schritte. Nur die hintersten Tiere rührten sich, diejenigen, in deren Angriffs­bereich er sich hineinwagte, klapperten nur mit den Scheren und richteten ihre riesigen, blinden Facettenaugen auf ihn. Aber sie ver­sperrten den Weg nicht mehr. Auch nicht ein einziges Tier griff an.

»Dies ist denkbar. Trotzdem habe ich kei­nerlei Informationen über die Existenz die­ser gewaltigen Menge weißgepanzerter Tie­re«, erwiderte Elkohr und folgte, ebenfalls zögernd, dem Mann im goldenen Anzug.

Die Tiere wichen einige Zentimeter zu­rück. Sie schienen, vom instinkthaften Ver­halten abgesehen, schwache Spuren von echter Intelligenz zu besitzen. Ihre Gebärden und Bewegungen waren unentschlossen, und hin und wieder machte einer der langge­streckten, achtgliedrigen Krebse einen Aus­fall. Jedesmal schleuderte ein blitzschneller Tritt Atlans oder Elkohrs das Tier zurück in die wimmelnde Menge.

Atlan und Elkohr rannten, ab und zu hochspringend und ausweichend, die schma­le Gasse entlang und schlugen immer wieder kurze Haken. Die Tiere schnappten nach ih­nen, aber die Fremden erreichten den Platz vor dem Trümmerhaufen ohne ernsthaften Kampf.

Sie warfen sich herum und waren bereit, sich zu wehren.

Aber die weißen Krebstermiten schlossen, näher herankriechend, nur den Halbkreis an einer anderen Stelle. Der Robot sprang auf einen Gesteinsbrocken, der Ähnlichkeit mit einem Stück einer geborstenen Säule hatte. Der Stein war von einem farblosen Moos überzogen wie von einem Teppich. Mit ras­selnden Scheren rückten die Termiten näher.

»Sie wollen uns offensichtlich in eine be­stimmte Richtung treiben«, sagte Atlan. Sein Extrasinn wisperte:

Vielleicht gehorchen sie einer übergeord-

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neten Macht? »Das glaube ich auch. Vermutlich wollen

sie, daß wir hier den Eingang suchen«, wandte Elkohr ein.

Beunruhigt versuchte der Arkonide, an der Stelle so etwas wie einen Eingang oder Durchgang zu erkennen. Überall lagen Trümmer; teilweise wirkten sie, als wären sie einst Säulen oder Verbindungselemente eines Bauwerks von riesigen Dimensionen gewesen, zum anderen Teil sah es aus, als sei gerade hier ein Stück der Höhlenwan­dung heruntergebrochen und habe das Ein­gangsbauwerk zerschmettert. Die Bruch­stücke lagen auf einem dreieckigen Haufen übereinander und an die Felswand geworfen.

»Es ist kaum wahrscheinlich, daß wir hier einen Durchschlupf finden. Das ist, deiner Kenntnis nach, der einzige Weg zur Hades-Zone?« rief Atlan und kletterte vorsichtig über glitschige Brocken und einige verkan­tete Quader.

»Ich besitze keine anderen Informatio­nen!« versicherte Elkohr.

Das Trommeln hatte nicht aufgehört. Die weißen Tiere öffneten und schlossen ihre Scheren ununterbrochen in diesem Takt, in dem sie auch ihre Gliedmaßen zuckend be­wegten, wenn sie vorwärts oder zur Seite gingen.

»Was jetzt?« In der vagen Helligkeit sah Atlan zwi­

schen den Steinbrocken zwar eine Menge dunkler Höhlungen, aber nicht eine davon wirkte im entferntesten wie der gesuchte Eingang zu der tiefergelegenen Zone. Die Geräusche folterten seine Nerven, die Dun­kelheit und der feuchtwarme Gestank auf der Sohle dieser Riesenhöhle setzten ihm ernsthaft zu. Er wurde ungeduldig und wü­tend. Immer wieder kletterte er weiter, such­te zwischen den Brocken und fluchte leise vor sich hin. Sein Versuch, die Bewegung von Atlantis durch Raum und Zeit zu steu­ern oder anzuhalten, rückte in immer weitere Ferne. Und dabei brannte nicht nur ihm die Zeit auf den Nägeln. Wütend drehte er sich, fast auf dem höchsten Punkt des Steinhau­

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fens angelangt, zu seinem Mitkämpfer um. Er sah, daß der Robot mit schnellen Be­

wegungen weit unterhalb von ihm umher­turnte und ebenfalls nach einem Loch oder Eingang suchte.

»Wir können umkehren!« rief er zornig. »Keiner von uns ist in der Lage, diese Trüm­mer wegzuräumen.«

»Warte noch etwas. Die Tiere verhalten sich merkwürdig – sieh!«

Dumpf hallten die Trommelschläge zwi­schen den einzelnen Worten der Eindringlin­ge. Atlan schüttelte verwirrt den Kopf. Eine gesteigerte Unruhe schien diese Menge der kriechenden und rasselnden Tiere befallen zu haben. Zwar verliefen ihre Bewegungen noch immer innerhalb des Taktmaßes, aber ihre Ordnung löste sich auf. Sie fingen an, wild und aufgeregt umherzutappen, ohne je­des Konzept, wie es schien. Falls sie tatsäch­lich unter dem Einfluß eines fremden Wil­lens standen, so schien diese Steuerung jetzt zu versagen. »Was haben Sie?« schrie der Arkonide aufgebracht.

»Keine Ahnung. Keinerlei Informatio­nen!« erwiderte Elkohr mit unerschütterli­cher Ruhe.

Die Masse der weißen Tiere lief in ver­schiedene Richtungen auseinander und wie­der zurück. Sie stießen gegeneinander und schoben sich gegenseitig zur Seite. Dabei gab es nicht die geringsten Schreie, kein Zir­pen oder Brummen, sondern nur die schnap­penden Geräusche der Gelenke und Scheren. Die Szene wurde von Sekunde zu Sekunde verwirrender und erschreckender für seinen seltsamen Freund.

Einige Dutzend der verwirrten Tiere krab­belten in den See hinein und verschwanden. Sie tauchten nicht mehr auf. Ein großer Teil der anderen zog sich schnell in kleine Lö­cher oder Schlupfwinkel zurück, die sich zwischen der Felswand und der Sandfläche befanden. Aber die größere Anzahl bildete, als wäre der fremde Wille wieder bestim­mend, eine Art Keil oder Pfeilspitze. Die er­sten Teile dieser neuen Formation schienen aber ebenso unsicher und ratlos zu sein wie

alle anderen; sie liefen hierhin und dorthin, und der Rest bemühte sich, ihnen irgendwie zu folgen. Atlan starrte die Tiere an und ver­suchte, einen Blick aus den Roboteraugen zu erhaschen.

»Ich bin nicht weit davon entfernt, ver­rückt zu werden«, bemerkte er, aber er glaubte es nicht wirklich.

»Schon nach so kurzer Zeit der Aufregun­gen?« fragte Elkohr ohne eine Spur von Sar­kasmus oder Anteilnahme. »Mir erscheint diese neue Bewegungsart ein deutlicher Hin­weis zu sein. Die Tierchen sind sicherlich harmlos. Folgen wir ihnen.«

»Harmlos?« Dort, zwei Dutzend Meter entfernt, fand

noch immer das seltsame Ballett zu den dröhnenden Klängen der unsichtbaren Rie­sentrommeln statt. Die Termiten beschrie­ben wirre Kurven und Linien, und die ersten Tiere der Pfeilspitze suchten sich ihren Weg durch die wirr quirlende Menge der anderen. Es herrschte ein kaum vorstellbares Chaos. Aber dann, ganz plötzlich, änderte sich alles. Aus den vielen Tieren, die wie einzelne Punkte umherwirbelten, wurde ein immer weiter und länger werdendes Band, das sich der Bewegung der anführenden Punkte an­schloß. Die neue Spitze auf einen ganz ande­ren Punkt dieses halbdunklen Labyrinths.

»Glaubst du jetzt, daß sie harmlos sind?« fragte Elkohr.

»Scheint etwas daran zu sein«, meinte At­lan. »Gut. Einverstanden. Wir folgen ihnen. Wohin werden sie uns führen?«

Die Antwort des Roboters verblüffte ihn, deshalb, weil er in ähnlichen Kategorien ge­dacht hatte.

»Möglicherweise bringen sie uns zu demjenigen, dem sie gehorchen.«

Sie sprangen von der geborstenen Säule in den Sand hinunter, der von den vielen Klau­en zerwühlt war. Völlig unbeachtet gingen sie neben den führenden Tieren und ver­suchten, zu erkennen, wohin die Termiten liefen. Sie steuerten entlang des Wassers dorthin, woher Atlan und Elkohr gekommen waren, dann bogen sie scharf nach links ab

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und näherten sich zielbewußt der Felswand. Noch einige Sekunden vergingen, dann sag­te der Robot leise:

»Ein Spalt. Wir haben ihn übersehen.« »Tatsächlich.« Sie sahen den senkrechten Spalt erst, als

hinter ihm die Vorhut der Tiere verschwun­den war. Die Dunkelheit und der Umstand, daß es weder Schatten noch Farbunterschie­de gab, hatten den Spalt verborgen. Er war knapp mannshoch, aber so schmal, daß sich Atlan seitlich hindurchzwängen mußte. Die Tiere hielten an, bildeten freie Flächen zwi­schen sich und ermöglichten den beiden Fremden, zwischen den triefenden Felswän­den hindurchzugehen, ohne auf die riesigen Termiten treten zu müssen.

Es war dunkel zwischen den Felswänden. Atlan ging voran, Elkohr folgte unmittel­

bar hinter ihm. Flechten hingen von oben herab und streiften die Stirn des Arkoniden. Aus dem Raum oder der nächsten Höhle, die vor ihm lag, wehte ein frischer, kühler Luft­strom ihm ins Gesicht. Er atmete tief durch und sagte leise:

»Ich bin ziemlich sicher, daß uns diese Tiere zu einem noch unbekannten Ziel füh­ren. Aber ebenso sicher bin ich auch, daß dort eine besondere große Gefahr auf uns wartet.«

»Ich besitze darüber zwar keinerlei Infor­mationen, aber mein Mißtrauensfaktor sagt mir, daß du zu vierundneunzig Prozent recht hast. Warten wir es ab – wir können uns wehren.«

»Nicht gegen alles«, schränkte der Arko­nide ein, aber er ging weiter und tastete den Verlauf des schmalen Ganges mit den Fin­gern unter dem verhüllenden Material des Handschuhs ab. Zwanzig Schritte im Dun­keln, dreißig, vierzig, dann zeigte sich vor ihm eine bronzefarbene, staubige Helligkeit. Atlan blinzelte und flüsterte:

»Wie seltsam. Es wird ernst, Elkohr.« »Offensichtlich. Die Tiere treiben uns

dorthin, wo ihr Herrscher lebt.« »Das nehme ich als sicher an.« Das Licht nahm zu. Noch zwei oder drei

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Biegungen des sandigen Bodens zwischen dem rauhen Felsen. Dann wurde das Licht heller, und die Felswände wichen auseinan­der. Vor Atlan breitete sich eine neue Höhle aus, die ebenso interessant und phantastisch war wie diejenige, die sie eben verlassen hatten.

Hinter ihnen wurde das Dröhnen und Hämmern der rhythmischen Trommelschlä­ge leiser. Aber noch immer ließen sie an­scheinend die Felsen erbeben.

»Noch eine Höhle. Diesmal ist sie klei­ner.«

Atlan trat zur Seite und ließ den silbernen Roboter an sich vorbeitänzeln. Verwundert registrierte er, daß die weißhäutigen Tiere stehengeblieben waren und warteten, ob die Fremden die Höhle betreten würden. Als sich der Arkonide umdrehte, sah er ziemlich deutlich, daß die Tiere mit weit gespreizten Scheren den Rückweg versperrten. Sie hin­gen förmlich auf den Rücken der darunter­stehenden Tiere.

»Und zudem gefährlicher. Rechts oben, Elkohr? Was kannst du sehen?« meinte der Arkonide halblaut.

»Das Wesen. Dasjenige, das den Termi­tenkrebsen die Befehle gab.«

»Nicht gab. Noch gibt es die Befehle!« Sie starrten auf die Plattform, die sich in

halber Höhe erstreckte. Die Aushöhlung des Felsens war ebenfalls rund und blasenför­mig, wie auch die vielen Nebenhöhlen des technischen Labyrinths dort hinter ihnen. Aber sie war viel kleiner. Der Durchmesser betrug weniger als fünfzig Meter. Etwa in der Mitte sprang eine Art flache Kanzel vor, am Rand sanft nach oben geschwungen. Ei­ne schräge Bahn führte im Zentrum der An­lage darauf zu. Der Stein oder die Felswände leuchteten aus sich heraus und verbreiteten jenes bronzenes Licht. Auf einem Kissen aus weißem Gespinst lag eine monströse Ge­stalt, deren erster Anblick Schaudern und Entsetzen hervorrief.

»Die Insektenkönigin!« sagte Atlan ton­los.

»Du hast recht. Die Phantasie ist geeignet,

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nüchterne Informationen zu ergänzen. Das Bild, das du entworfen hast, ist in allen Punkten richtig«, entgegnete der Robot.

Sie standen nebeneinander da und blick­ten schräg nach oben.

Das Wesen, dem nach aller Wahrschein­lichkeit die Tausende der bleichhäutigen Tiere gehorchten, war länger als vier Meter und sah schrecklich aus. Der Körper glänzte ebenso in einem ungesunden, fahlen Weiß oder Hellgelb wie derjenige eines Insekts. Lange, spiralig ausgerollte Fühler gingen über den mächtigen Facettenaugen der In­sektenkönigin aus und ringelten sich gierig in den freien Raum der Höhle hinein. Die mit Widerhaken ausgestatteten Fäden, die wie die Schlangenarme eines monströsen Kraken wirkten, schienen blind nach Elkohr und Atlan zu tasten. Die acht Gliedmaßen waren dünn und schmächtig und sicher nicht in der Lage, den geschwollenen Körper zu bewegen.

Nur das erste Paar der Gliedmaßen war fest und sehnig ausgebildet.

Die zwei letzten Glieder trugen lange, ge­fährlich aussehende Scheren. Sie waren wie Sicheln gekrümmt und hoben sich jetzt. Sie fuhren zuerst ziellos, dann in die Richtung Atlans deutend, durch die Luft. In Atlans Gehirn bildeten sich die einzelnen Elemente einer Stimme, einer Botschaft.

»Ich bin Larstropha, die Herrscherin über das lichtlose Gebiet. Kommt, Fremde! Ihr seid willkommen!«

Atlan wandte den Kopf und fragte leise: »Hast du die Einladung ebenfalls gehört,

Elkohr?« Der Arkonide war nicht sicher, ob das

trockene Knistern während der »Botschaft« zu dem telepathischen Kontakt gehörte oder tatsächlich ein organisch erzeugtes Geräusch war. Der Robot sagte kurz:

»Nein. Welche Einladung?« »Diese weißliche Scheußlichkeit hat sich

selbst als Herrscherin mit Namen Larstropha bezeichnet. Sie hieß uns willkommen.«

»Ich glaube, daß nur sie den Weg in die Hades-Zone weiß. Sie und ihre unschönen

Vasallen«, erklärte Elkohr. »Ich definiere sie als bösartig und voller Freßlust.«

»Die sich garantiert gegen uns richtet.« »Du magst recht haben. Allerdings bist du

der bekömmlichere von uns beiden.« Das Trommeln wurde leiser und war nur

noch als vibrierendes Dröhnen der Felswän­de zu vernehmen. Klappernd zerschnitten die großen Scheren der Insektenkönigin die Luft, die langen Fühler verknoteten sich förmlich in ihren Versuchen, Atlans Körper zu erreichen. Langsam ging der Arkonide ei­nige Schritte auf der schrägen Rampe auf­wärts und sagte laut:

»Wir suchen den Weg nach Hades, Lar­stropha. Du kennst ihn!«

Die unhörbare Stimme meldete sich wie­der und bildete scharfe Worte in Atlans Ge­danken.

»Ich kenne ihn. Komm näher, damit ich dich ertasten kann, Fremdling.«

Atlan sah sich aufmerksam um. Überall am Boden der Höhle lagen dicke Teile des hellen Gespinstes herum. Kleine Felsstücke waren wie Haken oder Hörner ausgebildet, von denen lange Fäden von bartartigen Flechten hingen und sich im Luftzug leicht bewegten. Sowohl in den Fäden des Ge­spinsts als auch in denen der Flechten ent­deckte Atlan die zerbrochenen Knochen kleinerer und größerer Skelette. Er hob den Arm und deutete auf mehrere der Funde.

