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Die Handschrift Rheinau 71 der Zentralbibliothek Zürich und die Frage nach Echtheit und Entstehung der St. Galler Sequenzen und Notkerschen Prosen Author(s): Heinrich Husmann Source: Acta Musicologica, Vol. 38, Fasc. 2/4 (Apr. - Dec., 1966), pp. 118-149 Published by: International Musicological Society Stable URL: http://www.jstor.org/stable/932522 . Accessed: 18/06/2014 08:45 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . International Musicological Society is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Acta Musicologica. http://www.jstor.org This content downloaded from 195.78.108.81 on Wed, 18 Jun 2014 08:45:14 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Die Handschrift Rheinau 71 der Zentralbibliothek Zürich und die Frage nach Echtheit und Entstehung der St. Galler Sequenzen und Notkerschen Prosen

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Die Handschrift Rheinau 71 der Zentralbibliothek Zürich und die Frage nach Echtheit undEntstehung der St. Galler Sequenzen und Notkerschen ProsenAuthor(s): Heinrich HusmannSource: Acta Musicologica, Vol. 38, Fasc. 2/4 (Apr. - Dec., 1966), pp. 118-149Published by: International Musicological SocietyStable URL: http://www.jstor.org/stable/932522 .

Accessed: 18/06/2014 08:45

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118 T. Kneif: Gegenwartsfragen der Musiksoziologie

allzuviel pers6nlichem Engagement zu bezeichnen. Ein mehr ernstzunehmender, sach- licher Grund dafiir liegt im haufigen Mi3brauch theoretischer Arbeit. Die Gleich- wertigkeit letzterer mit der empirischen Forschung wird in dem MaBe evident, als die Theorie sich am vollen Tatsachenreichtum eines geschichtlichen Sinnganzen bewahrt und nicht dazu herhilt, eine vereinzelte Subjektivitat mittels geistvoller, aber der Wirklichkeit entbundener Konstruktionen herauszustellen. Ein solcher Verzicht ist von theoretischer Seite mit Recht zu verlangen. Dafiir haitte der Empiriker sich zu der Einsicht durchzuringen, daB materialgerechte Interpretation nicht nur einen ein- zigen Sinnzusammenhang eruieren kann, sondern mehrere zugleich, deren Wider- spruch sich nicht unvermittelt, sondern erst auf einer gehobenen Reflexionsebene wieder aufheben 15•8t. Die Mehrdeutigkeit von historischen Tatsachen liegt in der mehrfachen Auswirkung und Funktion von diesen selbst begriindet, und die Wahr- heit der Fakten hat die Theorie in deren Mehrdeutigkeit selbst aufzuweisen. Solcher

Widerspriichlichkeit der historischen Realitait vermag die dialektische Methode heute am differenziertesten beizukommen. DaB sie nicht immer im Dienste objektiver Erkenntnis steht, sondern auch dort brillant gehandhabt werden kann, wo unpar- teiische Haltung und andere Selbstverstandlichkeiten des wissenschaftlichen Ethos fehlen, spricht nicht gegen sie, sondern umgekehrt fUir die Notwendigkeit ihrer noch besseren Beherrschung in der Hand derjenigen, die Wahrheit f6rdern, statt feuille- tonistische Verbliiffung erreichen wollen.

So sehr hier die individuelle Firbung musiksoziologischen Fragens betont wird, so

empfehlenswert erscheint die personelle wie sachbezogene Konzentration musiksozio-

logischen Forschens, aus welchem die individuelle Leistung dann um so gediegener hervorgehen kann. Das kurz Uiberblickte Gesamtgebiet der Musiksoziologie hat sich seit einigen Jahren derart ausgedehnt und innerlich differenziert, daB es dem Zugriff eines einzelnen immer mehr entwaichst. Ohne Zweifel wiirde daher die Wirksamkeit

musiksoziologischer Arbeit steigen, wenn der Austausch von Methoden, die Formu-

lierung von Dringlichkeitsthemen und die Koordination der Einzeluntersuchungen von einem Mittelpunkt aus erfolgten. Musikwissenschaft und Soziologie ki5nnten dann staindig, nicht nur aufs Geratewohl miteinander Fiihlung behalten .

s Vorliegender Forschungsbericht entstand mit Unterstiltzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Die Handschrift Rheinau 71 der Zentralbibliothek ZiUrich und die Frage nach Echtheit und Entstehung

der St. Galler Sequenzen und Notkerschen Prosen HEINRICH HUSMANN (GOTTINGEN)

Es ist eines der Hauptprobleme der Sequenzenforschung, den Ursprung dieser Gat-

tung zu untersuchen und unter anderem ihre Ableitung aus dem Alleluia zu erhellen. Denn so raitselhaft auch heute noch die Titel mancher Sequenzen sind, so offen' zeigen

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andere Sticke bereits im Titel ihre Herkunft aus einem gregorianischen Alleluia an, und deren erste melodische Phrase erweist sich tatsa-chlich als mit der des im Titel genannten Alleluia identisch. Einerseits lassen sich auch leicht Alleluia fiir Sequenzen mit nichtalleluiatischem Titel finden, - so etwa zeigt die sanktgallische Sequenz Aurea mit dem Prosentext Clare sanctorum senatus apostolorum am Beginn die An- fangspartie des All. Nimis honorati sunt, eines Alleluia, das ebenso wie seine Sequenz und Prosa fUir Apostelfeste bestimmt ist. Andererseits zeigen umgekehrt Sequenzen mit Alleluiatitel in derAnfangsphrase Differenzen gegeniiber dem Beginn des im Titel genannten Alleluia, so zum Beispiel im Fall der Melodien Justus ut palma maior und minor. Hier kann man annehmen, daB die Sequenz in einer friiheren Entwicklungs- stufe des Alleluia entstand. Waihrend man beim GroBteil der Sequenzen mit freiem Titel einerseits mit dieser Annahme auskommt, da ihre Phrasen, wenn sie nicht mit gregorianischen Alleluia ilbereinstimmen, so doch groBe Ahnlichkeit mit solchen auf- weisen, so bleibt andererseits aber doch ein Rest, in dem m6iglicherweise die origi- niren Alleluia aus dem Gebrauch kamen, ehe die schriftliche Aufzeichnung des gre- gorianischen Chorals einsetzte, oder das Alleluia seine Gestalt so stark ainderte, daB in der spaiteren Form die urspriingliche nicht mehr erkennbar ist. Da die Sequenz die

Wiederholung des Alleluia nach dem Vers, jedoch mit erweitertem Jubilus, ist, ent- halt sie nicht nur haufig das ganze erste Alleluia in sich (wobei die Erweiterungen nur in der Mitte geschehen), sondern der ihr unterlegte Text, die Prose, nimmt oft auch Bezug auf den Text des Verses. Etwa die Notkersche Prose Is, qui prius habitum mortalem induit pugnaturus, immortale iam nunc resurgens et impassibile corpus sumpsit... bezieht sich mit induit und corpus sumpsit auf das zweimalige induit des zugrundeliegenden All. Dominus regnavit, decorem induit, induit dominus fortitu- dinem ..., wobei sie das zweite induit zur Vermeidung der Wiederholung eben in das dasselbe bedeutende corpus sumpsit aindert. Es ist bezeichnend, daB die Prose an ein Wort ankniipft, das nicht im Titel Dominus regnavit decorem vorkommt, so daB ersichtlich ist, daB der Dichter den ganzen Verstext vor Augen gehabt haben mu8.

In spiterer Zeit wird man auch mit der gemeinsamen Schaffung von Melodie und Text rechnen miissen, so wenn z. B. in St. Martial anlii8lich der Erhebung des Hlg. Martial zum Apostel 1031 ein ganzes Offizium neukomponiert wird, zu dem auch die Prosa Apostolorum gloriosa turba geh6rt, wobei die Doppelversikel, da ihre Melodie sonst nicht bekannt ist, offensichtlich eine Neusch6pfung sind, wahrend der Beginn traditionsgemi3 ein Alleluia, hier das All. Venite ad me omnes, benutzt. Mag dies fiir einen ganzen Teil der doppelversikcligen Prosen zutreffen, so gilt es sicher fiir die am Anfang der Entwicklung stehenden amorphen Sequenzen nicht und kommt daher als Erklidirung der Entstehung der Gattung nicht in Frage.

W. von den Steinen hat in seiner Studie Die A'nfinge der Sequenzendidctung (Zeitschrift fiir Schweizerische Kirchengeschichte XL, 1946, S. 190-212 und 241-268; XLI, 1947, S. 19 bis 48 und 122-162) auch die amorphe ,,einchBrige" Sequenz behandelt und behauptet, daB sie auf Grund der flberlieferung jiinger als die ,,doppelchdrige" Sequenz sei. Aber er legt von den siidfranzisischen Handschriften nur lat. 1240 der Pariser Nationalbibl. zugrunde, der gewiB der ilteste Kodex ist (oder die Abschrift eines sehr alten Originals), aber in seinem sehr ungeordneten Zustand mehr den Eindruck einer zufillig zusammengeschriebenen Samm-

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lung macht als den einer liturgisch-en Handschrift. Andere Handschriften, vor allem lat. 1084 (aus St. Geraud von Aurillac) und lat. 1118 (aus Auch nach J. Chailley), bieten ebenfalls ein sehr altes Repertoire, aber sehr viel kompletter als der lat. 1240. Hier finden sich im lat. 1084 Sequenzen, zu denen wir die Prosen nicht mehr kennen, und umgekehrt stehen in diesem Repertoire - vor allem amorphe - Prosen, die nicht in die spiteren diastematischen Hand- schriften iibernommen wurden und f ir die uns daher die Melodien fehlen. Man sieht deutlich, daB zur Zeit dieser Handschriften die amorphe Sequenz bereits eine aussterbende Gattung war, die durch die doppelversikelige Sequenz verdringt wurde. Auch die amorphe Sequenz enthilt schon Motivwiederholungen, wie es ja auch schon die einfachen Alleluiajubilen tun, so daB von hier ein Weg zur doppelversikeligen Sequenz fiihrt. Bei dem erheblichen Unter- schied der beiden Formprinzipien war zur Bildung der doppelversikeligen Sequenz freilich eine starke Sch6pferpers6nlichkeit und m6glicherweise auch eine Anregung von auBen (Byzanz, Syrien) n6tig.

Auch fi*r die tilteren doppelversikeligen Prosen diirfte eine gleichzeitige Entste- hung von Melodie und Text nicht wahrscheinlich sein; denn sie sind einerseits in einer franzdsischen, andererseits in einer sanktgallischen Form iiberliefert. Beide Formen

zeigen oft aber erhebliche Varianten, wie sie nur in langer miindlicher Tradition ent- standen sein k6nnen, wobei nur an Uberlieferung der rein melismatischen Form der Sequenz gedacht werden kann, da ein bereits vorhandener Text die Ausbildung so

weitgehender Differenzen verhindert haben wiirde. Um wieder einmal auf Notkers Vorrede zuriickzukommen, so sah Notker zwar die Prosen im Antiphonar des M6nchs von Jumieges, schuf seine Texte aber zu seinen eigenen melodiae longissimae passend nur in Nachahmung des franz6sischen Verfahrens; keineswegs aber dichtete er Kon- trafakturen zu den franzbsischen Prosen des Antiphonars von Jumieges und noch viel weniger nahm er die franz6sischen Fassungen und redigierte sie um, wo seine

eigene dichterische Inspiration dies verlangte. Wenn die Sequenzen zum Teil direkt erkennbare Ableitungen aus gregorianischen

Alleluia sind, so wird man erwarten, daB sie auch an den entsprechenden Stellen in der MeBliturgie richtig eingeordnet sind. Freilich stehen schon in Notkers Liber

hymnorum ebenso wie in den franz6sischen Sequenzen - und Prosenfaszikeln Kon-

trafakturen, - in diesem Fall kann man die liturgisch richtige Einordnung nur von

dem Original verlangen, und umgekehrt erlaubt dies Prinzip, bei mehrfacher Melo-

dieverwendung den urspriinglichen Text zu finden. Priift man daraufhin Notkers

Hymnenbuch (wobei hymnus dem franz6sischen prosa entsprechend den Text bezeich-

net, so wie sequentia in Notkers Vorrede ja ebenso wie im franz6sischen Gebrauch

nur die Melodie meint), so ergibt sich folgendes Bild.

Ich lege aus praktischen Grimnden W. von den Steinens Ausgabe zugrunde. Man k6nnte erwnigen, ob nicht noch einige Stitcke zuvilel oder zuwenig darin enthalten sind, aber das wird bei jeder Ausgabe der Fall sein. Im Ganzen gesehen, scheint mir W. von den Steinen durchaus die richtige Auswahl getroffen zu haben.

Natus ante secula, Melodie Dies sanctificatus, fiir Weihnachten; die Melodie be- nutzt als Alleluiapartie die Alleluiaphrase des Weihnachtsalleluia Dies sanctificatus und der Text bezieht sich mit... prelucida...... sui ltuminis....... novi sideris luce... undc ... defuit lumen... auf die Stellen illuxit nobis und lux magna des Alleluiaverses.

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Laus tibi Christe, cui sapit, Melodie Justus ut palma maior, fuir Unschuldige Kind- lein; das All. Justus ut palma wird sowohl fiir Mdirtyrer wie fiir Bekenner benutzt, f ir das Fest der Unschuldigen Kindlein speziell habe ich sie dagegen nicht ange- troffen; dieselbe Melodie wird auch am Fest Johannes des Tiufcrs fi.r den Text Sancti baptiste Christi preconis benutzt; hier wird das All. Justus ut palma in vielen Kirchen benutzt, in der groBen Messe etwa in Limoges und Tours, und man hat den Eindruck, daB als die Commune-Alleluia vielleicht in friihester Zeit der Verehrung nur weniger Heiliger zukamen, das All. Justus ut palma das Alleluia Johannes des Thiufers war; benutzten diese beiden Miirtyrerfeste die Melodie Justus ut palma maior, so verwen- den zwei Bekennerfeste die Melodie Justus ut palma minor - worin vielleicht ein Sinn liegen mag -, das des Patrons Gallus fiir die Prose Dilecte deo Galle und das Commune confessorum fiir den Text Rex regum deus noster colende. Aber die beiden Melodien gemeinsame Form des Alleluia weicht von der des All. Justus ut palma dadurch ab, daB sie iiber -luia nicht nach g hinaufgeht, sondern nach d hinunter. Vielleicht ist diese abweichende Melodiegestalt auch der Grund, daB sich in keinem der vier Fille textliche Beziehungen zwischen Prosa und Alleluiavers finden, - man haitte Justus ut palma eben nur noch als Sequenztitel aufgefaBt und nicht mehr mit dem Alleluia gleichen Namens in Verbindung gebracht.

Deswegen habe ich diesen Fall zum Anlal einer eigenen Studie genommen, die eben als L6sung der Diskrepanz die Annahme vorschlaigt, daB die Sequenz sich aus dem Alleluia bildete, als dieses noch nicht die spitere Form besa8, - vgl. Justus ut palma - Alleluia und Sequenzen in St. Gallen und St. Martial, in: Revue belge de musicologie X, 1956, S. 112-128.

Aber auch die Verwendung der Sequenzen Justus ut palma mit der des gleich- namigen Alleluia stimmt in St. Gallen nicht fiberein: am Text der Unschuldigen Kind- lein verwendet St. Gallen (etwa nach den in der Paleographie musicale leicht zuging- lichen Kodices 388 und 359) das All. Te martyrum (mit Ersatz des Alleluia durch Laus tibi Christe), am Fest Johannes des Taiufers das All. Ipse preibit ante illum, am Gallusfest das All. Justus ut palma und im Commune sanctorum steht das All. Justus ut palma als zweites unter der Abteilung In natale unius martyris seu confessoris. So gut die OIbereinstimmung in den beiden letzten Fdillen ist, so wenig befriedigend erscheint, daB bei der kunstvolleren Melodie Justus ut palma maior ffir die h6her- wertigen Mirtyrerfeste der Gebrauch abweicht, wihrend er fiir die einfache Melodie Justus ut palma minor fiir die geringeren Bekennerfeste (worunter hier freilich der Patron selbst ist) gleich ist. Zur Erklairung dieser Diskrepanzen kann man zwei ver- schiedene Erkliirungen iiberlegen: einmal kinnte die Gesamtheit der St. Galler Sequenzen von einer anderen Kathedrale iibernommen worden sein (unter Sequen- zen immer nur die Melodien verstanden!) und man hitte dann als Ursprungsort der sanktgallischen Sequenzenordnung diejenige Kathedrale zu suchen, deren Alleluia- anordnung mit der der St. Galler Sequenzen fibereinstimmt, - Beispiele solcher (Iber- einstimmung sind eben bereits gegeben worden; aber andererseits kannte sich auch die St. Galler Alleluiaordnung geindert haben, wobei die Sequenzordnung dann ein ilteres Stadium konserviert hitte, das in den St. Galler Gradualien des 11. Jahr-

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hunderts bereits einer jiingeren Anordnung Platz gemacht hat. Solche Anderungen der Alleluiaordnung sind von einigen Kathedralen und Kl6stern sicher nachzuweisen, so etwa von der Kathedrale Senlis, deren dlteres Stadium in der Handschrift Paris, Bibl. Ste. Genevieve, Nr. 111, erhalten ist, wihrend etwa der Missaldruck von 1524 das jiingere Stadium zeigt, oder von der Kathedrale Soissons, wo Kodex lat. 17436 der Pariser Nationalbibl. die altere, Kodex lat. 15614 die jiingere Form der MeB- liturgie iiberliefert. In Klistern treten solche Anderungen haufig ein, wenn aus An- laB von Reformen eine neue Regel iibernommen wird, - das wird weiter unten am

Beispiel Rheinau noch eingehend gezeigt. Entweder ware also der Sequenzenfaszikel allein von einer anderen Stelle iibernommen worden, dann spielt die Natur der St.

