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1 Die Lehre des 2. Vatikanums zur Religionsfreiheit im Lichte der Überlieferung Edmund Waldstein Ocist Dem Folgenden liegt ein Vortrag zu Grunde, den der Autor am 27. Mai 2013 im Pfarrsaal der Pfarre St. Karl, Wien, gehalten hat. 1. EINLEITUNG In den Jahrzehnten seit dem 2. vatikanischen Konzil hat die Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanæ“ wie kein anderer Konzilstext das offizielle Verhältnis der Kirche zur Welt bestimmt. In der Auseinandersetzung mit dem atheistischen Kommunismus in den ersten Jahr- zehnten nach dem Konzil, und in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Islamismus im Nahen Osten auf der einen Seite und dem ideologischen Säkularismus im Westen auf der ande- ren Seite, präsentiert sich die kirchliche Diplomatie vor allem als Verteidigerin der Religionsfrei- heit. Und wie kein anderes Dokument verkörpert „Dignitatis humanæ“ den Wandel im Verhält- nis zwischen Kirche und moderner Welt am 2. Vatikanum. Ein Hauptanliegen des Konzils war es, das antagonistische Verhältnis der Kirche zur modernen Welt besonders seit der französi- schen Revolution zu überwinden, um zu einem friedlicheren Verhältnis zu kommen. Statt nur die Irrtümer des neuzeitlichen Liberalismus zu verdammen, wollte man die positiven Elemente und authentischen menschlichen Anliegen, die darin ausgedrückt waren, aufgreifen und durch eine übernatürliche Sichtweise reinigen und veredeln. 1 Die Religionsfreiheit wurde als entscheidender Punkt in diesem Wandel gesehen. Denn die Freiheit des Gewissens und deswegen auch der Reli- gion war ein wichtiges Anliegen der Aufklärung und des bürgerlichen Liberalismus des 19. Jahr- hunderts, und die Opposition der vorkonziliaren Päpste gegen diese Freiheit war eine Hauptbe- gründung des modernen Antiklerikalismus und Laizismus. 2 Der Wandel in der kirchlichen Einstellung zur Moderne scheint also in der Frage der Gewissens- und Religionsfreiheit besonders radikal. Hier scheint ein direkter Widerspruch zwischen der Leh- re des Konzils und der Lehre der Päpste des „pianischen Zeitalters“ (1789-1962) zu bestehen. Denn so leidenschaftlich die Kirche seit dem Konzil die Religionsfreiheit verteidigt, so leiden- schaftlich hat die vorkonziliare Kirche die Religionsfreiheit verurteilt und bekämpft. Wenn man die zentrale Aussage von „Dignitatis humanæ“ etwa mit dem Abschnitt zur Religionsfreiheit in 1 Vgl. Papst BENEDIKT XVI., Expergiscere homo. Ansprache an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der rö- mischen Kurie beim Weihnachtsempfang, 22. Dezember 2005 in AAS 95,1 (2006) 40-53; Dt.: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2005/december/documents/hf_ben_xvi_spe_2005122 2_roman-curia_ge.html (Zugriff am 15.10.2014). 2 Vgl. Martin RHONHEIMER, Christentum und säkularer Staat (Freiburg 3 2012) 134-139, 143; Eberhard SCHOCKEN- HOFF, Das Recht, ungehindert die Wahrheit zu suchen. Die Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, in: Jan-Heiner TÜCK (Hg.), Erinnerung an die Zukunft. Das zweite vatikanische Konzil (Freiburg-Basel-Wien 2 2013) 702.

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Die Lehre des 2. Vatikanums zur Religionsfreiheit im Lichte der Überlieferung

Edmund Waldstein Ocist

Dem Folgenden liegt ein Vortrag zu Grunde, den der Autor am 27. Mai 2013 im Pfarrsaal der Pfarre St. Karl, Wien, gehalten hat.

1. EINLEITUNG

In den Jahrzehnten seit dem 2. vatikanischen Konzil hat die Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanæ“ wie kein anderer Konzilstext das offizielle Verhältnis der Kirche zur Welt bestimmt. In der Auseinandersetzung mit dem atheistischen Kommunismus in den ersten Jahr-zehnten nach dem Konzil, und in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Islamismus im Nahen Osten auf der einen Seite und dem ideologischen Säkularismus im Westen auf der ande-ren Seite, präsentiert sich die kirchliche Diplomatie vor allem als Verteidigerin der Religionsfrei-heit. Und wie kein anderes Dokument verkörpert „Dignitatis humanæ“ den Wandel im Verhält-nis zwischen Kirche und moderner Welt am 2. Vatikanum. Ein Hauptanliegen des Konzils war es, das antagonistische Verhältnis der Kirche zur modernen Welt besonders seit der französi-schen Revolution zu überwinden, um zu einem friedlicheren Verhältnis zu kommen. Statt nur die Irrtümer des neuzeitlichen Liberalismus zu verdammen, wollte man die positiven Elemente und authentischen menschlichen Anliegen, die darin ausgedrückt waren, aufgreifen und durch eine übernatürliche Sichtweise reinigen und veredeln.1 Die Religionsfreiheit wurde als entscheidender Punkt in diesem Wandel gesehen. Denn die Freiheit des Gewissens und deswegen auch der Reli-gion war ein wichtiges Anliegen der Aufklärung und des bürgerlichen Liberalismus des 19. Jahr-hunderts, und die Opposition der vorkonziliaren Päpste gegen diese Freiheit war eine Hauptbe-gründung des modernen Antiklerikalismus und Laizismus.2

Der Wandel in der kirchlichen Einstellung zur Moderne scheint also in der Frage der Gewissens- und Religionsfreiheit besonders radikal. Hier scheint ein direkter Widerspruch zwischen der Leh-re des Konzils und der Lehre der Päpste des „pianischen Zeitalters“ (1789-1962) zu bestehen. Denn so leidenschaftlich die Kirche seit dem Konzil die Religionsfreiheit verteidigt, so leiden-schaftlich hat die vorkonziliare Kirche die Religionsfreiheit verurteilt und bekämpft. Wenn man die zentrale Aussage von „Dignitatis humanæ“ etwa mit dem Abschnitt zur Religionsfreiheit in

1 Vgl. Papst BENEDIKT XVI., Expergiscere homo. Ansprache an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der rö-mischen Kurie beim Weihnachtsempfang, 22. Dezember 2005 in AAS 95,1 (2006) 40-53; Dt.: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2005/december/documents/hf_ben_xvi_spe_20051222_roman-curia_ge.html (Zugriff am 15.10.2014). 2 Vgl. Martin RHONHEIMER, Christentum und säkularer Staat (Freiburg 32012) 134-139, 143; Eberhard SCHOCKEN-

HOFF, Das Recht, ungehindert die Wahrheit zu suchen. Die Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, in: Jan-Heiner TÜCK (Hg.), Erinnerung an die Zukunft. Das zweite vatikanische Konzil (Freiburg-Basel-Wien 22013) 702.

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der Enzyklika „Quanta cura“ des sel. Papstes Pius IX. vergleicht, dann scheint ein markanter Ge-gensatz zu bestehen:

Dignitatis Humanæ: „Das Vatikanische Konzil erklärt, dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von Seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, so dass in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen – innerhalb der gebührenden Grenzen – nach seinem Gewissen zu handeln.“3

Quanta cura: „Von dieser absolut falschen Vorstellung über die Regierung des Staates, scheuen sie sich nicht, die irrige Meinung zu begünstigen, welche für die katholische Kirche und das Heil der Seelen im höchsten Grad zum Untergang führt, die bereits Unser unmittelbarer Vorgänger seligen Andenkens, Gregor XVI., als Wahnsinn bezeichnet hat, und zwar, die Gewissens- und Religions-freiheit sei das eigene Recht eines jeden Menschen. Dieses Recht müsse das Gesetz in jeder wohl-geordneten Gesellschaft proklamieren und sicherstellen. Für die Bürger bestehe ein Recht auf eine allgemeine Freiheit, die weder durch die kirchliche, noch durch die staatliche Autorität einge-schränkt werden darf, und die ihnen erlaubt, ihre Ansichten und Empfindungen durch das gespro-chene Wort, durch Druckschriften, oder auf andere Weise offen bekanntzugeben und zu erklären.“4

Wird nicht hier vom Konzil genau das proklamiert, was Pius IX. unter Bezugnahme auf seinen Vorgänger Gregor XVI. als „Wahnsinn“ bezeichnet? Dieser scheinbar so offensichtliche Wider-spruch machte „Dignitatis humanæ“ zu einem der meist umstrittenen Dokumente am Konzil selbst. So viele Fragen und Einwände hatten verschiedene Konzilsväter zu den ersten drei Sche-mata, dass Papst Paul VI. entschied, die Abstimmung darüber aus der dritten in die vierte Sit-zungsperiode des Konzils zu verschieben.5 Daraufhin protestierte eine Gruppe von Konzilsvä-tern und bat den Papst „instanter, instantius, instantissime“ [mit aller größten Dringlichkeit], sei-ne Entscheidung rückgängig zu machen, um die öffentliche Meinung über das Konzil nicht zu vergiften.6 Dennoch wurde erst am Ende der vierten Periode über „Dignitatis humanæ“ abge-stimmt.7

Auch nach dem Konzil blieb die Frage, wie „Dignitatis humanæ“ zur vorhergehenden kirchlichen Lehre und Praxis stehe, umstritten.8 Jede Auslegung dieser Erklärung muss sich diese Frage stel-len und so hat sich eine Vielfalt von hermeneutischen Ansätzen entwickelt, die alle verschiedene Antworten auf die Frage geben — von der Behauptung eines radikalen Traditionsbruchs bis zu der Behauptung einer völligen Kontinuität mit der Tradition.

Im folgendem werde ich auf einige unzureichende Antworten eingehen, um dann die These des englischen Philosophen Thomas Pink zu erläutern und zu verteidigen. Nach Pink gibt es eine Kontinuität zwischen „Dignitatis humanæ“ und dem überlieferten Lehramt auf der Ebene der Prinzipien, eine Diskontinuität aber auf der Ebene der kirchlichen Disziplin im Bereich des Ver-hältnisses von Kirche und Staat. Er zeigt dies auf einerseits durch eine neue Interpretation der Verurteilung der Religionsfreiheit durch die Päpste des pianischen Zeitalters, in dem er die theo-retische Wurzeln dieser Verurteilungen in der Barockscholastik neu erschließt, andrerseits durch eine genaue Beachtung des Wortlauts von „Dignitatis humanæ“ selbst im Lichte dieser Unter-scheidungen.

3 Erklärung Dignitatis humanæ über die Religionsfreiheit, Nr. 2, zit. nach LThK2 Erg.-Bd. II 715-716. 4 PIUS IX., Enzyklika Quanta cura (1864), zit. nach http://www.kathpedia.com/index.php?title=Quanta_cura_(Wortlaut) (Zugriff am 7.10.2014). 5 Pietro PAVAN, Einleitung zur Erklärung über die Religionsfreiheit, in LThK2 Erg.-Bd. II 706-707. 6 PAVAN, Einleitung 706. 7 PAVAN, Einleitung 709-711. 8 SCHOCKENHOFF, Das Recht 703.

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Nach der Darstellung der Pink-These werde ich versuchen, die These zu verifizieren durch einen kurzen Blick auf die Kirchengeschichte sowie auf einige Personen, die die Lehre des II. Vatika-nums über Kirche und Welt, Gnade und Natur, Freiheit und Würde beeinflussten, nämlich den Philosophen Jacques Maritain und die Theologen Charles Journet, Henri De Lubac und John Courtney Murray.