»Elkohr! Sieh nach, was das ist.« Auf ihren schwächlichen Gliedern richtete

sich Larstropha schwach auf und sank mit einem pfeifenden Laut wieder zurück. Aber­mals erfüllte ein elektrisierendes Knistern die kleine Höhle.

Es sind zweifellos ihre Opfer. Sie saugt nach Spinnenart das Blut der Beute aus, sag­te der Logiksektor.

Die Fühler deuteten auf Atlans Gesicht. Ihre mehrfach gespaltenen Spitzen züngelten gierig. Atlan sah, daß die vorderen Teil der Schlangenarme voller scharfer, horniger Saugnäpfe waren. Unterhalb der großen Au­gen dieses Herrscherwesens klafften die har­ten Mandibeln auseinander und erzeugten,

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wenn ihre Ränder aufeinandertrafen, dieses knisternde Geräusch. Ab und zu prallten die Scheren mit einem metallischen Laut aufein­ander und erfüllten die Höhle mit ihren Echos. Von dicken Schichten Gespinst um­geben, klaffte hinter der Larstropha ein Por­tal auf, das von zwei runden Säulen und ei­nem rechteckigen Dach gebildet wurde. Al­les hing voller fädiger Wurzeln, in denen sich die verkrümmten und zerfetzten Skelet­te befanden. Elkohr lief auf Atlan zu und sagte:

»Es sind Knochen von ausgesogenen Tie­ren. Einige davon sind noch nicht lange an der jeweiligen Stelle.«

»Das habe ich mir gedacht«, sagte Atlan. Er hob die Arme und deutete auf Larstropha.

»Wenn du uns ertastest, dann wirst du uns töten. Gib den Weg zur Hades-Zone frei. Wir wollen nicht kämpfen. Wir wollen auch nicht gefressen werden.«

Atlan sprach Pthora, und die Worte, die sich in seinen Gedanken formulierten, ge­hörten keiner Sprache an, sondern bezogen ihre Bedeutung aus unausgesprochenen Vor­stellungen. Trotzdem verstand Atlan die Antwort ebenso gut, als habe diese Herr­scherin laut gesprochen.

»Es führt kein Weg an mir vorbei. Ich werde euch mit meinen langen Fühlern um­armen. Ich bin hungrig.«

Elkohr sagte, noch ehe der Eindruck die­ser Antwort in Atlans Kopf verklungen war:

»Es hilft nichts. Wir müssen an ihr vorbei – und sie wird ihre Tiere auf uns hetzen. Ich bin sicher, daß sie alle diese Opfertiere nur auf diese Weise gefangen hat.«

»Dann … kämpfen wir.« Noch einmal suchten die Eindringlinge

die Höhle nach einem anderen Eingang ab, aber es gab nur den Spalt und das Portal hin­ter der Larstropha. Die kleinen Tiere scho­ben sich im Takt der leisen Trommelschläge drohend näher. Atlan und Elkohr sprangen die Schrägfläche hinauf und wollten versu­chen, seitlich an der Larstropha vorbeizu­kommen. Augenblicklich schnellten die Fühler herum und bildeten Schlingen und

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Spiralen. Die Scheren klapperten krachend gegeneinander.

»Hierher!« fauchte Atlan und versuchte, den linken Arm aus der Umschlingung des seilartigen Fühlers herauszureißen. Er häm­merte mit der rechten Faust auf die Schlin­gen und kämpfte sich gegen den Zug der Tentakel vorwärts. Ein heftiger Ruck der Termitenherrscherin riß Atlan in die Rich­tung ihres Kopfes. Dabei berührte das Ende eines Tentakels die Spitze des Goldenen Vlieses der linken Schulter.

Es ging wie ein Starkstromschock durch den Körper des riesigen Insekts. Er bäumte sich auf und sank, grotesk verkrümmt, wie­der zusammen. Im gleichen Augenblick schmetterte der Roboter mit einem blitz­schnellen, waagrecht geführten Hieb seiner ausgestreckten Hand das Scherengelenk zur Seite und brach die Knochen dieser Waffe.

»Reiß dich los! Hinter mir her!« rief der Robot mit seiner hellen Stimme.

Atlan versuchte, die Schlingen des ande­ren Fühlers aufzubrechen und von den Ma­schen des Anzugs zu reißen. Dann senkte er den Oberkörper und zielte mit den stacheli­gen Auswüchsen auf die wild umherpeit­schenden und schwankenden Tentakel. Langsam kam er frei; nachdem Elkohr auch die zweite Schere mit einem vernichtenden Schlag außer Gefecht gesetzt hatte, sprang er seinem Kameraden zur Hilfe und versuch­te, einen der Fühler auseinanderzureißen. Atlan merkte, daß in der zierlichen Kon­struktion eine Unmenge Kraft steckte, denn die lianenartige Schlinge dehnte und streckte sich, und als Elkohr die beiden Teile gegen­einander verdrehte, riß die Herrscherin die­sen Tentakel zu sich heran. Sie gab ununter­brochen dieses zirpende Geräusch von sich.

Jetzt waren die kleineren Tiere mit klickenden Scheren am Fuß der Schräge und gingen auf Atlan und Elkohr los.

»Der verdammte Fühler!« keuchte Atlan und versuchte abermals, die unerklärlichen Kräfte des Anzugs einzusetzen. Wieder be­rührte der andere Stachel eines Teils des saugnapfbedeckten Fühlers, und gleichzeitig

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befreite der letzte Ruck des Robots Atlan von der zweiten Schlinge.

Mit drei Sätzen passierten sie, immer wie­der über Skelette, Knochen und verfilzte Ge­spinstflecken stolpernd, den langgestreckten Körper der Larstropha. Die Herrscherin stieß knisternde Laute aus, bewegte schlaff die Fühler und zuckte hilflos mit den Scheren. In Atlans Gedanken schrien undeutliche Stimmen Empfindungen des Schmerzes.

»Hier entlang. Schnell, die Termiten kom­men!« rief Elkohr und riß Atlan mit sich. Atlan sprang über das letzte Bein der Herr­scherin und warf sich geduckt durch den Eingang zwischen den Säulen.

Die bleichen Tiere strömten von unten herauf, umringten ihre Herrin und versuch­ten dann, Atlan und Elkohr zu verfolgen. Nach zehn langen Schritten verschwanden die Eindringlinge in der Finsternis des Gan­ges. Atlan sah vor sich mehr oder weniger deutlich den hellen Rücken des Roboters. Er orientierte sich nach diesem hellen Fleck und stolperte, langsamer werdend, hinter El­kohr her.

»Wir sind noch immer schneller als die kleinen Bestien«, rief Atlan. Der hellere Fleck vor ihm wich nach links aus, der Gang machte eine leichte Krümmung. Das Licht von hinten schwand völlig. Unter den Soh­len der Fremden knirschten Knochen oder die ausgetrockneten Schalen der Panzer eben jener beherrschten Insekten.

»Aber wir kennen die Fluchtwege nicht.« Sie liefen so schnell wie nur irgend mög­

lich. Der Robot schien sich besser zurecht­zufinden als Atlan. Der Arkonide streckte einen Arm aus und ertastete vor sich den harten Rücken der Maschine. Raschelnd und krachend entfernten sie sich von dem Aus­gang der kleinen Höhle, rannten weiter und sahen nach einiger Zeit vor sich ein schwa­ches Licht aufschimmern. Wahrscheinlich eine neue Höhle, ein anderes Stück des un­bekannten Systems in der Tiefe von Atlan­tis.

»Ich sehe Licht. Und ich bin sicher, daß wir auf dem direkten Weg zur Hades-Zone

sind«, erklärte Elkohr. »Ich sehe die Helligkeit ebenso. Aber ich

glaube, daß wir noch lange nicht am Ziel sind«, rief Atlan.

Das Licht wurde heller, erste Bilder zeichneten sich ab.

Die Wände bestanden aus bemoostem Stein, der Boden war mit leeren Panzern, Knochen und Skeletten übersät. Im Gegen­satz zu der Beleuchtung des hinter ihnen lie­genden Höhlenteiles war das Licht hier son­nenähnlich hell und weißgelb. Mit erhebli­chem Schwung stoben Atlan und sein Be­gleiter aus dem Verbindungstunnel hervor, hielten an und drehten sich fast gleichzeitig um. Die dumpfen Geräusche der unsichtba­ren Trommel waren fast nicht mehr hörbar, und, soweit das Licht reichte, waren auch keine nachrückenden Insekten mehr zu se­hen.

»Kommt zurück!« ertönte schwach die te­lepathische Stimme. »Kommt! Ich zeige euch den Weg!«

»Danke«, murmelte der Arkonide sarka­stisch. »Nicht mehr nötig.«

»Sie hat dich wieder gerufen?« »Ja.« »Wir sind ein gutes Stück weiter. Dieser

See ist in meinen Informationen vorhanden. Er ist der Speicher für die Versorgung der Wassermaschine«, versicherte der Robot. »Gehen wir weiter. Vielleicht schickt uns dieses Superinsekt doch die Tierchen nach.«

»Einverstanden.« Sie näherten sich dem Wasserspiegel ei­

nes kleinen, runden Sees. Das Wasser war kristallklar, von der Decke tropfte an ver­schiedenen Stellen Wasser und erzeugte ein System von sich ausbreitenden Ringen, von denen die Wasserfläche ununterbrochen in Unruhe gehalten wurde. Das Licht kam aus einer einzigen Quelle, einem System son­nenheller, gleißender Scheinwerfer, die im Mittelpunkt einer Kuppel aus weißlichem Gestein befestigt waren. Am Rand des un­terirdischen Sees wuchsen echte, grüne Pflanzen; seltsame Blüten in vielen pracht­vollen Farben schwammen auf dem Wasser

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und schaukelten träge. Es war ein Bild voll­kommenen Friedens.

»Nicht, daß es mich stören würde«, er­klärte Atlan und atmete feuchte, aber kühle Luft ein. Nach dem Gestank seit dem Ein­dringen in das Labyrinth war dieser Hauch geradezu eine Erholung, »aber ist diese Höhle so und nicht anders in deinen Infor­mationen, Elkohr?«

»Die Anlage – ja. Aber nicht die Dekora­tion. Vermutlich haben die Termiten Samen­körner hierher geschleppt. Lasse dich von diesem Idyll nicht ablenken. Es ist so wenig schön wie alles hier.«

»Ich habe verstanden.« Mit schnellen Schritten gingen sie entlang

des Seeufers weiter. Sie suchten den näch­sten Ausgang. Oder den Weg, der sie end­lich in die unmittelbare Nähe der Hades-Zo­ne bringen würde. Atlan rechnete mit einer neuen Teufelei, mit einem Angriff oder der nächsten Falle. Aber während er neben El­kohr dahinschritt, registrierte er kalten Blickes seine überraschende Umgebung.

Nicht nur von den verschiedenen Stellen der Höhlendecke, sondern auch unterhalb des Wasserspiegels schien der See gespeist zu werden. Vermutlich war es Wasser, das von Pthors Oberfläche heruntersickerte. Die langstieligen, grünen Pflanzen, terranischem Schilf durchaus nicht unähnlich, schwankten knisternd hin und her. Von den treibenden Blüten stieg ein schwerer, aromatischer Ge­ruch auf. Mitten in diesem See, dessen Durchmesser kaum größer als hundertfünf­zig Meter war, befand sich eine Insel. Sie war ebenfalls kreisrund und glich dem abge­schnittenen Ende einer Säule. Auch rund um diese merkwürdige Insel schwammen riesige Blüten: gelb, hellrot und hellblau. Der betäu­bende Geruch nahm zu. An dieser Stelle war der Untergrund kein dunkelgrüner, sondern fast weißer Sand. Aber es gab keine Kno­chen, die unter den Fußtritten zersplitterten.

Die Geräusche der fallenden Tropfen wurden deutlicher. Das ferne Trommeln hör­te auf. Elkohr und Atlan hatten die Hälfte des einen Ufers hinter sich, als es neben ih-

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nen im See zu brodeln und zu zischen be­gann. An mehreren Stellen unterhalb des Wassers stiegen Blasen auf und begann das Wasser zu strudeln. Die schwimmenden Blüten gerieten in Bewegung. Die Schilf­stengel peitschten hin und her; aus ihren Oberteilen lösten sich einzelne Blätter und Blütenteile und schwirrten durch die Luft davon.

Atlan hustete; der feine Blütenstaub und der schwere Geruch legten sich ätzend auf die Schleimhäute. Unbeirrbar rannte der Ro­bot weiter, auf ein geheimnisvolles Ziel zu, das vorläufig nur er kannte.

»Der Geruch scheint lähmend zu sein«, brachte der Arkonide hervor und beschleu­nigte seine Schritte.

»Ein echter Grund, diese Höhle noch schneller zu verlassen«, war die Antwort.

»Hoffentlich schaffen wir es.« Der Weg zur Hades-Zone schien be­

schwerlicher und gefährlicher zu sein, dach­te Atlan, als er angenommen hatte. Aber während sie sich hier durch das unterirdi­sche System vorankämpften, raste Pthor weiterhin auf einem unkontrollierten Kurs durch Zeit und Raum.

»Es ist zum Verzweifeln!« stöhnte er hu­stend. Es war reines narkotisierendes Gas, das er einatmete. In seinen Knien breitete sich eine unerklärliche Schwäche aus, die Farben und Formen des Sees, der Höhle und der Pflanzen veränderten sich und wurden instabil. Atlan riß sich zusammen, versuchte, nicht einzuatmen und rannte weiter, blind seinem rätselhaften Freund folgend. Elkohr schien von den Ausdünstungen der Pflanzen nicht im geringsten beeinträchtigt zu sein. Er faßte Atlan am Unterarm und zog ihn mit sich.

Hinter ihnen und neben ihnen geriet die Wasserfläche in stärkere Bewegung. Es war, als sei ihr Eindringen ein Zeichen für un­sichtbare Mechanismen gewesen. Binnen weniger Sekunden brodelte das Wasser und warf hohe Wellen in die Schilfstengel und an das sandige Ufer. Eine wilde Folge ver­schiedener Geräusche ertönte und erfüllte

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die lichtdurchflutete Kuppel mit ihrem Lärm. Atlan lief wie in Trance und fühlte nicht einmal mehr den harten Griff Elkohrs, der ihn vorwärtszog.

»Wohin … wie … warum …?« lallte der Arkonide und blinzelte. Das Licht war zu grell, die undefinierbaren Geräusche zu laut, und jede weitere Bewegung entkräftete sei­nen Körper.

»Verausgabe dich nicht mit sinnlosen Fra­gen«, entgegnete Elkohr, aber Atlan ver­stand den Sinn der Antwort nicht mehr. Er registrierte nur noch undeutlich, daß die Lichtflut aufhörte, daß die Geräusche eine andere Klangfarbe erhielten und daß sich sein Verstand langsam zu klären begann.

Elkohr hatte mit seinem Partner mehr als hundertachtzig Grad der Rundung zurückge­legt und folgte seinen eingespeicherten In­formationen. Exakt an der errechneten Stelle befand sich in der untersten Wandung der Kuppel ein schmaler Steg neben einem etwa zwei Meter breiten Kanal, in dem das Was­ser schnell abwärts und in den nächsten Teil der Höhlenserie strömte. Abgerissene Pflan­zenteile, gelblicher Schaum und losgerissene Blüten schwammen kreiselnd und schnell mit dem Wasser dahin.

Vor Elkohr und Atlan lag der See der Wassermaschine.

Nicht einmal der Roboter wußte, was man sich unter dieser Bezeichnung vorzustellen hatte. Aber als die Schritte hallend und klir­rend auf einem Metallrost erklangen, wußte der silberne Robot, daß sein organischer Be­gleiter außerhalb der unmittelbaren Gefahr war. Er brauchte ihn; was ihm an Phantasie fehlte, brachte Atlan mit, dafür war er weni­ger belastbar als er selbst.

Sie ließen die etwa hundertfünfzig Meter des schmalen Tunnels hinter sich und befan­den sich dann dort, wo aus dem massiven Felsgestein die Höhle mitsamt dem See für die Wassermaschine herausgearbeitet wor­den war. Auch dieser Teil Pthors trug, wie alles andere, den unverkennbaren Stempel der Jahrhunderttausende.