Galler Liturgie iiberhaupt keine Rolle, oder aber er repraisentierte die iltere

St. Gal-

ler Tradition, dann miite in St. Gallen eine Liturgienderung eingetreten sein. Fiir beide Mbglichkeiten lassen sich Parallelbeispiele finden, - fi*r die erste etwa die

Tatsache, daB gerade der St. Galler Sequenzenfaszikel in ganz Deutschland iiber- nommen wurde.

Die Melodie Trinitas (der Melodietitel nimmt zwar nicht auf einen Alleluiavers,

sondern auf ein Fest Bezug, aber die Prosa k6nnte ja auf dessen Alleluiavers ein-

gehen, so daB das Stiick hier mit eingeschlossen werden soll) an Epiphanias weist als

Text Festa Christi sicher ein Kontrafaktum auf, da das Original sich auf das Trini-

tatisfest bezogen haben muB, von dessen Alleluia, dem All. Benedictus es domine

deus patrum nostrorum, sie auch die Alleluiaphrase benutzt. DaB der Text Festa

Christi als Kontrafaktur keine textlichen Beziehungen zum Originalalleluia herstellt, ist verstindlich. Merkwiirdigerweise bringt der St. Galler Sequenzenfaszikel dieselbe

Melodie, aber nicht an der Originalstelle, wo er stattdessen die Sequenz Planctus

sterilis verwendet, deren Text gleich mit dem alleluia-bezogenen Benedicto (gratias

deo) beginnt, deren Alleluiaphrase aber wieder nicht mehr im mittelalterlichen Alle-

luiarepertoire zu finden ist. Als Alleluia fungiert in St. Gallen an Epiphanias das All.

Vidimus stellam, aber da es sich bei Festa Christi um ein Kontrafaktum handelt,

wire die tbereinstimmung mit dem Alleluia desselben Festes ohnehin nicht unbe-

dingt zu erwarten. Wiirde man sie verlangen, so waire sowohl die Suche nach einem

Alleluia gleicher Anfangsphrase bei fremden Kathedralen erfolglos, da dasselbe All.

Vidimus stellam ganz allgemein verbreitet ist, wie auch der Rekurs auf eine voran-

gehende Liturgie St. Gallens, da dieselbe hier ebenfalls dieses Alleluia gefiihrt haben

diirfte, - fuir einige der iltesten

MeBliturgien vergleiche man R. Hesberts Antipho-

hale missarum sextuplex, S. 24/25, wo alle sechs Kodizes an Epiphanias das All.

Vidimus stellam besitzen. Man hitte sich dann etwa vorzustellen, daB die Sequenz

Trinitas urspriinglich zweimal im St. Galler Sequenzenfaszikel stand, an Trinitatis

und an Epiphanias, daB sie an der Originalstelle aber, als Notker daranging, seine Texte zu dichten, nicht mehr vorhanden war, sondern dort durch die Sequenz Planctus sterilis verdringt worden war. Die Prosa Is qui prius mit der Sequenz Dominus regnaM- vit decorem von Ostermontag ist in der Alleluiaphrase dem Anfang des All. Domi-

nus regnavit decorem gleich. Auch der Text bezieht sich auf den Verstext des Alle- luia, - siehe oben.

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Diese Textbeziehung hat auch W. von den Steinen, Notker der Dichter, S. 544, festgestellt. Doch hat er diese fiir Notkers dichterische Technik wichtige Frage des jeweiligen Zusammen- hangs zwischen Prose und Alleluiavers dann nicht weiter verfolgt.

Aber die St. Gallener Kodizes verwenden am Ostermontag nicht das All. Dominus regnavit decorem, sondern das All. Surrexit dominus vere ... at illi narrabant ..., melodiegleich mit dem All. Dies sanctificatus. Dagegen findet sich das All. Dominus regnavit decorem am Ostermontag in vielen anderen alten Liturgien, so in den sechs Kodizes von Hesbert und in Lyon. Das hat weitreichende Folgen. Bei den Justus-ut- palma-Prosen gab es keine Textbeziehungen zum gleichlautenden Alleluia, hier aber finden sich Textbeziehungen zum Vers und sogar zu Worten des Verses, die wieder nicht im Sequenztitel vorkommen. Wire der Text in St. Gallen und von Notker gedichtet, so miiB3te Notker nicht nur ein Dichter, sondern auch eine Art Philologe gewesen sein: er hiitte in dem Faszikel der melodiae seines Tropars am Ostermontag im Gegensatz zum All. Surrexit dominus vere . . . at illi des Graduale die Sequenz Dominus regnavit decorem vorgefunden, waire sich als guter M6nch dariiber klar gewesen, daB das gleichlautende Alleluia im Graduale aber an anderer Stelle vor- kommt, nimlich in der 2. Weihnachtsmesse, und hitte nun dem Verstext als Inspira- tion f/ur seine Dichtung genommen, - tatsichlich beginnt ja auch der Anfang der Prose mit einem Riikkgriff auf Weihnachten, wo Christus ,,das menschliche Kleid anlegte". Aber sehr viel einfacher ist es doch, sich vorzustellen, daB der Dichter der Prose das All. Dominus regnavit decorem bereits am Ostermontag vor sich hatte, und daB das induit ihn im Gegensatz zum Psalmtext, in dem Gott Stirke und Pracht anlegt, an die beiden Naturen Christi erinnerte, wobei das BewuBtsein, daB dasselbe Alleluia auch an Weihnachten stand, gern mitgeholfen haben kann. Zudem, wenn das Graduale des Dichters das All. Surrexit dominus vere ... at illi am Ostermontag gehabt hiitte, so hiitte man vielleicht auch Textbeziehungen zu diesem Stikck erwar- ten k6nnen, - sie sind aber nicht vorhanden. Hitte aber das All. Dominus regnavit decorem dem Dichter am Ostermontag vorgelegen und dies waire die Liturgie einer anderen Stadt, nicht St. Gallens, gewesen, so ergibt sich, daB eben auch die Prose dort gedichtet sein muB. Dann ware das Hymnenbuch nicht in St. Gallen und auch nicht von Notker verfertigt worden.

Die ,,Hymne" Christe domine laetifica zur Sequenz Obtulerunt am Osterdienstag bringt keine Schwierigkeiten. Die Sequenz benutzt im Anfang den Beginn des gleich- namigen Alleluia und dieses steht auch in St. Gallen am Ostermontag. Doch bestehen keine textlichen Beziehungen zwischen Prosa und Verstext und auch ideell ist kein Zusammenhang vorhanden, - das Alleluia spricht von den Jiingern Jesu, die ihm Brot und Fische brachten, die Prose von der Kirche als der Braut Christi.

Die Prose Judicem nos inspicientem zur Sequenz Deus iudex iustus am Sonntag nach der Osteroktav (also am 2. Sonntag nach Ostern) bringt nicht nur am Anfang, sondern auch im weiteren mit Deus patiens iuste . . . und deus iuste iudex ... Anspie- lungen auf den Sequenztitel, aber auch auf die nicht in ihm enthaltene Fortsetzung des gleichlautenden Alleluiaverses, die mit fortis et patienis . . . das patiens bei- steuert. Die Sequenz geht im Alleluia auch auf das gleichnamige Alleluia zuriick,

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aber das Graduale von St. Gallen verwendet an diesem Sonntag nicht das All. Deus

iudex iustus, sondern die All. Surrexit dominus vere ... at illi und Angelus domini descendit. Aber auch in den anderen bis jetzt bekannten Liturgien findet man das All. Deus iudex iustus nicht in der Osterzeit, - erst die hier weiter unten vorgenom- mene Entzifferung der ausradierten Osteralleluia des Kodex Rheinau 71 liefert dafrir das einzige Beispiel, - noch dazu in unmittelbarer Niihe St. Gallens.

Die Prose Laus tibi sit, o Fdelis deus des 3. Sonntags nach Ostern bezieht sich mit

qui nunquam confundis in te confidentes auf Anfang und Fortsetzung des ihrer Sequenz In te domine speravi zugrundeliegenden All. In te domine speravi, non confundar in aeternum. Sehr merkwiirdig ist der Beginn des letzten Versikels, der mit Tu conservas

qui timent te zweifellos auf den Sequenztitel Qui timent dominum der nichsten Prose

vorausweist. Waihrend St. Gallen am 3. Sonntag nach Ostern aber die All. Cantate

.. cantate (Cantate I bei Hesbert, S. XXIX, aus Ps. 95) und Benedictus es dei fPlius benutzt, findet sich das All. In te domine speravi am selben Sonntag in der ilteren Reihe von Soissons (Hesbert, S. 109, ,,Compendiensis", weil die Handschrift spiter

nach St. Corneille de Compiegne kam) und in Lyon; dazu steht es in Monza und

Lyon auch am Osterdienstag und im Altr6mischen am Freitag nach Ostern, geh6rt also offenbar in die Osterzeit.

Die Prose En regnator caelestium des 4. Sonntags nach Ostern mit dem Sequenz- titel Qui timent dominum nimmt im Text Bezug auf den Vers des im Alleluia mit

der Sequenz ilbereinstimmenden All. Qui timent, wenn sie ... eorum, qui timent . ..

bringt, wobei eorum aus dem Ende des Verses protector eorum est kommt. Auch das

Substantiv miserator klingt an die Formulierung adiutor et protector des Verses an.

Nun stimmt das All. Qui timent aber in seiner Alleluiaphrase (nicht in Jubilus und

Vers) melodisch tiberein mit dem All. Omnes gentes. Tatsaichlich trigt die Sequenz in franz6sischen Handschriften z. B. lat. 909 und 1121 diesen Titel und in Bamberg, Staatsbibl. lit. 5 und Oxford, Selden supra 27 ffihrt sie die TIberschrift Qui timent

vel Omnes gentes. Mir scheint, daB der Prosendichter einen solchen Doppeltitel vor

sich gehabt hat, denn der SchluBversikel Idcirco mundus omnis plaudat, iubilet exultans ... k6nnte durchaus auf den Text Omnes gentes plaudite manibus, iubilate deo in voce exultationis Bezug nehmen. Dabei weist das exultans gleichzeitig auch

noch auf den Sequenztitel Exultate deo der naichsten Prose voraus. Das All. Qui timent ist als Ganzes identisch mit dem All. Cantate ... quia mirabilia (Hesberts Cantate II aus Ps. 97), das lat. 1084 neben Qui timent in den Titel setzt, - aber auf dessen Text finden sich in der Prose keine Beziige. Wieder verwenden die St. Galler

Handschriften an diesem Sonntag andere Alleluia, Eduxit dominus und Surrexit

altissimus, waihrend beide Sequenzalleluia sich anderweitig durchaus in der Osterzeit

finden, Qui timent in Lyon ebenfalls am 4. Sonntag nach Ostern, Omnes gentes in

Vienne am 1. Sonntag nach Ostern und unter den Palimpsestalleluia des Kodex

Rheinau am 3. Sonntag nach Ostern, - die Cantate-Alleluia sind sogar sehr hiufig sowohl in der Osterwoche wie an den Sonntagen nach Ostern, etwa Cantate II in

Reims ebenfalls am 4. Sonntag nach Ostern.

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Die Prose Laetamente canamus deo nostro zum 5. Sonntag nach Ostern kniipft mit Worten lose an das ihre Sequenz Exultate erdffnende All. Exultate deo adiutori nostro, iubilate deo an, und die in der Mitte des Textes vorkommenden Worte in omni tribulatione m6gen wohl auch durch adiutori angeregt sein. Wieder verwendet die St. Gallener Liturgie des 11. Jahrhunderts andere Alleluia, das vom Sonntag nach Ostern stammende Hec dies und das Pascha nostrum des Osterfestes selbst. Dem- gegenaiber ist das All. Exultate auBerhalb St. Gallens sehr hiiufig in der Osterzeit anzutreffen, am 1. Sonntag nach Ostern in Angers, Reims, Tours St. Martin, Senlis, Coimbra (Handschrift Porto 37) u. a., am 2. Sonntag nach Ostern in Tours (Kathe- drale), am 4. Sonntag in Noyon, - und alle diese Wege wiirden nach Frankreich fiUhren, wenn nicht die Handschrift Rheinau 71, die das All. Exultate auch genau passend am 5. Sonntag nach Ostern notiert, ein Schweizer Beispiel fiir die Verwen- dung dieses Alleluia in der Osterzeit braichte.

Gleich anzuschlie8en ist hier die Prose O quam mira sunt mit der Sequenz Con- fitemini domino et invocate zum Sonntag nach Himmelfahrt, da dieser in den Hand- schriften haiufig als 6. Sonntag nach Ostern bezeichnet wird. Der Prosentext bezieht sich ideell auf den Alleluiavers, dessen Ende annuntiate inter gentes opera eius ent- sprechend die Prose eine Reihe der wunderbaren Werke Gottes aufzaihlt. Wiihrend St. Gallen an diesem Sonntag das All. Ascendit deus des Himmelfahrtsfestes wieder- holt und das All. Non vos relinquam hinzuffigt, findet sich das All Confitemini domino et invocate an diesem Sonntag in Vienne, Grenoble, Nimes und im Kodex Turin, Universitaitsbibl. F IV 2, aus Bobbio und eng mit dem Kodex Mailand, Bibl. Ambro- siana, D 84 inf., zusammengehend, waihrend andererseits die Handschriften Turin Universittitsbibl. G V 20 und F IV 18 grf38tenteils fibereinstimmen. Am 5. Sonntag nach Ostern steht dies Alleluia in Tours (St. Martin), Senlis, Chartres, Modena Kapitelbibl. I 7, Pistoia, Mailand Ambrosiana D 84 inf. aus Bobbio, Piacenza, Coim- bra u. a., am 2. Sonntag nach Ostern in Rheinau 30 aus Nivelles/Belgien, in Rheinau 71 dagegen schon am Freitag nach Ostern.

Die Sequenz Captiva zur Prosa Summi triumphum des Himmelfahrtsfestes bezieht sich zwar nicht auf den Anfang eines Alleluiaverses, wohl aber benutzt sie ein Wort aus der Mitte gleich zweier Alleluiaverse, beide Alleluia ebenfalls fiir Himmelfahrt bestimmt:

All. Dominus in Sina in sancto, ascendens in altum captivam duxit captivitatem. All. Ascendens Christus in altum captivam duxit captivitatem, dedit dona hominibus.

Der Text beider Alleluia stammt aus Psalm 67, 18/19, - statt captivam duxit steht in der Vulgata cepisti, doch ist captivam duxit schon bei Hieronymus selbst belegt (siehe P. Sabatier, Bibliorum sacrorum versiones antiquae seu Vetus Italica, II, 132).

Die Prosa bezieht sich deutlich auf diese Mittelpassage, wenn sie schreibt: Capti- vitatemque detentam inibi victor duxit secumr. Doch ist die Alleluiaphrase der Sequenz nicht mit dem Beginn eines der beiden Alleluia gleich, so da8 der Fall hier nicht

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weiter behandelt werden soll. Zum ersten St. Galler Himmelfahrtsalleluia, dem All. Ascendit deus in iubilatione, bestehen weder textliche noch melodische Beziehungen.

Die Sequenz der zweiten Himmelfahrtsprosa Christus hunc diem iocundum bezieht sich mit ihrem Titel und Melodieanfang auf das zweite St. Galler Himmelfahrts- alleluia Dominus in Sina. Doch finden sich keine textlichen Beziehungen zwischen Prose und Verstext.

Die Prose Stirpe, Maria, regia f/Ur das Fest von Maria Geburt ist mit der Sequenz Adducentur verbunden. Die altesten St. Galler Handschriften bringen das Fest Marii Geburt iiberhaupt nicht im Gradualteil, da seine Musik anderen Festen, vor allem dem Commune virginum, entnommen wird, wihrend spaiter, wie z. B. im Graduale Romanum, die marianische Votivmesse das Material fiur dieses Fest liefert. Das All.

Adducentur, das der Sequenz Adducentur die Alleluiaphrase geliefert hat, zu dessen Verstext die Prose Stirpe, Maria, regia jedoch keine Beziehungen herstellt, ist ein Jungfrauenalleluia, das in ilterer Zeit bevorzugt fi~r das Geburtsfest Mariai benutzt wird. Es steht auch im Commune virginum der St. Gallener Handschriften. Da diese sehr viele Feste im Hauptteil nicht enthalten, deren Musik woanders hergenommen wird, hat man ihnen z. T. ,Breviarii" beigegeben, in denen fuir diese Feste die An-

finge der zu wihlenden Stiicke angegeben sind, - man vergleiche etwa plica IV von

Paldographie musicale, I, 1 fuir Kodex 339, - oder man notierte diese Angaben ins

Kalendar, wie z. B. im St. Galler Kodex 340, - oder endlich schrieb man das Breviar am Rand des Gradualteils entlang, wie im Kodex 342.