2. VERSCHIEDENE HERMENEUTISCHE ANSÄTZE

2.1 Hermeneutik des Bruches

In seiner Weihnachtsansprache vor der römischen Kurie 2005 sprach Papst Benedikt XVI. von einer falschen Weise, das II. Vatikanische Konzil auszulegen, die von einer „Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches“ ausgeht.9 Da das Konzil tatsächlich das Verhältnis der Kirche zur Moderne neu bestimmen wollte, entstand leicht der Eindruck eines Bruches mit der Überlie-ferung, als könnte die Kirche das, was früher verbindlich gelehrt wurde, einfach aufgeben. Dem-gegenüber forderte Papst Benedikt eine „Hermeneutik der Reform.“ Es geht darum, die grund-sätzliche Kontinuität der Kirche zu bewahren, gleichzeitig aber auf der Ebene des Eingehens auf konkrete geschichtliche Situationen auch eine gewisse Diskontinuität zu zulassen.10 Zur Erläute-rung dieser Hermeneutik zitiert Papst Benedikt die Eröffnungsrede des hl. Papstes Johan-nes XXIII. am Konzil, in welcher Papst Johannes die Aufgabe des Konzils dahingehend definier-te, die „unveränderliche Lehre“ der Kirche für eine neue geschichtliche Situation zu formulieren, ohne den Sinn der Lehre zu verändern.11

Die Hermeneutik des Bruches wurde auf „Dignitatis humanæ“ besonders oft von Autoren ange-wandt, die keinen theologischen, sondern einen juristischen, historischen oder politikwissen-schaftlichen Zugang wählten.12 Aber auch jene, die von einem theologischen Standpunkt ausgin-gen, haben in „Dignitatis humanæ“ einen Bruch gesehen und haben verschiedene Erklärungsmo-delle entwickelt, um einen solchen Bruch gegenüber dem traditionellen Interpretationsprinzip der Kontinuität der kirchlichen Lehre zu rechtfertigen.

„Progressive“ Anhänger einer Hermeneutik des Bruches haben den Bruch dadurch erklärt, dass sie eine minimalistische Auffassung der Verbindlichkeit lehramtlicher Entscheidungen vertraten. Nach dieser Ansicht war die Verdammung der Religionsfreiheit etwa in „Quanta cura“ kein un-fehlbare Akt des päpstlichen Lehramts und daher reformierbar. Nach dieser Auffassung sind nur die aller feierlichsten Definitionen des Lehramtes unfehlbar, und daher sind viele „authentische“ Lehren der Kirche im Letzten als nicht verbindlich anzusehen. In diesem Sinne argumentiert Reinhold Sebott:

Wenn man QC (Quanta cura) nicht als unfehlbar qualifiziert, dann wird man natürlich auch eine Menge anderer Lehrentscheidungen nicht als unfehlbar qualifizieren dürfen. Der Kreis des Dogmas muss also sehr eng gezogen werden.13

9 BENEDIKT XVI., Expergiscere homo 46. 10 Vgl. Chad C. PECKNOLD, Pope Benedict’s Hermeneutic of Continuity. Very Theological Reflections on Theologi-cal Method (Vortrag am Symposium Reform and Renewal: Vatican II After 50 Years, The Catholic University of America, Washington DC, September 26-29, 2012): http://youtu.be/YiI_6JZebVA (Zugriff am 18.11.2014). 11 BENEDIKT XVI., Expergiscere homo 47. 12 Vgl. SCHOCKENHOFF, Das Recht 623-625. Schockenhoff erwähnt in diesem Zusammenhang Ernst-Wolfgang Bö-ckenförde, Klaus Schatz, Franz Xaver Bischof und Josef Insensee. 13 Reinhold SEBOTT, „Dignitatis humanæ“ und „Quanta cura.“ Die Verurteilung der Religionsfreiheit vor dem Zwei-ten Vatikanischen Konzil, in P. BOEKHOLT, I. RIEDEL-SPANGENBERGER (Hgg.), Iustitia et Modestia (München 1998) 183-192; hier 192.

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Diese Auffassung hat sich unter vielen Theologen durchgesetzt. Sie eignet sich nicht nur als Rechtfertigung für eine Hermeneutik des Bruches in der Auslegung des Konzils, sondern auch um die Infragestellung einer Vielzahl von kirchlichen Lehrsätzen zu Fragen des Glaubens und der Moral zu rechtfertigten. So sieht Sebott selbst den apostolische Brief Ordinatio sacerdotalis (1994), mit dem Papst Johannes Paul II. die Diskussion um die Empfang des Sakramentes des Ordo von Frauen beenden wollte, als nicht definitiv an.14 Diese Ansicht wurde schon in der Aus-einandersetzungen um die Enzyklika Humanæ vitæ Pauls VI. benutzt, um die Lehre, die der Papst als verbindlich vorgeben wollte, praktisch außer Kraft zu setzen.15 Ein solch übertriebener Minimalismus bezüglich des kirchlichen Lehramts ist aber kaum mit der Lehre mehrerer Konzi-lien und Päpste zur Verbindlichkeit des ordentlichen und allgemeinen Lehramtes zu vereinba-ren.16

„Traditionalisten“ wie der französische Erzbischof Marcel Lefebvre sahen hingegen die frühere Verurteilung der Religionsfreiheit als verbindlich an und lehnten deshalb die Lehre von Dignitatis humanæ rundweg ab.17 Die Position Lefebvres scheint etwas paradox, wenn nicht sogar wider-sprüchlich, denn aus seiner eigenen aus dem Ultramontanismus des 19. Jahrhunderts kommen-den Theologie kann er keine Erklärung vorlegen, wie es überhaupt möglich sein kann, dass ein ökumenisches Konzil der Tradition widerspricht.

Richtig an der Position Lefebvres ist aber soviel: In der Frage der Religionsfreiheit kann man nicht davon ausgehen, dass es sich nur um eine disziplinäre Frage handelt und nicht um Fragen des Glaubens und der Sitten, wozu sich die Kirche im ordentlichen und allgemeinen Lehramt verbindlich geäußert hat. Ein mit dem Traditionalismus mehr oder weniger sympathisierender Theologe, Klaus Obenauer, hat vor kurzen darauf hingewiesen, dass die Lehre des Konzils von Konstanz, die Kirche habe das Recht, Häretiker dem „weltlichen Arm“ zur Strafe zu übergeben, von Papst Martin V. bestätigt wurde. Er sieht nicht, wie die Lehre von Dignitatis humanæ damit zu harmonisieren sei, und meint:

Es stellt sich eben die Frage, wie DH (Dignitatis humanæ) ankommen soll gegen die über Jahrhun-derte verbindlich vorgetragene Lehre, und zwar vor dem Hintergrund kirchenamtlich gestützter Praxis, wonach es gerade kein natürliches Recht gibt, (zumal öffentlich) unbehelligt von der staatli-chen Gewalt das Dissidententum zu praktizieren. Ich sage: „es stellt sich die Frage, wie“. Und be-antwortet ist die bis zur Stunde nicht.18

2.2 Hermeneutik der bruchlosen Kontinuität auf allen Ebenen

Wenn es Verfechter einer Hermeneutik des Bruches gab und gibt, so gibt es auch Verfechter ei-ner Hermeneutik der nahtlosen Kontinuität auf allen Ebenen. Den katholischen Sozialethiker Thomas Storck können wir als typisches Beispiel nehmen.19 Storck stützt sich darauf, dass Digni-

14 SEBOTT, „Dignitatis humanæ“ 192. 15 Vgl. Janet E. SMITH, Humanæ Vitæ, a Generation Later (Washington 1998) besonders 155-169. 16 Vgl. Glaubenskongregation, „Professio Fidei“ und Lehranmerkung, die die Schlußformel des Glaubensbekennt-nisses erläutert, 29. Juni 1998 in Heinrich DENZINGER, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hg. von Peter HÜNERMANN (Freiburg 422009) Nr. 5070-5072. 17 Vgl. Marcel LEFEBVRE, Ils l’ont découronné (Escurolles 1987) 183-212; ders., Dubia sur la Déclaration conciliaire sur la liberté religieuse, présentés à la S.C.R. pour la Doctrine de la Foi (Ecône 1985) http://lacriseintegriste.typepad.fr/dubia.pdf (Zugriff am 18.10.14). 18 Klaus OBENAUER, Piusbruderschaft: Der angehaltene Zug – oder: Wie bekommt man das Signal wieder auf Grün? http://www.katholisches.info/2012/11/21/piusbruderschaft-der-angehaltene-zug-oder-wie-bekommt-man-das-signal-wieder-auf-grun/ (Zugriff am 18.10.2014). 19 Andere Beispiele bei: SCHOCKENHOFF, Das Recht 727-728.

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tatis humanæ in der Präambel explizit darauf hinweist, die überlieferte Lehre von der Pflicht der Gesellschaft gegenüber der wahren Religion nicht antasten zu wollen:

Da nun die religiöse Freiheit, welche die Menschen zur Erfüllung der pflichtgemäßen Gottesvereh-rung beanspruchen, sich auf die Freiheit von Zwang in der staatlichen Gesellschaft bezieht, lässt sie die überlieferte katholische Lehre von der moralischen Pflicht der Menschen und der Gesellschaf-ten gegenüber der wahren Religion und der einzigen Kirche Christi unangetastet.20

Unter den „Pflichten … der Gesellschaften gegenüber der wahren Religion“ will Storck auch die von den Päpsten des 19. Jahrhunderts eingeforderten Limitierung der Ausbreitung von „falschen Religionen“ mittels Zensur und ähnlichen Maßnahmen inkludiert sehen.21 Damit trägt er den scheinbaren Widerspruch in Dignitatis humanæ selbst hinein. Um diesen Widerspruch aufzuhe-ben, verwendet er eine sehr weite Auslegung der in Dignitatis humanæ genannten Grenzen des Rechtes auf Religionsfreiheit. In der (oben bereits zitierten) Zentralaussage von Dignitatis hu-manæ in Nr. 2 werden gewisse Grenzen des Rechtes auf Religionsfreiheit genannt: niemand darf gezwungen werden, „privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen – inner-halb der gebührenden Grenzen – nach seinem Gewissen zu handeln.“22 Diese „gebührenden Gren-zen“ werden in Nr. 7 näher bestimmt. Beim Gebrauch der Religionsfreiheit sei es notwendig, „die Rechte der andern wie auch die eigenen Pflichten den anderen und dem Gemeinwohl ge-genüber zu beachten.“ Der Staat habe die Pflicht, den „öffentlichen Frieden, der in einem geord-neten Zusammenleben in wahrer Gerechtigkeit besteht“, und „die öffentliche Sittlichkeit“ zu wahren.23 Nach Storck müsse man aber beachten, dass die Forderungen des Gemeinwohls in ver-schiedenen Staaten sehr unterschiedlich sein können. So enthalte das Gemeinwohl eines „katholi-schen Staates“, wie er von den Päpsten des pianischen Zeitalters gefordert wurde, gewisse Be-schränkungen der religiösen Aktivitäten nicht-katholischer Religionsgemeinschaften.24 Storck will in die Verdammung der Religionsfreiheit seitens der Päpste des 19. Jahrhundert keine grundsätz-liche Leugnung der Religionsfreiheit sehen, sondern nur eine Leugnung einer uneingeschränkten Re-ligionsfreiheit.25 Storck zufolge haben auch die vorkonziliaren Päpste eine Freiheit der Religions-ausübung im privaten Leben anerkannt. Lediglich im öffentlichen Bereich hatte der Staat die Pflicht, das Gemeinwohl auch durch Beschränkungen von religiösen Aktivitäten zu schützen.26

Meines Erachtens ist Storcks These aus einem zweifachen Grund unhaltbar. Erstens, weil er die Radikalität der vorkonziliaren Ablehnung der Religionsfreiheit unterschätzt. Wie Thomas Pink zeigt, und wie im weiteren Verlauf noch ausführlich darzustellen sein wird, hat die frühere Lehre nicht nur gewisse Beschränkungen des öffentlichen Wirkens nicht-katholischer Religionsgemein-schaften gefordert, sondern auch, dass Häretiker durch weltliche Sanktionen dazu gezwungen werden können, den katholischen Glauben wieder anzunehmen. Andrerseits wird Storck der Entschiedenheit, mit der Dignitatis humanæ die Nichtzuständigkeit des Staates für religiöse An-

20 Dignitatis humanæ 1; vgl. Thomas STORCK, Foundations of a Catholic Political Order (Beltsville 1998) 27. 21 STORCK, Foundations 21-26. 22 Dignitatis humanæ 2. 23 Dignitatis humanæ 7. 24 STORCK, Foundations 28-29: »...the “just requirements of public order,” the “due limits,” and considerations of the rights of others and of the common good vary considerably from society to society, and that in a society overwhelm-ingly and traditionally Catholic they could easily include restrictions, and even an outright prohibition, on the public activities of non-Catholic sects, particularly on their proselytizing activities.« 25 STORCK, Foundations 29: »Man’s religious liberty is real and the Council’s Declaration is not false or heretical; simply that the right to exercise such freedom is not the same in every place and time.« 26 STORCK, Foundations 29: »A non-Catholic has the real right, even in a Catholic state, to privately profess his own religion and privately meet with his co-religionists; in a liberal regime he has a right to considerably more freedom. In both cases the freedom is real, simply that the “requirements of public order” and of the common good differ.«

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gelegenheiten postuliert, nicht gerecht. Dignitatis humanæ begründet diese Nichtzuständigkeit in der Transzendenz des Religiösen über die „zeitliche“ (weltliche) Ordnung, dass

die religiösen Akte, womit sich der Mensch privat und öffentlich aufgrund einer geistigen Entschei-dung auf Gott hinordnet, ihrem Wesen nach die irdische und zeitliche Ordnung übersteigen. Dem-nach muss die staatliche Gewalt, deren Wesenszweck in der Sorge für das zeitliche Gemeinwohl besteht, das religiöse Leben der Bürger nur anerkennen und begünstigen, sie würde aber, wie hier betont werden muss, ihre Grenzen überschreiten, wenn sie so weit ginge, religiöse Akte zu bestimmen oder zu verhindern.27

Mit Storcks Verständnis eines „katholischen“ Staates, worin die Religion als wesentlicher Be-standteil des staatlichen Gemeinwohls gesehen wird, sind solche Aussagen kaum in Übereinstim-mung zu bringen.