»Kommst du wieder zu dir? Kannst du

schon wieder klar denken?« fragte Elkohr mit deutlicher Ungeduld.

Atlan stierte ihn an und keuchte hustend: »Ich bin gerade dabei, mich zu erholen.

Wo sind wir?« »Unverändert auf dem Weg zur Hades-Zo­

ne.« »Ich fühle starken Kopfschmerz. Diese

Blüten und Pflanzen …« Elkohr wandte Atlan seinen schmalen

Schädel zu und erwiderte: »Sie strömten gewisse betäubende Gase

aus. Diese Gefahr ist jetzt vorbei. Wir sind in der Halle der Wassermaschine. Sie ist, wenn meine Informationen noch aktuell sind, ein Teil des Herrschaftssystems von Urtyn.«

»Wer oder was ist Urtyn?« murmelte At­lan und fühlte erleichtert, wie sein Bewußt­sein immer klarer wurde.

»Diese Informationen wiederum besitze ich nicht. Aber ich schließe, daß es eine wei­tere ernsthafte Barriere vor dem Gebiet der Hades-Zone sein muß.«

»Wahrscheinlich!« murmelte Atlan und versuchte zu erkennen, wo sie sich nun be­fanden. Der See und die Halle waren noch erstaunlicher und verblüffender als der Tüm­pel mit dem Sonnenlicht und den Schilf­pflanzen.

5.

Der Steg aus Steinquadern, eisernen Trä­gern und scharf profiliertem Gitterwerk führte wie eine Sprungschanze über das Wasser des Sees hinaus. Im Gegensatz zu den bisher betretenen Höhlen richteten sich riesige, kugelförmige Lampen in alle Rich­tungen und erzeugten Lichtbrechungen und sich kreuzende Strahlenbahnen. Es gab auch eine Reihe von Unterwasserscheinwerfern, die eine gewaltige, schwarze Maschine in­nerhalb des trüben und milchig erscheinen­den Wassers beleuchteten und deren Kontu­ren deutlich hervortreten ließen. Die mächti­ge Maschinerie befand sich zu zwei Dritteln unterhalb und zu einem Drittel oberhalb des

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Wasserspiegels. Diesmal befanden sich kei­ne Gewächse im Wasser, nur ein Strudel saugte die losgerissenen Pflanzenfetzen mit sich in die Tiefe.

Kugeln und Röhren, Würfel und spiralige Elemente, flache Schalen mit den Öffnungen nach oben und nach unten, blitzendes Gitter­werk, das die schwarzen Flanken unter­brach, durchlöcherte Platten in sämtlichen Formen – das alles ragte aus dem Wasser, wurde seinerseits von Wasser überströmt und durchflossen, war Teil von Vorhängen aus Tropfen und hauchdünnen Wasserflä­chen, die daran heruntersickerten. Das alles wirkte wie eine gigantische, mit geradezu abstrusem Aufwand ausgeführte surrealisti­sche Plastik mit vielen kinetischen Elemen­ten.

Farben und Formen, Wasser unter dem Einfluß verschieden ausgerichteter Schein­werfer, ununterbrochen erfolgende Entla­dungen, die wie farbige Blitze wirkten, ver­banden sich zu einem verwirrenden Ein­druck. Eine gewisse funktionelle Eleganz war ihm nicht abzusprechen.

Atlan holte tief Luft und fragte stockend: »Das also ist die Wassermaschine?« »Sie muß es sein. Ein Teil der Maschinen,

die Pthor steuern.« Elkohr und Atlan standen Seite an Seite

auf dem vorspringenden Steg und bewun­derten die rätselvolle Anlage, von der – ab­gesehen von den verschiedenen Geräuschen des Wassers in allen seinen strömenden, fal­lenden und tropfenden Erscheinungen – ein dumpfes Summen ausging. Die Maschine war unbegreiflich. Was sie tat, war vielleicht zu erraten. Aber sie war selbst für Atlan fremd. Er rief sich in sein bewußtes Ge­dächtnis all die Formen und Funktionswei­sen der Tausende von Maschinen zurück, die er während seines langen Lebens gese­hen und bedient hatte:

Diese Wasssermaschine gehörte keiner lo­gischen, entschlüsselbaren Erinnerung an.

Sie war fremd, von fremden Gehirnen er­sonnen und vor einer Ewigkeit erbaut wor­den, in einem fremden Kosmos unter der

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Verwendung unbekannter Materialien und einer kaum zu erklärenden Technik. Aber … sie schien hervorragend zu funktionieren.

»Abermals weiß ich nicht weiter«, be­kannte der Arkonide. »Der Versuch, dieses Gerät zu steuern, wäre sinnlos. Ich finde die Wassermaschine irgendwie aufregend und schön, aber vollkommen fremd. Weißt du, was zu tun ist?«

»Noch nicht. Die Schaltpläne, die man mir mitgegeben hat, treffen nicht auf diese Maschine zu. Ich weiß nur, daß es sie gibt. Und ich weiß auch, daß wir von unserem Ziel nur noch wenig entfernt sind.«

»Tröstlich, gerade dies zu hören«, mur­melte Atlan und stemmte die Hände in die Seiten. Unverändert strömte, sprang, plät­scherte und tropfte Wasser, in allen Farben des Spektrums wechselnd durchleuchtet, von den Auslegern und über die Zinnen und Vorsprünge der Maschine dahin.

Das Summen wurde lauter. Ein ohrenbetäubendes Kreischen mischte

sich in das Brausen, wurde lauter und uner­träglich, dann ertönte ein metallisch klingen-des Krachen, ein klirrendes Dröhnen von furchtbarer Intensität. Ein weißer Nebel er­füllte binnen eines Sekundenbruchteils den Raum und verhüllte die Einzelteile der Ma­schine. Als das Echo des Krachens verging, ertönte ein kräftiges Platschen. Es war, als ob ein schwerer Gegenstand mit äußerster Gewalt ins Wasser des Sees geschleudert worden wäre. Der weiße Nebel kondensierte schnell an den Teilen der Maschine.

»Hier! Ein Fremdkörper!« Atlan deutete auf einen großen, dunklen

Gegenstand, der zuerst regungslos, dann mit immer heftiger werdenden Bewegungen vor der Maschine im Wasser schwamm.

»Hilflos und zappelnd. Es sieht aus wie ein Verwandter von Munin und Hugin«, rief der Roboter voller Erregung.

Atlans Ohren klingelten. Als sich die Sicht klärte, beugte er sich über das niedrige Geländer weit nach vorn und spähte ins Wasser.

Wer oder was immer dort schwamm und

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wild um sich schlug, es drohte unterzuge­hen.

»Der Fremde ertrinkt!« rief Atlan und kletterte über das Geländer. Er stellte sich vor, daß Atlantis-Pthor auf der Fahrt durch Raum und Zeit etwas gestreift und Teile da­von in sein System hineingerissen hatte. Noch lebte dieser Fund, aber es sah so aus, als würde er in kurzer Zeit ertrunken sein.

»Ich ziehe ihn dort an Land«, rief der Ro­bot und verließ den Steg. Unterhalb der ei­sernen Konstruktion befand sich ein Fels­vorsprung, der direkt ins Wasser mündete. Atlan riß die Arme nach vorn und hechtete ins Wasser. Er kam flach auf, schwamm mit einigen schnellen Zügen auf den wild um sich schlagenden, federbedeckten Körper zu und bekam einen dünnen Arm zu fassen.

Er warf sich im Wasser herum, sah die Gestalt des Roboters und hielt, mit beträcht­licher Anstrengung schwimmend, darauf zu. Der Körper voller schwarzer Federn hinter ihm hatte sich mit Wasser vollgesogen und war teuflisch schwer.

»Schaffst du es ohne meine Hilfe?« rief Elkohr laut.

Atlan sah hinter sich ein Eulengesicht aus dem Wasser auftauchen. Das fremde Wesen sah einem Vogel immer mehr ähnlich. Das Gesicht wirkte in seiner Verzweiflung aus­gesprochen hilflos und erbarmungswürdig.

»Ja … ich denke schon … jetzt!« Atlan fand keinen Boden unter seinen Fü­

ßen, als er an die Felsplatte herangeschwom­men war. Die Wände des Sees fielen steil ab. Es gab kein Stück sichtbares Ufer. Der Roboter griff nach dem schwarzen, schwe­ren Bündel. Gemeinsam wuchteten sie das Wesen, das knurrende und wütende Laute ausstieß, sich aber nicht wehrte, waagrecht auf den schmalen Vorsprung hinauf. Dann griff Atlan nach Elkohrs Hand und zog sich selbst hoch.

»Wer bist du?« fragte Atlan in Pthora. Sie zogen den Fremden auf die Füße und lehn­ten ihn an die glatte Felswand. Literweise floß Wasser aus dem dichten, dunklen Ge­fieder.

Der Schnabelmund des vogelartigen We­sens, dessen kläglich dürre Ärmchen und Beinchen aus den nassen Federn hervorsa­hen, machte knatternde Geräusche. Dann er­tönte ein Laut, der sich wie »Gortmichl« an­hörte.

»Du bist Gortmichel?« fragte der Robot abermals. Der Fremde schüttelte sich voller Anstrengung und übersprühte die beiden an­deren mit einem Regenschauer. Dann stri­chen seine dünnen Finger über das schwarze Gefieder. Wieder floß Wasser zurück in den See.

»Kortmikel!« schrie der Fremde. »Kortmikel!«

Eine lange Folge undeutlicher Ausdrücke folgte. Vermutlich fluchte der Fremde läster­lich. Atlan spürte schwache Sympathie mit dem kleingewachsenen Wesen – auch er hät­te angesichts eines solchen Unfalls geflucht.

Atlan schwang sich wieder auf den Steg hinauf und betrachtete den seltsamen Fund aus dem See der Wassermaschine.

Während er versuchte, sein Staunen zu unterdrücken, schien der kluge Roboter die Sprache Kortmikels entschlüsseln zu wollen.

Etwa eineinhalb Meter groß war dieser Fremde. Sein Körper war birnenförmig wie der einer fetten Ente, die sehr aufrecht ging. Tausend kleiner Federn von schwarzer Far­be bedeckten den Körper, der keineswegs den Eindruck von Stärke oder Widerstands­fähigkeit machte. Die Arme und Beine wa­ren ebenfalls unterdimensioniert und wirk­ten, als sie am Gefieder herumstrichen, kraftlos und zierlich. Der Kopf war bemer­kenswert: Schon allein die Farben und die Anordnung der Augen und des hornigen Mundes riefen den Eindruck hervor, Kortmi­kel sei ein mürrisches, skeptisches Exemplar einer schlechtgelaunten Gattung aufrechtge­hender Eulen. Verdrossen zwinkerten die riesigen Augen, die dunkelblauen Federbü­schel, wie Antennen wirkend, richteten sich über den unsichtbaren Ohren auf. Oder über der Stelle, an der Atlan Gehöröffnungen ver­mutete. Ein schrilles, humorloses Lachen hallte zwischen den Felswänden.

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»Ich Kortmikel. Von Dellop. Ich Brun­ker.«

Atlan warf dem Roboter einen langen Blick zu und fragte verblüfft:

»Du beginnst schon zu übersetzen? Wie war das? Verstehst du seine Sprache etwa?«

Du solltest Elkohr nicht eine Sekunde lang unterschätzen, erklärte verdrossen der Logiksektor.

Der Robot gestikulierte, warf sich vor­sichtig den schweren Körper über die rechte Schulter und turnte dann über das Gitter­werk des Steges zu Atlan hinauf. Der Arko­nide half ihm, den Fremden behutsam wie­der auf die Beine zu stellen. Nur ganz lang­sam verflüchtigte sich die Nässe aus dem Gefieder.

»Es ist nicht sehr schwer. Er sagt, er sei Kortmikel, ein Brunker von einer Welt, die sich Dellop nennt. Er weiß nicht, wie er aus­gerechnet hierher gekommen ist«, erklärte Elkohr bereitwillig. »Mit der Zeit werde ich seine Sprache gut übersetzen können.«

»Hoffentlich!« Atlan drehte sich um und betrachtete wie­

der den See rund um die plätschernde und tropfende Wassermaschine. Bisher war ihm entgangen, daß es keinerlei Möglichkeit gab, den See zu Fuß zu umrunden. Der Korridor führte auf diesen Steg hinaus, und jenseits der Maschine war abermals eine Tunnelöff­nung zu sehen. Aber abgesehen von dem schmalen Felssims, auf den sie sich gerettet hatten, gab es nur glatte, senkrecht abfallen­de Höhlenwände. Sie mußten schwimmen, um den gegenüberliegenden Teil des Sees zu erreichen und somit den Ausgang aus dieser Höhle.

Jener Kortmikel würde sie wohl oder übel begleiten müssen. Atlan wandte sich an El­kohr.

»Sage ihm, wenn du es kannst, daß er mit uns gehen soll!«

»Ich werde es versuchen, Atlan.« Elkohr sprach rasend schnell auf Kortmi­

kel ein. Das Vogelwesen schwenkte die Ärmchen und schrie erbittert zurück. Beide zeichneten wirre Figuren in die Luft. Dann

Hans Kneifel

erklärte der Roboter: »Kortmikel weigert sich, mit uns zu

schwimmen. Er haßt kaltes Wasser.« Atlan zog die Schultern hoch. »Zieht er es vor, hier zu bleiben? Er weiß

nicht, wo er ist, jedenfalls nicht auf der Welt Dellop.«

»Ich frage ihn.« Und während sie sich mit solchen Neben­

sächlichkeiten beschäftigten, irrte der Wel­tenbrocken weiterhin rasend schnell durch Raum und Zeit. Was würde geschehen, wenn er mit einem anderen Ding als Kortmi­kel oder einer anderen Beziehungsebene kollidierte?

»Wie hat er sich entschieden?« Atlan fand den schwarzgefiederten Bur­

schen zwar recht sympathisch, aber er würde sich von ihm keineswegs in seinen Absich­ten ablenken lassen. Einen langen, schmerz­lichen Augenblick dachte er an die Tochter Odins und zuckte zusammen, als er sich Thalia vorstellte. Was geschah jetzt in der Festung? Welche Position nahmen die ge­walttätigen Brüder ein?

»Er ist mißgestimmt!« verkündete Elkohr. »Sag ihm«, begann Atlan, »daß wir in we­

nigen Minuten uns wieder in den See stür­zen und an der Wassermaschine vorbei in Richtung des gegenüberliegenden Ausgangs schwimmen werden. Entweder wird er eine Beute der Larstropha, oder er läßt sich von uns helfen und hilft uns seinerseits.«

»Ich werde es übersetzen, wenn ich es vermag.«

Wieder fing der schnelle, mit hellen und schnarrenden Stimmen geführte Dialog der beiden erstaunlichen Wesen an. Atlan wurde ungeduldig. Aber er merkte auch, daß El­kohr Fähigkeiten, die Sprache des Fremden zu begreifen und anzuwenden, ständig grö­ßer wurden. Schließlich erklärte Elkohr:

»Kortmikel ist verzweifelt. Er ist sicher, daß er hier elendiglich umkommen muß. Er flucht auf alle und alles, nicht aber auf uns. Pthor ist für sein Schicksal verantwortlich.«

Atlan deutete auf das gegenüberliegende Ende der Höhlung.

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»Sage ihm bitte, daß wir es ziemlich eilig haben. Wir müssen zusammen schwimmend den See hier durchqueren, er kommt mit uns. Es gibt für ihn keine lebensrettende Al­ternative. Vielleicht können wir ihm helfen, wenn wir die Hades-Zone endlich erreicht haben.«

»Verstanden.« Der Robot redete wieder auf Kortmikel

ein. Fluchend und schimpfend erwiderte der Fremde undeutliches Zeug. Immer wieder deutete er auf das nasse Element, dem er so­eben heil entkommen war. Zu Atlans Ver­blüffung öffnete Elkohr schließlich ein Fach in der Rüstung seines Oberschenkels und zog einen kleinen Behälter hervor. Er ver­suchte, Kortmikel zu erklären, was er tat. Dann begann er systematisch, das Gefieder des kleinen schwarzen Wesens einzusprü­hen. Atlan schüttelte den Kopf, als er sah, wie die Federn zu glänzen begannen. Der Sinn des Verfahrens war klar: Kortmikel würde besser schwimmen oder zumindest weniger schnell untergehen.