Seinerzeit haben die Patres von Solesmes das Breviar des 339 nicht mitgeteilt, obwohl es die notwendige Erginzung des Gradualteils der Handschrift ist. Hier hitte dies allerdings auch nichts geniitzt, da ein Blatt - und gerade das mit Marila Geburt - aus dem Breviar her- ausgeschnitten worden ist.

Im Breviar des Kodex 338 wie im Kalendar des 340 wie am Rand des Gradualteils des 342 ist aber das All. Ave Maria angegeben, das in diesen Handschriften am

Ende der Jungfrauenalleluia steht. Jedoch hat die Prose auch zu ihm keine textlichen

Beziehungen hergestellt. Ebenso findet sich das All. Adducentur an Nativitas B.M.V.

nid~t in den groBen Kathedralen Europas, sondern vorzugsweise das All. Nativitas

gloriose. Die Prose Angelorum ordo sacer fiur das Michaelsfest kniipft in ihrer Sequenz an

das All. Laudate deum omnes angeli an, sowohl in der Melodie wie im Text, - auch

in der Mitte bezieht sich qui laude ipsius wohl auf das laudate des Alleluiaverses. Dies Alleluia dient auch in den ilteren St. Galler Handschriften als Alleluia des

Michaelsfestes, wahrend im 12. Jahrhundert das All. Concussum est mare an seine

Stelle getreten ist, - man vergleiche etwa die Korrektur des ilteren Alleluia in das neue auf Tafel 115/135, Paldographie musicale, II, 2, fir Kodex 359, wiihrend in Kodex 339 keine Korrektur vorgenommen wurde.

Die beiden in Notkers Hymnenbuch fiir das Kirchweihefest bestimmten Prosen, Psallat ecclesia mater illibata und Tu civium, deus, conditor, beziehen sich in ihren

Sequenzen, Letatus sum und Adorabo, melodisch und textlich auf die gleichnamigen Alleluia. In Psallat ecclesia kniipft Haec domus aulae celestis an die Phrase in domum

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domini ibimus des Alleluiaverses, Hic vox leticie an seinen Beginn an; in Tu civium ist Intra templum maiestati nominis tui consecratum aus dem Alleluiatext Adorabo ad templum sanctum tuum et confitebor nomini tuo gewonnen. Waihrend in den St. Galler Handschriften des 11. Jahrhunderts nur das All. Adorabo fiir das Kirchweihe- fest vorgeschrieben ist, zitiert Kodex 3 59 der Stiftsbibliothek die Alleluia Adorabo, Letatus sum und Te decet hymnus, 2. Vers Replebimur. Das soll nicht bedeuten, daB zwei oder gar alle drei Alleluia gesungen werden sollen, sondern daB man eines nach Belieben auswaihlen kann, und denselben Zweck hat es ebenso auch, wenn im Hym- nenbuch zu den zwei im Kodex 3 59 zuerst genannten Alleluia bzw. ihren Sequenzen Prosen stehen.

Die Prose Omnes sancti seraphim fuir das Allerheiligenfest gehbrt zur Sequenz Vox exultationis, die sich an das gleichnamige Alleluia anschlie3t; doch nimmt sie auf den Text von dessen Vers keinen Bezug. Das Fest Allerheiligen ist - wie das der Geburt Marii - nicht im Hauptteil der St. Galler Gradualien enthalten, da es friiher seine Musikstiicke vor allem dem Commune plurimorum martyrum entlehnte. Hier steht auch in den sanktgallischen Handschriften das All. Vox exultationis.

Die Prose Clare sanctorum fiir Apostelfeste ist mit der Sequenz Aurea verbunden, die - s. oben - das Apostelalleluia Nimis honorati sunt, das iibrigens mit dem All. Dominus in Sina melodiegleich ist, zugrunde legt. Zum SchluB von dessen Vers est principatus eorum stellt sie in ihrer Anfangspartie Clare sanctorum senatus aposto- lorum, princeps orbis terrarum Beziehungen her; denn senatus apostolorum princeps hat offensichtlich principatus eorum angeregt. Das All. Nimis honorati sunt steht im Kodex 359 an erster Stelle der Alleluia ,,In natale apostolorum", im Kodex 339 an dritter Stelle usf.

tberblickt man die geschilderten Zusammenhinge zwischen Sequenz und Alleluia an den einzelnen Festen im Ganzen, so bemerkt man sofort, daB auBerhalb der Oster- zeit die Sequenzen, die den Prosen des Hymnenbuches zugrunde liegen, fast stets zu den Alleluia geh6ren, die die sanktgallischen Handschriften des 10./11. Jahrhunderts an diesen Festen vorschreiben, - ich setze Kodex 359 ins 10. Jahrhundert im Gegen- satz zur Paleographie musicale, die ihn noch ins 9. Jahrhundert verlegt, - daB in der Osterzeit dagegen die entscheidenden Differenzen auftreten.

Uber das Alter des Kodex 359 wechseln die Meinungen. Wiahrend man ihn urspriinglich fiir das von Romanus nach St. Gallen gebrachte Exemplar hielt, hat zuerst A. Schubiger, Die Siingerschule St. Gallens vom achten bis zwblften Jahrhundert, Einsiedeln 1858, S. 78, Anm. 6, diesen Bezug abgelehnt und meint, daB die Handschrift ,,wahrscheinlich schon aus der zweiten Halfte des 9. Jahrhunderts" stammt. Der Katalog der Handschriften der Stiftsbibl. St. Gallen von G. Scherrer von 1875 setzt die Handschrift S. 124 vorsichtiger ins s. IX/X und verweist auf das v im Inlaut (ivstus), das ein Merkmal des X. Jhdts. sei. Demgegeniiber setzt die Faksi- mileausgabe in der PaldIographie musicale von 1924 (S. 5 und 22) die Handschrift wieder ins 9. Jhdt. Die niichste Publikation, A. Bruckners Scriptoria medii aevi helvetica III, 1938, setzt die Handschrift im Textteil (S. 43, Anm. 218) unter das Kapitel ,,Das Zeitalter Salomos III" (der von 890-919 regierte) ,,Ausklingen im X. Jahrhundert", wiihrend im Handschriften- verzeichnis (S. 98/99) 9./10. Jhdt. angegeben wird. Dies haben die M6nche von Solesmes noch weitergefiihrt, wenn sie in Anderung ihrer friiheren Meinung in Le Graduel Romain, II. Les sources, 1957, S. 132, sagen, sie geh6re eher in den Anfang des 10. Jhdts. als in das Ende

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des 9. Jhdts. Wenn man ,,1. Halfte des 10. Jhdts." sagte, traife man mneiner Meinung nach das Richtige, denn man sollte etwas mehr Spielraum nach oben lassen, um besseren Anschlul an den Kodex 342 zu bekommen, - s. unten.

Die Unterschiede liegen dabei jedesmal daran, daB die St. Galler Handschriften Alleluia verwenden, deren Texte sich direkt auf das Ostergeschehen beziehen (mit Ausnahme des Psalm-Alleluia Cantate I, das am 3. Sonntag zwischen diesen Texten

steht) und die mit Ausnahme des All. Eduxit (aus Ps. 104, 43) alle aus dem Neuen Testament genommen sind, daB die Sequenzen sich dagegen auf Alleluia beziehen, die aus der Reihe der Alleluia der Sonntage nach Pfingsten stammen und deren Texte alle aus den Psalmen herriihren. Diese letzten Alleluia aber waren urspriinglich nicht wie heute auf diese Sonntage sowie Advent und Epiphaniaszeit beschrinkt, sondern

erfiillten die Sonntage des ganzen Kirchenjahres, wie noch die Titel dieser Faszikel in einigen Handschriften angeben, etwa wenn Kodex 359 die U1berschrift hat: Inci- piunt alleluia per circulum anni, oder 339: Alleluia dominicis diebus vel nataliciis sanctorum per circulum anni.

In zwei Aufsdtzen im Dansk Aarbog for Musikforskning (Studien zur geschichtlichen Stel- lung der Liturgie Kopenhagens unter Zugrundelegung des Missale von 1510, Jg. 2, 1962, S. 3-58, und Die Oster- und Pfingstalleluia der Kopenhagener Liturgie und ihre historischen Beziehungen, Jg. 4, 1965, S. 3-61) habe ich diese Verhaltnisse eingehend untersucht und den urspriinglichen Faszikel der auch in der Osterzeit gebrauchten Dominikalalleluia zu rekon- struieren versucht.

Dann ist aber klar, daB die St. Galler Liturgie, wie sie in den uns vorliegenden Handschriften erscheint, sich bereits in dem jiingeren Stadium befindet, in dem der

gr6Bte Teil der alteren Dominikalalleluia durch die neuen Spezialalleluia ersetzt ist. Wir werden hiermit also ganz von selbst zur Annahme gefiihrt, daB die St. Gallener

Liturgie bereits eine Anderung erfahren haben muB, ehe sie in den Handschriften aufgezeichnet wurde. Wenn die Wochentage der Osterwoche und die Sonntage nach Ostern vorher aber auch in St. Gallen Dominikalalleluia besaBen, besteht die MWg- lichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit, daB die Sequenzen sich eben an diese dominikalen Alleluia der Osterzeit anschlossen, und es besteht kein Grund, die Echtheit des Not- kerschen Hymnenbuches anzuzweifeln. Der Wechsel in den St. Galler Osteralleluia wire dann im 10. Jahrhundert eingetreten.

Man sieht, wie entsch.eidend die Frage der Datierung des Kodex 359 ist. Wiirde er wirklich ins 9. Jhdt. geh6ren, so hatte der Wechsel der Alleluia bereits vor Notkers Titigkeit statt- gefunden und es wiren die oben entwickelten Schwierigkeiten nicht zu beheben - Notker vollendete nach W. von den Steinen (Zs. f. Schweiz. Kircheng., XL, 1946, S. 201) sein Hym- nenbuch 884, er starb 912.

Der Wechsel der Alleluia trat in den verschiedenen Kathedralen und Klistern zu verschiedenen Zeiten ein und ging wohl auch manchmal in mehreren Schritten vor sich. Dabei konnten, wie in St. Gallen - und auch im Neurbmischen -, einige alte Alleluia stehen bleiben, wihrend zumeist aber alle alten Alleluia durch neue ersetzt wurden. Umgekehrt gibt es auch einige Kirchen, die ihre alten Alleluia bis zum Trienter Konzil bewahrt haben.

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Zu den Kl6stern, die alle alten Alleluia durch neue ersetzen, geh6rt auch St. Martial in Limoges. Nach Ausweis der von ihm herriihrenden Handschriften Paris, Bibl. Nationale, lat. 909, 910, 1121, 1132 und 1136 benutzte St. Martial an Montag bis Freitag der Osterwoche die Alleluia Nonne cor, Surgens Iesus dominus noster, Surrexit dominus et occurrens, Sur- rexit altissimus und Eduxit, an den Sonntagen nach Ostern etwa nach lat. 909 (die Hand- schriften weichen alle etwas voneinander ab) Angelus domini und Post dies octo; Surrexit dominus vere mit Ego sum pastor bonus und Dicite in gentibus und Surrexit Christus et illuxit; Modicum mit Iterum und In die resurrectionis; Vado mit Surrexit Christus qui creavit und Laudate dominum omnes gentes; Christus resurgens mit Usquemodo. Wihrend sich hier noch das dominikale All. Laudate dominum omnes gentes erhalten hat, haben andere Handschriften auch dies beseitigt und ebenso die Auswahlalleluia gestrichen, so bietet etwa lat. 1132 nur noch die folgenden Alleluia an den Sonntagen nach Ostern: Surrexit Christus qui creavit mit Post dies octo; Surrexit dominus vere und Ego sum pastor bonus; Dicite in gentibus mit Modicum; In die resurrectionis und Vado; Christus resurgens mit Usquemodo. Aber die St. Martialer Sequ'enzenfaszikel fiihren auch Sequenzen mit dominikalen Alleluia als Quelle in der Osterzeit, etwa der lat. 1240 bringt die Prose Fortis atque amara (iiber die Sequenz Deus iudex iustus) innerhalb der Osterprosen. W. von den Steinen meint a. a. O., Jg. XLI, S. 141/142, das Stick passe eher als Requiem und schreibt: ,,Konnte das Lied vom ]iingsten Tage im Kult nicht recht unterkommen . . ." Die L6sung der Schwierigkeit ist wie in St. Gallen dieselbe: auch in St. Martial standen vorher Dominikalalleluia in der Osterzeit und an diese kniipfen die ailteren Sequenzen und Prosen eben noch an. Wie sich diese Miltere Zeit damit abfand, daB z. B. am Ostermontag das All. Deus iudex iustus erschien, ist eine andere Frage, die die Liturgiker und Dogmatiker zu kliiren haben.

Am aufschluBreichsten fiir die Zusammensetzung dieser 0isterlichen Dominikal- alleluia-Faszikel sind naturgemi-3 die Reihen derjenigen Kathedralen und Kldster, die noch keine neutestamentlichen oder frei gedichteten Alleluia enthalten. Fiir deutschsprachiges Gebiet hat an den Tagen der Osterwoche nur die Handschrift Rheinau 71 der Zentralbibl. ZUirich eine reine Dominikalreihe (fiir Montag bis Frei- tag, da der Samstag in fast allen Kirchen schon auf die All. Hec dies und Laudate pueri 2 v. Sit nomen domini festgelegt ist): Dominus regnavit decorem, Redemptio-

nero, Dominus regnavit exultet, Lauda Iherusalem und Confitemini domino et in-

vocate. In Frankreich finden sich zwei solche Reihen: der lat. 12050 (Hesberts Cor- biensis) aus Corbie und Bibl. Ste. Genevieve 111 (Hesberts Silvanectensis) aus Senlis bringen die Alleluia Dominus regnavit decorem, Redemptionem, Jubilate, Lauda Iherusalem und Quoniam deus magnus, waihrend der lat. 17436 (Hesberts Compen- diensis) aus Soissons die Reihe Dominus regnavit decorem, Redemptionem, Dominus regnavit exultet, Quoniam deus magnus und Lauda Iherusalem bietet. In Italien hat das ,,Altri-mische" eine solche Reihe aufbewahrt: Dominus regnavit decorem, Venite exultemus, Adorabo, Qui confidunt und In te domine speravi.

Versucht man von hier aus auf St. Gallen zu schlieBen, so ist bemerkenswert, daB alle diese Reihen am Ostermontag das All. Dominus regnavit decorem verwenden. Mit einer gro3en Wahrscheinlichkeit darf man daher annehmen, da8 es auch in St. Gallen an dieser Stelle stand. Das wiirde dann erkliren, warum Notkers Prose Is qui prius die Sequenz Dominus regnavit decorem zugrunde legt, - sie hiitte eben am Ostermontag als Verlingerung, ,Fortsetzung" = ,sequentia", des All. Dominus regnavit decorem bzw. seines Jubilus gestanden.

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Am Dienstag der Osterwoche haben alle Reihen mit Ausnahme der an allen vier

Tagen, Dienstag bis Freitag, abweichenden r6mischen Reihe das All. Redemptionem. Aber auch in Italien hat sich dieses Alleluia in anderen, noch teilweise dominikalen Reihen gerade an diesem Tage erhalten, so in der Handschriftengruppe Modena, Kapitelbibl. I, 7, Modena, Kapitelbibl. I, 13 und Rom, Bibl. Angelica 123 (waihrend die vierte Handschrift dieser Gruppe, Miinchen clm 3005, das sogenannte Missale von Andechs, nur das auch in den anderen Handschriften - Angelica 123 ist hier defekt - stehende All. Oportebat fiihrt), ebenso in der Handschrift Piacenza, Kapitel- bibl. 65. Als Konkurrent dieses Alleluia tritt am Olsterdienstag nur noch - auBer dem altrdmischen Venite exultemus - das All. In te domine speravi in Lyon und Monza auf. Man kann daher mit einer gewissen Sicherheit annehmen, daB auch in der Tilteren St. Galler Liturgie des Osterdienstags das All. Redemptionem benutzt wurde. DaB die Sequenz Obtulerunt vom Osterdienstag in Notkers Prosenbuch diesen neutestamentlichen Titel fiihrt, der sich auf das in der St. Gallener Liturgie des Mit- telalters an diesem Tag stehende neutestamentliche All. Obtulerunt bezieht, ist leicht zu erkltren. Das All. Obtulerunt benutzt naimlich dieselbe Melodie wie das All.

Redemptionem. Man hat hier, wie bei vielen neutestamentlichen Alleluia, beim Er-

satz des ihlteren Alleluia durch das jiingere die diltere Melodie beibehalten und nur einen neuen Text adaptiert. Die St. Galler Osterdienstagssequenz hitte dann urspriing- lich den Titel Redemptionem, dem Alleluia, an das sie ankni*pfte, entsprechend,

gefiihrt und diesen dann bei Unterlegung des neuen Textes sinngemai3 getindert. Vielleicht hiitte sie auch zuerst, dem oben zitierten Beispiel der Handschrift Oxford Selden supra 27 entsprechend, einen Doppeltitel - Redemptionem vel Obtulerunt -

gefiihrt. Tatsiichlich hat auch Oxford Selden supra 27 hier ebenfalls einen Doppel- titel: Obtulerunt vel Redemptionem und Bamberg, Staatsbibl. lit. 5 hat das - nach

diesen Erdrterungen - urspriingliche Redemptionem bewahrt.