2.3 Hermeneutik der Reform in Kontinuität

Nach dem hermeneutischen Prinzip von Papst Benedikt XVI. hat man in den Dokumenten des 2. Vatikanums weder einen kontradiktorischen Gegensatz zu früheren Lehren zu erwarten, noch aber eine bruchlose Kontinuität sondern vielmehr Reform: „die grundsätzlichen Entscheidun-gen“ behalten ihre Gültigkeit, „während die Art ihrer Anwendung auf neue Zusammenhänge sich ändern kann.“28 Papst Benedikt wendet dieses Prinzip dann auch explizit auf Dignitatis humanæ an:

So wird beispielsweise die Religionsfreiheit dann, wenn sie eine Unfähigkeit des Menschen, die Wahrheit zu finden, zum Ausdruck bringen soll und infolgedessen dem Relativismus den Rang ei-nes Gesetzes verleiht, von der Ebene einer gesellschaftlichen und historischen Notwendigkeit auf die ihr nicht angemessene Ebene der Metaphysik erhoben und so ihres wahren Sinnes beraubt, was zur Folge hat, dass sie von demjenigen, der glaubt, dass der Mensch fähig sei, die Wahrheit Gottes zu erkennen und der aufgrund der Wahrheit innewohnenden Würde an diese Erkenntnis gebunden ist, nicht akzeptiert werden kann. Etwas ganz anderes ist es dagegen, die Religionsfreiheit als Not-wendigkeit für das menschliche Zusammenleben zu betrachten oder auch als eine Folge der Tatsa-che, dass die Wahrheit nicht von außen aufgezwungen werden kann, sondern dass der Mensch sie sich nur durch einen Prozess innerer Überzeugung zu Eigen machen kann.29

Hier zeigt Papst Benedikt, dass kein direkter Widerspruch zwischen Dignitatis humanæ und der Verurteilung der Religionsfreiheit etwa in Quanta cura besteht, denn „Religionsfreiheit“ bedeutet in „Quanta cura“ etwas anderes als in „Dignitatis humanæ.“30 Dennoch lässt die Auslegung von Papst Benedikt manche Fragen offen. Wie ist das Zusammenspiel von Kontinuität (auf der Ebe-ne der Grundsätze) und Diskontinuität (auf der Ebene der Anwendung auf Zusammenhänge der Zeit) im Detail zu bestimmen?

Ausgehend von Papst Benedikts Ansatz haben einige Theologen versucht, das Problem ausführ-lich zu durchdringen. Ich möchte kurz zwei Versuche, die ich als unzureichend ansehe, darstellen, bevor ich im darauffolgenden Abschnitt auf die Lösung von Thomas Pink eingehe.

Eberhard Schockenhoff bezieht sich explizit auf das von Papst Benedikt XVI. formulierte Zu-sammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität. Dennoch kommt er im konkreten Versuch, dieses Zusammenspiel zu bestimmen, praktisch zur von Papst Benedikt zurückgewiesenen Her-meneutik des Bruches. Er sieht zwar „klare Kontinuitätslinien“ zwischen Dignitatis humanæ und

27 Dignitatis humanæ 3. 28 Expergiscere homo 50. 29 Expergiscere homo 50. 30 Vgl. SCHOCKENHOFF, Das Recht 729.

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der früheren Lehre auf der Ebene des Verhältnisses von Wahrheit und Freiheit, klare Brüche er-kennt er aber nicht nur in der Anwendung auf bestimmte Situationen:

Dennoch liegt die Wahrheit nicht einfach in der Mitte zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Denn auch auf der hermeneutischen Tiefenebene, auf der das Konzil sich um eine angemessene Vermittlung von Wahrheit und Freiheit bemüht, ist ein Perspektivenwechsel unverkennbar […]. Je-denfalls reicht es nicht aus, auf einer theologischen oder philosophisch-ethischen Prinzipienebene eine ungebrochene Kontinuität kirchlicher Lehrentwicklung zu behaupten und nur hinsichtlich der Anwendung dieser Prinzipien auf veränderte geschichtliche Situationen einen Wandel zuzugeben.31

Nach Schockenhoff macht sich die Kirche in Dignitatis humanæ den „harten Kern“ der moder-nen Freiheitsrechte zu Eigen.32 Und dies bedeutet für ihn auch einen Paradigmenwechsel im Ver-ständnis des Verhältnisses von Wahrheit und Freiheit sowie von menschlichem Subjekt und Wahrheit.33 Dieser Paradigmenwechsel müsste eigentlich, so Schockenhoff, auch eine Implikation haben für das Verhältnis von Wahrheit und Freiheit in der Kirche selbst. So müssten die Hirten der Kirche die Freiheit der ihnen anvertrauten Herde respektieren und sollten sich deshalb zu ei-nem „dialogisch-kommunikativen und argumentativ-werbenden Stil“ des Lehrens verpflichten. Wie wir aber weiter unten sehen werden, widerspricht diese Ansicht der feierlich verkündeten Lehre des Konzils von Trient, nach der die Getauften von der Kirche durch Sanktionen im wah-ren Glauben gehalten werden müssen.

Martin Rhonheimer vertritt eine ähnliche Auslegung wie Schockenhoff, sieht aber etwas mehr Kontinuität und etwas weniger Diskontinuität. Nach Rhonheimers Auffassung ist tatsächlich eine Kontinuität in den Grundsätzen des Verhältnisses von Freiheit und Wahrheit festzustellen. Rhonheimer gibt sogar zu, dass die Kirche einen gewissen Zwang (sogar mit „zeitlichen“ Folgen) auf ihre Glieder ausüben kann.34 Er leugnet aber, dass sie dafür den Staat als „brachium sæculare“ in Anspruch nehmen darf. Genau auf dieser Ebene, auf der Ebene des Verhältnisses von Kirche und Staat, sieht er die Diskontinuität zwischen Dignitatis humanæ und der früheren Lehre. Nach Rhonheimer bricht Dignitatis humanæ mit der früheren Lehre der Kirche zur „Funktion und Aufgaben des Staates.“35 Wenn die frühere Lehre behauptete, der Staat müsse sich der Kirche un-terordnen und ihr als „weltlicher Arm“ zur Verfügung stellen, so leugnet dies Dignitatis humanæ und fordere stattdessen eine legitime Säkularität des Staates. Dies sei kein Bruch mit der heiligen Schrift und der apostolischen Überlieferung der Kirche, welchen „die Idee des ‚katholischen Staa-tes‘ als weltlicher Arm der Kirche unbekannt“ sei,36 sehr wohl aber ein Bruch mit früheren situa-tionsgebundenen kirchlichen Forderungen. Nach Rhonheimer steht Dignitatis humanæ am Ende eines langen Lernprozesses der Kirche, in welcher sie nach und nach die Implikationen der ur-sprünglichen christlichen/jesuanischen Lehre von der Unterscheidung zwischen dem, was dem Kaiser gehört, und dem, was Gott gehört, wieder entdeckt.37

Auf Rhonheimers subtile Argumentation werde ich noch zurückkommen. Hier möchte ich nur auf Folgendes hinweisen: die kirchliche Lehre zum Recht der Kirche, den Staat als „weltlichen

31 SCHOCKENHOFF, Das Recht 734. 32 Eberhard SCHOCKENHOFF, Erlöste Freiheit. Worauf es im Christentum ankommt (Freiburg 2012) 15. 33 SCHOCKENHOFF, Erlöste Freiheit 42-45, ders. Das Recht 733-734. 34 Vgl. Martin RHONHEIMER, Dignitatis Humanae – Not a Mere Question of Church Policy. A Response to Thomas Pink, in: Nova et Vetera, English Edition, 12,2 (2014): 445-470, hier 454-455. 35 Martin RHONHEIMER, Die Hermeneutik der Reform und die Religionsfreiheit, 28.11.2009 http://www.kath.net/news/24068 (Zugriff am 21.10.2014); vgl. ders., Christentum und säkularer Staat, besonders 156-163; vgl. auch ders., Dignitatis Humanae – Not a Mere Question. 36 RHONHEIMER, Die Hermeneutik der Reform. 37 Vgl. Dazu besonders RHONHEIMER, Christentum und säkularer Staat 33-191.

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Arm“ in Anspruch zu nehmen, besitzt höhere lehramtliche Autorität als er annimmt. Dies belegt etwa der von Papst Martin V. bestätigte Kanon des Konzils von Konstanz.38

3. DIE THESE VON THOMAS PINK

Einen neuen Zugang zum Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität in der kirchlichen Lehre über die Religionsfreiheit hat der englische Philosoph Thomas Pink vorgelegt.39 Pink ist ein ausgewiesener Fachmann für die Philosophie des Thomas Hobbes (1588-1679). Weil es ein Hauptanliegen von Hobbes in „Leviathan“ war, die katholische Behauptung, wonach die Kirche eine eigene Zwangsgewalt unabhängig vom Staat habe, zurückzuweisen,40 hat Pink die in der da-maligen Zeit vorgelegten Argumente für die katholische Position von Robert Bellarmin und Francisco Suarez eingehend untersucht. Dabei ist ihm aufgefallen, dass die Frage von Zwang in religiösen Angelegenheiten von Bellarmin und Suarez in einem anderen Zusammenhang gesehen wurde, als es gegenwärtig üblich ist. In unserer Zeit ist es üblich, die Frage nach Freiheit und Zwang in religiösen Belangen als eine Frage nach der Kompetenz des Staates zu sehen: Hat die Staatsgewalt das Recht oder nicht, in religiösen Angelegenheiten Zwang anzuwenden? Außerdem wird dieser Zwang als ein Verbieten oder Anordnen von öffentlichen religiösen Handlungen ge-sehen, nicht aber als Anordnung des inneren Glaubensaktes.41 Bei Bellarmin und Suarez wird die Frage anders gestellt. Sie fragen nicht in erster Linie nach der Kompetenz des Staates sondern nach der Kompetenz der Kirche. Denn, wie bereits angedeutet, hat die Kirche nach katholischer Auffassung als „societas perfecta“ (vollkommene Gemeinschaft) eine eigene Zwangsgewalt, d.h. die Autorität, verbindliche Gesetze zu promulgieren und mit Zwang durchzusetzen. Die Kirche hat nicht nur diese juristische Dimension, aber sie hat auch eine juristische Dimension. Deswegen sind die Gesetze nicht nur Regeln eines Vereins, die nur so lange binden, wie jemand Mitglied des Vereins bleiben will, sondern im eigentlichen Sinn Gesetze.42

Diese gesetzliche Gewalt der Kirche erstreckt sich aber nur über ihre eigene Glieder und Glied der Kirche wird man durch die Taufe. Durch die Taufe sind die Getauften in den Leib der Kir-che für immer eingegliedert und sind deswegen auch für immer ihren Gesetzen unterworfen. Die Einhaltung der Pflichten, die aus dem Sakrament der Taufe fließen, kann deswegen von der Kir-che verbindlich eingefordert werden und ihre Missachtung mit Sanktionen bestraft werden.43 Als mit Zwangsgewalt ausgestattete „societas perfecta“ hat die Kirche die Autorität, nicht nur geistli-che Sanktionen (wie Ausschließung von den Sakramenten usw.) zu verhängen sondern auch