»Ist er einverstanden?« fragte Atlan. Noch immer drehten sich die Strudel,

schwammen Blüten und Blattfetzen auf dem See, spielte das Wasser in seinen vielfältigen Erscheinungsformen auf der Maschine. El­kohr verstaute das Sprühgerät wieder und faßte Kortmikel kameradschaftlich um die Schultern. Sie gaben ein merkwürdiges Paar ab, der schlanke, glänzende Robot und das schwerfällig watschelnde Fremdwesen mit seinen nervös zitternden Federantennen.

»Los!« sagte Atlan. Das Wasser war frisch, aber nicht unange­

nehm kalt. Atlan kletterte über das Geländer, ließ sich fallen und schwamm ein paar Me­ter zur Seite. Dann sprangen Elkohr und Kortmikel gleichzeitig in den See. Atlan packte das Vogelwesen rechts, Elkohr links an den Armen, und nebeneinander schwam­men sie entlang der Höhlenwand bis zum gegenüberliegenden Rand des Sees. Ein Arm der Maschine, der unter Wasser verlief, bildete eine Konstruktion, die wie eine bi­zarre Wendeltreppe aussah. Auf diesen Ele­

menten kletterten die drei Eindringlinge nacheinander hinauf und befanden sich dann wieder auf einem Steg. Der Metallrost ging nach wenigen Metern in einen weiteren Kor­ridor über.

»Er sagt«, übersetzte Elkohr wenig später, »daß er sich freut, so gute Freunde gefunden zu haben. Aber noch immer verflucht er Pthor und alles, was sich darauf befindet. Er will zurück in sein Wohnhorn.«

»Mehr oder weniger geht es mir nicht an­ders. Sage ihm, ich verstehe ihn gut und füh­le mit ihm«, antwortete Atlan.

Wieder schlugen ihnen Dunkelheit und feuchte Luft entgegen. Der Korridor machte eine Biegung. Die ersten, sehr flachen Stu­fen tauchten auf. Hinter den drei Fremden verliefen breite Spuren von Nässe. Das Summen, Plätschern und Klatschen der Wassermaschine wurde leiser und hörte schließlich ganz auf, als sie etwa hundert Stufen hinter sich gebracht hatten.

Sie tasteten sich durch die Finsternis auf­wärts. Zusammen mit der feuchtwarmen Luft kam ihnen ein tierischer Geruch entge­gen. Es stank nach Exkrementen, nach Schimmel und faulendem Fleisch. Weitere zehn Stufen später ertönte weit vor ihnen, durch Echos und den gekrümmten Verlauf des Korridors verstärkt und verändert, ein schauerliches Heulen.

»Wir nähern uns der Hades-Zone. Dieser Korridor ist identisch mit meinen Informa­tionen«, sagte der Robot. Eine halbe Sekun­de später gab es vor Atlan und Kortmikel ein dumpfes, krachendes Geräusch.

»Vorsicht!« Kortmikel stolperte unbeholfen gegen El­

kohr. Atlan sprang zur Seite und hörte das schrille Schimpfen des Vogelwesens. Elkohr war gegen einen riesigen, doppelt manns­großen Felsbrocken geprallt, der sich genau auf den Stufen befand. Atlan näherte sich, streckte die Hände aus und tastete an den Umrissen des Brockens herum. Ein Schlag traf ihn an der Schulter, dann fühlte er, wie von oben eine breite Bahn Staub und Stein­brocken herunterrauschten.

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»Zurück!« rief er und zog Kortmikel zur Seite.

Die Dunkelheit füllte sich mit feinverteil­tem Staub. Brocken polterten über die Stu­fen abwärts. Kortmikel begann wimmernd und pfeifend zu schreien.

Er fürchtet sich, erklärte der Logiksektor. »Der Brocken war offensichtlich«, erklär­

te Atlan sarkastisch und hustete, wischte sich die Augen und lehnte sich erschöpft an die Felswand, »nicht in deinen Informatio­nen. Kommen wir daran vorbei, Elkohr?«

»Daran vorbei oder einfach darüber. Ich untersuche gerade die Situation«, rief der Roboter aus dem Dunkel.

Es war nicht zu erkennen, ob der Fels­brocken vor Jahrhunderten oder vor wenigen Tagen sich aus der Decke des Korridors ge­löst hatte. Als Atlan wieder einigermaßen frei atmen konnte, schob er sich näher heran und versuchte, den freien Raum zwischen der Wand des Verbindungsgangs und dem Felsbrocken festzustellen. Seine Finger un­ter dem anschmiegsamen Material des Gol­denen Vlieses ertasteten kleinere und größe­re Hohlräume, vorspringende Felskanten und scharfe Bruchstellen. Ganz vorsichtig schob sich der Arkonide weiter vorwärts und spürte schließlich, daß er an dem Hindernis vorbei war. Wieder erscholl ein teuflisches Heulen vor ihm.

»Hierher. Auf die rechte Seite. Der Durchgang ist frei, aber seid vorsichtig!« rief er nach hinten. Der Schall seiner Worte löste eine neue Staublawine aus, die mit Fel­strümmern und Brocken vermischt herunter­prasselte, als sich Kortmikel und Elkohr durch den Engpaß schoben.

Sie liefen, den Atem anhaltend, etwa fünf­zehn Stufen weiter aufwärts und blieben ste­hen. In der absoluten Dunkelheit berührten sich ihre Körper.

»Hades-Zone, ich hassen. Tod und Fin­sternis«, sagte Kortmikel in stockendem Pthora.

»Sage ihm, daß wir uns in einer Welt un­bekannter Gefahren befinden, und daß es unser Ziel ist«, bat Atlan, »diese Gefahren

Hans Kneifel

auszuschalten.« »Das habe ich bereits übersetzt. Er will

zurück zu seinem Kaminfeuer und dem Ding, das ich mit ›Dimensionsrüssel‹ über­setze.«

»Ich fange an zu verstehen«, flüsterte At­lan. »Atlantis hat ihn mit sich gerissen, als er irgendwie mit einem Vorstoß in andere Di-mensionen beschäftigt war. Richtig, El­kohr?«

»So ist es zu verstehen. Er scheint eine Art Mechaniker zu sein, jemand, der sich mit übergeordneten Verhältnissen jenseits der erfaßbaren Welt beschäftigt.«

Ein Hyperphysiker, der auf seiner Welt mit den Dimensionen experimentiert, flü­sterte Atlans Extrasinn.

»Weiter!« drängte Atlan. »Es ist mehr als an der Zeit, hier etwas zu entdecken und dann wieder an die Oberfläche zurückzukeh­ren.«

»Einverstanden.« Schweigend und so schnell wie möglich

kletterten sie nebeneinander weiter. Tiefe Dunkelheit umgab sie noch immer. Der Ge­stank nahm zu, und das Heulen hallte in im­mer kürzeren Abständen durch den Gang. Der unsichtbare Feind dort irgendwo vor ih­nen schien sie zu wittern. Ganz plötzlich machte der Korridor einen Knick. Mehrere Wände aus riesigen Quadern mit tiefen, leicht ertastbaren Rillen schoben sich wie die Teile eines rechtwinkligen Labyrinths von rechts und links heran. Dann traten die drei so unterschiedlichen Lebewesen auf ei­ne Kanzel hinaus, die aus dem Felsen ge­meißelt schien. Sie überblickten eine weitere Höhle, die abermals überraschend aussah und in düsteres, staubiges Licht getaucht war.

»Wir sind am Eingang zur Hades-Zone«, sagte Elkohr erleichtert.

»Ich Zone hassen!« bemerkte schrill und ängstlich das Vogelwesen Kortmikel.

»Ein düsteres Gebiet, das gut zu seinem Namen paßt. Dort unten, Elkohr – diesmal haben wir einen weniger exotischen Geg­ner.«

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Sie konnten Dutzende von Tieren erken­nen, die vage Ähnlichkeit mit knochigen Wölfen oder seltsam gebauten Hunden hat­ten. Jetzt, als sie die Fremden witterten, lie­fen sie auf weichen Pfoten aus allen Rich­tungen der kubisch ausgeformten Höhlentei­le heran und versammelten sich dreißig Me­ter unterhalb der Kanzel in einem Halbkreis.

Sekunden später stieß eines der größten Tiere ein schauerliches Heulen aus. Die an­deren fielen nacheinander in das Geheul ein. Schließlich erfüllte der jaulende, heulende und schrill kläffende Chor das riesige Ge­wölbe mit seinem gräßlichen Lärm.

»Ich besitze Möglichkeiten, mich gegen sie erfolgreich zu wehren«, versicherte El­kohr, als stünde nur ein Spaziergang bevor.

»Wie tröstlich, das zu wissen«, konterte Atlan.

Er starrte geradeaus und versuchte, die Formen und Anordnungen dieser neuen Höhle zu enträtseln. Aber das System aus offenen, ineinander verschachtelten Würfeln gab sein Geheimnis nicht preis. Die weni­gen, meist indirekten Beleuchtungseinrich­tungen waren von wehenden Staubfahnen abgeschwächt. Atlan konnte nur wenige Ein­zelheiten erkennen. Aber so wie die allerer­ste Höhle, die er betreten hatte, aus einem Wirrwarr geöffneter Blasen bestanden hatte, so zeigte sich dieser Vorhof der Hades-Re­gion in einer Menge von schachtel- und würfelförmiger Elementen, die jeweils fünf Wände, beziehungsweise Boden und Decke aufwiesen, denen aber stets die sechste Flä­che fehlte. An diesen Stellen gingen Geräte, Schaltstationen und Verbindungen ineinan­der über.

»Selbstverständlich müssen wir, um zu ei­nem Ergebnis zu kommen, mitten durch die­ses Rudel heulender Bestien!« rief Atlan durch das Gelärm der Tiere.

»Sie werden uns nicht lange aufhalten.« Elkohr hob in einer Bewegung, die Atlan

bei ihm in dieser Weise noch nicht gesehen hatte, den rechten Arm und deutete auf einen der wolfsähnlichen Verteidiger der Räume. Dieses Tier hatte sich aus der Menge der an­

deren abgesondert und sprang immer wieder an der untersten Stufe hoch.

Zwischen der Kanzel und dem erkennba­ren Boden der Höhlenanlage befand sich ei­ne in den Felsen gehauene oder aus ihm her­ausgeschnittene Treppe mit mehreren Absät­zen. Es waren hohe Stufen, die immer wie­der von Rampen unterbrochen wurden, die von den Tieren selbst mit den höchsten Sprüngen nicht zu überwinden waren.

Der weißbepelzte Wolf war rasend vor Wut, Gier oder Hunger.

Er nahm immer wieder einen Anlauf, kau­erte sich auf die Hinterbeine und sprang fast senkrecht in die Höhe. Die Krallen seiner Vorderpfoten kreischten auf dem Stein. Das Tier stieß einen heiseren Laut aus, rutschte ab und überschlug sich. Die anderen Tiere mit den schmalen, sehnigen Schnauzen und den langen, weißschimmernden Fangzähnen stürzten sich zunächst auf die riesige Bestie, dann schreckten sie wieder zurück. Als der ausgestreckte Finger des Robots auf die Be­stie deutete, wurde deren Sprung mitten in der Bewegung angehalten. Das Tier wurde mit einer harten, unsichtbaren Kraft zurück­geschleudert, überschlug sich und schmet­terte gegen den Boden. Das Heulen der an­deren verstärkte sich. Abermals machte der Robot eine kurze, fast nicht wahrnehmbare Bewegung. Der Kadaver wurde in die Höhe gerissen, drehte und wirbelte abermals hoch und wurde mit gewaltiger Wucht gegen eine Wand geschleudert. Langsam rutschte das weiche Bündel aus Fell und zerbrochenen Knochen an der Wand herunter.

Augenblicklich stürzten sich dreißig oder mehr Wolfsartige auf den Kadaver und be­gannen ihn zu zerfleischen. Das Heulen und Jaulen riß ab und machte dem bösartigen, gierigen Knurren Platz, mit dem sich die Tiere über ihren Genossen hermachten.

»Gehen wir!« sagte Atlan und zog seine Schulter hoch.

»Verdammter Hades!« keifte Kortmikel. »Wir haben einen festen Auftrag und wer­

den das Ziel sicher finden«, bemerkte El­kohr und machte sich an den Abstieg über

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die vielen Stufen.

6.

Keiner von ihnen hatte Illusionen gehabt: Die Tiere griffen an wie die Rasenden, als Kortmikel, Elkohr und Atlan auf der unter­sten Stufe standen. Es war zu erwarten ge­wesen; Elkohr hatte sich darauf eingestellt. Seine unsichtbare Waffe wirkte wie ein rie­siger, lautloser Hammer.

Nacheinander deutete er auf drei Tiere. Sie wurden aus der Meute der gierigen

Angreifer herausgerissen, in die Luft geho­ben und gegen die nächste Mauer geschmet­tert. Es gab knirschende und krachende Lau­te, als die Bestien starben. Die anderen war­fen sich auf die willkommene Beute. Nach­einander sprangen die Eindringlinge über die Stufe abwärts und gingen in einer Reihe, vorsichtig und langsam, auf das Zentrum der Anlage zu.

»Achtung! Rechts!« sagte Atlan leise und scharf. Elkohr wirbelte herum, deutete auf den nächsten Angreifer und schleuderte ihn mit dem unsichtbaren Hammerschlag min­destens zwanzig Meter rückwärts durch die Luft.

»Waffe sie furchtbar!« bestätigte, ein we­nig mutiger geworden, das Vogelwesen.

Immer wieder griffen Tiere an. Sie waren kniehoch, dürr und sehnig. Ihr Gebiß starrte von nadelfeinen Zähnen, die Krallen waren lang und scharf. Überall sah man die Spuren der Krallen in den Steinen und Mauern. Nach wenigen Schritten bewegten sich die Fremden in das Gebiet dieser technischen Anlage hinein, die sie mit Klicken, Sum­men, Surren und anderen Arbeitsgeräuschen empfing.

Elkohr drehte sich hierhin und dorthin. Immer, wenn sein Arm auf einen der

schmalschultrigen Wölfe deutete, starb das Tier nach einem blitzschnellen Flug durch die Luft. Es waren noch etwa zwanzig Besti­en, die nicht angriffen, sondern mit Heiß­hunger über die Kadaver ihrer Artgenossen herfielen. Die Angreifer starben schnell, ihr

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Heulen und Jaulen verstummte, wenn sie ge­gen den Stein geschleudert wurden.

»Auf welche Art willst du eigentlich her­ausfinden«, erkundigte sich Atlan, als sie sich im Innern der Anlage befanden, »welches Teil defekt ist? Oder welche Teile ersetzt oder repariert werden müssen?«

»Es gibt nach meiner Programmierung nur wenige Stellen, an denen ich suchen kann. Alles andere wurde für die Ewigkeit gebaut – buchstäblich!« entgegnete Elkohr.

Atlan hatte seine eigenen Vorstellungen und Erfahrungen von Dingen, die angeblich für Ewigkeiten gedacht waren. Aber trotz des Staubes und des Schmutzes, der unter je-dem Schritt aufwallte, schienen diese Geräte hier mehr oder weniger einwandfrei zu funk­tionieren. Im Verlauf der nächsten zwanzig Minuten sahen sie ununterbrochen nichts an­deres als merkwürdige Skalen und Uhren, die eine Betriebsbereitschaft der Bänke, Pul­te und Maschinen anzeigten. Elkohr jeden­falls, der jedes Gerät aufmerksam studierte, schien keinen Fehler zu diagnostizieren.

»Warum wir hier?« erkundigte sich vor­wurfsvoll Kortmikel. Elkohr sagte es ihm, vermutlich zum fünftenmal. Die Fremden gingen Treppen aufwärts, bewegten sich auf kammartigen Rampen und Stegsystemen von einer Maschine zur anderen und sahen überall die Spuren einer sehr langen Zeit, in der hier niemand gewesen war. Wo befan­den sich die früher ausgeschickten Erzeug­nisse der Robotbürger von Wolterhaven? Gab es Reste ihrer Körper? Waren sie ver­nichtet worden, oder hatten sie sich aufge­löst?

»Du kennst dein Ziel?« versuchte sich At­lan bei Elkohr zu vergewissern.

»Es liegt am Ende dieser Anordnung von Maschinen«, erwiderte der Roboter und töte­te drei der ihnen nachhetzenden Bestien.