Die Melodie des All. Redemptionem wurde ebenso auch fiir das neutestamentliche All. Surrexit dominus vere . . . at illi benutzt, das in St. Gallen am Mittwoch der Osterwoche steht. Neben vielen weiteren Kontrafakturen - bemerkenswert, daB sich darunter, allerdings nur in der siidfranz6sischen Fassung, etwa der des Graduale von Yrieix, auch ein dominikales Alleluia befindet, das All. In exitu 2. V. Facta - liegt es vor allem den Spezialalleluia des Weihnachtskreises, Dies sanctificatus fiir die groBe Weihnachtsmesse, Video fiir Stephanus, Hic est discipulus fiir Johannes evangelista und Vidimus fiir Epiphanias zugrunde. Der Psalm- text Redemptionem misit dominus in populo suo bezieht sich, neutestamentlich gesehen, ja auch am besten auf Christi Geburt, so daB es wohl das urspriingliche Weihnachtsalleluia gewesen sein kbnnte.

Der 1. Sonntag nach Ostern rechnet als Oktav noch zum Fest selbst und wieder-

holt traditionsgemi3 dessen Musikstiicke, in diesem Fall insbesondere das neutesta- mentliche All. Paschla nostrum. Die Dominikalalleluia der Ostersonntage setzen dem-

entsprechend in den iilteren Liturgien immer erst am 2. Sonntag nach Ostern ein, - und zihlen auch meist erst von der Oktav ab, bezeichnen ihn also als 1. Sonntag nach der Osteroktav. Liturgien, die fiir beide Alleluia (das erste steht ja an Stelle des Graduale) aller Sonntage nach der Osteroktav die Dominikalalleluia bewahrt haben,

gibt es in St. Martin von Tours (dieselbe Reihe auch in Senlis), in Lyon und im Alt-

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romischen. Die Reihe von St. Martin und Senlis bringt auch an der Osteroktav vor dem All. Pascha nostrum als zweitem Alleluia ein dominikales Alleluia, das All. Exul- tate, und das Altr6mische hat hier die vom Samstag wiederholten All. Hec dies und All. Laudate pueri 2. V. Sit nomen, letzteres aus der Dominikalreihe.

Die Alleluia der Sonntage 2 bis 5 nach Ostern lauten dann in St. Martin von Tours und in Senlis: Qui posuit, Quoniam deus magnus; Jubilate, Te decet 2. V. Replebi- mur; Dominus regnavit exultet, Venite exultemus 2. V. Preoccupemus; Laudate dominum omnes gentes, Confitemini domino et invocate. Die Texte stammen aus den Psalmen 147, 94, 99, 64, 96, 94, 116, 104 (Exultemus der Osteroktav aus Ps. 80). Die Ordnung ist also nicht numerisch. Die Reihe von Lyon umfa3t die Alleluia Dominus regnavit exultet, Jubilate; Laudate deum omnes angeli, In te domine spe- ravi; Qui posuit, Qui timent; Lauda Iherusalem, Letatus 2. V. Stantes. Die Texte der Alleluiaverse dieser Reihe kommen aus den Psalmen 96, 99, 148, 70, 147, 113 II, 147 und 121. Auch diese Reihe ist also nicht numerisch angeordnet. Die altrdmische Reihe bringt die Alleluia Quoniam conpfrmata, Quoniam deus magnus; Preoccupe- mus, Te decet (Bibl. Riccardiana 299) oder In te domine speravi (Bibl. Vallicelliana B s und Bibl. Vaticana lat 5319); Paratum cor, confitebor tibi; Lauda Iherusalem oder Te decet (Handschriften wie eben, in 5319 an erster Stelle nichts), Jubilate. Von der Oktav angefangen, sind die Texte den Psalmen 117, 112, 116, 94, 94, 64 bzw. 30 (oder 70 gleichlautend), 107, 137, 147 bzw. 64 und 99 entnommen. Die altr6mische Reihe der Alleluia der Sonntage nach Ostern ist also ebenfalls nicht numerisch geordnet. Das entspricht derTatsache, dal auch die Alleluia nach Pfingsten in diesen Liturgien nicht in numerischer Anordnung aufeinanderfolgen, wie es etwa im Neur6mischen der Fall ist (die Reihe von Senlis fehlt im Kodex, doch diirfte sie wohl ebenso mit der von Tours iibereingestimmt haben). Der Alleluiafaszikel, aus dem in diesen Liturgien sowohl fiir Ostern wie fiir die Sonntage des Jahres ausgelesen wurde, war in den Urhandschriften also noch nicht der Reihenfolge der Psalmen ent- sprechend rangiert.

Die Umordnung der Alleluia nach Pfingsten nach dem numerischen Prinzip ist in fast allen Liturgien spaiter durchgefiihrt worden. Man darf wohl annehmen, daB in allen Liturgien die Alleluia urspriinglich nicht numerisch geordnet waren. In den diltesten St. Galler Handschriften sind die Alleluia nach Pfingsten bereits in nume- rische Reihenfolge gebracht, und damit zeigt sich in einem zweiten Punkt, dab sich die Liturgie St. Gallens, wie sie uns in den mittelalterlichen Handschriften vorliegt, bereits in einem jiingeren Stadium befindet.

Betrachten wir nun aber die Sequenzen der Sonntage nach der Osteroktav in Not- kers Hymnenbuch, so stammen die Texte der korrespondierenden Alleluiaverse aus folgenden Alleluia (den Sonntag nach Himmelfahrt hinzugenommen):

Deus iudex iustus Ps. 7, 12 In te domine speravi Ps. 30, 2 oder 70, 1 Qui timent Ps. 113 II, 11

vel O:ines gentes Ps. 46, 2 Exultate Ps. 80, 2 Confitemini domino et invocate Ps. 104, 1

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Nehmen wir hierin fuir das gleichlautend in Ps. 30 und Ps. 70 vorkommende All. In te domine speravi Ps. 30 an, wie es auch in den Alleluiareihen nach Pfingsten in den St. Galler Handschriften der Fall ist, wo dieser Vers zwischen Diligam te aus Ps. 17 und Omnes gentes aus Ps. 46 eingeordnet ist, und betrachten in dem Doppel- titel Qui timent vel Omnes gentes das letztere als das Urspriingliche oder fuir die

Einweihung an dieser Stelle Ma8gebende (da die Sequenz urspriinglich wohl im Dominikalfaszikel stand), so erhalten wir die numerisch geordnete Folge Psalm 7, 30, 46, 80, 104.

Ob die Sequenz, die der Prose En regnator zugrunde liegt, urspriinglich zu Omnes gentes oder zu Qui timent gehart, die - s. oben - im Alleluiaanfang gleich, im Jubilus verschieden sind, spielt hier keine Rolle, da, wie die Doppelbezeichnung selbst schon zeigt, hier nur auf die Alleluiaphrase geachtet wurde. Zudem steht diese Sequenz sicher urspriinglich dominikal, und ein Ostertext ist daher als Kontrafaktur zu betrachten, so daB nicht einmal die - zu beiden Titelalleluia vorhandenen (s. oben) - Textbeziehungen zu erwarten gewesen wiren. Tatsichlich geh6rt die Melodie der Sequenz sowohl zum All. Qui timent sowie zum All. Omnes gentes. Denn, wenn man die Melodie der Sequenz (publiziert bei A. Schubiger, Die Sainger- schule St. Gallens, S. 19 des Beispielanhangs) mit dem Alleluiajubilus der beiden Alleluia vergleicht, so stellt man fest, daB die ersten fiinf Noten von -ia (der ,,Auslauf" der ,Alleluia- phrase") des All. Qui timent iiber terrenorum stehen, und der folgende Jubilus den SchluB der Sequenz von den Worten -nis plaudat iubilet der Prose abbildet. Aber andererseits lehnen sich die mittleren bis b und c hochgehenden Partien der Sequenz an Anfang und Mitte des Jubilus des All. Omnes gentes an. So vereinigt sie in der Tat beide Alleluiajubilen in sich.

Wenn also die Folge der Ostersequenzen in St. Gallen numerisch geordnet ist, und wenn andererseits die Ostersequenzen an gleichlautende Alleluia ankniipfen, miiBte auch die Folge der Alleluia der Sonntage nach der Osteroktav in St. Gallen, die eben

rekonstruierte, numerisch verlaufende Alleluiareihe gewesen sein. Die bisher an-

gegebenen rein dominikalen Alleluiareihen der Sonntage nach Ostern sind aber

simtlich ungeordnet. Es scheint geradezu so, als ob die Einfiihrung der neutestament- lichen Alleluia und die numerisch richtige Umordnung der Dominikalalleluia Hand in Hand gegangen whiren. Demgegeniiber wiirde St. Gallen also abweichend eine Alleluiareihe besessen haben, in der noch die alten Dominikalalleluia in der Oster- zeit standen, diese aber bereits numerisch geordnet waren. Diese Reihe liBt sich,

wenigstens annahemd, rekonstruieren. Da der Sonntag nach Himmelfahrt auch an anderen Orten (s. oben) das All. Confitemini domini et invocate besitzt, dies also ohnehin bevorzugt an diesem Platz steht, andererseits aber in allen Dominikalreihen ihm mehr als acht Alleluia vorausgehen, gibt es sehr verschiedene M6glichkeiten der

Rekonstruktion. Die St. Gallener Reihe des Kodex 339 sei daher ganz auf die fiinf

Sonntage verteilt - auch der Sonntag nach Himmelfahrt hat ja noch zwei Alleluia -, ohne daB eine naihere Auswahl getroffen werden soll, die doch zufallig bleiben

miiBte. dom. I dom. II dom. III dom IV dom. p. ase Verba mea Diligam Osmnes gentes Attendite Venite exultemus Domine deus In te domine Eripe Exultate Quoniam deus [ meus in te Te decet Domine deus Confitemini domino

Deus iudex [salutis [et invocate Domine ref.

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H. Husmann: Die Handschrift Rheinau 71 der Zentralbibliothek Ziirich ... 133

Die Ordnung der Alleluia hingt in einigen Punkten von der verwendeten Handschrift ab. Der hier gewihlte (dem Leser in der Faksimileausgabe von Solesmes kontrollierbare) Kodex 339 geht eng zusammen mit Kodex 338, der nur am SchluB die All. Lauda Iherusalem (Ps. 147, 12) und Qui posuit (Ps. 147, 14) vertauscht, - eine Eigentiimlichkeit, die schon Kodex 359 zeigt -, und mit den beiden sehr nah verwandten Handschriften 374 und 376, die beide das All. Lauda Iherusalem auslassen. Die Reihe des 339 findet sich ebenso in der etwas spai- teren Handschrift 295 der Stadtbibl. (Vadiana) St. Gallen (aus Rotmonten bei St. Gallen), wihrend der Kodex Pfivers XIII des Stiftsarchivs St. Gallen, der in Pfivers, einer Filiale St. Gallens, benutzt wurde, ab-er wohl aus St. Gallen stammt, das All. Lauda Iherusalem wie 374 und 376 fortli6t, aber das vorn einzugliedernde, wohl zur wahlweisen Benutzung bestimmte All. Domine in virtute tua (Ps. 20) anfiigt. Alle diese Handschriften stammen aus dem 11. Jhdt. (Vadiana 295 etwas spiter als die anderen) und bringen Reihen, die zwar noch nach der 5ilteren Art in einem eigenen Dominikalfaszikel am Ende des Gradualteils stehen, aber doch schon so ausgesucht sind, daB auf jeden Sonntag nach Trinitatis nur ein Alleluia fillt (mit Ausnahme der zwei Melodien des All. Laudate dominum omnes gentes). Tatsaichlich zeigen die die Alleluia im Gradualteil auf die einzelnen Sonntage verteilenden Handschriften 375 aus dem 12. Jhdt., 361 aus dem 13. Jhdt. und 379, vielleicht schon aus dem 14. Jhdt., genau dieselbe Alleluiareihe wie die klassischen Handschriften des 11. Jhdts. (einige Beson- derheiten: Kodex 375 vertauscht wieder die Alleluia Lauda Jherusalem und Qui posuit, wiih- rend 361 nicht nur diese Vertauschung zeigt, sondern auch noch das vorangehende All. Qui sanat aus Ps. 146, 3 wegriickt, und zwar hinter die beiden vertauschten Stiicke setzt; Kodex 361 schickt (am 17. Sonntag) dem All. Qui timent (Ps. 113 II, 11) das All. In exitu 2. V. Facta est (Ps. 113, 1, 2) voraus. Aus dem 12. Jhdt. bringt Kodex 343 noch einen Alleluia- faszikel, der sich aber erst aus der Fassung des Kodex 361 verstehen lii3t, da er dieselbe Ver- tauschung des All. Qui sanat wie jener zeigt; das All. Lauda Iherusalem fehlt in den Kodizes 374 und 376.

Die spiteren Handschriften des Klosters, 1758 aus dem 15. Jhdt. und 1767 filr Abt Franz von Gaisberg (1504-1529) von Niklaus Bertschi (ab 1509 fiir St. Gallen taitig) geschrieben, kniipfen nicht mehr an die klassische Tradition St. Gallens an. Die Reihe der Alleluia nach Trinitatis des Kodex 1758 ist mit der des Baseler Missale von 1480 identisch, ebenso die Alleluia der Pfingstwoche und Montag bis Donnerstag der Osterwoche, wihrend Freitag nach Ostern und der 2. Sonntag nach Ostern (die weiteren Sonntage und Himmelfahrt gingen verloren) abweichen. Die Vorlage dies-er Handschrift stammt daher sicher aus der Diazese Basel -, die Alleluia des Osterkreises variieren auch sonst innerhalb einer Di6zese -, wenn auch nicht unbedingt aus Basel selbst, gewi8 aber nicht aus St. Johann im Thurtal, wo F. Labhardt, Das Sequentiar Cod. 546 der Stiftsbibliothek von St. Gallen und seine Quellen I, S. 178, Anm. 2, den Ursprung der Handschrift sucht. Auf Beziehungen St. Gallens zu Basel verweist F. Labhardt a. a. O., S. 259 und 266, selbst. Die Handschrift ist sehr wichtig fiir die Geschichte der Einfiihrung des Missale Romanum, da sie innerhalb des Ordinariums und des Prosars eine ganze Anzahl von Alleluia einschiebt, deren Texte aus dem Missale Romanum stammen und die im Hauptteil des Graduale nicht benutzt werden. Doch sind die Melodien (bis auf wenige Ausnahmen) nicht mit den neur6mischen Melodien identisch, so daB man den Eindruck hat, daB dem Bearbeiter nur ein Missale Romanum zur Verfiigung stand, dessen Texte er selbst mit Melodien versah -, es handelt sich ausschlieBlich um Adaptionen verbrei- teter Melodien, All. Dies sanctificatus, All. Ostende nobis, All. Justus ut palma usw. Fiir Kodex 1767 kann ich keine Vorlage finden, lediglich die Alleluia nach Trinitatis sind mit der Reihe von Wiirzburg identisch, freilich mit einem entscheidenden Fehler: das All. Laudate dominum oMnes gentes aus Ps. 116 steht am 16. Sonntag zwischen den All. Confitemini (15. Sonntag, Ps. 104) und Paratum (17. Sonntag, Ps. 107), wihrend es auf den 19. Sonntag gehart (vor All. Dextera dei am 20. Sonntag aus Ps. 117, 16). DaB die Alleluia der Oster- woche sich ebenfalls woanders wiederfinden, mag Zufall sein, denn Beziehungen zu Kodex 360 der Stadtbibl. Trier aus Dalheim!Luxemburg und Briissel, K6nigl. Bibl., II 3822 aus St. Hubert/Siudbelgien, die dieselbe Reihe verwenden, sind wohl kaum anzunehmen, infall man

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134 H. Husmann: Die Handschrift Rheinau 71 der Zentralbibliothek Zirich ...

nicht fiir m6glich hdilt, daB die im 11. Jhdt. sehr engen Beziehungen St. Gallens zu Stablo auch im 15. Jhdt. noch lebendig waren (vielleicht durch den gemeinsamen Remacluskult).

Will man anstelle der klasisischen Handschriften 339 usw. iltere Handschriften der obigen Rekonstruktion zugrunde legen, so stehen drei Handschriften zur Verfiigung, 359, 342 und 340, nach paldiographischen Gesichtspunkten wie nach der Zusammensetzung ihrer Domini- kalfaszikel in dieser Reihenfolge aufzufiihren. Alle drei Handschriften haben im Dominikal- faszikel nicht nur die Nachtrinitatisalleluia der klassischen Handschriften des 11. Jhdts., son- dern nach dilterem Brauch auch noch Sonntagsalleluia, die spaiter nur noch in anderen Zeiten des Kirchenjahres benutzt wurden -, deshalb sind die Zweifel an der Echtheit des Kodex 342, die die M6nche von Solesmes Les sources, S. 131, iuBern, weil die Handschrift eine von den klassischen Kodizes abweichende Alleluiareihe hat, unbegriindet, sie wiiren dann auch auf Kodex 359 und 340 aus demselben Grund auszudehnen gewesen. Ahnliche Niltere Faszikel besitzen wir auch aus vielen anderen Kl6stern und Kathedralen, St. Emmeram usw. (man vgl. meinen zitierten ersten Kopenhagener Aufsatz). Im Kodex 359 stehen an solchen weiteren Dominikalalleluia noch Dominus regnavit decorem (nur Anfang zitiert), Dominus regnavit exultet, Jubilate, Redemptionem, Letatus/Stantes und Adorabo (nur zitiert). Aber anderer- seits fehlen im 359 die Alleluia Verba mea, Domine deus meus, beide in den klassischen Handschriften am Anfang der Reihe, Dilexi quoniam, die 2. Melodie des All. Laudate dominum

omnes gentes, weiter das in 342 und 34o stehende dominikale All. Confiteantur (Ps. 106, 8), endlich sind die Alleluia Lauda Iherusalem und Qui posuit vertauscht. Von spiteren Hinden sind daher die Alleluia Cantate 2. V. Notum, Dilexi quoniam, Domine deus meus und Verba mea nachgetragen worden. Der urspriingliche mitteleuropiische Alleluiafaszikel diirfte auch diese Alleluia enthalten haben (s. meinen 1. Kopenhagener Aufsatz), und Kodex 359 haitte demnach bereits eine Auswahl getroffen. Aber es ist trotzdem auffallend, daB gerade Alleluia fehlen, die in allen tibrigen Handschriften gerade nach der Pfingstoktav stehen, und daB ins- besondere die beiden ersten an der Spitze des Faszikels fehlen. Dabei ist es bemerkenswert, daB die Reihe nunmehr gerade mit dem All. Deus iudex iustus beginnt, wie es viele andere Reihen tun, - etwa der Alleluiafaszikel und die am 5. Sonntag nach der Pfingstoktav begin- nende Reihe von Rheinau 71. Ist die Reihe also aus einem gr6Beren Faszikel ausgewaihlt, so geschah die Auswahl doch wohl im Hinblick auf solche mit dem All. Deus iudex beginnende Reihen.