38 Vgl. DENZINGER/HÜNERMANN, Kompendium 1272: »… bei einem Anwachsen des Ungehorsams oder der Wi-derspenstigkeit der Exkommunizierten die Vorsteher oder ihre Stellvertreter in geistlichen Dingen die Vollmacht hätten, zu verschärfen und nochmals zu verschärfen, ein Interdikt zu verhängen und den weltlichen Arm anzuru-fen…«. 39 Vgl. Thomas PINK, What is the Catholic doctrine of religious liberty? (Vortrag, Trumau, Juni 2012); ders., The Right to Religious Liberty and the Coercian of Belief. A Note on Dignitatis Humae, in: John KEOWN, Robert P. GEORGE (Hgg.), Reason, Morality, and Law. The Philosophy of John Finnis (Oxford 2013) 427-442; ders., Con-science and Coercion. Vatican II’s Teaching on Religious Freedom Changed Policy, not Doctrine, in: First Things 225 (2012): 45-51; ders., The Interpretation of Dignitatis Humanae: A Reply to Martin Rhonheimer, in: Nova et Vet-era, English Edition 11,1 (2013): 77-121; ders., Jacques Maritain and the Problem of Church and State (Vortrag, Mundeleine, Oktober 2013) https://www.academia.edu/8576510/Jacques_Maritain_and_the_problem_of_Church_and_State (Zugriff: 21.10.2014); ders., Suarez and Bellarmine on the Church as Coercive Lawgiver (Vortrag, Bologna, Dezember 2013) https://www.academia.edu/8577465/Suarez_and_Bellarmine_on_the_Church_as_Coercive_Lawgiver (Zugriff am 21.10.2014). 40 Vgl. PINK, Suarez and Bellarmine 187. 41 Vgl. PINK, What is the Catholic doctrine 1-2. 42 PINK, Suarez and Bellarmine 187-188. 43 PINK, Suarez and Bellarmine 188.

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„weltliche“ Strafen. Diese Lehre wurde am Konzil von Trient mit sehr hoher lehramtlicher Ver-bindlichkeit definiert. Gegen die Position von Erasmus, wonach Glieder der Kirche, die als Kin-der getauft wurden, später nicht zur Einhaltung ihres Versprechen gezwungen werden dürfen, definiert das Tridentinum wie folgt:

Wer sagt, solche kleinen getauften Kinder müssten, wenn sie herangewachsen sind, gefragt werden, ob sie anerkennen wollen, was die Paten in ihrem Namen, als sie getauft wurden, versprochen ha-ben, und wenn sie antworteten, sie wollten nicht, müssten sie ihrem eigenen Gutdünken überlassen werden und dürften inzwischen mit keiner anderen Strafe zum christlichen Leben gezwungen wer-den, als dass sie vom Empfang der Eucharistie und der anderen Sakramente ferngehalten werden, bis sie wieder Vernunft annehmen: der sei mit dem Anathema belegt.44

Eine Hauptverpflichtung, die aus der Taufe fließt, ist die Verpflichtung zu glauben. Nach der tra-ditionellen Position gehört es zum Wesen des Glaubens, dass er frei angenommen wird, deswe-gen muss auch die Taufe frei angenommen werden und deswegen hat die Kirche immer Zwangs-taufen verurteilt.45 Wenn jemand aber durch die Taufe den Glauben empfangen hat, ist er ver-pflichtet, ihn zu halten. Mit dieser Begründung lehrt z.B. der hl. Thomas von Aquin, dass obwohl Heiden und Juden nie zum christlichen Glauben gezwungen werden dürfen, Häretiker, die vom Glauben abgefallen sind, sehr wohl zur Rückkehr gezwungen werden können.46 Papst Pius VI. hat diese Lehre in „Quod aliquantum“ (1791) bestätigt: „(Ungetaufte Menschen) sind nicht zum Gehorsam gegenüber dem katholischen Glauben zu zwingen; die anderen hingegen muss man dazu zwingen.“47 Das hieß konkret, dass die Päpste etwa in der Zeit der Gegenreformation das Recht in Anspruch nahmen, Protestanten zum katholischen Glauben zu zwingen. Denn, da es nur die eine Taufe gibt, sind auch Protestanten durch die Taufe der Jurisdiktion der katholischen Kirche unterworfen.48

Die Lehre, dass die Getauften nicht nur zu bestimmten äußeren Handlungen gezwungen werden dürfen, sondern auch zum inneren Akt des Glaubens, ist unserer Zeit fremd. Wie Pink heraus-stellt, hat dies nicht zuletzt mit dem Einfluss der Philosophie von Hobbes und Locke zu tun, nach der ein Zwang zu einem Glaubensakt nicht nur de jure verboten sein sollte, sondern auch de facto eine Unmöglichkeit darstellt.49 Aber nach der scholastischen Auffassung hat gesetzlicher Zwang eine pädagogische Wirkung, welche den Gliedern der Kirche zum authentischen Glauben helfen kann.50 Da den Getauften durch die Taufe selbst der Glauben eingegossen ist, führen Zwangsmaßnahmen nicht notwendig zu Heuchelei, sondern können den Getauften dazu brin-gen, der Existenz des Glaubens Aufmerksamkeit zu schenken und so den wahren Glauben (wie-der) zu entdecken.

In der Ausübung dieses Zwangs hat die Kirche das Recht in Anspruch genommen, die „weltli-che“ Gewalt als Instrument oder Organ (Arm) zu benutzen. Dies bedeutete aber nicht, dass die Staatsgewalt von sich aus Jurisdiktion über Glaubenssachen hätte. Insofern der Staat als „weltli-cher Arm“ der Kirche tätig wurde, handelte er ja gerade nicht auf Grund eigener Vollmacht, son-dern nur als von der Kirche beauftragt. Im 19. Jahrhundert wurde diese Unterscheidung sehr deutlich von Papst Leo XIII. eingeschärft:

44 Denzinger/Hünermann 1627; vgl. PINK, What is the Catholic doctrine 15-16. 45 Vgl. Dignitatis humanæ 11-12 mit verweise auf viele patristische und lehramtliche Belege. 46 Vgl. THOMAS von Aquin, Summa theologiæ IIa-IIæ, q10, a8. 47 Zit. nach: RHONHEIMER, Die Hermeneutik; vgl. ders., Christentum und säkularer Staat 148-149, Anmerkung 157. 48 Vgl. PINK, Suarez and Bellarmine 188. 49 Vgl. Pink, What is the Catholic doctrine 6. 50 Vgl. Pink, What is the Catholic doctrine 6-9; vgl. auch Michel THERRIEN, Law, Liberty & Virtue. A Thomistic De-fense for the Pedagogical Character of Law (Dissertation, Fribourg, 2007).

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Deshalb hat Gott die Sorge für das menschliche Geschlecht unter zwei Gewalten aufgeteilt, näm-lich die kirchliche und die bürgerliche, wobei die eine über die göttlichen, die andere über die menschlichen Dinge gesetzt ist. (…) Was immer also in den menschlichen Dingen in irgendeiner Weise heilig ist, was immer sich auf das Heil der Seelen oder die Verehrung Gottes bezieht – sei es, dass es seiner Natur nach so beschaffen ist, sei es auch, dass es wegen der Ursache, auf die es zu-rückgeführt wird, als solches erkannt wird –, das steht ganz in der Vollmacht und Entscheidungsbe-fugnis der Kirche; das übrige aber, was den bürgerlichen und politischen Bereich umfasst, ist zu-recht der bürgerlichen Autorität unterworfen …51

Nach Leo XIII. hat der Staat als solcher also überhaupt keine Kompetenz in religiösen Dingen. Dennoch kann die Kirche den Staat als Instrument benutzen.

Im Lichte dieser Einsichten kommt Pink zu einem neuen Verständnis von Dignitatis humanæ. Tatsächlich hat auch nach der früheren Lehre die menschliche Person ein Recht auf Freiheit von Zwang in religiösen Dingen seitens „jeglicher menschlichen Gewalt“ (Dignitatis humanæ 2) – denn keine menschliche (weltliche) Gewalt hat in Glaubensfragen Jurisdiktion. So ist Dignitatis humanæ 3 auch ganz in der Linie der Tradition, wenn sie darauf hinweist, dass „religiöse Akte“ „ihrem We-sen nach die irdische und zeitliche Ordnung übersteigen“ und dass der Staat seine Grenzen über-steigen würde, würde er sie auf eigene Faust anordnen oder verbieten.52

Diese Ausführungen berühren jedoch nicht die Frage nach der Autorität der geistlichen Gewalt der Kirche, religiöse Akte durch Zwangsgewalt anzuordnen oder zu verbieten. Denn Dignitatis humanæ spricht explizit davon, dass die Frage nach der Zwangsgewalt der Kirche nicht behan-deln werden soll und auch sollen die früheren Lehren dazu nicht aufgehoben werden. In diesem Sinn liest Pink die folgende, schon zitierte, Passage aus Dignitatis humanæ 1:

Da nun die religiöse Freiheit, welche die Menschen zur Erfüllung der pflichtgemäßen Gottesvereh-rung beanspruchen, sich auf die Freiheit von Zwang in der staatlichen Gesellschaft bezieht, lässt sie die überlieferte katholische Lehre von der moralischen Pflicht der Menschen und der Gesellschaf-ten gegenüber der wahren Religion und der einzigen Kirche Christi unangetastet.

Das heißt, nach Pink behandelt Dignitatis humanæ die Religionsfreiheit nur in Bezug auf die staatliche Gewalt. Das Konzilsdokument schweigt hingegen zu der Frage nach dem Recht der Kirche, religiöse Akte zu erzwingen, ob mit oder ohne Hilfe des weltlichen Armes. Diese Lese-weise sieht Pink darin bestätigt, dass einige Konzilsväter die Hinzufügung eines klärenden Ab-schnittes vorgeschlagen hatten. In diesem sollte klargestellt werden, dass das Recht der Kirche, Sanktionen gegen Glieder der Kirche, die den Glauben oder die Disziplin der Kirche nicht be-wahren, verhängen zu können, weiterhin bestünde. Dieser Vorschlag wurde aber mit folgender Begründung abgelehnt: „Der Vorschlag wird nicht angenommen, da hier nicht über Pflichten und Rechte der Kirche gehandelt wird, noch wird die Frage nach der Freiheit innerhalb der Kir-che selbst behandelt.“53

Freilich, genau dadurch, dass Dignitatis humanæ die Pflicht der christlichen Herrscher nicht er-wähnt, ihre Gewalt der Kirche als Instrument zur Verfügung zu stellen, verzichtet die Kirche da-rauf, diese Gewalt in Anspruch zu nehmen. Das bedeutet aber keinen Bruch in der Lehre über diese Pflicht, sondern nur eine disziplinäre Änderung für die gegenwärtige Zeit, in der sowieso kein „Herrscher“ bereit wäre, der Kirche in dieser Weise zu dienen.54 Damit wendet Pink tatsäch-

51 Papst LEO XIII, Immortale Dei, Nr. 11-14, zit. nach: DENZINGER/HÜNERMANN 3168. 52 Vgl. PINK, The Catholic Doctrine. 53 Acta Synodalia Sacrosancti Concilii Oecumenici Vaticani II, Vol. 4, Pars 6, 763, vgl. PINK, What is the Catholic doctrine of religious liberty? 34. 54 Vgl. PINK, Conscience and Coercian.

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lich die „Hermeneutik der Reform“ an – Kontinuität in den Grundsätzen, Diskontinuität in ihrer Anwendung.

Ich fasse die Pink-These zusammen:

Es gibt ein Recht auf Religionsfreiheit;

Dieses Recht bedeutet, dass keine menschliche Gewalt den Menschen zu religiösen Akten zwingen darf oder ihn daran hindern darf (außer um die öffentliche Ordnung zu bewah-ren);

Die Kirche als geistliche Gewalt darf die Getauften (und nur diese) dazu zwingen, ihren Taufversprechen treu zu bleiben;

Dafür kann sie auch Gebrauch von der weltlichen Gewalt als Instrument zur Durchset-zung machen;

Dignitatis humanæ behandelt die Religionsfreiheit nur in Bezug auf die weltliche Gewalt;

Praktisch bedeutet Dignitatis humanæ eine Änderung der kirchlichen Disziplin, weil die Kirche von ihrem Recht, weltliche Gewalt als Instrument zu benutzen, gegenwärtig kei-nen Gebrauch macht.