Je weiter sie in das Wirrwarr aus Maschi­nen und Mauern vordrangen, desto mehr nahmen die Spuren der Jahrtausende zu. Hinter ihnen kennzeichnete eine gewaltige Spur aus aufgewirbelten, feinen Staubteil­chen ihren Weg. Eine Wolke, langgestreckt

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und dicht, schwebte zwischen den Geräten und den Beleuchtungskörpern.

»Wo ist das Ende?« fragte Atlan. Er emp­fand, so nahe an seinem Ziel, unverständli­cherweise keinerlei Erregung mehr. Die Menge der Maschinen und Geräte hatte ihm klargemacht, daß der Versuch, Pthor zu steuern oder anzuhalten, schon jetzt zum Scheitern verurteilt war. Wenn es ihm tat­sächlich gelang, etwas zu beeinflussen, dann nur durch ein mittleres Wunder. Er rechnete allerdings damit, daß jede Schaltstation ir­gendwo ein Zentrum hatte, eine Zusammen­fassung von Tausenden kleinerer Aktivitä­ten, sozusagen die Spitze der Pyramide.

»Das Ende befindet sich dort hinten. Ich bin ganz sicher«, meinte Elkohr. Er führte den seltsamen Zug an, Atlan bildete den Schluß. Ihre Körper waren von dem dunkel­grauen, schweren Staub bedeckt. Sie hatten sich in den letzten Minuten über eine Reihe von Schrägflächen zu einer Konstruktion aus Metallsäulen hingetastet, die eine dicke Metallplatte trug.

Noch eine lange, kurios geschwungene Treppe, dann befanden sie sich dicht vor der riesigen Platte. Sie überragte das gesamte Höhlensystem. Von hier aus gab es einen verwirrenden Blick über die vielen Mauern, Kanten und Verbindungselemente. Nur noch ein paar der Wölfe rannten ratlos tief unten hin und her.

»Überall ist der Schmutz einiger Jahrtau­sende!« bemerkte der Roboter und näherte sich dem ersten Schaltpult der Anlage. Über allem hing, rätselhafterweise, ein gewaltiges Netz aus langen Geraden und konzentri­schen Kreisen.

Atlan hob den Kopf und erkannte im Zen­trum des Netzes eine große, silberfarbene Spinne. Wovon sie gelebt hatte – falls sie noch lebte! –, war ein Rätsel.

»Elkohr! Du mußt deine Waffe noch ein­mal einsetzen!« riet Atlan.

Elkohr bedeutete ihnen, zu warten. Er­schöpft ließ sich Kortmikel in den Staub sin­ken und lehnte sich an das gitterförmige Ge­länder. Atlan war hungrig und durstig, aber

er rechnete keinesfalls damit, hier etwas zu essen zu bekommen.

Elkohr bewegte sich tänzelnd auf das er­ste Pult zu, eine schräge Fläche voller Staub, im Viertelkreis geschwungen. Er hob den Kopf und spähte ins Zentrum des Netzes. Sein Arm zerschnitt mit einer einzigen, blitzschnellen Bewegung eines der radialen Trageseile durch. Augenblicklich kam hekti­sche Bewegung in die Spinne. Sie begann aus dem verdickten Gespinst zu krabbeln, warf sich durch eine runde Netzöffnung und spann sofort einen Faden, an dem sie sich blitzartig auf den Robot herunterließ.

Elkohr wies mit den Fingern auf das In­sekt und stand ruhig und abwartend da.

Es gab ein kurzes, dumpfes Geräusch, als der runde Körper in der Luft gestoppt wurde und wie ein Geschoß zur Höhlendecke ge­schleudert wurde. Mit einem unappetitlichen Knirschen zerfetzte die unsichtbare Kraft den Körper und preßte ihn flach an den Stein.

»Die Gefahr ist vorbei. Ihr könnt kom­men, mir helfen oder nur zusehen«, sagte der Robot mit heller Stimme.

Er schien genau zu wissen, wonach er zu suchen hatte. Mit beiden Armen wischte er Staub und dicke Schichten einer undefinier­baren Masse von den Frontplatten. Je schneller er arbeitete, desto mehr große Ska­len und Uhren wurden sichtbar, die ein im­mer helleres Licht in alle Richtungen ver­strömten. Aber die Wolken von Staub trie­ben hin und her und wirkten wie dichtester Nebel. Hustend und fluchend kamen Kort­mikel und Atlan näher.

»Ist das nun endlich dein Ziel, Elkohr?« fragte Atlan. Seine Laune war an einem Tiefpunkt angelangt. Er verstand nichts mehr, und er wußte definitiv, daß er mit die­sen Geräten und Schaltungen niemals würde Pthors Reise irgendwie beeinflussen können.

»Ja. Hier sind wir richtig.« Elkohr fuhr fort, die Fronten und Arbeits­

flächen der Pulte vom Staub und Abfall zu reinigen.

»Gibt es einen Schaltplan? Hinweise?

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Kann ich dir helfen?« erkundigte sich der Arkonide ratlos.

»Ich habe den Schaltplan in meiner Pro­grammierung. Dort ist er weniger anfällig als in anderer Form. Noch kannst du mir nicht helfen. Aber ich erkläre dir gern, was ich repariere, und wo du unter Umständen etwas bewirken kannst.«

»Das ist sehr freundlich von dir«, bemerk­te Atlan säuerlich. »Ist das die Steuerung all dieser gigantischen und ausgedehnten Anla­gen?«

»Es ist die Überwachungsstation für alles, das wir bisher gesehen haben. Und für eini­ge Dinge und Komplexe, die weder ich noch du kennen.«

Das erste Pult war flüchtig vom Schmutz befreit. Elkohr bewegte sich jetzt mit ma­schinenhafter Schnelligkeit. Eine Klappe öffnete sich, Luft fauchte aus Dichtungs­streifen heraus und blies weiteren Staub fort. Eine Lampe schaltete sich ein und beleuch­tete einen großen Satz Werkzeuge, die von den Erbauern der Anlage zur Reparatur be­reitgestellt worden waren. Elkohr entfernte Schrauben und Klammern und hob schließ­lich den Pultdeckel ab. Darunter kamen Ka­bel und wirre Schaltungen zum Vorschein. Atlan und Kortmikel sahen schweigend zu, wie Elkohr mit untrüglicher Sicherheit han­tierte. Er führte Prüfinstrumente an einzelne Blöcke, zog die Blöcke hervor und ersetzte sie durch Einzelteile, die er einem anderen versiegelten Fach entnahm.

»Was wird hier eigentlich repariert?« fragte Atlan nach einer Weile.

Während er unverdrossen und mit gleich­bleibender Schnelligkeit weiterarbeitete, ant­wortete Elkohr:

»Ich kenne nicht den gesamten Komplex. Dies ist eine Schalt-Unterabteilung, die den Gleichlauf aller anderen Geräte und Trans­portmaschinen gewährleisten soll. Wie ich sehe, sind viele Teile defekt. Sowohl wäh­rend des Fluges von Pthor als auch auf der Oberfläche werden sicherlich die Verhältnis­se stabilisiert. Aber das ist nicht das Problem eines Technikers, wie ich einer bin, sondern

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eines Philosophen.« »Will zurück. In Wohnhorn! Zu Junior!«

rief Kortmikel mürrisch. »Später, Kortmikel!« versuchte ihn Atlan

zu trösten. Er glaubte selbst nicht daran, daß Kortmikel jemals wieder in seine Heimat zu­rückkehren konnte.

Etwa eine Stunde verging, ohne daß El­kohr in seiner Beschäftigung innehielt. Er hatte das erste der neun Pulte offensichtlich repariert, denn jetzt zeigten sämtliche Instru­mente der Frontplatte Werte an, die ihn zu­friedenzustellen schienen. Jedenfalls schufen die vielen leuchtenden Felder und Skalen ei­ne größere Helligkeit. Sie verwischte den trostlosen und erbärmlichen Eindruck der schmutzstarrenden Bedienungspulte ein we­nig.

Elkohr richtete sich auf, klappte einen weiteren Pultabschnitt zu und kam auf Atlan zu, einige Werkzeuge in den ölbeschmierten Fingern.

»Fertig?« fragte Atlan. »Es dauert noch einige Stunden. Ich habe

erkannt, daß mir keiner von euch beiden hel­fen kann. Leider.«

»In diesem Fall«, meinte der Arkonide, »werde ich mich in der näheren Umgebung etwas genauer umsehen. Falls ich wegen der weißen Wölfe um Hilfe schreie, wirst du eingreifen?«

»Mit Sicherheit.« Sofort kehrte Elkohr wieder an seine Ar­

beit zurück. Kortmikel lehnte noch immer am Geländer und hatte die großen Vogelau­gen geschlossen. Vielleicht schlief er tat­sächlich, vielleicht träumte er auch von sei­nem Wohnhorn und dem Planeten, auf dem diese Behausung stand. Atlan ging lautlos durch den Staub und stieg langsam die Wen­deltreppe hinunter.

Er war müde und ohne viel Hoffnung.

*

Der Logiksektor meldete sich und flüster­te eindringlich:

Schon bevor du den Entschluß gefaßt

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hast, hier einzudringen, um den Flug von Atlantis zu beeinflussen, kanntest du die Chancen. Sie waren und sind schlecht. Alles muß dir fremd sein, alles hier ist unbegreif­lich selbst für deinen Verstand. Trotzdem solltest du die Hoffnung nicht ganz aufge­ben.

Der Grund: Irgendwo wird ein Schaltzen­trum existieren, das relativ leicht zu bedie­nen ist. Du kennst die Lage nicht, und offen­sichtlich kennt auch der Robot den Standort nicht. Konsequenterweise sollte er irgendwo in der Nähe der eben reparierten Einheiten liegen, nicht zu weit entfernt jedenfalls. Aber in diesem Labyrinth der Unterwelt ist alles denkbar, auch jede weitere negative oder positive Überraschung. Konzentriere deine Suche auf Faktoren, die euer Überle­ben sichern.

Eines ist gewiß: Die Gefahren sind längst nicht ausgeschaltet.

*

Als Atlan nach der dritten Einmündung aus anderen Bereichen die Wendeltreppe verließ, entlang einer schmutziggrauen Wand auf eine dunkle Fläche zuging, glaub­te er schräg über sich eine flüchtige Bewe­gung zu erkennen.

Er hob den Kopf und kniff die Lider zu­sammen.

Wieder huschte etwas durch die stauber­füllte Dunkelheit. Vorsichtig ging der Arko­nide weiter und behielt die Stelle im Auge. Die Wand endete, Lichtschein fiel von links auf den halbmeterhohen Belag aus Staub und Dreck, der den Boden bedeckte. In ei­nem breiten Lichtstrahl, der wie ein schwa­cher Scheinwerfer wirkte, schwebte plötz­lich etwas, das wie ein spindelförmiger Fisch mit schwarzen Fledermausflügeln aus­sah. Das Ding starrte Atlan aus einem riesi­gen Auge direkt über dem breiten Fischmaul an, dann machte es, wie eine Libelle, einen Satz durch die Luft, der es um fünf oder sechs Meter nach rechts trug. Auch dort stand der schwebende Fisch wieder unbe­

weglich an einer Stelle und richtete sein Zy­klopenauge auf Atlan.

Ein Beobachter? fragte sich der Extrasinn. Atlan ging zögernd weiter. Die dunkle

Fläche vor ihm wurde zum Eingang in einen Tunnel. Als Atlan die Höhle verließ und in den Tunnel hineinschritt, flammte mit er­schreckender Plötzlichkeit Helligkeit auf; die gesamte Decke des Ganges erstrahlte.

Ohne Elkohrs Schutz und Hilfe sollte er sich eigentlich nicht so weit in die Unterwelt hineinwagen.

Der Fisch drehte sich in der Luft um hun­dertachtzig Grad, warf Atlan einen langen Blick zu und schwirrte mit verblüffend großer Geschwindigkeit bis zum hinteren Ende des Ganges. Dort verschwand er.

Der Arkonide dachte an die Wirkungen des Anzugs der Vernichtung. Mißtrauisch setzte er Schritt vor Schritt. Bisher hatte sich noch keine einzige der hungrigen Bestien in diese Höhle verirrt; es gab vor ihm auf dem Boden keine entsprechenden Spuren. Die Wände des Korridors waren vollkommen glatt, es existierten weder Nischen noch Ris­se oder tiefe Sprünge. Eine unheilvolle Stille herrschte hier überall.

Dann schwebte plötzlich wieder der etwa unterarmlange Fisch dicht vor Atlan. Er be­trachtete den Eindringling schweigend und regungslos. Atlan blieb stehen und starrte wortlos zurück. Etwa eine Minute lang mu­sterten sich die beiden Wesen. Dann schwirrte der schwebende Fisch wieder schnell wie ein Blitz zum anderen, unbe­kannten Ende des Ganges zurück und wurde unsichtbar.

Atlan hob die Schultern und folgte ihm.

7.

»Der Beherrscher bin ich!« brummte Ur­tyn und stampfte mit seinem riesigen Fuß auf. »Niemand macht hier etwas!«

Er setzte sich auf. Sein Lager war ein großer Ballen aus allen mehr oder weniger weichen Materialien, die er in allen Teilen der Hades-Zone gefunden hatte. Sieben Me­

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ter lang, mehr als zwei Meter hoch, vier Me­ter breit. Über dem Lager schwebte der Pi­lotfisch und blinzelte ihn an.

»Wieviel sind's?« fragte der Zyklop in seinem rauhen, primitiven Pthora.

In der Zeichensprache bedeutete ihn der Pilotfisch, daß es drei Eindringlinge wären, und einer von ihnen wäre bereits im Verbin­dungskorridor.

Der letzte Zyklop stieß einen heiseren Schrei aus und griff nach dem Zerstörer. Er schwang ihn über seinem Kopf und zer­schmetterte einen der eisernen Balken. Eine Lampe klirrte in Scherben herunter. Mit ei­nem Sprung war Urtyn auf den Füßen. In gewissem Sinn war er tatsächlich der unein­geschränkte Herrscher der Unterwelt. Er kannte fast jeden Winkel rund um diese Zo­ne.

»Drei also. Ich werd's denen zeigen!« röhrte er.

Der letzte Zyklop war selbst für Atlantis eine bemerkenswerte Erscheinung. Mehr als dreimal so groß wie ein hochgewachsener Dello. Seine Haut war ledern und grau wie der Staub, der sein Reich erfüllte.

Unter der Haut spielten gewaltige, feste Muskeln. Der Kopf war klein, spitzkegelig und fast halslos. Über einem nach oben ge­bogenen, schnauzenähnlichen Mund starrte das riesige Stirnauge. Es war völlig gelb, von einer ungesunden Färbung. Die Ohren waren groß und spitz und ließen sich bewe­gen; es gab nur wenige Geräusche, die die­sen scharfen Instrumenten entgingen.

»Ich werde sie niederstampfen, zermal­men!« versprach er laut. Als er redete, ent­blößte er zwei lange Reihen spitzer, weißer Zähne. Sie waren nicht kleiner als die Fänge der weißen Wölfe seines Reiches.

Urtyn starrte durch seine Höhle und in die Richtung des Eingangs. Die heiße Wut über­kam ihn. Seine säulenartigen Beine würden die Fremden zerstampfen, die riesigen Pran­ken würden sie zusammen mit dem Zerstö­rer zerreißen. Er öffnete seinen Mund und schrie.

Seine Stimme hallte wie Donner durch die

Hans Kneifel

Höhle und erschütterte die Luft. Der Zyklop schrie:

»Ich bin Urtyn. Ich der letzte Zyklop. Ich sterbe niemals. Alle, die hier eindringen, müssen sterben.«

Der Pilotfisch schwirrte rasend schnell davon.

Seine letzten Bewegungen besagten, daß er sich blutige Beute versprach. Er wollte versuchen, die Fremden anzulocken. Urtyn ergriff den Zerstörer, stieß abermals einige wütende Schreie aus und stürmte los. Klat­schend und polternd bewegten sich seine Fü­ße über den Schmutz des Bodens. Er benutz­te den einzigen Zugang, den es zur Höhle gab. Am anderen Ende warteten die Frem­den, die er angreifen würde.

Als der Schall des Wutschreis durch den Gang tobte, blieb Atlan stehen. Er schrak zusammen; dieser Laut war in seiner Art ag­gressiver und böser als alles, das er hier in der Unterwelt bisher gehört hatte.

Achtung! Keine verwegene Einzelaktion! Lasse dir von Elkohr helfen, gab der Logik­sektor zu bedenken.