Auch der Alleluiafaszikel des Kodex 342 besitzt UnregelmiB3igkeiten, die zeigen, daB eine Konsolidierung des Bestandes damals noch nicht eingetreten war: er fiigt das All. Domine deus meus in te speravi (Ps. 7, 2) vor das dihnliche All. In te domine speravi (Ps. 30), das All. Dilexi quoniam (Ps. 114) steht - wie im Kodex 340 - filschlich vor statt nach dem All. Qui timent (Ps. 113 11, 11), das All. Eripe (Ps. 58) steht vor dem All. De profundis (Ps. 129) und die Alleluia Confitebor (Ps. 137, 1) und Adorabo (Ps. 137, 2) sind vertauscht. Dagegen sind die Alleluia Verba mea (Ps. 5) und Confiteantur (Ps. 106, 8) richtig plaziert, ersteres an der Spitze der Reihe. Aber urspriinglich war auch hier das All. Deus iudex iustus als erstes Alleluia gedacht, wie dessen doppeltgroBe Initiale zeigt, und das All. Verba mea wurde anscheinend von etwas verschiedener Hand davorgeschoben, - der freie Platz hatte fuir die

Iiingere Oiberschrift mit dem iiblichen per circulum anni usf. bestimnmt sein k6nnen, wihrend der Rubrikator nunmehr nur All. dominicales hinter den SchluB der Communio des voran- gehenden letzten Sonntags schrieb. Dieselbe Hand notierte auch das All. Dilexi quoniam, wobei sie einiges am Anfang der Zeile und ebenso einige Worte am SchluB der Zeile, vielleicht ein Alleluiazitat ausradierte, und wenn, dann wohl eben das des All. Dilexi quoniam, um Platz zu schaffen, und ebenso das All. Eripe, auf einer sehr umfangreichen Rasur, - der numerischen Reihenfolge entsprechend hitte hier das All. Qui confidunt aus Ps. 124 stehen kinnen; doch da es in St. Gallen sonst nidcht vorkommt, stand hier vielleicht ein anderes falsch rangiertes Alleluia. Eine sehr ihnliche Hand schrieb dann auch weiter die folgenden Gruppen der Heiligen- und Osteralleluia u. ii. Jedenfalls ist die Handschrift 342 nodch sehr alt, und der Grundstock entspricht hier, wie man sieht, dem Kodex 359, nur etwas vollstindiger (Verweis All. Dilexi quoniam und ein unbekanntes Alleluia, vielleicht Qui confidunt). Auch die An-

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H. Husmann: Die Handschrift Rheinau 71 der Zentralbibliothek Ziirich ... 135

derungen der 2. Hand sind kaum spiter als die 1. Hand. Nach all'em reprisentiert der Kodex 342 noch den Stand des 10. Jhdts. So hat ihn Gustav Scherrer, a. a. O., S. 120 eingeordnet. A. Bruckner, a. a. O., III, S. 98, dagegen halt das Sakramentar zwar fiir 10. Jhdt., setzt das Graduale dagegen ins 11. Jhdt. (daB die beiden Faksimiles aus dem Sakramentar auf Tafel XLIV und XLVI aber ,S. XI" notieren, ist wohl nur ein Versehen). Aber auch das Graduale ist nicht gleichmABig in seinem Charakter, sondern, wenn es auch von

einter einzigen Hand geschrieben sein mag, wie A. Bruckner hervorhebt, so indert diese etwas ihre Schreibgewohn- heiten, und wAhrend sie zuerst wenig ligiert, benutzt sie spiter immer mehr spezifisch diltere Buchstabenformen (offenes a im gratia p. 142, p. 233 im GI[ori]a, p. 235 in mea, p. 241 in saecula u. 65), Kiirzungen (tiefes 3 oft fiir us, etwa p. 241, und que in atque p. 240) und Ligierungen (i an m heruntergezogen z. B. p. 257 in domine, i an n z. B. p. 252 in venite, i an h und m in Estomihi p. 246, offenes a an m in clamavi p. 247, i an m in domine p. 257 von der 2. Hand), so daB sich der Duktus der Schrift des Graduals dem des Sakramentars immer mehr annihert. So kann man beide Teile nicht auseinanderreiten und setzt am besten die ganze Handschrift in die 2. HAlfte des 1.0. Jhdts. Das Kalendar der Handschrift hat E. Mun- ding. Die Kalendarien von St. Gallen IIII in: Texte und Arbeiten, hrsg. durch die Erzabtei Beuron, 36/37, 1948/1951, auf 1031-1034 datiert. Es legt a. a. O., I, S. 27, zugrunde, daB der Todestag des Erzbischofs Aribo von Mainz, 6. 4. 1031, von der 1. Hand geschrieben ist. Aber der Eintrag unterscheidet sich deutlich von der 1. Hand durch eine feinere Feder und durch dunklere Tinte. Der Eintrag ist also spiter als das Kalendar, und die Handschrift liegt gerade vor 1031, nicht nach 1031, - denn da die Notiz noch i an h in archiep[iscopu]s bindet, ist sie sehr alt und gewiB wenig spaiter als das Ereignis selbst geschehen. Dagegen ist Wiborada tat- sichlich von der 1. Hand eingetragen, - sie starb 926, wurde zwar erst 1047 kanonisiert, aber schon bald nach ihrem Tod als heilig verehrt, so daB die Handschrift sicher spiter als 926 anzusetzen ist.

Die Handschrift 340 stellt den Ubergang von den alten Kodizes 359 und 342 zu den klas- sischen Handschriften des 11. Jhdts. her. Paliographisch geh6rt sie durchaus ins 11. Jhdt. wie A. Bruckner, a. a. O., S. 97, und E. Munding, a. a. O., I, S. 28, ausfiihren, nicht mehr ins 10. Jhdt., wie G. Scherrer, a. a. O., S. 119, ansetzte. Jedoch hat sie im Alleluiafaszikel noch nicht die reduzierte Reihe der klassischen Kodizes, sondern bewahrt noch die dominikalen Alleluia Confiteantur und Redemptionem, die St. Gallen am Dienstag und Donnerstag nach Pfingsten gebraucht. Uberblickt man die Alleluiareihen dieser drei iiltesten St. Galler Hand- schriften, so ist entscheidend, daB der sehr alte Kodex 342 schon die komplette spitere Reihe enthAlt, wobei interessant ist, wie die numerische Einordnung noch nicht in allem einwandfrei vorgenommen wurde, was der Handschrift ein besonders urtiimliches Geprfige gibt. So ist sie in ihrem Repertoire vielleicht noch alter als die Handschrift 359 anzusehen und dem Urfaszikel als am nichsten stehend. Deswegen habe ich die komplette St. Galler Reihe dieses Kodex und der klassischen Handschriften der obigen Rekonstruktion zugrunde gelegt.

Eine solche Alleluiaverteilung mit drei oder mehr Alleluia an einem Sonntag ist nichts Ungew6hnliches: viele iiltere Handschriften haben an den Sonntagen nach Ostern mehr als zwei Alleluia, sehr haufig drei, oft vier, siidfranzoisische Handschrif- ten noch mehr, bis zu neun, wie sie etwa der lat. 776 der Pariser Nationalbibl. am

Sonntag nach Ostern auffiihrt (Angelus domini, Stetit Ihesus, Post dies octo I, Post dies octo II, Surgens Ihesus dominus noster, Gavisi sunt discipuli, Surrexit dominus et occurrens, Ite nuntiate und Nonne cor). Hierin sind oft noch dominikale Alleluia zwischen, meist nach den neutestamentlichen Alleluia erhalten geblieben. Dabei geben Rubriken after an, daB die Alleluia des Sonntags auch fur die Tage der dem Sonntag folgenden Woche bestimmt sind. Erst spiter ist dann die Festlegung auf nur zwei Alleluia eingetreten, die dann am Sonntag beide, in der Woche abwechselnd gesungen werden, - vgl. das obige Beispiel von St. Martial in Limoges.

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136 H. Husmrann: Die Handschrift Rheinau 71 der Zentralbibliothek Ziarich ...

Hat sich eine solche numerische Dominikalreihe ffir die Osterzeit also auch nicht in den Handschriften offen erhalten, so gibt es aber doch tatsichlich eine Handschrift, in der eine solche Reihe stand, in der sie aber bis auf einige Reste, das 2. Alleluia des vorletzten Sonntages und die Alleluia des letzten Sonntages nach Ostern, die der Radierende irrtiimlich iibersah, ausradiert wurde, die Handschrift Rheinau 71 der Zentralbibl. Zilrich. Diese Handschrift aus dem 11. Jhdt. (Beschreibung Katalog Mohlberg Nr. 438, S. 189/190) besteht nach Art der verwandten Handschriften aus St. Gallen, Einsiedeln u. a. aus Kalendar, Graduale, Prosar (zweispaltig wie etwa Ein- siedeln 113 und 114, die Neumen wurden nicht eingetragen, am inneren Rand auch nicht genug Platz dafiir frei gelassen), Sakramentar und den Resten eines Lektionars, dem im 15. Jhdt. ein neues Lektionar angefiigt wurde (vermutlich wurde bei dieser Gelegenheit ein altes bis auf die zitierten Reste dezimiert). Auch der Anfang des Sakramentars ist vernichtet und durch einen neuen Teil mit Noten (spitgotische Huf- nagelnotation auf 4 Linien) ersetzt. Im Graduale wurden ganze Seiten radiert und neu beschrieben, wodurch die ganze Himmelfahrtszeit, Pfingstwoche und mehrere Teile des zwischen die Propriumgesinge eingeschalteten Sanktorale verlorengingen. An

zahlreichen Stellen sind kleinere Anderungen durchgefiihrt worden. Wthrend die neuen Prifationen und das zweite Lektionar im 15. Jhdt. eingegliedert wurden, stammen die anderen Anderungen unverstaindlicherweise noch von einer Hand des 16. Jhdts. An den Sonntagen nach Ostern lie3 diese Hand nur das 2. Alleluia der Osteroktav stehen, das offenbar auch in der Liturgie des Bearbeiters noch giiltig blieb, und trug dann auf den Rasuren des 1. Sonntags nach der Osteroktav die Texte der Alleluia In resurrectione tua (nur den Anfang) und Surrexit pastor bonus ein, am

nichsten Sonntag die Alleluia Benedictus es dei filius und Christus resurgens und anstelle des 1. Alleluia des 3. Sonntags nach Ostern, das die Seite (fol. 52r.) be-

schlie3t, die Alleluia Surrexit dominus vere und Surgens Ihesus dominus noster. Vergleicht man hiermit die spaiteren Rheinauer und verwandten Handschriften (s. weiter unten), so kann man feststellen, daB der Korrektor sich beim 2. Sonntag nach der Osteroktav irrte: das All Benedictus es dei fPlius ist das 1. Alleluia des 2. Sonntags, das All. Christus resurgens dagegen das 2. Alleluia des 3. Sonntags, - er sprang hier also vom 2. Sonntag in den dritten. Entsprechend sind die Alleluia Surrexit dominus vere und Surgens Ihesus bereits die Alleluia des 4. Sonntags nach der Osteroktav und nicht die des dritten. Diesem Irrtum haben wir es zu verdanken, daB der Korrektor die Seite nicht mehr umwendete und so das 2. Alleluia des 3. Sonntags und die beiden Alleluia des 4. Sonntags auf der nichsten Seite (fol. 52v.) stehen blieben. Auf diese Weise sind erhalten geblieben das All. Attendite als 2. Alleluia des 3. Sonntags und die Alleluia Exultate und Domine deus salutis des 4. Sonntags nach der Osteroktav, - stets nur Textzitat und roter Verweis auf den Faszikel der Dominikalalleluia. Hat man erkannt, da8 diese Alleluia numerisch geordnet sind - es handelt sich um Texte aus Psalm 77, 80 und 87 -, und bemerkt, daB dies im numerisch geordneten Domini- kalfaszikel gerade das 6., 7. und s. Alleluia sind, so ist es nicht weit zur Vermutung, daB die davor ausradierten flinf Alleluia die ersten filnf Alleluia des Dominikal- faszikels sind. Dann aber kann man an den wenigen bei der Rasur stehengebliebenen

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H. Husmann: Die Handschrift Rheinau 71 der Zentralbibliothek Zirich . . 137

Resten einzelne Buchstaben erkennen, die diese Vermutung bestitigen, i, Schlaufe des g, Ende von m von Diligam und das e von te, den Strich des d von In te domine, Stiicke von O und m von Omnes gentes und die meisten Buchstaben von Te decet ymnus V. Replebimur. Die urspriinglichen acht Alleluia der vier Sonntage nach der Osteroktav sind dann im Kodex Rheinau 71 nach dieser Rekonstruktion die folgen- den:

dom. I dom. II dom. III dom. IV Deus iudex In te domine Te decet Exultate Diligam te Omnes gentes Atten'dite Domine deus

[salutis

Diese Reihe aus den Psalmen 7, 12, 17, 30, 46, 64, 77, 80 und 87 ist numerisch geordnet und sie bietet genau das, was wir suchen: eine Alleluiareihe der Sonntage nach Ostern, die einerseits noch die ailteren dominikalen Alleluia enthalt, diese andererseits aber bereits nach der spaiteren Art numerisch ordnet. Die Reihe stimmt aber nicht mit der oben aus den St. Galler Sequenzen rekonstruierten vermutlichen St. Galler Alleluiareihe iiberein. Sie lii3t sich aus ihr auch nicht ableiten, da - eine prinzipielle Schwierigkeit - die Alleluia In te domine speravi und Omnes gentes in der Handschrift Rheinau 71 beide am 2. Sonntag nach der Osteroktav stehen, waih- rend in Notkers Hymnenbuch die Prose zur Sequenz In te domine speravi dem 2. Sonn- tag, die zu Omnes gentes dem 3. Sonntag zugeteilt ist.

Das radierte 1. Alleluia der Osteroktav zu kennen, wire au3erordentlich interes- sant. Leider ist von ihm nichts mehr zu entraitseln. Lediglich vom Verweis auf die Blattzahl, wo es zu suchen ist, blieb neben Resten die Schlaufe des L iibrig, so daB sicher ist, daB hier ein Dominikalalleluia stand, da der Dominikalfaszikel auf fol. LXXVIIII bis LXXXI eingetragen ist.

Obwohl das Alleluia nach Himmelfahrt verloren gegangen ist (s. oben), 1iBt es sich aus der Ordnung der iibrigen Alleluia erschlieBen. Die Handschrift Rheinau 71 hat niimlich nicht nur den iiblichen Alleluiafaszikel, sondern zitiert auch innerhalb der ,,Sonntage nach der Pfingstoktav" im Gradualteil jeweils das Alleluia, - offenbar sind sie der Rasur entgangen, weil der Korrektor nicht genau genug hinsah und, da er Dominikalalleluia vor sich sah, annahm, daB es sich schon um die richtige Reihe han- delte. Ich gebe die zitierten Alleluia in einer Tabelle an, wobei ich zugleich den Psalm mitteile, aus dem der Alleluiavers stammt.

dom. I. Dominus regnavit decorem 92 dom. XIII. Domine refugium 89 II. Jubilate 99 XIV. Venite exultemus 94

III. Confit. d-o. et inv. 104 XV. Quoniam deus 94 IV. Paratum cor 107 XVI. Conf. duo et inv. 104 V. Deus iudex iustus 7 XVII. Paratum cor 107

VI. Diligam te 17 fer. IV p. dc. XVII Laudate pueri 112 VII. In te dominie 30 dom. XVIII. Quti timent 113

VIII. Omnies gentes 46 XIX. Laudate dium 0. g. 116 IX. Te decet 64 XX. Dextera 117 X. Attendite 77 XXI. De profundis 129

XI. Exultate so XXII. Confitebor 137 XII. Dfe deus salutis 87 XXIII. Qui sanat 146

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138 H. Husmann: Die Handschrift Rheinau 71 der Zentralbibliothek Ziirich .k.