Meines Erachtens ist die Auslegung von Pink überzeugend. Nicht alle teilen aber diese Überzeu-gung. Martin Rhonheimer hat z.B. seine eigene (schon dargelegte) Position gegen Pink vertei-digt.55 Um die Position Pinks gegen die Einwände von Rhonheimer zu verteidigen, möchte ich einen kurzen Blick auf die gesamte Geschichte des Verhältnisses von Christentum und weltlicher Gewalt werfen. Dabei werde ich mich auf den von Rhonheimer selbst56 vorgelegten Geschichts-abriss stützen, jedoch gegenteilige Schlussfolgerungen ziehen.

4. WELTLICHER UND GEISTLICHER GEWALT – EIN BLICK AUF DIE GESCHICHTE

Der Antike war eine Unterscheidung zwischen geistlicher und weltlicher Macht fremd. In den griechischen Stadt-Staaten und später in Rom war die Verehrung der Götter ein wichtiger Be-standteil des politischen bzw. des imperialen Lebens. So zählt Aristoteles den Gottesdienst zu den wichtigsten Elementen des gesellschaftlichen Lebens, das in der Polis nicht fehlen darf: „An fünfter Stelle, aber eigentlich zuerst, muss es die Sorge um die Religion geben, welches gemeinhin Gottesdienst genannt wird.“57 Die Götterverehrung wird im heidnischen Bereich, besonders in Rom, als Garant für den Erfolg des Politischen/Imperialen gesehen.58 Auch im Volk Israel gibt es keine Unterscheidung zwischen geistlicher und weltlicher Macht. Hier gibt Gottes Offenba-rung direkt und unmittelbar eine politische Ordnung vor.

In dieser Hinsicht brachte das Christentum etwas Neues. Es sprach der bestehenden politischen Ordnung nicht jede Legitimität ab und sah in ihr eine in der Schöpfungsordnung Gottes begrün-dete, von Seiner Vorsehung gefügte Autorität, die jedoch gleichzeitig auch als von der Sünde verwundet und der Heilung bedürftig erkannt wird. Aber nicht nur Heilung sondern auch Auf-hebung und Überbietung in und durch die eschatologische Realität, die noch nicht eingetreten ist. Die Schöpfungsordnung wurde so als eine zwar gute aber dennoch vorläufige Realität erkannt, die in Beziehung von Zeichen und Vorausbild zum kommenden Reich steht. Das berühmte Her-

55 RHONHEIMER, Not a Mere Question. Siehe oben, Anmerkung 32. 56 RHONHEIMER, Christentum und säkularer Staat, erster Teil. 57 ARISTOTELES, Politik VII,8 1328b 13. 58 Vgl. die immer noch klassische Studie des 19. Jahrhunderts: Numa Denis FUSTEL DE COULANGE, The Ancient City. A Study on the Religion, Laws, and Institutions of Greece and Rome, üb. Willard Small (Boston 1877).

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renwort, wonach man dem Kaiser das geben soll was ihm gehöre, und Gott das, was ihm gehöre (vgl. Mt 22,21), entsprach nicht den Erwartungen der damaligen Zeit, nach denen der Messias die Fremdherrschaft der Römer durch die Gottesherrschaft ablösen sollte. Jesus hob die bestehende Ordnung nicht auf, legte in sie einen Samen, der mitten in der alten Realität wachsen sollte. Erst bei der Wiederkunft des Herrn wird die bestehende Ordnung aufgehoben und das neue Jerusa-lem errichtet.

In der Zeit zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft des Herrn gilt für die Christen, dass sie in der Welt leben und zwar sowohl für die „zeitlichen“, d.h. vergänglichen, vorläufigen Güter, als auch für die überzeitlichen Güter der kommenden Welt. Schon bald bildet sich innerhalb der christlichen Gemeinde selbst eine Unterscheidung heraus zwischen denjenigen, die sich primär dem Dienst am Wort Gottes und damit den Gütern der kommenden Welt zu widmen haben, nämlich den Aposteln, und denjenigen, denen von Amts wegen die Sorge um die zeitlichen Güter aufgetragen wird, nämlich den Diakonen (vgl. Apg 6).

Auch die weltliche Macht des Kaisers wird als eine notwendige Unterstützung für die Gemeinde erachtet, welche das friedliche Leben und dadurch die Ausübung der Frömmigkeit und die Aus-breitung des Evangeliums erleichtert (vgl. 1 Tim 2,1-4). Der Kaiser erhält seine Autorität direkt von Gott und kann in Gottes Namen Ungerechtigkeit bestrafen (vgl. Röm 13,1-5).59 Gegen die Verfolgung der Christen durch die Kaiser forderten die frühen Kirchenväter Religionsfreiheit.60

Nach der konstantinischen Wende geriet das Christentum in die Gefahr, vom römischen Reich zur Sicherung der weltlichen Macht instrumentalisiert zu werden, wie es bei den alten heidnischen Kulten üblich war. Die Kirchenväter, insbesondere Ambrosius von Mailand und Athanasius von Alexandrien, protestierten gegen diese Verzweckung des Evangeliums.61 Sie bestanden auf zwei Prinzipien: 1.) „der Primat des Spirituellen über das Irdisch-Weltliche“ und 2.) „die Hinordnung alles Irdisch-Weltliche auf das Himmlische und Ewige“.62 Diese Prinzipien wurden so angewen-det, dass man in der weltlichen Autorität des Kaisers ein Hilfsmittel sah, um den wahren Glauben zu bewahren. So setzte man imperiale Gewalt ein, um die arianische Häresie zu unterdrücken.63 Rhonheimer findet den „Enthusiasmus“, mit dem die Kirchenväter die weltliche Gewalt als In-strument zur Wahrung der Rechtgläubigkeit sahen, „erstaunlich“.64 Doch sein Erstaunen ist auch auf eine Petitio principii zurückzuführen. Denn nur weil er schon von vornherein die direkte Ab-leitung der weltlichen Autorität als „Souveränität“ und „Unabhängigkeit gegenüber religiösen Ordnungsansprüchen“65 versteht, muss ihm die patristische Anwendung dieses Prinzips unzu-länglich erscheinen. Mir scheint es zutreffender zu sein, die patristische Auslegung als Schüssel für das authentische Verständnis der Unterscheidung von Weltlichem und Geistlichem bei gleichzeitiger Unterordnung des Weltlichen unter das Geistliche zu sehen.

Die Plünderung Roms durch die Westgoten im Jahre 410 erschien vielen Römern als eine Wider-legung des Christentums. Offensichtlich hatte das Christentum die Funktion der Religion als Ga-rant der Sicherheit des Staates nicht erfüllen können. Augustinus von Hippo antwortet auf diesen Vorwurf mit seinem großen Werk „De civitate Dei“. Die wahre Religion, so Augustinus, besteht nicht, um die vorübergehende Ordnung dieser Welt zu sichern, sondern um den Gottesstaat auf-zubauen, der erst am Ende der Zeiten ganz verwirklicht sein wird. Der Gottesstaat gründet auf

59 Vgl. RHONHEIMER, Christentum und säkularer Staat 40-44. 60 Vgl. RHONHEIMER, Christentum und säkularer Staat 42-43. 61 Vgl. RHONHEIMER, Christentum und säkularer Staat 49. 62 RHONHEIMER, Christentum und säkularer Staat 46. 63 Vgl. RHONHEIMER, Christentum und säkularer Staat 49, 51. 64 RHONHEIMER, Christentum und säkularer Staat 49. 65 RHONHEIMER, Christentum und säkularer Staat 41.

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eine Liebe zu Gott, die die Bürger des Gottesstaates zu einer Verachtung ihrer selbst und Gering-schätzung aller irdischen Dinge führt.66 Deswegen lässt die göttliche Vorsehung zu, dass „zeitli-che“ Katastrophen auch in die Regierungszeiten christlicher Kaiser fallen, um die Menschen zu belehren, dass sie nicht um des weltlichen Vorteils willen Gott dienen.67 Die zeitlichen Dinge müssen auf die ewigen hingeordnet sein,68 doch wird diese Hinordnung bis zur Wiederkunft des Herrn nie spannungslos gelingen, denn es besteht auf dieser Erde noch ein zweiter Staat neben dem Gottesstaat, nämlich die „civitas terrena,“ der irdische Staat. Dieser Staat ist gegründet auf die egoistische Selbstliebe, die sich bis zur Verachtung Gottes steigert.69 Diese zwei Staaten liegen ständig im Kampf. Zwar sind beide aus verschiedenen Gründen an zeitlichem Frieden interes-siert, so dass eine gewisse Kooperation in zeitlichen Fragen möglich wird.70 Doch darf diese zeit-liche Kooperation nicht, wie Rhonheimer behauptet, als „Freisetzung der Säkularität der staatli-chen Gewalt“71 verstanden werden, denn der irdische Staat kann nicht der wahren Religion ge-genüber neutral sein. Immer bekämpft er die wahre Religion.72 Deswegen sieht Augustinus es als sinnvoll an, dass die zeitlichen Dinge von christlichen Herrschern geordnet werden sollen.73 Christliche Herrscher sollten keineswegs neutral in religiösen Fragen sein. Sie sollten vielmehr die wahre Religion fördern und sogar Häretiker bestrafen.74 Gerechtigkeit besteht darin, jedem das Seine zu geben, weswegen nicht nur jeder Mensch, sondern auch jede Gesellschaft Gott die ihm gebührende Ehre erweisen muss.75

Weil der christliche Herrscher dafür Sorge zu tragen hat, dass die Gesellschaft Gott das Seine gibt, so könnte leicht die Meinung entstehen, er müsse eine gewisse Autorität in geistlichen Din-gen und damit eine bischöfliche Autorität besitzen. Doch diese Auffassung wurde immer von der Kirche zurückgewiesen. So lehrte der hl. Papst Gelasius I., dass die bischöfliche Autorität und die königliche Gewalt zwei verschiedene, jeweils von Gott eingesetzte Prinzipien sind, und der Vor-rang des Geistlichen vor dem Zeitlichen impliziert, dass sich der Kaiser in Angelegenheiten, die das ewige Heil betreffen, der priesterlichen Autorität zu unterwerfen habe.76

Doch wurde diese Rangordnung von den Herrschern zunächst im Oströmischen Reich und spä-ter, nach der translatio imperii im Jahr 800 von den Karolingern und ihren Nachfolgern, oft nicht akzeptiert. Im Westen entwickelte sich langsam ein Konflikt zwischen dem Papst und dem Kaiser über das Verhältnis der beiden Gewalten. Im Hochmittelalter spitzte sich dieser Konflikt im In-vestiturstreit zu. Die Päpste von Gregor VII. bis Bonifatius VIII. stellten heraus, dass die Unter-ordnung des Zeitlichen unter das Geistliche auch eine juridische Unterordnung der weltlichen Gewalt unter die priesterliche impliziert. Die priesterliche Gewalt wird nicht nur als „Auctoritas“, sondern als echte „Potestas“ mit Zwangsgewalt gesehen. Für Rhonheimer kommt die Bezeich-

66 Vgl. AUGUSTINUS, De civitate Dei XIV, 28. 67 Vgl. AUGUSTINUS, De civitate Dei V, 25. 68 Vgl. AUGUSTINUS, De civitate Dei XIX, 17. 69 Vgl. AUGUSTINUS, De civitate Dei XIV, 28. 70 Vgl. AUGUSTINUS, De civitate Dei XIX, 17. 71 RHONHEIMER, Christentum und säkularer Staat 55. 72 Vgl. Tracey ROWLAND, Augustinian and Thomist Engagements with the World, in: American Catholic Philosoph-ical Quarterly, 83,3 (2009): 441-459, hier besonders 446-449; E.J. HUTCHINSON, Whose Augustine? Which Augustin-ianism?, in: The Calvinist International (August 2014): http://calvinistinternational.com/2014/08/14/whose-augustine-augustinianism/ (Zugriff am 31.10.2014); Donald X. BURT, Friendship and Society. An Introduction to Augustine’s Practical Philosophy 200-227. 73 Vgl. ROWLAND, Augustinian and Thomist Engagements 448. 74 Vgl. ROWLAND, Augustinian and Thomist Engagements 448-449; BURT, Friendship and Society 200-227. 75 „Wenn daher der Mensch Gott nicht dient, was hat man dann von seiner Gerechtigkeit zu halten? [...] Wenn nun in einem solchen Menschen keine Gerechtigkeit ist, dann ist sie zweifellos auch nicht in der Menschenversammlung, die aus solchen Menschen besteht.“ AUGUSTINUS, De civitate Dei XIX,21, Üb. Carl Johann PERL (München 1979). 76 Vgl. GELASIUS I, Famuli vestrae pietatis, in: DENZINGER/HÜNERMANN 347.