Atlan gehorchte, als er wie einen schnel­len Lichtfunken den Beobachterfisch mit den schwarzen Flügeln in der Mitte des Ganges auftauchen sah. Er drehte sich um und rannte auf die Wendeltreppe zu, sprang mit großen Sätzen aufwärts und rief:

»Elkohr! Irgendein gewaltiger Organis­mus wird uns gleich angreifen. Keiner von uns wird allein mit ihm fertig.«

»Ich habe den Schrei gehört. Zusammen werden wir, was auch kommt, siegreich zu­rückschlagen!« versprach der Roboter und ließ sich in seiner Arbeit nicht aufhalten. Er beschäftigte sich inzwischen mit dem vier­ten Pult, das auseinandergenommen und halb auseinandergeklappt vor ihm stand.

Atlan rüttelte das Vogelwesen wach, in­dem er in der Gegend der Schulter in das Gefieder griff und daran schüttelte und riß. Kreischend fuhr Kortmikel in die Höhe.

»Was ist?« »Gefahr! Da kommt etwas oder jemand!«

sagte Atlan ganz langsam. Was er erwartet

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hatte, geschah – der schwebende Fisch raste mit einem einzigen Schwung heran und blieb zwischen den Fäden des Netzes stehen. Das große Auge richtete sich nacheinander auf die drei Wesen.

»Kennst du dieses … Ding?« rief Atlan und deutete auf den »Beobachter«.

Elkohr hob den Kopf, warf einen gleich­gültigen Blick auf den Fisch und verneinte.

»Jedenfalls hat dieses Ding nicht so laut gebrüllt. Es ist etwas anderes.« Die Ge­räusche überzeugten sie sofort. Wimmernd schimpfte Kortmikel:

»Wir sterben. Ich verfluche alle. Das En­de, das Ende.«

Aus dem Gang, den eben Atlan entlang­gestürmt war, ertönte abermals ein gewalti­ger Schrei. Dann, nach einer Reihe von dumpfen Geräuschen, kam eine erstaunliche Gestalt aus dem Stollen hervor. Er schwang eine Keule, die mindestens zwei Meter lang war. Wie der Beobachterfisch hatte auch dieser Gigant nur ein leuchtend gelbes Auge auf der spitz zulaufenden oberen Hälfte des Kopfes.

Elkohr rief voll Verwunderung: »Ein Zyklop! Tatsächlich! Einer, der vor

Urzeiten in der Burg der Zyklopen gelebt hat!«

Atlan wußte, daß die Zyklopen zusammen mit den Herren der FESTUNG fremde Zivi­lisationen angegriffen und vernichtet hatten. Die Burg der Zyklopen war derjenige Teil von Pthor, den man heute Eiszitadelle nann­te. Der Zyklop schwang die Keule, als er die drei Fremden auf der Plattform sah.

»Wer seid ihr?« röhrte er donnernd. Echos brachen sich in der riesigen Gruft der Maschinen.

»Freunde!« rief Atlan. Der Zyklop sprach ein primitives Pthora.

»Habe keine Freunde!« war die Antwort. Noch stand der Zyklop auf dem Metallgit­

ter zwischen Wendeltreppe und Stollenein­gang. Der Beobachter schwebte, ähnlich wie ein Pilotfisch neben einem Meeresungeheu­er, schräg neben seiner Schulter. Der wuch­tige Körper, bedeckt von dunkelgrauer Le­

derhaut, verstärkte diesen Eindruck noch. »Begreiflich«, murmelte Atlan. Er wandte

sich an Elkohr und flüsterte: »Er scheint zornig und gefährlich zu sein.

Ich bin sicher, daß er uns angreift.« »Das ist anzunehmen!« bestätigte der Ro­

boter und rief mit schneidender Stimme hin­unter:

»Wir sind Atlan, Elkohr und Kortmikel. Wir wollen keinen Streit. Unsere Aufgabe ist es, die Maschinen zu reparieren. Du Töl­pel bist dazu nicht in der Lage. Störe uns nicht, halte uns nicht auf.«

»Urtyn wird's euch zeigen!« schrie der Zyklop und riß die Keule hoch. Keuchend und schnaubend walzte der Koloß, kaum kleiner als sechs Meter, die Wendeltreppe aufwärts. Er hatte seinen Namen genannt, sagte sich Atlan, und es sah nicht so aus, als wäre er ein leichter Gegner.

Und … Atlan war waffenlos. Bis auf den Anzug der Vernichtung, das Goldene Vlies. Welche Kräfte würde dieses erstaunliche Kleidungsstück bei diesem Kampf ent­wickeln? Die Erregung flutete in Atlan hoch, aber er hielt sich neben Elkohr und hoffte darauf, daß der Robot seine geheim­nisvolle Waffe richtig anwenden würde. El­kohr sagte leise, als erinnere er sich erst jetzt:

»Vermutlich hat man ihn lebend in einem der Hünengräber begraben. Und mir er­scheint sicher, daß er in eine lebenserhalten­de Strahlung aus den Tiefen Pthors geriet. Vielleicht hat er seinen Weg hierher ebenso durch einen See gefunden wie du, Atlan?«

»Das ist mir gleichgültig. So unternimm doch etwas!«

»Geschieht bereits.« Der unsichtbare Hammer der Maschine

aus Wolterhaven schlug zu, als Urtyn die letzten Stufen nahm. Ein schwerer Schlag war zu hören, dann hieb eine unsichtbare Kraft gegen Kopf und Hals des Ungeheuers und warf es rücklings die Stufen hinunter. Die Keule löste sich aus den klobigen Fin­gern und wirbelte davon. Die Plattform be­gann zu beben, als der tonnenschwere Koloß

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die Stufen hinunterpurzelte und auf dem er­sten Absatz mit einem krachenden Schlag liegenblieb.

Augenblicklich sprang er wieder auf die Beine, hob beide Arme und schrie unartiku­liert. Kortmikel begann haltlos zu zittern.

»Urtyn euch töten! Ich bin Herrscher. Ich werd's euch zeigen! Gesindel! Sklaven!«

»Er meint es ernst«, stellte Elkohr nüch­tern fest. »Vielleicht muß auch ich ernsthaft zu kämpfen beginnen.«

Urtyn starrte seine leere linke Hand an. Seine Keule fiel ihm ein. Er sprang in die Höhe und stürzte dann die Treppe abwärts, um seine Waffe zu holen. Wieder deutete Elkohr auf ihn und schmetterte den unsicht­baren Hammer zwischen die eckigen Schul­terblätter des Zyklops. Aber diesmal zeigte der Hieb kaum Wirkung; der Gigant klam­merte sich nach einem Sturz von zwei Stu­fen am Geländer fest und sprang dann wei­ter. Er drehte sich herum, die furchtbare Keule in beiden Händen.

»Keiner ändert was! Finger weg. Ich euch hinauswerfen!«

Er stürmte abermals die Stufen hoch. Der Pilotfisch schwebte besorgt um seinen Kopf und die Schultern. Während sich der Koloß hinaufarbeitete, stieß sein Mund laute Schreie aus, die niemand verstand. Es waren keine Worte in Pthora, sondern Schreie be­sinnungsloser Wut. Urtyn wirkte kaum intel­ligent, nur angriffslustig und böse. Jetzt hob der Roboter beide Arme und sagte leise:

»Ich hoffe, die Böse Stimme belästigt euch nicht zu sehr. Es ist meine stärkste Waffe.«

Atlan sah, daß Elkohr noch einmal den unsichtbaren Hammer anwendete. Aber als ob der Zyklop es geahnt hätte, riß er im sel­ben Augenblick die Keule zurück und führte einen Schlag waagrecht durch die Luft. Ein gräßliches Knirschen ertönte, als die Keule gegen das unsichtbare Hindernis prallte. Lange Späne und Splitter flogen nach allen Seiten, einige roh gewickelten Eisenbänder platzten mit hellen Geräuschen. Der zierli­che Körper der Maschine wurde mit einem

Hans Kneifel

mächtigen Ruck gegen das Geländer zurück­geschleudert. Das Lärmen schreckte die letz­ten noch lebenden Wölfe auf. Wieder began­gen sie mit ihrem schauerlichen Heulen.

Unaufhaltsam stampfte der Zyklop heran. Er lief weit nach vorn gebückt und sprang von der letzten Stufe auf die Plattform.

Atlan spannte seine Muskeln und hoffte, dieser Anzug würde ein Wunder produzie­ren oder sich in eine tödliche Defensivwaffe verwandeln. Der Zyklop starrte ihn mit dem riesigen Stirnauge an und rannte auf ihn los.

Atlan hörte weder die schrillen Furcht­schreie Kortmikels noch sein eigenes, keu­chendes Atmen. Sogar das Heulen der Wöl­fe verstummte vor einem neuen, drohenden Geräusch.

Etwas erschütterte die Luft mit schlecht zu charakterisierenden Schwingungen. Ein tiefes, grollendes Vibrieren erfaßte rundum die Konstruktion. Panische Furcht griff nach dem Arkoniden. Er wollte wegrennen, sich hinwerfen, die Augen schließen … die Ein­drücke drohten ihn zu überwältigen.

Kortmikel kroch durch den Staub hinter ein Pult und blieb dort besinnungslos liegen.

Atlan versuchte, seine gesamte Willens­kraft aufzubieten. Aber er vermochte es nicht, seiner panischen elementaren Angst Herr zu werden.

Der Zyklop blieb wie angewurzelt stehen. Er sah sich wild um und schien plötzlich

dort, wo die Pulte waren, eine Schar gewal­tiger Gegner zu erblicken. Jedenfalls konnte Atlan mit einem Rest seines Verstandes die Reaktionen nicht anders deuten.

Er pendelte mit seinem Körper hin und her und ließ das Ende der Keule zu Boden fallen. Die Plattform erbebte neuerlich unter dem Aufprall. Dann entschloß sich der klei­ne Verstand des Giganten, die Gegner zu be­kämpfen, die er nur in seiner Einbildung se­hen konnte. Mit einem tierischen Schrei stürzte er vorwärts und hieb mit aller Kraft durch die Luft.

Die armdicken Spinnenfäden begannen zu zittern.

Von der Decke der Höhle lösten sich klei­

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ne Steine und Felssplitter und polterten klir­rend und krachend herunter. Einer der Fäden riß mit einem peitschenden Knall, als die Keule ihn traf und über den Reißpunkt hin­aus spannte. Eine entsetzliche Stimmung jenseits von Angst und Furcht packte Atlan und schüttelte ihn in erbarmungslosem Griff.

Der Zyklop kämpfte gegen Geister und Gespenster.

Elkohr stand regungslos da und schien gänzlich unbeteiligt zu sein. Aber er machte trotz allem für den Arkoniden den Eindruck, als konzentriere sich jede Zelle seines metal­lenen Körpers auf das Problem, diesen Gi­ganten zu besiegen.

Urtyn sprang zwischen den Pulten hin und her. Seine Keule wirbelte umher wie ein leichter Stock. Immer wieder wurde der rie­sige Körper von dem Schwung der Waffe herumgerissen und aus dem Takt des An­griffs oder der eingebildeten Verteidigung gebracht. Langsam näherte er sich Atlan. Der Arkonide vermochte sich nicht zu rüh­ren. Entsetzt sah er, wie die Waffe einen Halbkreis beschrieb und sich seinem Kopf näherte.

Erst im letzten Sekundenbruchteil, als der Knauf der furchtbaren Waffe bis auf zwei Meter seinem Kopf nahegekommen war, wich die Lähmung. Atlan duckte sich, warf sich nach vorn und sprang mit einem wilden Satz den Zyklopen an. In seinen Fingern ent­deckte er zu seiner eigenen Verwunderung einen doppelten handlangen Steinsplitter, wie ein Dolch geformt. Er hörte das Sausen, mit dem die Waffe dicht über seinem Rücken durch die Luft pfiff.

Im selben Augenblick rammte Atlan den Steinsplitter in den Unterschenkel des Gi­ganten. Urtyn stieß hoch über ihm einen grollenden Schrei aus und sprang in die Hö­he. Ein Fuß zielte nach Atlan, trat zu und schleuderte den Fremden quer über die Platt­form in das nachgiebige Geländer hinein.

Atlan rollte sich zusammen, packte den Steinsplitter fester und kam wieder auf die Füße.

Über die graue Haut rann ein breiter Strei­

fen dunkles Blut, mischte sich mit dem Staub und versickerte im Schutz der Platt­form.

»Hilf mir!« hörte sich Atlan schreien. Das Dröhnen und Vibrieren nahm zu. Ein

Geräusch, als liefe in unmittelbarer Nähe ein riesiger Motor, der die Luft mit langwelligen Vibrationen erfüllte. Abermals stutzte Urtyn und schlug mit der Keule eine zwei Meter tiefe Bresche in das Geländer. Klirrend lös­ten sich Metallteile und prasselten auf den Höhlenboden. Die Wölfe heulten noch lauter und fordernder.

»Ich helfe dir. Ich bringe ihn um!« rief El­kohr.

Atlan sprang wieder vorwärts, weil ihn Urtyn in seiner Raserei wieder an das Gelän­der drängte, und ausgerechnet an die Stelle, an der eben die Keule die Lücke geschlagen hatte.

Auch ihn trieb unter dem Einfluß der Bö­sen Stimme, wie auch den Zyklopen, etwas an, das außerhalb der klaren Überlegung lag. Er handelte wie in Trance, als er sich wieder auf den furchtbaren Gegner stürzte. Gleich­zeitig bohrten sich die Stacheln an den Schultern des Goldenen Vlieses und der Steindolch in den Körper des Riesen, ir­gendwo zwischen Knie und Hüfte.

Wie unter dem Schock einer Explosion wurde Urtyn zurückgeschleudert und stol­perte über ein Schaltpult.

Atlan wurde von einer schnellen Reflex­bewegung in die andere Richtung geschleu­dert. Der Zyklop verlor, furchtbar schreiend, die Keule. Sie verwandelte sich in ein Ge­schoß, das in einem langgezogenen Bogen durch die Luft flog und irgendwo an der ge­genüberliegenden Wand der Höhle in eine massive Maschine schlug. Haltlos ruderten die Arme des Giganten. Er sprang vorwärts und stolperte wieder, als ihm der unsichtbare Hammer Elkohrs die Beine unter dem Kör­per wegriß.

Das dumpfe Grollen der Bösen Stimme griff jetzt auch auf Teile der Metallkonstruk­tionen über.

Sie gerieten in Schwingungen. Der Staub,

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der auf ihnen lag, erhob sich in immer dich­ter werdenden Wolken. Die dicken Schich­ten des in Jahrtausenden angehäuften Unra­tes begannen zu bröckeln und fielen herunter wie morscher Putz. Ein Wolf wurde von ei­ner solchen Platte getroffen und fast in zwei Teile gespalten.

Jetzt erst merkte der Arkonide, dessen Er­starrung sich mehr und mehr löste, daß der Roboter sprach.

Schon einmal hatte er diesen Effekt beob­achten oder besser hören können: als die Netzpflanze sich ihrer bemächtigen wollte.

Elkohr verwendete unbekannte Worte und sprach nicht einmal laut. Oder aber seine Böse Stimme ging in dem Lärm und den Schwingungen unter, die sie selbst erzeugte. Seine sonst knabenhaft hell klingende Stim­me hatte sich in ein dumpfes Grollen ver­wandelt.

Urtyn stand jetzt blutend und zitternd dicht neben der Treppe.

Überall zeugten tiefe Spuren im Schutt und Dreck von dem Kampf. Der Pilotfisch war in den dicken, dunkelgrauen Staubwol­ken verschwunden.

»Ich töte euch alle! Urtyn macht euch ka­putt!« brüllte der Zyklop und suchte nach ei­nem neuen Gegner.

Atlan schlich, den abgebrochenen Dolch aus Stein noch immer in der rechten Hand, von dem gefährlichen Rand der schwingen­den und zitternden Plattform weg. Er huste­te. Staub legte sich ätzend und schmerzend auf sämtliche Schleimhäute, aber der Arko­nide konnte nicht darauf achten. Noch im­mer kämpften Furcht, Selbsterhaltungstrieb und Angriffslust in ihm. Als sich Urtyn auf ihn warf, reagierte Elkohr wieder einmal mit einer verblüffenden Schnelligkeit.