Demgegeniiber enthilt der Alleluiafaszikel nicht nur die Alleluia nach der Pfingst- oktav, sondern auch weitere Alleluia, die zu anderen Zeiten des Kirchenjahres, vor allem in der Osterzeit, gebraucht werden. Sein Inhalt ist der folgende.

Deus iudex iustus 7

Diligam te 17 In te domine 30

Omnes gentes 46 5 Te decet 64

Attendite 77 Exultate 80 Diie deus salutis 87 DRe refugium 89

10 Dn's regnavit decorem 92 Venite exultemus 94 Quoniam deus magnus 94 Dis regnavit exultet 96 Jubilate 99

15 Conf. duo et invocate 104 Paratum cor 107 Redemptionemt 110 Laudate pueri 2. V. Sit 112 Qui timent 113

20 Laudate d-m o. g. 116 Dextera 117 Letatus 2. V. Stantes 121 De profundis 129 Confitebor 137

25 Lauda anima 145 Qui sanat 146 Lauda Iherusalent 147 Qui posuit 147

Betrachtet man nun die Verteilung der Alleluia nach Trinitatis, so beginnt im

Gegensatz zur normalen Praxis der numerisch geordneten Reihen die numerische

Folge erst am 5. Sonntag nach Trinitatis, die ersten vier Sonntage benutzen nicht in

die numerische Ordnung einbezogene Alleluia, wobei die Alleluia Confitemini do-

mino et invocate und Paratum cor sowohl hier, wie auch spaiter in der numerischen Reihe erscheinen. Aber auch die ersten vier Alleluia aus den Psalmen 92, 99, 104 und

107 sind in sich numerisch geordnet und ihre Reihe ist die Fortsetzung der Serie der

Alleluia der Ostersonntage, die von Psalm 7 bis Psalm 87 lief. Blickt man nun in den

Alleluiafaszikel, so enthilt

er zwischen den letzten Alleluia der Osterreihe, Domine deus salutis (Ps. 87), und dem ersten Alleluia der Trinitatisreihe, Dominus regnavit decorem (Ps. 92), gerade ein Alleluia, das All. Domine refugium aus Psalm 89. Of-

fensichtlich ist dies dann das Alleluia des Sonntags nach Himmelfahrt, so daB damit

die Reihe der Trinitatisalleluia direkt an die Osterreihe anschlielt. Dies ist wieder

ein Unterschied zur rekonstruierten ailteren St. Galler Reihe, die am Sonntag nach

Himmelfahrt das All. Confitemini domino et invocate benutzte. Dagegen findet sich

derselbe Gebrauch des All. Domine refugium am Sonntag nach Himmelfahrt in der

Liturgie von Lyon (mit der die von Die Uibereinstimmt), in der es als 2. Alleluia an

diesem Tag nach dem All. Lauda anima als erstem steht und am Mittwoch und Frei-

tag der folgenden Woche (Freitag mit dem All. Lauda anima zusammen) wiederholt

wird. Mit welchem Alleluia es in Rheinau 71 verbunden war, lWiit sich schwer erraten, - man wird am ersten an die Alleluia Dominus in Sina und Ascendit deus denken.

Die merkwiirdige Abteilung der Sonntage nach der Pfingstoktav nach dem vierten

Sonntag, wie sie sich in der Handschrift Rheinau 71 (und weiteren verwandten

Kodizes, s. unten) findet, ergibt eine sehr sch6ne Einteilung der Sonntage des Kirchen-

jahres. Nimmt man die vier Sonntage nach der Osteroktav, den Sonntag nach Him-

melfahrt und diese ersten vier Sonntage nach der Pfingstoktav zusammen, so ergibt sich ein Zeitraum von neun Monaten. Der Rest der Sonntage nach der Pfingstoktav

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umfa3t im Kodex Rheinau 71 neunzehn Sonntage, aber der letzte wird als dominica quinta ante natale domini bezeichnet, rechnet also bereits zum Advent. Zwischen ihm und dem vorhergehenden letzten Sonntag werden dementsprechend auch die durch das wechselnde Osterdatum entstehenden iiberzlihligen Sonntage eingeschoben. Zieht man diesen 5. Adventssonntag ab, so hat man genau achtzehn Sonntage vom Neube- ginn der Reihe ab, also den doppelten Zeitraum wie von Ostern bis zu diesem Neu- beginn. Nimmt man endlich zu den fiinf Adventssonntagen den Sonntag nach Weih- nachten und die drei Sonntage nach Epiphanias (die ihnen folgenden iiberzaihligen Sonntage bleiben wieder auBer Betracht, da sie keine eigenen Formulare besitzen) hinzu, so kommt man nochmal auf neun Sonntage. Endlich umfaft auch die Fasten- zeit neun Wochen. Wir haben also eine konsequente Einleitung des Jahres in fiinf Perioden von je neun Wochen vor uns, also insgesamt 45 Wochen. Dabei bilden Fastenzeit, Ostern und Pfingstperioden eine zusammenhingende Folge, wihrend die feste Weihnachtsperiode (Weihnachten mit Advent vorher und Epiphanias nachher) vor- und nachher durch eine wechselnde Zahl iiberzihliger Sonntage von der anderen, beweglichen Periodengruppe getrennt ist. Mit Ostern und Pfingsten und ihren Ok- taven ergeben sich insgesamt 49 Sonntage, so daB bei dieser Einteilung drei oder vier

iiberzihlige Sonntage erscheinen, je nachdem das betreffende Jahr 52 oder 53 Sonn- tage besitzt.

Diese in ihrer Einfachheit und Folgerichtigkeit schlechthin vollkommene Leistung ist indessen nicht eine unabhaingige Leistung, sondern geht in einem wesentlichen Punkt, der Unterteilung der Nachpfingstalleluia nach dem vierten Sonntag auf gleich- zeitige und diltere Quellen zurtick. Hier werden Sonntage nach Pfingsten, solche nach Peter/Paul, nach Laurentius und nach Michael (oder auch nach Cyprian) unterschieden. Die Zahl der Sonntage wechselt innerhalb der einzelnen Gruppen, doch stehen vier Sonntage nach Pfingsten etwa im Comes Albini, im Mainzer Sakramentar (s. K. A. H. Kellner, Heortologie, 2/1906, S. 133 und St. Beissel, Entstehung der Perikopen des R6mischen Meflbuches, S. 127ff.) u. a.

Es handelt sich aber nicht nur um ,,frtinkische Lektionarien", wie Kellner a. a. O., S. 132, angibt, - auch altr6mische Missalien zeigen solche Einteilungen, etwa der Vallicellianus B 8, auch ebenfalls vier Sonntage nach Pfingsten.

Obwohl sich auch nur drei Sonntage nach Pfingsten finden, haben die meisten Quellen ffinf oder mehr Sonntage. Setzt man, wie es in den mittelalterlichen Kalen- daren geschieht, Ostern auf den 27. Mirz und dementsprechend Pfingsten auf den 15. Mai, so sind es tatsichlich sechs Sonntage nach Pfingsten bzw. finf Sonntage nach der Pfingstoktav, die zwischen Pfingsten und dem Fest der Apostel Petrus und Paulus (29. Juni) liegen. Die Rheinauer Einteilung stimmt also nur fuir ein Osterdatum, das eine Woche spliter liegt als das Normaldatum, - aber, wie eben bemerkt, variieren die Handschriften hier stark (man vergleiche die Zusammenstellung bei Beissel, a. a. O., S. 146 u. 6.). Die Zahl von vier Sonntagen nach Pfingsten kommt gerade dem Epistolar Alkuins zu, und man k6nnte denken, dab die Aachener Kaiserautoritit der nicht ganz richtigen Vierzahl der Sonntage zu ihrer Verbreitung verholfen hat. Aber

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die Verbreitung der Abteilung von vier Sonntagen zeigt, daB sich auch etwa eine Litur-

gie wie die von Lyon dieses Prinzips bedient, und so hat man vielleicht eher hier den

Ausgangspunkt zu suchen.

Vergleicht man die anderen Gradualien und Missalien, so schllt sich eine ganze Gruppe von Handschriften heraus, die wie Rheinau 71 die ersten vier (in einem Fall

finf) Sonntage durch verschiedene Behandlung von den i*brigen absondern. Zugleich zeigen alle Reihen eine weitere Besonderheit, die sie ebenfalls mit Rheinau 71 ver- bindet: sie beginnen alle mit dem All. Dominus regnavit decorem. Die letztgenannte Eigenschaft zeigt auch die alte Genter Reihe (Hesberts Blandiniensis, da das Genter Peterskloster im Quartier Mont-Blandin lag), aber ohne sichtbare Abtrennung der

vier ersten Sonntage. Aber dariiber liiBt sich eigentlich nichts entscheiden, da die

gesamte Reihe ungeordnet ist, eine Abteilung sich also gar nicht erkennen li6t. Als

erste vier Alleluia benutzt diese Reihe die Alleluia Jubilate (,,cum sequentia"), Dominus regnavit decorem (,,cum sequentia"), Venite exultemus (2. V. Preoccu-

pemus, 3. V. Hodie si vocem), Dominus regnavit exultet. Gegeniiber Rheinau 71 sind

die beiden ersten Alleluia umgestellt. Ist auch die Reihenfolge der Psalmen, 99, 92, 94, 96 nicht numerisch, so ist sie es doch nahezu und alle Psalmen sind Dominus

regnavit decorem (Ps. 92) eng benachbart. Dieselben vier Alleluia, aber in der rich-

tigen numerischen Ordnung, setzt die Liturgie von Lyon an die Spitze der Nach-

pfingstalleluia. Die folgenden Alleluia - ebenfalls neunzehn an der Zahl wie in

Rheinau 71 - sind nicht numerisch geordnet; die Psalmen sind 64, 146, 145, 147 usf. In Gent sind es die Nummern 131, 84, 121, 145 usw., und die Sprunghaftigkeit des

Wechsels ist deutlich verschieden von dem Aufbauprinzip der vier ersten Alleluia, so

daB man mit Recht auch hier eine deutliche Trennung der zwei Reihenteile annehmen darf. Dann haben wir bereits drei verschiedene M6glichkeiten der Behandlung der

beiden Abschnitte vor uns: die Genter Reihe hat sowohl die ersten vier Alleluia wie

auch die folgende Reihe nicht geordnet, die Reihe von Lyon hat die ersten vier Alle-

luia numerisch geordnet, die Fortsetzung nicht, Rheinau 71 ordnet beide Teile nume- risch. Aber auch die vierte M6glichkeit ist realisiert worden: die Handschrift Rheinau

30 (aus Nivelles oder jedenfalls nach einer Vorlage von Nivelles/Belgien) ordnet den ersten Teil nicht, wohl aber die folgende Reihe. Sie teilt fiinf Sonntage ab, aber die

Reihe Confiteantur (Ps. 137, 4 oder 144, 10), Dominus regnavit decorem (Ps. 92),

Judica (Ps. 34), Quoniam deus magnus (Ps. 94, 3), Te decet (Ps. 64, 2), zeigt das

All. Dominus regnavit decorem erst an dem 2. Sonntag. Der mit diesem Alleluia

beginnenden Folge von vier Sonntagen ist also ein Sonntag (der mit dem All. Con-

fiteantur) vorangesetzt worden, um die Folge von fuinf Sonntagen zu erhalten. Die

folgende Reihe zeigt nochmal dieselbe Eigentiimlichkeit: Sie beginnt aber nicht wie

die Rheinauer Reihe mit dem am Anfang des Psalmbuches stehenden Deus iudex iustus (Ps. 7, 12), sondern ebenfalls mit dem All. Dominus regnavit decorem (Ps. 92) und liuft i.ber Ps. 94, 1, 94, 6, 95 oder 97, 99, 104, worauf ein Blatt fehlt, und 134, 1,

134,2, 137,1, 137,2, 145, 146, 3 zum Schluf, der wieder verloren ging. Dem Typ

von Lyon geharen drei weitere, zusammengeharige Reihen an, die als erste vier numerisch geordnete Alleluia, aber die Alleluia Dominus regnavit decorem (Ps. 92),

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Jubilate (Ps. 99), beide wie in Gent und Rheinau an der Spitze, Letatus 2. V. Stantes (Ps. 121, 1 und 2) und Lauda anima (Ps. 145) verwenden. Auch die folgenden Reihen- teile, alle mit In te domine speravi (Ps. 30 oder 70) beginnend, sind verwandt. Es handelt sich um die Reihen der Kathedrale St. Gatien von Tours (Handschriften Tours 186 und 187, Paris lat. 10504 und die Missale von 1493), des Benediktiner- klosters St. Melaine von Rennes (Handschrift Paris, Bibl. Nationale, lat. 9439) und des Benediktinerkloster Corbie (ebenda lat. 12050, Hesberts Corbiensis). Uberblickt man den von allen genannten liturgischen Staitten iiberdeckten Raum, so sieht man, daB Rheinau sich anschlieBt als 6stlicher Ausliiufer an das Gebiet zwischen Gent, Nivelles, Corbie, Rennes, Tours, Lyon und (dem mit diesem ganz identischen) Die. Dabei verkirpert es zugleich den jiingsten Typ, da es beide Reihenteile numerisch ordnet. Die engste Verwandtschaft besteht dabei mit Lyon, da sich - s. oben - auch in anderen Punkten schon Beziehungen zu ihm ergeben hatten. Der AnschluB der vier ersten Alleluia an die numerisch geordnete Ostersonntagsreihe (gedacht als die litur-

gische Ausfiillung von Neunwochenzeiten oder ,,Septuagesimalriiumen") findet sich

dagegen nur in der Handschrift Rheinau 71. Die numerische Ordnung der Oster-

sonntagsalleluia hat auch die Sequenzenreihe von St. Gallen durchgefiihrt, - ob die ersten vier Nachpfingstalleluia numerisch anschlossen, liiBt sich nicht sagen, da die ailtere - teilgeordnete oder ungeordnete - Reihe der Nachpfingstalleluia von St. Gallen fehlt. Die besondere Bedeutung der Handschrift Rheinau 71 fiUr das Problem der Entstehung und liturgischen Einordnung der St. Galler Sequenzen besteht darin, daB sie eine numerische Ordnung der dominikalen Ostersonntagsalleluia vorweist,

wiihrend wir eine solche ffir St. Gallen aus seiner Sequenzenordnung nur postulieren ki*nnen, da die Handschriften bereits ein jiingeres Stadium tiberliefern. Die Sequenzen von St. Gallen und damit Notkers Prosen kommen hierdurch in eine der iilteren Gestalt des St. Galler Graduale entsprechende liturgische Ordnung.

Dabei bleibt merkwiirdig, wie die grundlegende Rolle des All Dominus regnavit decorem hier zustande kommt: es steht in Rheinau 71 am Montag nach Ostern (wie in manchen anderen Orten, s. oben) und am 1. Sonntag nach der Pfingstoktav in der eben herausgearbeiteten Liturgiengruppe. Aber in den Alleluiafaszikeln der anderen Liturgien haben wir ungeordnete Reihen vor uns, die - im Prinzip - jedes beliebige Alleluia an die Spitze stellen k6nnten, wiihrend hier das All. Dominus regnavit decorem in einer numerischen Reihenfolge steht, in der es nach den fiinf Sonntagen nach der Osteroktav genau auf den 1. Sonntag nach der Pfingstoktav zu stehen kommt. Demgegentiber folgt die Fortsetzung nicht genau der Reihenfolge des Alle- luiafaszikels, sondern tiberschliigt die Alleluia Venite exultemus 2. V. Preoccupemus, Quoniam deus magnus und Dominus regnavit exultet, ehe sie die drei, dann auch im Alleluiafaszikel wieder direkt aufeinander folgenden Alleluia Jubilate, Confite- mini domino et invocate und Paratum cor bringt. Man miiBte also annehmen, daB der liturgische Ordner, der schon die Neunwochenrijume so genau konstruierte, hier ein weiteres Kunststiick vollbrachte und die Alleluiaordnung des Faszikels so ein- richtete, dab das All. Dominus regnavit decorem gerade an die zehnte Stelle kam, an der er es brauchte, um es auf dem mit den anderen Liturgien gemeinsamen 1. Platz

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der Nachpfingstreihe nach den neun Osterstellen zu haben. Aber auch die Auslassung des 12. und 13. Alleluia des Faszikels hat denselben Zweck, - in den anderen Litur-

gien der entwickelten Gruppe und in nichtgeordneten Reihen anderer Gruppen steht das All. Jubilate auch nach (oder vor) dem All. Dominus regnavit decorem. Offenbar war die Reihe des Rheinau 71 schon, ehe sie vom 5. Sonntag ab geordnet wurde, so

gebaut, daB sie dhnlich wie die verwandten Liturgien am 1. bis 4. Sonntag dieselben vier Alleluia besa3, wie sie Rheinau 71 aufweist. Der Ordner der Reihen hitte diese vier Alleluia dann stehen gelassen, da sie schon numerisch geordnet waren (wie in

Tours, Rennes und Corbie), die Reihe vom 5. Sonntag nach der Pfingstoktav und die

Reihe der Ostersonntage dann numerisch geordnet, wobei er einerseits darauf achtete, daB die Reihe vom 5. bis 13. Sonntag mit der Reihe der neun Osteralleluia identisch war, andererseits aber achtgab, daB sie richtig von den Osteralleluia an das All.