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nung der Kirche als Potestas einem Verrat an der eigentlichen Bedeutung der gelasianischen Leh-re gleich.77 Doch könnte man diese Ausweitung des Begriffs Potestas auf die Kirche auch als Ausfaltung der ursprünglichen Lehre vom Vorrang des Geistlichen sehen. Wenn man die sehr hohe lehramtliche Autorität betrachtet, mit der die Gewaltenfülle des Papstes verkündet wurde von dem „Dictatus papæ“ Gregors VII. (1075) bis zur Bulle „Unam sanctam“ von Bonifati-us VIII. (1302), kann man diese Entwicklung nicht als illegitim abtun.78

Die „plentitudo potestatis“, die die Päpste für sich in Anspruch nahmen, muss als direkte Gewalt der Päpste über die weltliche Herrscher gesehen werden. Wenn es um die Einsetzung der weltli-chen Gewalt für geistliche Zecke geht, wird das zeitliche Schwert „für die Kirche“ und „auf die Zustimmung und Duldung des Priesters hin“ gezogen.79 Ægidius Romanus, der auf theoretischer Ebene die Ansprüche von „Unam sanctam“ begründete, war ein Verfechter der sogenannten „potestas directa“ des Papstes in rein zeitlichen Angelegenheiten,80 doch die Einschränkungen, die er mit Blick auf die Lehre früherer Päpste machen musste – dass nämlich die Jurisdiktion der Kirche in rein zeitlichen Dingen nicht exekutorisch sei81 –, lassen seine Theorie die der „potestas indirecta“ praktisch gleich erscheinen. Nach der Theorie der „potestas indirecta“ kann die Kirche nur ratione peccati in zeitlichen Dingen eingreifen, d.h. wenn es darum geht, sündhaftes Verhalten in zeitlichen Dingen zu unterbinden. Ægidius erklärt den Vorrang des Geistlichen über das Zeit-liche mit verschiedenen Analogien. Unter anderem bemüht er die Analogie von Leib und Seele. So wie der Leib, der eigene Bedürfnisse hat (Nahrung, Trank usw.), aber letztlich für die Seele da ist, der Seele unterworfen ist, so sind die zeitlichen Dinge, auch wenn sie eine relative Selbstän-digkeit haben, letztlich für die geistlichen Dingen da und dem Papst als oberstem Hirten der Kir-che unterworfen.82

Der Anspruch der Päpste im Hochmittelalter wurde von verschiedenen Reformbewegungen in der Kirche wie den Kluniazensern, den Zisterziensern, den Prämonstratensern und den Domini-kanern unterstützt. In all diesen Reformbewegungen ging es auch darum, den Vorrang des Geist-lichen über das Zeitliche umzusetzen und einer Verweltlichung des Christentums entgegenzuwir-ken.83

Gegen den päpstlichen Anspruch erhoben sich – besonders im 14. Jahrhundert – die neuen Ter-ritorialherren und die sich langsam herausbildenden Nationalstaaten, welche die Päpste mit be-klagenswerter Kurzsicht zunächst als Gegengewicht zum Kaiser begünstigt hatten. Besonders der König von Frankreich erwies sich als Gegner der päpstlichen Autorität. Philipp der Schöne konn-te sich gegen Bonifatius VIII. durchsetzen und in der Folge gerieten die Päpste in die „babyloni-sche Gefangenschaft von Avignon“.84 Nach der Rückkehr der Päpste von Avignon nach Rom wurde der Papst politisch im neu erwachenden System der italienischen Stadt-Staaten integriert, und zwar auf eine Weise, die der Zwei-Mächte-Lehre des Hochmittelalters praktisch widersprach.

77 RHONHEIMER, Christentum und säkularer Staat. 78 Zur Verbindlichkeit etwa von Unam sanctam siehe: Steven WEDGEWORTH, Happy Anniversary Unam Sanctam, in: The Calvinist International (November 2013): http://calvinistinternational.com/2013/11/18/happy-anniversary-unam-sanctam/ (Zugriff am 9.11.2014). 79 Bonifatius VIII. Unam Sanctam, in: DENZINGER/HÜNERMANN 873. 80 Vgl. z.B. ÆGIDIUS Romanus, De ecclesiastica potestate, II,6: „terrena ... potestas et secundum se et secundum sua, potestati ecclesiastice subdatur“, zitiert nach: Giles of Rome’s On Ecclesiastical Power. A Medieval Theory of World Government. A Critical Edition and Translation, hg. von R.W. DYSON (New York 2004). 81 ÆGIDIUS, De ecclesiastica potestate, III. 82 ÆGIDIUS, De ecclesiastica potestate, I,7. 83 Vgl. Christopher DAWSON, The Formation of Christendom (San Francisco 2008 [1965]) 216-227; ders., The Di-viding of Christendom (San Francisco 2008 [1965]) 30, 38. 84 DAWSON, The Dividing 41-43.

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Wenn die kirchlichen Reformbewegungen des Hochmittelalters alle päpstlich gesinnt waren, so waren infolge der Schwächung des Papsttums die Reformbewegungen des Spätmittelalters und der Renaissance gegen das Papsttum gerichtet.85 Diese gipfelten in der protestantischen Reforma-tion. Die Reformatoren paktierten mit den aufstrebenden Territorialherren, der sie eine eigen-ständige, d.h. nicht vom Klerus abgeleitete Zuständigkeit in manchen religiösen Angelegenheiten zusprachen. Diese Zuständigkeit wurde aber durch neue theologische Prinzipien begründet, die auf eine totale Neukonzipierung des „Weltlichen“ und des „Geistlichen“ hinausliefen.

Calvin unterschied sehr streng zwischen dem unsichtbaren Königreich im Gewissen der Erwähl-ten, wo es eine völlige Freiheit von Zwang gibt und jeder unmittelbar mit Christus als alleinigem König und Priester verbunden ist, und dem sichtbaren äußeren Königreich. Das äußere König-reich betrifft nicht nur „weltliche“ Dinge im alten Sinn, sondern auch äußere Akte der Religion. Calvin ordnet sowohl die weltlichen Herrscher als auch die Prediger des Wortes dem sichtbaren Kö-nigreich zu.86 Die Prediger haben die Menschen durch ihre Predigt zu überzeugen, während den Herrschern die Aufgabe zukommt, die äußeren Akte der Menschen, auch die religiösen, mit Zwangsgewalt zu ordnen.87

Gegenüber der katholischen Position unterscheidet sich diese Lehre zweifach. Erstens wird die schon von der IV. Synode von Toledo definierte Lehre, wonach die Kirche die Gläubigen dazu zwingen kann, ihrem Glauben treu zu bleiben, verworfen: in das Innere des Gewissens hat sich keine sichtbare Gewalt einzumischen. Zweitens wird die Zwangsgewalt über die äußerliche Ord-nung der Religion nicht den Priestern – die es ja nicht mehr gibt – und auch nicht den Predigern, sondern den „weltlichen“ Herrschern zugeschrieben. Diese agieren nicht mehr als beauftragte Agenten einer übergeordneten Gewalt sondern als eigenständige Gewalt.

Die eigentliche Begründung dieser „Reformen“ liegt in einer neuen Gnaden-Theologie, genauer in einer Aufhebung der tradierten Unterscheidung von Natur und Gnade. Die Vorläufigkeit der zeitlichen Ordnung hängt in der katholischen Auffassung zum Teil mit der Beziehung von Natur und Übernatur (Gnade) zusammen. Nach katholischer Auffassung war die ursprüngliche Struktur der geschaffenen Wesen, die „Natur“, gut. Sie wurde dann aber von der Sünde verwundet, aber nicht, wie die Protestanten lehren, zerstört. Das Heil, das durch Christus kommt, heilt die Natur und stellt sie wieder her. Aber nach katholischer Tradition wird die Natur durch Christus nicht nur geheilt, nicht nur so wiederherstellt, wie sie ursprünglich war, sondern auch erhöht und zum Teil aufgehoben und überboten durch etwas noch Besseres, die „Übernatur“, die völlig gnaden-haft von Gott geschenkt wird. So ist z.B. die Ehe zwischen Mann und Frau etwas Gutes, das zur ursprünglichen Struktur des Menschen gehört. Sie wird aber bei der Wiederkunft Christi überbo-ten durch die Hochzeit Christi mit seiner Braut, der Kirche. Alles, was in der Ehe gut war, wird in einer eminenteren Weise bei der Hochzeit des Lammes gegenwärtig sein, die Ehe selbst wird es aber nicht mehr geben (vgl. Mt 22,30). Die Natur ist also Vorausbild und Zeichen der kommen-den Übernatur. Die Natur wird bleiben, auch wenn manche Elemente der Natur aufgehoben werden. In der gegenwärtigen Zeit sind diese Elemente noch da, gemeinsam mit Elementen des kommenden Zustandes. Die Hochzeit des Lammes ist schon jetzt samenhaft gegenwärtig in der Vereinigung mit Christus in den Sakramenten, wird aber erst bei der Wiederkunft Christi vollen-det. Die Ehe wird jetzt noch gelebt und durch die Gnade zu einem wirksamen Zeichen der kommenden Hochzeit gemacht. Noch höher als die Ehe steht aber die geweihte Jungfräulichkeit,

85 Vgl. Dawson, The Dividing 30, 42-43. 86 Vgl. Steven WEDGEWORTH, Peter ESCALANTE, John Calvin and the Two Kingdoms, Part 2, in: The Cavinist In-ternational (Mai 2012): http://calvinistinternational.com/2012/05/29/calvin-2k-2/ (Zugriff am 9.11.2014). 87 WEDGEWORTH, ESCALANTE, John Calvin 2.

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weil diese nicht nur ein Zeichen des Kommenden ist, sondern schon die Lebensform ist, die kom-men wird.

Calvin verwirft aber die Unterscheidung von Natur und Übernatur. Für ihn gibt es nur die Natur. Die Natur war nach ihm im Anfang so vollkommen, dass der erste Mensch glückselig war. Diese Vollkommenheit war aber nicht unverlierbar. Sie ging durch die Sünde verloren. Die Gnade Christi stellt diese ursprüngliche Vollkommenheit wieder her und zwar eschatologisch in einen unzerstörbaren Zustand. Die Gnade überbietet die Natur aber nicht durch eine größere überna-türliche Vollkommenheit. Die Natur wird also nicht als Zeichen einer noch vorausstehenden Wirklichkeit gesehen.88 Daraus erklärt sich die calvinistische Ablehnung der evangelischen Räte von Armut, Keuschheit und Gehorsam.89 Daraus erklärt sich aus katholischer Sicht eine gewisse übertriebene Hochachtung des Alltäglichen und Weltlichen unter Protestanten.90

Ein Hauptanliegen für die Reformbewegungen des Hochmittelalters war der „contemptus mundi“, die Verachtung der Welt, verstanden nicht nur als Verachtung der Unordnung in der ge-fallenen Welt, der dämonischen Mächte und der „civitas terrena“, die sie beherrschen, sondern auch als gesunde Geringschätzung der vorläufigen, zeitlichen, natürlichen Güter. Dieser Gering-schätzung des Vorläufigen entsprach der Forderung, dass sich die zeitliche Macht der geistlichen Macht unterzuordnen habe. So formulierte der hl. Bernhard von Clairvaux in „De consideratio-ne“ schon die Zwei-Schwerter-Lehre, die Papst Bonifatius VIII. übernehmen sollte.91 Da die Re-formatoren des 16. Jahrhunderts den „contemptus mundi“ im katholischen Sinn verwarfen, war es nur folgerichtig, dass sie eine Autonomie der weltlichen Autorität forderten.92 Dem katholi-schen Dualismus zwischen Natur und Übernatur entspricht ein integralistisches Verhältnis von geistlicher und weltlicher Autorität. Der protestantische Monismus fordert hingegen die Unab-hängigkeit der weltlichen Macht von klerikaler Autorität.