Dreimal schlug der unsichtbare Hammer mit äußerster Härte und Wucht zu. Der erste Schlag trieb das rechte Bein des riesigen Herrschers der Unterwelt nach hinten, der zweite traf das linke Bein von der Seite. Der letzte Hammerschlag trieb Schultern und Schädel des Zyklopen nach vorn.

Er breitete brüllend die Arme aus, griff

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nach Atlan und fiel nach vorn. Atlan riß den Arm hoch, ein Schlag traf ihn und schleu­derte ihn zur Seite. In einer unkontrollierten Bewegung schnellte die rechte Hand nach oben. Der steinerne Dolch bohrte sich direkt über der stumpfen Nase des Zyklopen zwi­schen Lid und Augapfel hinein.

Der Schrei sprengte fast Atlans Trommel­felle. Der Gegner griff nach ihm, aber es ge­lang ihm, aus der Reichweite der Arme zu entkommen. Er rollte, so schnell er es ver­mochte, zur Seite.

Auf Händen und Knien kroch der Zyklop geradeaus und verlor den Halt, als er die Treppe erreichte. Langsam fiel und rollte er abwärts, gräßliche Schreie und wilde Flüche ausstoßend. Es war klar, daß er blind war; einige Stufen lang steckte der Steinsplitter noch in seinem Schädel und fiel schließlich heraus. Immer wieder stolperte der graue Körper, rollte nach vorn, wurde vom Gelän­der zurückgeworfen und fiel abermals.

Urtyn polterte, fallend und taumelnd, nach zahllosen Versuchen, sich wieder auf­zurichten, die lange Wendeltreppe hinunter und blieb auf dem Mittelgang liegen. Elkohr hörte nicht auf, mit der Bösen Stimme zu sprechen.

*

Was Atlan nicht wußte, aber recht sicher erkannt hätte, wenn er sich um eine Erklä­rung bemüht haben würde, war dies: Elkohr aktivierte innerhalb seines hochentwickelten Körpers ein System bestimmter Schaltkreise und setzte damit magische Kräfte frei. Die Luft – und unter bestimmten Bedingungen auch Wasser oder Dampf – war das Medi­um, das alle anderen Effekte verstärkte.

In den Gehirnen seiner Gegner entstand der Eindruck unfaßbaren Grauens. Die Stimmhöhenänderung war nur ein unwichti­ger Nebeneffekt. Die Furcht des Gegners war das eigentliche Kampfmittel. Für ihn wurde die Illusion einer gewaltigen Über­macht stärkster und tödlicher Gegner oder Feinde erzeugt, gegen die er keine Chance

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hatte. Und wenn er tatsächlich kämpfte, so wie

es der unglückliche Zyklop eben getan hatte, schlug er sich mit Phantomen herum.

Auch jetzt, geblendet und weitestgehend hilflos, sah er sich von wahren Massen von Feinden umgeben. Er flüchtete – es gab kei­nen anderen Ausweg.

Er rannte hin und her und entfernte sich in einem wilden Zickzackweg vom Fuß der Wendeltreppe. Er rammte eine Wand, tor­kelte wieder zurück und rutschte auf den Massen der aufgehäuften Schmutzschichten aus. Dann krachte er mit seiner mächtigen Schulter zehn Schritt weiter gegen eine Ma­schine, die ihn mit einem Regen glühender Funken überschüttete.

Atlan murmelte etwas vor sich hin, aber er wußte selbst nicht, was er redete. Er über­hörte auch das stechende Flüstern des Extra­sinns. Langsam, mit schmerzenden Glie­dern, trat er an das Geländer heran und ver­suchte, nach unten starrend, mit den Augen die Staubwolken zu durchdringen.

Urtyn stolperte, weil sich zwei der Wölfe in seine Knöchel verbissen. Er packte mit ei­ner zornigen Bewegung einen der Wölfe, holte aus und schleuderte ihn dreißig Meter weit zwischen die Pole einer Maschine. Donnernd entluden sich elektrische Span­nungen, und das peitschende Knallen der Entladungen tobte bis zu Elkohr und Atlan hinauf. Es weckte auch Kortmikel auf, aber niemand achtete auf ihn. Der Zyklop schüt­telte den anderen Wolf ab, und als das Tier sich wieder auf die Wunde stürzte, halb irre vom Geschmack des Blutes, trat Urtyn zu und zerschmetterte das Tier an der nächsten Mauer. Er selbst rammte mit dem Schädel nach einem torkelnden Lauf von zwanzig Metern eine Steinbrücke, die unter dem An­prall erzitterte.

Langsam, noch immer schreiend und flu­chend tappte er weiter. Der Pilotfisch war nicht zu sehen.

Die blutige Spur wand sich zwischen den einzelnen Kammern hin, erreichte die unter­ste Stufe des in den Felsen gemeißelten

Treppensystems und verhielt dort. Blind und wahnsinnig vor Angst begann Urtyn den Aufstieg und wurde, je höher er kletterte, immer schneller und hastiger.

Dann verschwand er in dem Korridor, den Elkohr, Atlan und Kortmikel bereits hinter sich gelassen hatten. Die Schreie und das tiefe Brüllen und Wimmern erschallten jetzt in anderer Akustik. Schließlich verschwand der Gigant aus den Augen des Arkoniden.

»Hör endlich auf!« schrie Atlan, der El­kohrs Absicht merkte.

Aber der silberne Roboter, über und über mit Schmutz, Öl und dicken Staubflächen bedeckt, hörte nicht auf ihn. Er nahm nicht einmal von Atlan Notiz, als dieser ihn am Arm ergriff und zu schütteln versuchte. At­lan resignierte und gab es auf.

Unsichtbare Furien hetzten den Zyklopen durch den Korridor, die flachen Treppenstu­fen hinunter und gegen den heruntergestürz­ten Felsblock. Der Riese stemmte sich in hilfloser Wut gegen den wuchtigen Stein, kippte ihn schließlich ächzend hin und her und brachte ihn zum Rollen.

Nachdem der Stein hundert Stufen hinun­tergepoltert war, hatte er sich in viele Teile aufgelöst und bildete für den rasenden Zy­klopen kein Hindernis mehr. Urtyn stieß mit der einen Schulter gegen die Mauer, schürfte sich die Haut auf, änderte seine Richtung und prallte mit der anderen Seite des Kör­pers an den schartigen Felsen.

Schließlich stürzte er aus dem Tunnelaus­gang, stolperte wieder über die röhrenartigen Elemente und fiel in den See der Wasserma­schine.

Er tauchte tief unter, sein Gurgeln erstarb. Dort, wo er untergegangen war, erschie­

nen zuerst viele kleine und große Blasen. Dann wirbelte weißer Schaum vom Boden des Sees auf, das Wasser begann schnell zu steigen, der Strudel drehte sich nicht mehr, und der See flutete an beiden Seiten in die Korridore hinein. Inmitten der Blasen, des Schaumes und der kochenden Wellen tauch­te der Zyklop wieder auf und begann seine Flüche auszustoßen und wuterfüllt zu brül­

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len. Er schwamm umher, riß sich die Finger

an den glatten Wänden blutig und rutschte wieder ab. Sein Pilotfisch schwirrte um ihn herum, aber er sah ihn nicht.

Der geblendete Zyklop versuchte, aus dem See zu entkommen. Aber noch immer hatte er die Stelle nicht erreicht, an der er hineingestürzt war. Er kletterte an der Was­sermaschine herum, rutschte ab und fiel zu­rück in den See. Immer wieder. Er gab nicht auf. Er sah keine Gegner mehr und begann dumpf zu ahnen, daß er Magie und Teufels­werk zum Opfer gefallen war.

8.

Die Vibrationen und das Dröhnen hörten auf.

Die Plattform schwankte und zitterte nicht mehr. Das Jaulen und das schrille Pfeifen in Atlans Ohren verging. Eine gewaltige, la­stende Stille breitete sich für kurze Zeit aus. Leise sagte der Arkonide:

»Das ist eine grausame, aber überzeugen­de Waffe, Elkohr.«

Raschelnd bewegten sich die Federn, als Kortmikel aufstand und wie ein graues Ge­spenst durch die Staubwolken tappte.

»Es ist eine Waffe, die ich selten anwen­de. Aber sie stellte wohl die einzig mögliche Rettung gegen den letzten Zyklopen dar.«

Atlan schüttelte sich. Er fühlte sich krank und ausgelaugt. Es störte ihn nicht – noch nicht –, daß er von oben bis unten dreckig und von einer Schicht aus Staub und Schmutz umgeben war. Hunger und Durst hatte er inzwischen völlig vergessen, die Er­regung schaltete derlei Überlegungen aus.

»Bist du eigentlich fertig?« fragte der Ar­konide.

Das Schweigen und die Ruhe waren wie eine Erholung. Aber sie wurden unterbro­chen, weil das Brüllen und Fluchen des Zy­klopen leise, aber unüberhörbar durch die Höhle schallten.

»Nein. Noch lange nicht.« »Wir haben ihn geblendet, nicht wahr?

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Ich war halb von Sinnen … nein, in Wirk­lichkeit wußte ich nicht mehr, was ich tat. Ich reagierte blind und wie hypnotisiert«, bekannte der Arkonide schaudernd.

Die Staubwolken senkten sich nur lang­sam. Als Atlan nach unten spähte, konnte er keinen einzigen lebenden Höhlenwolf mehr sehen.

»Urtyn, der Zyklop, ist in den See der Wassermaschine gefallen. Irgendwann wird er wieder an Land kommen und uns suchen. Er ist gefährlich, weil seine Kraft Maschinen zerstören kann«, erklärte Elkohr und machte sich wieder an die Reparatur. Er verhielt sich, als wäre dieser furchtbare Kampf nicht mehr als eine lästige Unterbrechung von kurzer Dauer gewesen.

»Denkst du an Kortmikel?« fragte Atlan. »Unter anderem. Wie du muß auch er

warten, bis meine Aufgabe erledigt ist. Dann können wir weiter.«

Atlan nickte und drehte sich zu Kortmikel um. Elkohr reparierte nach seinem einpro­grammierten Schaltplan und den Informatio­nen aus den Archiven Wolterhavens die sta­bilisierenden Schaltungen. Sie hatten Zeit, aber nach wie vor bildete die ferne Stimme eine gewisse Bedrohung.

»Wie geht es dir?« fragte Atlan langsam. »Schlecht. Wir leben noch: Nicht mehr

lange«, sagte Kortmikel. Inzwischen hatte sich sein aktiver Wortschatz auch ein wenig vergrößert. »Hunger. Durst. Müde. Unange­nehme Umgebung.«

Atlan stieß ein gänzlich humorloses La­chen aus. Ihm fiel sein Kampfgefährte Raza­mon ein. Was geschah inzwischen auf der Oberfläche dieses erstaunlichen Brockens der Schöpfung? Thalia! Was dachte sie? Lebte sie noch? Und wo befand sich Pthor-Atlantis wirklich auf seiner Reise durch die Unermeßlichkeit?

Sinnlose, müßige Überlegungen, die dich nicht weiterbringen, aber erheblich frustrie­ren! erklärte sarkastisch der Logiksektor.

»Allerdings eine unangenehme Umge­bung. Vielleicht schaffen wir es tatsächlich noch, einen Punkt zu erreichen, an dem wir

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etwas verändern können.« Kortmikel sprach lange, aufgeregt und

voller Zorn, wie es schien, auf Elkohr ein, der seine Arbeit nicht unterbrach, auch nicht, als er, an Atlan gewandt, die Vorwür­fe übersetzte.

»Kortmikel verflucht nach wie vor den Augenblick, der ihn durch die Dimensionen hierher gerissen hat.«

»Verständlich.« »Er prophezeit und sagt voraus. Er weiß

definitiv, daß wir alle drei über kurz oder lang eines qualvollen Todes sterben werden. Niemals wird es uns gelingen, einzugreifen und etwas zu verändern. Er ist ausgespro­chen pessimistisch. Und dabei kennt er noch lange nicht alle Gefahren, die hier unten lau­ern.«

Atlans Vorstellungskraft und Phantasie waren hochentwickelt, aber dieser Robot gab ihm, je länger er ihn kannte, immer noch neue Rätsel auf. Verwirrt erkundigte sich der Arkonide:

»Ich kenne sie auch nicht. Und ich entsin­ne mich, daß du sie ebenfalls nicht kennst. Jedenfalls warst du von einigen Entwicklun­gen sehr überrascht.«

»So ist es«, erwiderte Elkohr und fuhr un­gerührt fort, seine Pulte zu reparieren. Die Zeit verging schleppend und langsam. Auf einige Fragen Atlans antwortete der Robot, auf andere nicht. Hier in der Unterwelt ver­sagte weitestgehend Atlans Zeitgefühl.

Elkohr arbeitete schnell und fleißig wei­ter.

Pulte wurden gereinigt und geöffnet, viele Ersatzteile wurden hervorgeholt und einge­setzt, ununterbrochen klapperten Werkzeu­ge. Es wurde langweilig, aber mit der Gründlichkeit einer Maschine arbeitete sich Elkohr von Problem zu Problem weiter. Schließlich, nach ungefähr vier Stunden, von denen Atlan tatsächlich zwei Stunden schlief, weckte ihn das laute Schimpfen und Kreischen Kortmikels.

»Was ist los?« fragte er schlaftrunken. Elkohr ist fertig. Es geht offensichtlich

weiter, belehrte ihn der Logiksektor.

Atlan setzte sich auf und sah sich um. Eben klappte der Robot das letzte Pult zu, verschraubte die Halterungen und verstaute das Werkzeug wieder in dem Fach, aus dem er es entnommen hatte. Er wirkte tatsächlich wie ein Akkordarbeiter, der nichts anderes als seine Aufgabe im Sinn hatte.

»Fertig. Bist du bereit?« fragte Elkohr. Noch immer ertönten die drohenden Schreie des Zyklopen durch die Halle.

»Welche Antwort erwartest du? Ich bin für jeden Schritt, der uns aus dieser idylli­schen Umgebung hinausbringt, außerordent­lich dankbar«, versicherte Atlan.

»Nächster Schritt. Uns umbringen. Junior warten, Wohnhorn verwaist.«

»Probleme, die ich leider nicht lösen kann«, kommentierte Elkohr und zog Atlan auf die Beine.

»Welcher Ausgang, mein unbegreiflicher Freund?«

»Mir nach!« Atlan wußte, daß alles sinnlos war. Er ge­

stand sich schweigend seine Niederlage ein und die Sinnlosigkeit aller seiner Gedanken und Überlegungen. Ohne auf Kortmikels Schimpfen zu achten, schritt der kleine Ro­bot geradeaus, ging an der Treppeneinmün­dung vorbei und berührte beim Vorbeimar­sch einen bisher verborgenen Schalter. In der Felswand öffnete sich kreischend eine Tür in festgerosteten Lagern durch uralte, aber noch funktionierende Bewegungsme­chanismen. Ein sauberer und hell erleuchte­ter Verbindungsgang erschien.

»Der Schalter war in deinen Fakten, Da­ten, in deiner Programmierung?« fragte At­lan, nachdem sich seine Verblüffung gelegt und hinter ihm das getarnte Schott geschlos­sen hatten.

»Ja. Meine Informationen werden immer zahlreicher, je länger der Weg ist, den wir zurücklegen.«

Wieder führte der Robot an, Kortmikel tappte zwischen ihnen durch den Korridor. Die Sauberkeit und die Helligkeit schufen die trügerische Illusion, die suggerierte, daß man sich nun einem weniger unangenehmen

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Abschnitt des Systems näherte. Aber zu At­lans nächster Verblüffung blieb Elkohr kurz vor Ende des Korridors stehen und sagte nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit:

»Meine Erbauer und Programmierer scheinen hellseherische Fähigkeiten gehabt zu haben. Wie ist es anders zu erklären, daß mir plötzlich mehrere Dinge einfallen?«

Atlan starrte ihn wütend an. Sein Sinn für makabre Scherze war zu sehr strapaziert worden. Immer mehr neigte er dazu, Kort­mikels Vorwürfe für richtig und bestimmend zu halten.

»Welche Dinge fallen dir ein?« »Beispielsweise dieser Schalter.« Atlan sah nichts. Kortmikel sah nicht einmal in diese Rich­

tung. Aber mit einem silbernen Finger be­rührte Elkohr einen verborgenen Schalter. Ein leises Brummen ertönte, und in der Sei­tenwand des Korridors schob sich eine Tür nach innen.