Dominus regnavit decorem des 1. Nachpfingstsonntags anschloB. Das konnte er durch

Auslassung erreichen, - m6glicherweise standen die All. Verba mea und All. Domine

deus meus noch in seinem Alleluiafaszikel und wurden bei dieser Gelegenheit ent-

fernt, - etwa die Handschriften von Troyes haben einen mit dem All. Deus iudex

iustus beginnenden ungeordneten Faszikel, der an spiterer (5.) Stelle das All. Verba mea fiihrt, waihrend die Reihen der Gruppe Lyon/Tours beide Alleluia nicht benutzen.

Ein geordneter Faszikel, der einerseits mit den Alleluia Verba mea und Domine deus

meus beginnt, andererseits die Dominikalalleluia der Advents-, Epiphania- und Osterzeit noch bewahrt, steht in der Handschrift Einsiedeln, Stiftsbibl. 121. Ebenso

fehlt das in St. Gallen vorhandene All. Eripe (Ps. 58) nach dem All. Omnes gentes in der Reihe von Rheinau 71. Jedenfalls ist die Alleluiaverteilung des Kodex Rheinau

71 ein ausgefeiltes Kunstwerk. Es fillt auf, daB eine sehr aihnliche mit dem All. Dominus regnavit decorem und

Jubilate beginnende Reihe in fast allen Liturgien die Reihe der Sonntage nach Weih-

nachten, d. h. den Sonntag nach Weihnachten und die drei Sonntage nach Epiphanias, bildet: All. Dominus regnavit decorem (Ps. 92), Jubilate (Ps. 99), Laudate deum

omnes angeli (Ps. 148) und Dominus regnavit exultet (Ps. 96). Es entspricht das einer

anderen, weitverbreiteten Ordnung, das Jahr mit Weihnachten zu beginnen. Dabei

sind die drei Alleluia aus Ps. 92, 99 und 96 mit der viergliedrigen Nachpfingstgruppe

gemeinsam. Immer wieder zeigt sich deutlich, wie diese Vierergruppe offenbar am

Anfang des zugrundeliegenden Alleluiafaszikels steht.

Die Frage der Herkunft der Handschrift Rheinau 71 bedarf einer besonderen Diskussion, da A. Bruckner, Scriptoria medii aevi helvetica IV, 1940, S. 43, die Handschrift nach St. Gallen versetzt: ,,Rheinau 71, ..., gehort in seinem Hauptteil (f. 1-302) hinsichtlich der

kiinstlerischen Ausfahirung, der Schrift, der Initialen ebenfalls in den Kreis der St. Galler

Codices 338-342", wdihrend man sie bisher als aus Rheinau stammend angesehen hatte. Was zunachst das Kalendar (fol. 1-6) anbetrifft, so enthielt, wie zuerst L. C. Mohlberg im Katalog der Zaricher Handschriften, 1932-1951, S. 189, anfiihrt, der Kodex die Rheinauer Dedlikation am 20. Juli; sie ist nur spiter ausradiert worden, wie Mohlberg - gewil richtig - vermutet, nachdem am 15.1. 1114 eine neue Kirchweihe stattgefunden hatte. Aber das Kalendar

enthtilt noch eine zweite Kirchweihe am 16. 8.: Dedicatio eiusdem ecclesie, nim-

lich Marii, deren Himmelfahrt am Tag vorher gefeiert wird. Wie schon P. Basilius Germann (1727-1794) in seinem handschriftlichen Katalog der Rheinauer Handschriften (Manuskript

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Rh. hist. 112/113 der Zentralbibl. Ziirich), Band 2, S. 20/21, bemerkt hat, ist dies die Weihe der Reichenau (16. 8. 816, siehe jetzt K. Beyerle in Die Kultur der Abtei Reichenau, 1925, S. 73). Wihrend Germann diese Weihe fiir eine iiltere Rheinauer Weihe hillt, da die Hand- schrift als Reichenauer Handschrift engere Beziige zum Reichenauer Mitpatron, dem HI. Markus, zeigen miifte, was sie nicht tut, ertibrigen sich solche tiberlegungen, nachdem sich die originale Rheinauer Dedikation, wie sie am gleichen Tag auch im Kodex 75 steht, gefun- den hat. DaB fiir den Kodex 71 die Rheinauer Dedikation das h6here Fest ist, ergibt sich daraus, daB diese Dedikation in Rot eingetragen wurde (was sonst nur noch dem Fest der Translatio Martini zukommt), wihrend die Reichenauer Dedikation in schwarzer Farbe, freilich in Majuskeln, notiert wurde. Auch weitere Reichenauer Heilige finden sich, schon bei Mohlberg zitiert: Valens (s. K. Beyerle, a. a. O., S. 352 f.), Senesius (s. K. Beyerle, a. a. O., S. 352 f.), Senesius (s. K. Beyerle, a. a. O., S. 345 ff.), Pimenius (s. K. Beyerle, a. a. O., S. 396), alle drei Feste auch im Kodex 375, der auBerdem auch noch die Translatio der beriihmten Reichenauer Blutreliquie angibt, allerdings am 20. 8., nicht am 7. 11. (s. A. Mohlberg, a. a. O., S. 192, und K. Beyerle, a. a. O., S. 361 ff.). Solche Anfiihrungen von Patronatsfesten der be- nachbarten Kathedralen und Klaster sind in den mittelalterlichen Kalendaren etwas ganz Nor- males, und die Erwihnung von Reichenauer Festen findet sich am ganzen Bodenseegebiet, etwa in St. Galler Handschriften. Sie ist in Rheinau um so verstindlicher, als Rheinau beson- ders enge Beziehungen zur Reichenau unterhielt, die im Liturgischen z. B. dazu fiihrten, daB man Reichenauer Hymnen und Prosen iibernahm, wobei man, wie z. B. in der Prose Pangat ymnum augiensis auf den HI. Januarius (s. K. Beyerle, a. a. O., S. 354ff.), augiensis in renaugensis inderte (so im Kodex Rheinau 132).

Wenn das Kalendar also sicher ein Rheinauer Kalendar ist, so braucht es noch nicht der Gradualteil und das Sakramentar der Handschrift zu sein, denn wie mir scheint, ist das Kalendar von einer anderen Hand geschrieben als jene wohl unter sich auch wieder verschie- denen Teile. Aber diese Zweifel erledigen sich sehr schnell durch die Bemerkung, daB das Pergament des Kalendars, ein besonders feines und helles Pergament, dasselbe wie das des Gradualteils ist, und im Mittelalter begegnet es haufig, daB die verschiedenen Teile dieser um- fangreichen Handschriften - Kodex 71 besitzt heute noch 302 alte Folien und besal3 urspriing- lich wohl auch noch ein komplettes Lektionar von 100 und mehr Folien - auch von verschie- denen Schreibern (gleichzeitig, nacheinander oder sogar abwechselnd) geschrieben wurden.

Was die liturgische Anordnung der Alleluia des Kodex 71 anbelangt, so haben wir gesehen, daB sie weder zur Alleluiaordnung der klassischen St. Galler Kodizes noch zur iilteren Alle- luiaordnung St. Gallens, wie ich sie aus den St. Galler Sequenzen rekonstruiert habe, paBt. Es ist in keinem Falle also maglich, daB der Kodex aus St. Gallen stammt. DaB der Schreiber des Kodex aber St. Galler Handschriften kannte und ihre kiinstlerischen Eigenheiten ihn anregten, ist etwas anderes und kann gem zugegeben werden, obwohl es dem Kalendar u. a. entspre- chend viel plausibler ware, wenn es sich nicht um St. Galler, sondern um Reichenauer Einfliisse handelte.

Auch fiir andere liturgische Handschriften sind die Folgerungen Bruckners abzulehnen. Wenn er etwa den in der Handschrift und Ausstattung von 71 vollkommen verschiedenen Kodex 75 (a. a. O., S. 43) als ,,in den priichtigen Zierbuchstaben eher schwiibisch, in den beiden Miniaturen mit dem VD (fol. 11r.) und der Kreuzigungsgruppe (fol. 12v.) dagegen sichtlich mit den St. Galler Sakramentaren 338-342 verwandt" bezeichnet, so zeigt sich deut- lich die Unsicherheit solcher Betrachtungsweise. Der Kodex ist, wie Kalendar und Inhalt zeigen - s. gleich -, ebenfalls rheinauisch. Auch Kodex ss ist nach Bruckner (a. a. O., S. 43), ,,eng verwandt mit den St. Galler Sakrarmentaren des I1I. Jhdts.", wihrend die Alleluiaordnung diejenige von Sitten/Einsiedeln ist und die Meinung Germanns, daBl der Kodex aus Luzern kommt, wahrscheinlich richtig sein diirfte. Auch daB a. a. O., S. 43, Kodex 132 ,,nach St. Gal- len weist", entspricht dem Inhalt der Handschrift in keiner Weise, da der Hauptteil bereits - s. oben - die Reichenauer Prose Pangat ymnumr mit der Rheinauer Abinderung renaugensis enthilt, - hiertiber und iiber die anderen, ebenfalls fiir Rheinau bestimmten Teile der Hand-

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schrift vgl. man mein Verzeichnis Tropen- und Sequenzhandschriften, 1964, S. 54/55. Endlich soll die Handschrift Rheinau 3o, deren Kalendar fiir Nivelles bestimmt ist (s. oben), nach Bruckner, a. a. O., S. 38, ,,im jiingeren churridtischen Schriftgebiet beheimatet" sein. Wie ich in den beiden Aufsttzen im Dansk Aarbog for Musikforskning II und IV niher ausfiihrte, steht die Handschrift in ihrem Inhalt aber der Genter Handschrift am nichsten, so da6 an ihrem fliimischen Ursprung nicht gezweifelt zu werden braucht.

Ist die Handschrift 71 also auch eine echte Rheinauer Handschrift, so kann man iiber ihren Inhalt doch noch andere Erwdigungen anstellen. Wie ich in meiner Studie Zur Geschichte der

Mefliturgie von Sitten und iUber ihren Zusammenhang mit den Liturgien von Einsiedeln, Lausanne und Genf, in: Archiv fiir Musikwissensdiaft XXII, 1965, Heft 4, ausfi.hrte, kann die Gemeinsamkeit von Patronen bzw. Reliquien bei der Neugriindung, Verlegung oder Um- organisierung von Kirchen und Kl6stern auch zur iUbernahme von Liturgien fiihren, so im dort behandelten Fall. St. Maurice - Sitten - Einsiedeln - Luzern. Aber auch Rheinau und die Reichenau haben gleiche Patrone: Reichenau ist Maria und Petrus/Paulus, Rheinau ist Maria und Petrus, ebenso verehrten beide Kl*ster Januarius, von dem sie beide Reliquien besaBen. Es wire danach sehr wohl mbglich, daB Rheinau und die Reichenau auch dieselbe Liturgie besessen httten, oder, um es anders zu sagen, daB Rheinau seine Liturgie von der Reichenau fibernommen hiitte. Dann ware die vollendete Einteilung des liturgischen Jahres und die logisch in sie eingepaBte Anordnung der Alleluia, wie sie der Kodex Rheinau 71

iiberliefert, die Leistung eines Reichenauer M6nches und nicht die eines Rheinauer Paters, - und das liBt sich vielleicht auch eher vorstellen. Aber da wir kein altes Graduale der Reichenau mehr besitzen, muB diese Erwigung eine reine Hypothese bleiben.

Die weitere Entwicklung der Rheinauer Me1liturgie, die uns in ihrer ersten Phase so wichtige Aufschliisse gebracht hat, vollzieht sich in zwei Etappen. Das erste Sta-

dium wird verk rpert durch den Kodex 75. Auch er geh6rt wie 71 noch in das 11. Jhdt. Das Kalendar enthalt noch die altere Rheinauer Dedikation vom 20. 7., dazu die

Rheinauer Heiligen Findan (15. 11.) und Januarius (19. 11.) und ebenso die Reiche-

nauer Heiligen, aber nicht die Reichenauer Kirchweihe. Im Sakramentar, das nur aus

Bruchstiicken von verschiedenen Handen besteht, finden sich Udalrich (f. 189v.), Blasius (f. 190), Pelagius (f. 196v.), Emmeram (f. 241), Mauricius (f. 241/2) und

Januarius (f. 242v.). Die Anderung der Liturgie des Kodex 75 gegeniiber dem Kodex

71 zeigt sich sehr klar in zwei Punkten: Kodex 71 fiihrt in seinem Hauptteil fiir die

Tage der Osterwoche zwar die oben angegebene dominikale Alleluiareihe, bringt im

Alleluiafaszikel aber bereits eine zweite Alleluiaserie fiir Montag bis Donnerstag der Osterwoche, die die Alleluia Angelus domini 2. V. Respondens autem, In die

resurrectionis mee, Christus resurgens und Surrexit altissimus umfaBt. Genau diese Alleluia hat Kodex 75 nun schon in den Hauptteil eingesetzt, am Freitag durch das

All. Benedictus es dei filius vervollstandigt. Diese Reihe hat Verwandte in Bamberg, Staatsbibl. lit. 4 und anderen Handschriften aus Bamberg, in Trier Bistumsarchiv 406

(Augustinerkirche in Oberwnvesel) und weiteren rheinischen Augustinerhandschriften, in Wolfenbiittel, Landesbibl. 1008 (aus Minden), im MeiBener Missale und in dem

von Stringnis,

endlich im jiingeren St. GallerKodex 379.In allen diesen Reihenweicht dabei nur das Freitagsalleluia ab, das in Rheinau 71 kennzeichnenderweise fehlte. Auch an den Ostersonntagen verwendete Kodex 75 schon neutestamentliche Alleluia, doch ist nur das All. In resurrectione tua am 1. Sonntag nach der Osteroktav erhalten

geblieben; alle anderen Alleluia stehen von einer anderen, aber auch noch sehr alten

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Hand auf Rasuren, - der 2. Sonntag von einer noch wieder jiingeren Hand. Die Reihe hat an erster Stelle stets das All. Hec dies, an zweiter Stelle die Alleluia Pascha nostrum, In resurrectione tua, Surrexit dominus vere, Christus resurgens, Surrexit altissimus. Reihen, die an erster Stelle das All. Hec dies wiederholen, findet man sonst noch in der Handschrift Freiburg, Universittitsbibl. 1139, in Hildesheim (Kodex 403 und 404 des Bistumsarchivs Trier), Trier (ebda. 413, 451, 454, 457, 460, 461, 462, 463 a/b), Limburg a. Lahn (Kathedralarchiv B 8), Koblenz (Trier, Bistumsarchiv 465), Kopenhagen/Lund und Stringnais, Liibeck, Schleswig, Offenburg, StraB3burg, Worms, Haarlem (Bistumsarchiv 7), Rheinau 6 aus der Di6zese Konstanz. Die Reihe schlie3t sich also ungezwungen an das Oberrheingebiet an. Die Alleluia vom Himmelfahrts- kreis und von der Pfingstwoche sind verloren gegangen, da hier die jiingere Hand ihre

Eintragungen nach Rasur der alten Stiicke vorgenommen hat. Ist der Ersatz der Domi- nikalalleluia durch neutestamentliche Spezialalleluia die erste Neuerung von Rheinau 75, so ist die numerische Ordnung der Alleluia nach der Pfingstoktav die zweite. Im Gradualteil ist nur am 1. Sonntag das All. Verba mea eingetragen, an den weiteren

Sonntagen sind die Alleluia aus dem Alleluiafaszikel zu entnehmen, der am Anfang die Alleluia Verba mea und Domine deus meus erginzt hat, - ihnlich dem Unter- schied der St. Galler Kodizes 342 und 359. Weiter sind die Alleluia Domine in virtute tua, Confiteantur und In exitu 2. V. Facta eingefiigt worden. Bei diesen Operationen ist das All. Confitebor (Ps. 137,1), wohl durch den aihnlichen Anfang veranlaBt, zwischen die Alleluia Confitemini (Ps. 104) und Confiteantur (Ps. 106, 8) geraten. Andererseits sind die dominikalen Alleluia Dominus regnavit decorem, Dominus regnavit exultet, Jubilate, Laudate pueri 2. V. Sit nomen und Letatus sum 2. V. Stantes erant ausgeschieden worden. Da auch die beiden Melodien von Laudate dominum omnes gentes erhalten geblieben sind, ist ein Alleluiafaszikel entstanden, der weitgehend dem der klassischen Handschriften von St. Gallen und Einsiedeln (Handschrift der 113 der Stiftsbibl.) entspricht. Man sieht deutlich die Parallelittit in der Entwicklung der Alleluiareihen der drei Schweizer Abteien (auf den iilteren Faszikel von Einsiedeln 121 wurde oben kurz hingewiesen).

Das jiingere Stadium der Rheinauer Liturgie wird durch die Handschriften Rheinau 29 (12./13. Jahrhundert), 14 (13. Jahrhundert) und 23 (14. Jahrhundert) repraisen- tiert, alle drei noch nach dem ilteren Vorbild aus Gradualteil, Prosenfaszikel und Sakramentar bestehend, allen von jiingeren Hainden des 14. und 15. Jahrhunderts (wie auch 71 und 75) ein Lektionar angefiigt (vielleicht als Ersatz eines 5ilteren, durch Perikopendinderung unbrauchbar geworden).