Die Reformation führte zunächst zur Herausbildung von „konfessionellen Staaten“, was sich bei-spielsweise in der Formel „cuius regio eius et religio“ äußert. Hier wurde anfangs eine große Sit-tenstrenge eingefordert; weil kein „Stand der Vollkommenheit“ anerkannt wurde, wurde von al-len die gleiche moralische Hochleistung gefordert. Der Erfolg dieser Disziplin führte zur Nach-ahmung in katholischen Staaten. Die konfessionellen Staaten entwickelten sich rasch zu den ers-ten souveränen Staaten im modernen Sinn. Dabei wurde die Religion bald zu einem Mittel der staatlichen Disziplinierung degradiert.93 Paradoxerweise trug diese Entwicklung in der Folge zur Säkularisierung der westlichen Welt bei.94 Zunächst in den Niederlanden und dann gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Amerika wurden Staaten gebildet, die vorgaben, in religiösen Dingen neutral zu sein und sich auf die Wahrung eines äußerlichen Friedens beschränken zu wollen. Je-der sollte Gott so anbeten wie er wollte, ohne dabei von anderen gestört zu werden, wenn sich nur alle auf gemeinsame wirtschaftliche und sicherheitspolitische Spielregeln einigen konnten.95

88 Vgl. Peter ESCALANTE, Two Ends or Two Kingdoms?, in: The Calvinist International (April 2013): http://calvinistinternational.com/2013/04/08/two-ends-or-two-kingdoms/ (Zugriff am 10.11.2014). 89 Vgl. ESCALANTE, Two Ends. 90 Vgl. Charles TAYLOR, Sources of the Self (Cambridge/Massachusetts 1989) Part III: The Affirmation of Ordinary Life. 91 Vgl. RHONHEIMER, Christentum und säkularer Staat 76-78. 92 Vgl. ESCALANTE, Two Ends. 93 Vgl. Charles TAYLOR, A Secular Age (Cambridge/Massachusetts 2007) chapter 2: The Rise of the Disciplinary So-ciety. 94 Vgl. Brad GREGORY, The Unintended Reformation. How a Religious Revolution Secularized Society (Cambridge/ Massachusetts 2012). 95 Vgl. GREGORY, The Unintended Reformation 160-172.

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Die völlige Säkularisierung des Staates entsprach keineswegs der Intention der Reformatoren. Doch war diese ohne die reformatorische Trennung des sichtbaren und des unsichtbaren Reiches bei gleichzeitiger Überschätzung der natürlichen Güter nicht denkbar. Diese waren Vorausset-zungen für die Entstehung der europäischen Aufklärung. Die Aufklärung setzte im 15. Jahrhun-dert mit einem neuen Ideal des Fortschritts durch wissenschaftlich-technologische Beherrschung der Natur ein. Wie Papst Benedikt XVI. betont, stand diese Ideologie von Anfang an in einem Spannungsverhältnis zur christlichen Hoffnung:

Die Wiederherstellung dessen, was der Mensch in der Austreibung aus dem Paradies verloren hatte, hatte man bisher vom Glauben an Jesus Christus erwartet, und dies war als „Erlösung“ angesehen worden. Nun wird diese „Erlösung“, die Wiederherstellung des verlorenen „Paradieses“ nicht mehr vom Glauben erwartet, sondern von dem neu gefundenen Zusammenhang von Wissenschaft und Praxis. Der Glaube wird dabei gar nicht einfach geleugnet, aber auf eine andere Ebene – die des bloß Privaten und Jenseitigen – verlagert und zugleich irgendwie für die Welt unwichtig.96

Dieser Ideologie entsprach eine Sicht der Natur als mechanisch-indifferente Masse ohne innere Teleologie, die beliebig von menschlicher Macht zu manipulieren sei. Im politischen Bereich führte diese Ideologie aber zu einer konsequenten Säkularisierung des Staates und dem Abdrän-gen der Religion in die Privatsphäre. In protestantischen Ländern konnte diese Entwicklung rela-tiv friedlich verlaufen. In katholischen Ländern verlief sie als leidenschaftlicher Konflikt. Die Kirche wurde von den Aufklärern wegen der von ihr gepredigten Askese und des „contemptus mundi“ als Feindin des Fortschritts gesehen und wegen ihrer Inanspruchnahme des weltlichen Armes als Feindin der Geistesfreiheit. Daher entwickelte sich insbesondere in katholischen Län-dern ein leidenschaftlich anti-klerikaler Laizismus, der sich zunächst in der französischen Revolu-tion durchsetzen konnte. Im 19. Jahrhundert wechselten sich aufgeklärt-anti-klerikale und restau-rativ-kirchenfreundliche Regierungen in vielen Ländern ab. Im 20. Jahrhundert konnten sich gro-ße anti-klerikale nationalistische oder kommunistische Totalitarismen entwickeln – seien sie athe-istisch wie in Russland oder pseudo-religiös wie in Deutschland.97

In der katholischen Gegenreformation hatten Theologen wie Suarez und Bellarmin auf die An-sprüche der konfessionellen Staaten mit einer gründlichen Darlegung der katholischen Lehre, nach der die weltliche Macht nur als Organ der geistlichen Macht in religiösen Angelegenheiten eingreifen darf, geantwortet.98 Doch im Verlauf der Jahrhunderte, in denen die souveränen Nati-onalstaaten ihr Machtmonopol immer mehr konsolidierten, wurde diese Lehre auch von Katholi-ken immer weniger verstanden. Obwohl Papst Leo XIII. diese Lehre in der Enzyklika „Immorta-le Dei“ mit Nachdruck vertrat,99 wurde seine Lehre von vielen falsch interpretiert, als würde der Staat nicht als Organ der Kirche in religiösen Angelegenheiten eingreifen sondern als ihr Ver-bündeter mit eigener Autorität. So sahen viele Katholiken des 19. Jahrhunderts – wie etwa Bi-schof Ketteler – die Macht der Kirche nicht mehr als echte Zwangsgewalt. 100 Folglich kann Thomas Pink die Situation unmittelbar vor dem Konzil resümieren:

So gelangen wir zur Ansicht über die Ausübung von Zwang in religiösen Dingen, die vor dem Konzil verbreitet war und die heute noch die Sicht der „Traditionalisten“ bestimmt. Die Ausübung von Zwang in religiösen Dingen wurde als Sache des Staates gesehen. Dass der Staat den Glauben selbst oder die private Ausübung des Glaubens erzwingen oder verbieten könne, kommt nieman-

96 Vgl. Papst BENEDIKT XVI, Enzyklika Spe Salvi (Rom 2007) Nr. 17. 97 Vgl. Michael BURLEIGH, Earthly Powers. Religion and Politics in Europe from the Enlightenment to the Great War (London 2005); ders. Sacred Causes. The Clash of Religion and Politics, from the Great War to the War on Ter-ror (London 2006). 98 Vgl. PINK, Suarez and Bellarmine; vgl. auch oben Abschnitt 3. 99 Siehe oben Abschitt 3. 100 Vgl. PINK, Conscience and Coercian.

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den in den Sinn. Der Staat hatte aber die Pflicht, den katholischen Glauben als wahr anzuerkennen und die öffentliche Praxis anderer Religionen zu limitieren. Dass hinter all diesen staatlichen Maß-nahmen eine andere Autorität steht, nämlich die Autorität der Kirche, die als eine wahre Zwangs-gewalt auch den privaten Glauben der Getauften mit Zwangsgewalt anordnen könnte, wurde oft vergessen.101

5. DIE ANLIEGEN DER KONZILSTHEOLOGEN

„Dignitatis humanæ“ beginnt mit folgender Feststellung: „Die Würde der menschlichen Person kommt den Menschen unserer Zeit immer mehr zum Bewusstsein“.102 Aus dem Verweis an die-ser Stelle auf eine Radiobotschaft von Pius XII. aus dem Jahre 1944 wird klar, dass dieser Menta-litätswandel durch die Erfahrungen mit den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts verur-sacht wurde. Diese Erfahrungen schienen eine Überwindung jener Feindschaft zwischen Kirche und moderner Welt, die seit der Aufklärung bestand, möglich zu machen. Wenn die Kirche im frühen 20. Jahrhundert von vielen noch als Feindin des Fortschritts und der Freiheit gesehen wurde, so wurde sie nach dem Krieg von vielen bewundert als moralische Instanz, die destrukti-ven Ideologien mutig widersprochen hatte. Nach der Erfahrung des Totalitarismus, der den Menschen ganz der Verwirklichung innerweltlicher Ziele unterordnen wollte, schien es vielen notwendig, die Würde des Menschen als Geschöpf Gottes wieder anzuerkennen. Innerhalb der Kirche erschien vielen diese neue Atmosphäre eine Chance zu bieten, die Welt wieder zum Chris-tentum zu bekehren.

In den 50er Jahren blieben zwar Massenbekehrungen aus, doch genoss die Kirche hohes Anse-hen. In Westeuropa kamen vielerorts „christlich-soziale“ Parteien an die Macht. Diese waren ent-scheidend von den Theorien des französischen Philosophen und Konvertiten Jacques Maritain beeinflusst.103 Maritain war einer, der schon sehr früh die Möglichkeiten einer anti-totalitären Re-aktion erkannt hatte. Unterstützte er in den 20er Jahren noch eine integralistische Position und die reaktionäre Partei „Action Française“,104 so vertrat er in den 30er Jahren eine demokratie-freundliche, die aus der Gottesebenbildlichkeit abgeleitete Würde des Menschen betonende poli-tische Philosophie. In seinem Buch „Christlicher Humanismus“ plädierte er für eine zeitgemäße Form des Verhältnisses von Kirche und Staat. Die Prinzipien der Unterscheidung von geistlicher und weltlicher Autorität sowie des Vorrangs des Geistlichen könne in verschiedenen Zeiten ver-schieden angewendet werden, so seine Argumentation. Im Mittelalter entsprach es der Entwick-lungsstufe der Menschen, dass diese Prinzipien durch eine „potestas indirecta“ der Kirche in weltlichen Dingen verwirklicht werden. Der gegenwärtigen Entwicklungsstufe der Menschheit entspricht es jedoch besser, wenn die Kirche auf eine solche „potestas“ verzichte und auf die Po-litik nur durch moralische Inspiration einwirke.105 Ohne überlieferte Modelle zu verdammen, wollte Maritain dadurch eine neue Art der christlichen Politik ermöglichen.

101 »And so we arrive at the view of religious coercion current before the Second Vatican Council, one that still shapes much post-conciliar “traditionalist” opinion. Religious coercion is really the business of the state. There is no question of the state coercing belief or private practice. But the state must publicly recognize the Catholic faith as true and restrict the public presence of other religions. That behind all this state activity lay another authority, the Church, truly coercive in her own right – whose authority in the case of the baptized extended to coercing even pri-vate religious belief and practice – tended to be forgotten.« PINK, Conscience and Coercian. 102 Dignitatis humanæ Nr. 1. 103 Vgl. Alan FIMISTER, Robert Schuman. Neo Scholastic Humanism and the Reunification of Europe (Brussels 2008). 104 Vgl. FIMISTER, Robert Schuman 106-108. 105 Vgl. PINK, Jacques Maritain; FIMISTER, Robert Schuman 113ff.