»Was ist dahinter?« Fröhlich erklärte der Roboter: »Eine Rekreationsstation für Technos,

Mechaniker, Inspekteure und nichtroboti­sches Kontrollpersonal. Wie gut allerdings die einzelnen Elemente dieser Anlage funk­tionieren, entzieht sich meiner Kenntnis.«

Er trat ein und betätigte immer wieder an­dere und neue Schaltungen. Es war so, wie er gesagt hatte. Offensichtlich sollten diese kleinen, aber hervorragend ausgestatteten Räume den arbeitenden Dellos das Überle­ben sichern. Es gab funktionierende Du­schen, einfache Lagerstätten, Handtücher aus einem unbekannten Material und vor al­lem Ruhe.

»Wie lange können wir hier bleiben?« fragte Atlan.

»So lange wie nötig.« »Aber du als Maschine kannst sicher ohne

Pausen arbeiten?« »Richtig. Aber erstens helft ihr mir, zwei­

tens habe ich für euch die Verantwortung, und drittens ist die Variationsbreite meines Ermessensspielraums erheblich. Ich diagno­stiziere sowohl bei dir als auch bei Kortmi-

Hans Kneifel

kel Erschöpfungssymptome. Bleibt hier, ruht euch aus, schlaft und eßt etwas.«

»Essen? Nüsse? Gebrannte Samenkerne?« kreischte Kortmikel alarmiert auf.

»Nein. Hier …« Die metallene Tür schloß sich langsam.

Das Licht und die Kühle blieben. Die Luft roch frisch, und es gab auch keinen Staub. Atlan sah mit immer größer werdenden Au­gen, wie der Robot ein Fach unterhalb der Schulter aufspringen ließ und mehrere Handvoll verschiedenfarbiger Würfel her­ausholte, die in eine schimmernde Folie ein­geschweißt waren.

»Essen?« »Es sind, wie ich weiß, Konzentrate. Ich

brauche sie nicht, und ob sie wohl­schmeckend sind, weiß ich auch nicht. Aber mit Sicherheit sind sie sättigend und nahr­haft. Und völlig ungiftig, selbst für unseren exotischen Gast.«

Atlan schüttelte den Kopf und begann langsam, mit Elkohrs Hilfe, den Anzug zu öffnen.

»Alles habe ich erwartet. Das allerdings nicht.«

Er stellte sich mitsamt dem Anzug unter die Dusche und spülte den Staub vom Gol­denen Vlies. Dann schlüpfte er aus dem Ge­webe und reinigte sich ausgiebig. Nachdem er mehrere Becher eines Wassers getrunken hatte, das etwas stumpf roch, aber keines­wegs übel schmeckte, aß er vier verschie­denfarbige Konzentrateinheiten und regi­strierte erfreut, daß der würgende Hunger verschwand.

Nach einem weiteren Ausbruch Kortmi­kels übersetzte Elkohr unaufgefordert:

»Kortmikel will uns sagen, daß dies alles nur Aufschub ist. Wir werden, wenn wir die Ruhepause hinter uns gebracht haben, von den anderen und unbekannten Gefahren um­gebracht werden. Er haßt alles. Noch im­mer.«

Atlan spürte eine wohlige Müdigkeit und beschloß, die Klärung vieler Probleme zu verschieben.

»Uns haßt er auch?«

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45 Die Hades-Zone

»Ich fürchte, daß es so ist. Wie lange wollt ihr ruhen?«

Atlan blickte den Roboter streng an, wuß­te aber, daß dies keinerlei Eindruck machen würde.

»So lange, bis wir ausgeschlafen sind. Wir sind keine Roboter, sondern schwache, hilflose und vor allem müde Organismen.«

»Ich werde mich danach richten.« Atlan suchte ein Lager auf, das lang ge­

nug war für ihn. Sein Hunger und sein Durst waren vorbei. Er war sauber und trocken, der Anzug war gereinigt und hing in seiner Nähe. Er selbst war müde wie selten in sei­nem Leben. Er registrierte schon halb schla­fend die Ströme der regenerierenden Ener­gie, die von seinem Zellschwingungsaktiva­tor ausgingen, zog sich eine trockene Decke bis zum Hals und schlief ein.

*

Der kleine, zierliche Roboter sah aus, als sei seine silberfarbene Rüstung erst einen Tag alt. Er schien die Zeit, in der Atlan und Kortmikel wie die Toten geschlafen hatten, dazu benutzt zu haben, sich zu reinigen und zu polieren. Er schimmerte sozusagen.

»Neuer Tag. Neuer Terror«, schimpfte das Vogelwesen und richtete sich ächzend auf dem Lager auf.

»Ich habe mich erholt. Vielleicht können wir dem weiteren Vorstoß etwas weniger mißtrauisch entgegensehen«, sagte Atlan lei­se und dehnte seine Muskeln. Vor ihm hing der geöffnete Anzug der Vernichtung und glänzte ebenfalls.

»Hast du in den letzten Stunden alles ge­reinigt?« fragte er und sah Elkohr an.

»Ja. Nur gepflegte Dinge behalten ihre Funktionstüchtigkeit.«

Elkohr hatte also keinen Schlaf gebraucht. Auf dem Klapptisch lagen einige der be­kannten farbigen Würfel. Zwei große Becher Wasser standen daneben. Gierig schnappte das Vogelwesen nach dem ersten Würfel und schlang ihn hinunter. Der Roboter hob den Arm und sagte freundlich:

»Wir haben Zeit. Nichts und niemand treibt uns. Außerdem kenne ich den Weg jetzt sehr genau.«

»Es freut mich, das zu hören«, bestätigte Atlan und ging unter die Dusche. Er ließ sich dann von Elkohr in den schimmernden Anzug der Vernichtung helfen und regi­strierte das Wohlgefühl, das ihn jedesmal überkam, wenn er das Goldene Vlies anzog. Wenn sie Glück hatten, würden sie endlich die Steuerung von Pthor erreichen.

Sie aßen, tranken und brachen dann auf. Hinter ihnen erlosch das Licht, und die luft­dichte Schott-Tür dieses winzigen Paradie­ses der Ruhe und Geborgenheit schloß sich endgültig wieder. Sie befanden sich in dem Korridor, gingen ihn bis zum Ende und wandten sich nach rechts. Dort versperrte wieder ein anscheinend massiver Felsblock den Weg. Er drehte sich jedoch leicht, als sich Elkohr an einer bestimmten Stelle dage­genstemmte. Nacheinander traten sie durch die schmale Öffnung. Mit einem hellen Klicken schloß sich der Stein hinter ihnen und wurde zu einem Teil der Felswand, von der Umgebung nicht zu unterscheiden.

»Wo sind wir?« fragte Kortmikel ängst­lich. »Wieder in einem tödlichen Gebiet?«

»Ich kenne nur die Grundrisse, aber nicht die Geschichte der Vergangenheit«, erwider­te Elkohr verbindlich. »Wir durchqueren jetzt ein Gebiet, in dem riesige Umformer­blöcke stehen. Dahinter verzweigen sich die Gänge wieder, und dort finden wir auch die Steuerung der Anlage.«

»Entfernung?« »In Luftlinie etwa zehntausend Meter«,

war die Auskunft. Atlan nickte und folgte, wie Kortmikel auch, dem Roboter, der leichtfüßig vor ihnen die abwärts führende Rampe entlanglief. Sie waren in einer zylin­drischen Halle, an deren Wand, in den Fel­sen gehauen, eine Spirale abwärts lief. Die Helligkeit kam von leuchtenden Vierecken der Decke, von denen rund ein Drittel ausge­fallen waren. Schweigend und schnell gin­gen sie etwa zweimal rund um die Anlage, dann blieb Kortmikel vor einem blitzenden,

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merkwürdig aussehenden Gegenstand ste­hen.

»Fund. Sieht fremd aus!« Atlan kniff die Augen zusammen und mu­

sterte das Gebilde aus verschiedenfarbigem Material. Es wirkte, als sei es aus Stahlfet­zen zusammengesetzt. Wie das Innere und Äußere einer mechanischen Uhr oder eines altertümlichen Meßinstruments, bis zur Un­kenntlichkeit verdreht und verbogen. Ver­wegene Kurven, konkave und konvexe Tei­le, Schleifen und Bänder in Drehungen und Windungen, die buchstäblich das Auge schmerzen ließen.

»Ich habe nicht die geringsten Vorstellun­gen davon, was dieser Fund bedeuten soll«, erklärte Elkohr unsicher. »Aber wir sind das richtige Gespann, um solche oder ähnliche Erscheinungen deuten zu können.«

Er übersetzte für Kortmikel, und das Vo­gelwesen fragte sofort zurück:

»Wie du meinen?« »Nun«, entgegnete die Maschine, »Atlan

ist voller Phantasie, die mir fehlt. Ich rechne und handle logischer und effizienter als ihr beide. Und du, Kortmikel, bist der Spezialist für Dinge aus anderen Bezugsebenen. Dafür gebricht es dir an Phantasie.«

Atlan stimmte zu. »Eine verblüffende Sicht der Dinge, zuge­

geben. Sie scheint den Vorzug der radikalen Einfachheit zu haben. Mir erscheint dieser Fund mehr als nur ein deformiertes Stück aus Metall zu sein.«

Er ging näher heran und kauerte sich vor dem Gebilde nieder, das eine Kantenlänge von mehr als einem halben Meter hatte. Als er die Finger im umfassenden Fausthand­schuh ausstreckte, um eine Kontur nachzu­fahren, bemerkte er, daß er an eine Stelle ge­griffen hatte, an der sich nichts befand. Oder seine Augen spielten ihm einen Streich. Ein Teil des Gegenstandes begann zu flimmern und zu verschwinden, aber wurde sofort wieder durch andere Linien und Formen er­setzt.

»Ich erinnere …«, begann Kortmikel, der neben Atlan stand und den Fund mit großen

Hans Kneifel

Eulenaugen betrachtete. Dann sprach er schnell in seiner Sprache mit Elkohr und wartete darauf, daß der Roboter übersetzte. Elkohr sagte:

»Kortmikel meint, daß er diese und ähnli­che Formenschiebungen und sozusagen un­mögliche Winkel und Kurven schon gesehen hätte. Und zwar in seinen rauschartigen Zu­ständen, wenn er Dinge in anderen Dimen­sionen sah und miterlebte.«

Atlan hob den Kopf und starrte Kortmikel schweigend an. Sein Extrasinn meldete sich und erklärte mit Bestimmtheit:

Das kann eine durchaus akzeptable Erklä­rung sein. Vielleicht hat Pthor diesen und ähnliche Gegenstände auf dem Weg durch Zeit, Raum und Dimensionen mitgerissen.

Atlan stand auf, nachdem er dreimal ver­sucht hatte, das Ding zu berührten. Immer wieder entzogen sich ihm die einzelnen Tei­le, obwohl sowohl er als auch der Fund deutliche Schatten warfen.

»Wahrscheinlich ist das hier auf demsel­ben Weg nach Pthor gekommen wie du, Kortmikel. Es stammt nach meiner Ansicht aus einer anderen Dimension und wurde beim Durchgang verformt. Oder es ist, sozu­sagen, auf der anderen Seite eines uns nicht begreiflichen Spiegels.«

Mit einer knappen, entschlossenen Bewe­gung deutete Elkohr nach vorn.

»Gehen wir weiter.« Sie beendeten auch noch die letzten Win­

dungen der Spirale. Insgesamt vierzehn Fundstücke lagen und standen in unregelmä­ßigen Abständen auf dem Boden des Gan­ges. Sie waren einander nicht ähnlich, aber unverkennbar von derselben Art.

Surrealistische Traumgebilde, in irisieren-den Farben und Mustern, deren Existenz den Verstand, die Phantasie überforderten. Teile aus einem anderen Kosmos. Relikte, die den Übertritt von einer Verstandesebene in die andere nicht überstanden hatten. Atlan be­kam Kopfschmerzen, wenn er länger darauf starrte. Die Vorstellung, daß diese Gebilde hier plötzlich erschienen waren, daß an an­deren Stellen noch ganz andere, größere und

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verwirrendere Funde herumlagen, ließ ihn nicht los.

Sie traten auf den Boden des Zylinders. »Ist es richtig, daß an dieser Stelle viele

ähnliche Türen einmünden, wie wir sie eben durchschritten haben?« fragte Atlan.

»Sicher. Ich kenne nicht alle. Ich kenne nur die Fortsetzung – dort!« erwiderte El­kohr und ging geradeaus auf eine vorsprin­gende Röhre zu, deren Inneres ebenfalls er­hellt war. Hier gab es rätselhafterweise nur eine dünne Staubschicht. Als sie die weni­gen Stufen zum Ausgang hinaufgegangen waren, bemerkte Atlan die Abdrücke nackter Sohlen im Staub. Einige von ihnen waren unverkennbar frisch.

»Wir sind nicht allein«, stellte er fest. »Schon wieder! Bestien! Mörder! Wir

kommen um! Ein Gefängnis des Wahn­sinns!«

Elkohr klopfte Kortmikel aufs Gefieder und versuchte ihn zu beschwichtigen.

»Bisher haben wir alle Gefahren und An­greifer besiegt.«

Nebeneinander betraten sie die Röhre. Noch immer war es totenstill, nicht einmal Maschinen summten oder erfüllten mit ihren Schaltgeräuschen die Luft. Im Mittelpunkt der langen Röhre schwebte der vorläufig letzte Fund in der Luft und bewegte sich leicht. Neugierig und verwundert gingen die drei Fremden näher heran und blieben ste­hen, als sie erkannten, was dieses »Ding« einmal gewesen sein konnte.

Ein Bild. Eine ungewöhnliche Darstel­lung. Auf jeden Fall ein Kunstgegenstand! sagte der Extrasinn.

Runde, kugelförmige und dreieckige, rechteckige und würfelförmige, stabartige und viereckige Stücke waren wie ein dreidi­mensionales, auseinandergebrochenes und wieder falsch zusammengesetztes Mosaik aneinandergereiht. Sie berührten sich jeweils nur mit den Kanten oder der geringstmögli­chen Fläche.

»Darstellungen!« sagte Kortmikel. »Bruchstücke. Das Dargestellte bewegt

sich!« korrigierte Elkohr. Schweigend und

fasziniert gingen sie um die vielen Facetten und Ecken des Fundes herum. Einst schien das Ganze tatsächlich eine Art Bild zu sein, allerdings wohl ein Bild, das man von vorn und hinten, von allen Seiten und von oben ebenso gut wie von unten betrachten konnte. Etwas wie ein holografischer Würfel, dessen Inhalt sich bewegte.

Aus den größeren Bruchstücken konnten sie mit viel Phantasie und einiger Logik er­kennen, daß das Bild eine düstere und be­drohliche Szene darstellte. Zudem ruckte das Konglomerat hin und her und aufwärts wie abwärts, jeweils einige Fingerbreit.

»Ich fürchten«, gab Kortmikel zu. Es war das erstemal, daß er wirklich leise sprach.

»Das Dargestellte bezieht sich nicht auf Pthor, sondern auf jene Welt, woher es ge­kommen ist«, schränkte Elkohr ein.

Treibende schwarze Wolken rasten über einen purpurfarbenen Himmel. Drohende Berge waren der Hintergrund. Riesige Lebe­wesen flogen mit triefenden Schwingen vom Gebirge her auf den Betrachter zu. Ein ande­res Bruchstück. Menschenähnliche Gestalten kreisten andere Gestalten ein und metzelten sie mit langen, lanzenähnlichen Gegenstän­den nieder. Ein Gebäude brannte, und unauf­hörlich sprangen Humanoide, ebenfalls brennend, aus Fenstern und von Erkern. Ein Sturm hatte ein Segelschiff gepackt, schleu­derte es auf die Klippen und zerfetzte es.

»Wenn das ein Versprechen ist, das die nächsten neuntausend Meter halten werden, dann sind wir in höchster Gefahr«, sagte der Arkonide langsam. »Trotzdem: Gehen wir weiter.«

»Das Leben ist auf Pthor in allen Aspek­ten gefährlich und bisweilen tödlich«, mein­te der Roboter.

Atlan warf einen langen, letzten Blick auf eines der Fragmente und sah schweigend und entsetzt zu, wie tierähnliche Lebewesen einen Artgenossen schlachteten und die Fleischteile auf einem Feuer brieten.

Er riß sich los und folgte Elkohr und Kortmikel.

Schon die nächsten Schritte konnten ihren

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Tod bedeuten. Und hier gab es niemanden, von dem sie Hilfe erwarten konnten.

ENDE

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