L. C. Mohlberg, a. a. O., S. 170 meint, daB die Handschrift 23 nicht in Rheinau geschrie- ben wurde, sondern nur spiiter dort benutzt wurde. Dabei stiitzt er sich wohl auf eine alte Notiz im Deckel des Kodex, die besagt, da8 die Handschrift ,,probabiliter non fuit nostri monasterii", da im Kalendar die Schaffhausener Heiligen Alexander/Constans (5. to10.) und Fides (6. 10.) stehen, aber Findan keine Oktav hat. Hinzu kime, daB auch Januarius die Oktav nicht hat, die in den Kalendarien von 29 und 14 steht. Auch J. Werner, Notkers Sequenzeui, 1901, S. 77, schlie3t sich dem an und weist die Handschrift Schaffhausen zu. Aber man kann dann umgekehrt bemerken, daB die Oktav von Allerheiligen fehlt, die im Aller- heiligenkloster Schaffhausen vorhanden war, und auch die angefiihrten Heiligen keine Oktaven

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haben. Weiter fehlt der Schaffhausener Heilige Leguntius am 19. 2. Demgegeniiber hat schon Pater Germann (a. a. O., I, S. 226) bemerkt, daB Kodex 23 eng mit Kodex 14 zusammengeht und daB, obwohl Alexander/Constans im Kodex 23 im Kalendar stehen, sie dort keine Ora- tionen im Sakramentar haben, wthrend sie solche im sicher rheinauischen Kodex 14 haben, obwohl sie nicht im Kalendar stehen. Da spezielle Prosen auf Rheinauer Heilige fehlen, schlie8t auch Germann, daB der Kodex nicht fiir Rheinau bestimmt war, - aber da der Kodex auch keine speziellen Oktaven notiert, wollte er wohl iUberhaupt auf Lokales verzichten, und so besteht kein Grund, ihn Rheinau abzusprechen.

Ihnen schliel3t sich der Liber ordinarius Rheinau so (hrsg. von A. Hiinggi in Speci-

legium Friburgense I, 1957) an.

Auch die Herkunft der Handschrift Rheinau 80 ist umstritten. Es gibt nur zwei entschei- dende Hinweise auf Rheinau im Kalendar, aber beide Eintragungen, die Dedikation der Kirche von Marthalen 16. 5. 1126 und die Dedikation von Rheinau 15. 11. 1114, sind nachtriglich gemacht worden, von je verschiedener Hand und, wie mir scheint, nicht von der Original- hand, - A. Hainggi sagt vorsichtig auch nur, die erste sei ,,wahrscheinlich", die zweite ,,wahr- scheinlich ... nachtriiglich" von der 1. Hand. Wenn A. Bruckner, Scriptoria IV, S. 50o, meint, die Handschrift sei ,,schon wegen des Kalendars ftir Rheinau gesichert, das zahlreiche auf Rheinau beztigliche Notizen enthilt", so ist dem entgegenzuhalten, daB diese Notizen eben alle nicht von der Haupthand sind, auch wenn sie, wie die beiden eben zitierten, sehr alt sind, kaum viel spiter als die Anfertigung der Handschrift selbst. So hat schon Abt A. Calmet (1672-1757) den Kodex als von Hirsau kommend angesehen, wie eine Notiz im vorderen Deckel der Handschrift angibt, und E. Omlin, Die sankt-gallischen Tonarbuchstaben, 1934, S. 18, schreibt: ,,Die Handschrift scheint ... in Hirsau geschrieben worden zu sein, kam aber noch im gleichen Jahrhundert nach Rheinau, wo die Texte der dortigen Eigenfeste itber Rasuren eingetragen wurden." A. Hinggi stimmt a. a. O., S. LIII, zu: ,,Tatsichlich sind ver-

schiedene Rheinauer Eigenfeste tiber Rasuren geschrieben", aber im Text S. 214 versieht er beim Januariusfest seine Bemerkung ,,Totum, officium super rasura (?) alia manu" mit einem

Fragezeichen und beim Findansfest bemerkt er a. a. O., S. 222, nur ,,alia manu". Auch ich kann mich nicht iiberzeugen, daB diese Feste auf einer Rasur stehen. Lediglich bei Januarius (f. 94v.) steht am Beginn eine Rasur in Gr6l3e einer Initiale, - der Form der Rasur nach k*nnte vorher ein A dagestanden haben vielleicht fiur Antiphon, waihrend ein Responsorium den Anfang macht. Es ist auch nicht zu sehen, was vorher dagestanden haben sollte; denn bei beiden Festen ist die liturgische Aufeinanderfolge liickenlos: vor Januarius 19. 10. ist A. Iste

ut qui ante. In Evg. tatsichlich die richtige Magnificatantiphon der 2. Vesper des Lukasfestes (18. 10.), wie das Schaffhaugener Missale (iiber die Liturgiegemeinschaft Rheinau-Schaff- hausen s. gleich) Rheinau 174 auf fol. 182v. ausweist (das Rheinauer Antiphonar Kodex Rheinau 28 iiberschligt pag. 583 das Lukasfest), und es schlieft ganz richtig das Fest des Hilarion (21. 10.) an, vor Findan (15. 11.) steht Briccius (13. 11.), nach ihm Othmar (16. 11.). Bei beiden Festen stehen Angaben ffir die Oktav im Text

(wtihrend die Vigil Januars am Rand

nachgetragen wurde), so daB die Rheinauer Bestimmung nicht zweifelhaft sein kann. Freilich ist das Januariusfest von anderer Hand eingetragen, wthrend mir die Schrift des Findans- festes keinen so deutlichen Wechsel zu zeigen scheint. Aber die Schrift wechselt i.berhaupt

htufig in der Handschrift, auch die Feste vor Januar sind von wieder anderer Hand, wobei die Schrift innerhalb des Gereonsfestes wechselt. Auch die Farbe des Rubrikators indert sich oft, wie es scheint, aus technischen Griinden, - und beim Findansfest geht es ausgerechnet ohne Farbwechsel weiter.

DaB die Handschrift nicht in Hirsau geschrieben sein kann, zeigt folgende Probabilitlits- iiberlegung. Im Kalendar, das von derselben Hand stammt wie der Textteil der Handschrift, ist Findan von der Haupthand eingetragen, - aber der Kult Findans ist auf ein sehr kleines

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Gebiet beschrainkt geblieben, findet sich z. B. in St. Galler Handschriften, diirfte in Hirsau aber unbekannt gewesen sein, - selbst Konstanzer Missalien wie die Kodizes Rheinau 9, 10 und 11 weisen in ihren Kalendaren das Findanfest nicht auf.

Auch das eben verwendete Antiphonar Rheinau 28 wird von L. C. Mohlberg, a. a. O., S. 172, als ,,urspriinglich nicht aus Rheinau" bezeichnet und A. Bruckner, Scriptoria IV, S. 5o mit Anm. 101, spricht von ,,Konstanzischer Gegend" und ,,schwiibischer Initialornamentik". Aber das Januariusfest (pag. 583-586) und das Findansfest (pag. 591-594) haben eigene Offizien, die nur in Rheinau selbst und in von ihm abhingigen Kirchen verwendet wurden, - sonst nahm man ihre Stiacke nach allgemeinem Brauch aus dem Commune sanctorum.

Vom Kodex Rheinau so gibt es auch eine Abschrift, wohl aus dem 13. Jhdt., den Kodex Rheinau 59. Indessen handelt es sich nicht um eine reine Kopie, sondern insbesondere hat der Schreiber zu den Responsorien die Verse hinzugefiigt und alle Musikzitate mit Neumen versehen.

Endlich wurden in dieser Zeit die Korrekturen in den Kodizes 71 und 75 vorgenom- men. Die drei Gradualien und das Ordinale haben Rheinauer Kalendarien mit Fin- dan, in 29 und 14 von der Hand des Graduale, in diesen beiden Handschriften und im Ordinale Findan mit Vigil und Oktav, im Ordinale auch die Dedikation vom 15. 11. 1114, aber diese wie auch die Vigil und die Oktav Findans von jeweils ver- schiedenen spiiten Hiinden. AuBer Pirmin (3. 11.) finden sich keine Reichenauer Feste mehr in diesen Kalendarien. Die Handschriften sind gut ausgestattet, - das gro3e Te-igitur-Bild des Kodex 29, p. 163, bringt A. Bruckner als Farbtafel am Anfang von

Scriptoria IV. Alle drei Gradualien haben die Nachpfingstalleluia bereits innerhalb der einzelnen Sonntage untergebracht. Obwohl die Reihen in den Festkreisen des Jahres Dominikalalleluia bis auf eins ersetzt haben, unterscheiden sich die Reihen doch wesentlich von denen der mittleren Stufe und die Nachpfingstalleluia beginnen schon gleich mit dem All. Domine deus meus. So zeigt sich deutlich der Bruch in der Tradition. Der Grund ist leicht zu erraten: die Abtei nahm gegen Ende des 11. Jahr- hunderts die Reform von Hirsau an.

Priifen wir daraufhin zunichst die Alleluiareihe der Wochentage nach Ostern, so lauten die Alleluia in allen drei Gradualien iibereinstimmend mit den Angaben des Ordinars Angelus domini 2. V. Respondens, Surgens, Ihesus dominus, Christus resur- gens, das dominikale Cantate . . . cantate (Ps. 85) und Surrexit altissimus. Dieselbe Reihe besitzen auch die Handschriften Schaffhausen, Stadtbibl. 95 und 97 aus dem

dortigen ehemaligen Kloster Allerheiligen. Schaffhausen hatte als eines der friihesten

Kl6ster die Hirsauer Reform angenommen, da der 2. Abt von Hirsau, Wilhelm von Hirsau von 1080 bis 1082 sich in Schaffhausen aufgehalten hatte. Ebenso zeigt die Handschrift Miinchen, Staatsbibl. clm 27130 aus Ottobeuren dieselbe Alleluiareihe, - Ottobeuren hatte unter Abt Rupert I. (1102-1145) die Hirsauer Reform ein- gefiihrt. Weiter findet sich die Reihe in den Handschriften Stuttgart, Landesbibl. HB I 85 und HB I 236, und mit dem - sehr hiiufigen - Ersatz des All. Angelus domini durch das All. Nonne cor (beide Alleluia standen urspriinglich zusammen am Oster- montag) in der Handschrift Karlsruhe, Landesbibl. K 1001. Sind diese Handschriften auch nicht genau zu lokalisieren, so zeigt sich nun, daB sie offenbar aus Benediktiner- kl6stern stammen, die die Hirsauer Reform angenommen hatten.

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Komplizierter sind die Verhailtnisse - wie immer - bei den Alleluia der Oster-

sonntage und der Pfingstwoche. Die Alleluia der Sonntage nach Ostern lauten:

1. Sonntag In resurrectione tua ,,Pascha nostrum"

2. Sonntag ,Angelus domini" Surrexit pastor bonus

3. Sonntag Benedictus es dei filius In die resurrectionis mee

4. Sonntag Dicite in gentibus Christus resurgens

5. Sonntag Surrexit dominus vere Eduxit dominus

So steht die Reihe im Kodex 14. Die Handschrift 23 hat unterlassen, die zweiten Alleluia des 3. und 4. Sonntages zu notieren. Der Kodex 29 vertauscht die Alleluia des 2. Sonntages, hat am 4. Sonntag das All. Dicite in gentibus aus Ps. 95, 10o durch das neutestamentliche All. Surrexit dominus vere ersetzt und dafiir am 5. Sonntag das All. Eduxit (an 1. Stelle) mit dem All. Surgens Ihesus dominus kombiniert. Das Ordinar hat nur an der Osteroktav eine Angabe, - sie stimmt mit den iabrigen Handschriften iiberein.

Mit dieser Reihe stimmen die Reihen der beiden Schaffhausener Handschriften

genau iiberein, - die Handschrift 97 vertauscht lediglich die beiden Alleluia des

letzten Sonntags. Auch die Handschrift K. tool der Landesbibl. Karlsruhe verwendet

dieselbe Reihe, aber in der Form der Handschrift Rheinau 29, wobei sie am 4. Sonntag das All. Crucifixus surrexit, am 5. Sonntag das All Oportebat pati hinzufi*gt. Auch

der Miinchener Kodex clm 27130 stimmt mit der Fassung Rheinau 29 iiberein, er-

setzt aber das All. Angelus domini durch das All Surrexit dominus vere und setzt das

in K 1001 zusittzlich erscheinende All. Oportebat an die Stelle des All. Surgens Ihesus dominus noster. Offenbar hat K 1001 die urspriingliche Zusammenstellung, aus der

29 und 27130 in verschiedener Weise ausgelesen haben. Dagegen zeigen Stuttgart HB I 85 und HB I 236 neben der Vertauschung der Alleluia des 2. Sonntags wie im

Kodex 29 gr6fere Abweichungen in den drei letzten Sonntagen. Die beiden Hand-

schriften haben hier:

I 85 I 236 3. Sonntag Surrexit Chr. et illuxit Benedictus es dei filius

,, Christus resurgens" ,,Christus resurgens" 4. Sonntag Benedictus es dei fil. In die resurrectionis

,,Surgens Ihesus" Surrexit Chr. et illtuxit 5. Sonntag Surrexit dominus vere Surrexit dominus vere

In die resurrectionis ,,Surgens Ikesus"

Das All. Surrexit Chiristus et illuxit erscheint hier neu, die anderen Stiicke sind nur vertauscht. Diese Reihen haben sich offenbar von den iibrigen getrennt, als die Alleluia noch in einem Osterfaszikel standen und nach Belieben aus ihm ausgewiihlt werden konnten.

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Die Alleluia von Himmelfahrt und dem ihm folgenden Sonntag, All. Ascendit und die beiden Melodien von All. Dominus in Sina, stehen nicht nur so in den hier zu untersuchenden Kodizes, sondern auch in vielen anderen Handschriften.

Dagegen sind die Alleluia der Pfingstwoche wieder durchaus der Hirsauer Hand-

schriftengruppe eigentiimlich. Als erstes Alleluia wird tiglich das All. Emitte wieder- holt. Von Sonntag bis Freitag stehen die Alleluia Sancti spiritus domine corda, Veni sancte spiritus, Paraclitus spiritus sanctus, Non vos relinquamn, Spiritus domini replevit und Paraclitus spiritus sanctus. Dies ist die Anordnung des 5iltesten Kodex Rheinau 29, und mit ihr stimmen iiberein die Korrekturen, die im Kodex 75 vorgenommen wor- den sind. Auch das Ordinale Rheinau 8so schreibt dieselben Alleluia vor, ersetzt aber am Freitag das All. Paraclitus durch das All. Non vos relinquam. Kodex 14 dagegen benutzt am Donnerstag das All. Dum complerentur, am Freitag das All. Spiritus domini replevit, wiihrend Kodex 23 am Donnerstag einer weit verbreiteten UIbung entsprechend die Alleluia des Pfingstfestes wiederholt, am Freitag mit Kodex 14 iibereinstimmt. Am Samstag stehen in der Fastenmesse in all diesen Faillen die Alle- luia Emitte, Non vos, Paraclitus, Veni, Benedictus es domine und der Tractus Lau- date dominum omnes gentes. Die Ottobeurener Handschrift clm 27130 stimmt mit Rheinau 29 iiberein, fiigt nur am Freitag das All. Dum complerentuur vor dem All. Paraclitus hinzu und hat am Samstag eine normale Messe, die das All. Verbo domini benutzt. Die Stuttgarter Handschriften HB I 85 und HB I 236 und die Schaffhausener Handschriften filgen sich entsprechend an. Die in der Renaissance vorgenommenen Korrekturen im Kodex 71 stimmen mit diesen Reihen nicht iiberein, benutzen zwar dieselben Alleluia, vertauschen sie aber. Dieselbe Reihe findet sich auch in der Hand- schrift Rheinau 6, einem Missale, das die Konstanzer Dedikation (9. 9.) im Kalendar hat und also aus einer Pfarrkirche der Di6zese Konstanz stammt.

Die Alleluiareihe der Nachpfingstsonntage stimmt in Kodex 29 fiir die ersten 21

Sonntage mit der Wiirzburger Reihe iiberein, am 22. Sonntag steht das All. Lauda

anima, am 23. Sonntag das All. Lauda Iherusalem mit Qui posuit als 2. Vers. Die Handschriften 14 und 23 ersetzen am 21. Sonntag das All. Qui confidunt durch das All. De profundis. Die iibrigen Handschriften treten wieder zu diesen entsprechend hinzu.

So zeigt sich deutlich in all diesen Handschriften, wie die Hirsauer Reform auch eine Anderung der Liturgie mit sich brachte, ihnlich wie es vorher schon die Clunia- zensische zuweilen getan hatte. Der AnschluB Hirsaus an Cluny 1079 war freilich

verhailtnism1iBig locker gewesen, so daB es die Liturgie Clunys (die im Kodex 1087 der Pariser Bibl. Nationale erhalten ist) nicht iibernahm, wie es ja auch seine eigenen Consuetudines schrieb. Das Schicksal einer solchen Liturgie-inderung sollte am Ende aber Hirsau selbst doch noch treffen. Es trat 1458 der 1446 gegriindeten Bursfelder Kongregation bei und, wie ein Vergleich des 1518 gedruckten Hirsauer Missale (Exemplar Stiftsbibl. Einsiedeln 577) mit dem Bursfelder Missale von 1497 und dem 1481 herausgekommenen mit dem Bursfelder iibereinstimmenden Missale des eben- falls zur Bursfelder Kongregation geh6renden Klosters M6nchsberg in Bamberg auf- weist, iibernahm auch Hirsau bei dieser Gelegenheit die Bursfelder Liturgie.

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