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In den Vereinigten Staaten von Amerika gab es eine analoge Entwicklung. Die Katholiken Ame-rikas wurden im 19. und frühen 20. Jahrhundert als „un-amerikanisch“ betrachtet, weil die politi-sche Theologie der Päpste mit den Prinzipien der amerikanischen Republik unvereinbar erschien. Erst (?) in den 1950ern hatte der Jesuitenpater John Courtney Murray versucht, eine Vereinbar-keit zwischen Katholizismus und amerikanische Philosophie zu beweisen. Murray fungierte auch als Berater des katholischen Präsidentschaftskandidaten John F. Kennedy. In der Wahl Kennedys zum Präsidenten im Jahre 1960 erkannte Murray die Akzeptanz seiner Thesen durch die Ameri-kaner.106 Die Theorie von Murray sah eine viel radikalere Trennung von Kirche und Staat vor als die von Maritain verteidigte. (???) Murrays Theorie gründet auf einer strengen Trennung von Na-tur und Gnade – der Staat als Institution des Naturrechts habe ein anderes Ziel als die Kirche, die von der Gnade bestimmt sei. Wie der Murray-Forscher Leon Hooper es ausdrückt:

In der Welt gibt es zwei Quellen moralischer Autorität. Murray beschrieb diese zunächst als Staat und Kirche oder (allgemeiner) als natürliches Sittengesetz und geoffenbartes Gesetz. […] Diese zwei Ordnungen haben verschiedene Fundamente (Schöpfung bzw. Erlösung) und verschiedene Ziele (Zivilfreundschaft bzw. ewige Glückseligkeit), beide haben ihre legitime Autonomie.107

Aus diesen Grundsätzen folgerte Murray das Desiderat einer konsequenten Neutralität des Staa-tes gegenüber Religion.108

Im Vorfeld des 2. Vatikanischen Konzils gab es in der Kirche eine weit verbreitete Meinung, die Kirche müsse ihre Lehre neu formulieren, um die einmalige Chance der Zeit zu nützen. Zurück-schauend auf jene Zeit formulierte Papst Benedikt XVI. wie folgt:

Wir wußten, daß in der Beziehung zwischen Kirche und Moderne von Anfang an ein gewisser Ge-gensatz vorhanden war, begonnen beim Irrtum der Kirche im Fall von Galileo Galilei. Man wollte diesen verfehlten Anfang korrigieren und wieder eine Einigung zwischen der Kirche und den bes-ten Kräften der Welt finden, um die Zukunft der Menschheit zu öffnen, um den wahren Fortschritt zu öffnen.109

Die Frage nach der kirchlichen Einstellung zum Fortschritt war ein zentrales Problem des Kon-zils. Diese Frage wurde in der Konstitution „Gaudium et spes“ behandelt, und zwar mit einer gewissen Ambivalenz. So schreibt das Konzil:

Die Heilige Schrift aber, der die Erfahrung aller Zeiten zustimmt, belehrt die Menschheitsfamilie, dass der menschliche Fortschritt, der ein großes Gut für den Menschen ist, freilich auch eine große Versuchung mit sich bringt: […] Deshalb kann die Kirche Christi, obwohl sie im Vertrauen auf den Plan des Schöpfers anerkennt, dass der menschliche Fortschritt zum wahren Glück der Menschen zu dienen vermag, nicht davon absehen, das Wort des Apostels einzuschärfen: „Macht euch nicht dieser Welt gleichförmig“ (Röm 12,2) […] Obschon der irdische Fortschritt eindeutig vom Wachs-

106 Vgl. Thomas W. O’BRIEN, John Courtney Murray in a Cold War Context (Lanham/Maryland 2004) 65-66, 100 und passim. 107 »[In] this world there are two sources of moral authority. Early on these were for Murray the state and the church, or, more generally, the natural law and the revealed law. Later they became civil societies and religious communities, or the secular and the sacred. Each of the two orders is differently based (in creation and redemption) and is directed toward different ends (civic friendship and eternal beatitude). Each can legitimately claim its own autonomy.« Leon HOOPER, General Introduction, in: John Courtney MURRAY, Religious Liberty. Catholic Struggles With Pluralism, hg. von Leon HOOPER (Louiseville 1993) 25, zitiert nach: David SCHINDLER, Heart of the World, Center of the Church. Communio Ecclesiology, Lieberalism, and Liberation (Grand Rapids 1996) 77. 108 Vgl. SCHINDLER, Heart of the World, chapter 1. 109 Papst BENEDIKT XVI., Ansprache bei einer Begegnung mit dem Klerus der Diözese Rom, 14. Februar 2013, dt: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2013/february/documents/hf_ben-xvi_spe_20130214_clero-roma_ge.html (Zugriff am 16.11.2014).

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tum des Reiches Christi zu unterscheiden ist, so hat er doch große Bedeutung für das Reich Gottes, insofern er zu einer besseren Ordnung der menschlichen Gesellschaft beitragen kann.110

„Gaudium et spes“ versucht also eine schwierige Balance zu treffen. Sie versucht die Sprache der Fortschrittsideologie der Aufklärung teilweise zu übernehmen, aber mit anderem Inhalt zu füllen.

Eine unbedingt zu vermeidende Gefahr war das Gegenteil zu machen, d.h. die Lehre der Kirche mit dem Inhalt der Fortschrittsideologie der Aufklärung zu füllen. Dies war die Gefahr des soge-nannten „Modernismus“, welcher schon 1907 verurteilt worden war. Zur Vermeidung dieser Ge-fahr war es notwendig, die Beziehung von Gnade und Natur richtig zu bestimmen. Der französi-sche Konzilstheologe Henri De Lubac, der ganz entscheidend an „Gaudium et spes“ mitwirkte, versuchte den alten Grundsatz „gratia non destruit naturam, sed eam supponit et perficit et ele-vat“ (dt.: „die Gnade zerstört die Natur nicht, sondern setzt sie voraus, vervollkommnet sie und erhebt sie“) zu verteidigen. Die relative Geringschätzung der natürlichen Güter im katholischen „contemptus mundi“ bedeute nicht eine Vergiftung und Beeinträchtigung der menschlichen Kul-tur, sondern ermögliche im Gegenteil eine wahrhaft edle Entfaltung der Kultur in Hinblick auf eine noch vorausstehende Erhebung und Aufhebung derselben.111

De Lubac beklagte nach dem Konzil eine „Flut des Immanentismus“, die „die Kirche in die Welt hinein auflösen will“.112 Ein solcher Immanentismus stürzte die nachkonziliare Theologie in eine schweren Krise. De Lubac wollte dagegen das Gleichgewicht zwischen Natur und Gnade bewah-ren. Vor und während des Konzils sah er aber die Gefahr vor allem aus einer anderen Richtung: dass nämlich die übernatürliche Ordnung der Gnade und die Ordnung der Natur zu stark von einander getrennt werden 113 – wie wir es bei John Courtney Murray eben gesehen haben. Obschon de Lubac dieses Problem klar erkannte, so kann man mit neueren Theologen wie Ste-ven Long sagen, dass er die Wurzel falsch identifizierte. Nach Long lag die eigentliche Wurzel in einem zu wenig theonomische Verständnisses der Natur, welches die natürliche Ordnung als in sich geschlossenes System, indifferent dem Göttlichen gegenüber erscheinen ließ. De Lubac sah aber das Problem darin, dass eine natürliche Hinordung auf ein übernatürliches Ziel geleugnet wurde.114 Damit tendierte de Lubac ein wenig in die Richtung eines Gnadenmonismus.

Diese leichte Tendenz zum Gnadenmonismus führte dann zu einem übertriebenen Dualismus im Verhältnis von Kirche und Staat, wie wir es in viel gravierenderer Form im ganz anders gearteten Monismus von Calvin gesehen haben. So leugnete de Lubac schon 1932, dass die Kirche dem Staat auch juridisch übergeordnet ist und behauptete stattdessen, dass die Ordnung der Gnade die zeitliche Ordnung nur von innen her transformieren dürfe.115 Damit ging er weiter als Mari-

110 Gaudium et spes Nrn. 37, 39. 111 Vgl. Papst BENEDIKT XVI., Ansprache bei einem Treffen mit Vertretern aus der Welt der Kultur im Collège des Bernardins (Paris, 12. September 2008), dt.: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2008/september/documents/hf_ben-xvi_spe_20080912_parigi-cultura_ge.html (Zugriff am 17.11.2014); ders. Spe Salvi Nrn. 13-15, beachte besonders die Verweise auf De Lubac, Nrn. 13-14. 112 Henri DE LUBAC, Das Erbe Augustins, üb. Hans Urs VON BALTHASAR (Einsiedeln 1971), Vorwort des Verfassers zur deutschen Ausgabe 9-11. 113 DE LUBAC, Das Erbe Augustins 7-8. 114 Steven A. LONG, Natura Pura. On the Recovery of Nature in the Doctrine of Grace (New York 2010). Wenn ich die Hauptthesen von Long zustimme, so meine ich trotzdem, dass er in manchen Punkten übertreibt. Vgl. Edmund WALDSTEIN, De Lubac and His Critics Make the Same Error, in: Sancrucensis (Juli 2014): http://sancrucensis.wordpress.com/2014/07/20/de-lubac-and-his-critics-make-the-same-error/ (Zugriff am 17.11.2014). 115 Vgl. Bryan C. HOLTON, Everything is Sacred. Spiritual Exegesis in the Political Theology of Henri De Lubac (Cambridge 2009) 41-46.

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tain, dessen Schüler Charles Journet er kritisierend zitiert, weil er auch für das Mittelalter ein „po-testas indirecta“ der Kirche über zeitliche Dinge als illegitim erachtet.116

In den Debatten um „Dignitatis humanæ“ standen auf der einen Seite Integralisten alten Stiles wie Kardinal Siri von Genua, während auf der anderen Seite Befürworter einer Neuorientierung zu finden waren, wenngleich diese in ihren jeweiligen Auffassungen stark divergierten. Die Kon-zeption von Jacques Maritain hatte viele einflussreiche Anhänger, allen voran Papst Paul VI., der Jahre davor eigenhändig Maritains „Christlichen Humanismus“ ins Italienische übersetzt hatte,117 und Charles Kardinal Journet, den Lieblingsschüler von Maritain.118 John Courtney Murray war selbst als Peritus bei der Erstellung von verschiedenen Fassungen des Textes von „Dignitatis humanæ“ tätig und seine Thesen wurden von den amerikanischen Bischöfen in der Konzilsaula verteidigt.119 Henri de Lubac war ebenfalls als Peritus beratend involviert und seine Anliegen wurden von verschiedenen Bischöfen vertreten, insbesondere vom damaligen Erzbischof von Krakow Karol Wojtillwa.120

Die Anhänger von Maritain und die von de Lubac waren sich darin einig, dass ein „amerikanisti-scher“ Dualismus wie von Murray vertreten nicht zulässig sei und legten viel Wert auf die Ver-pflichtung des Menschen gegenüber der Wahrheit, während Murray dieses Begründungselement als unnötig erachtete.121 Mann konnte sich aber ebenso wenig auf de Lubacs Verwerfung der „po-testas indirecta“ der Kirche oder auf Maritains Epochen-Theorie einigen. Die Lösung war es, die genaue Bestimmung des Verhältnisses von kirchlicher und weltlicher Macht auszuklammern und die in der Würde der Person als religiösen Wesens ruhende Nichtzuständigkeit der rein zeitlichen Autorität für Gottesverehrung zu betonen. Diese Lösung wurde möglicherweise von Kardinal Journet vorgeschlagen122 und zeigt sich vor allem im folgenden (oben schon angeführten) Zitat aus „Dignitatis humanæ“, Nr. 1:

Da nun die religiöse Freiheit, welche die Menschen zur Erfüllung der pflichtgemäßen Gottesvereh-rung beanspruchen, sich auf die Freiheit von Zwang in der staatlichen Gesellschaft bezieht, lässt sie die überlieferte katholische Lehre von der moralischen Pflicht der Menschen und der Gesellschaf-ten gegenüber der wahren Religion und der einzigen Kirche Christi unangetastet.

Diese Lösung ermöglichte es der Kirche, sich seit dem Konzil für die Religionsfreiheit umfassend zu engagieren, ohne die Kontinuität ihrer Lehre aufzugeben. Da diese Lösung den Eindruck einer Diskontinuität nicht klarer vermied, trug sie zur Krise der nachkonziliaren Theologie bei.123

116 Vgl. HOLTON, Everything is Sacred 42. 117 Vgl. FIMISTER, Robert Schuman 101. 118 Vgl. PINK, Jacques Maritain. 119 Vgl. O’BRIEN, John Courtney Murray 100-104. 120 Vgl. Massimo SERRETTI, I due amici che fecero la “rivoluzione” del Concilio Vaticano II, in: Illusidario (12.10.2012): http://www.ilsussidiario.net/News/Cultura/2012/10/12/LA-STORIA-I-due-amici-che-fecero-la-rivoluzione-del-Concilio-Vaticano-II/328529/ (Zugriff am 17.11.2014). 121 Vgl. SCHINDLER, Heart of the World 61. 122 Vgl. PINK, Jacques Maritain. 123 Vgl. John CONLEY, Religious Freedom as Catholic Crisis, in: The Human Person and a Culture of Freedom, hgg. Peter A. Pagan AGUIAR, Terese AUER (Washington 2009) 226-241.