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Die Philosophie der Stoa

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Die Philosophie der StoaAusgewählte Texte

Übersetzt und herausgegeben vonWolfgang Weinkauf

Reclam

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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 181232001 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,

Siemensstraße 32, 71254 DitzingenDruck und Bindung: Canon Deutschland Business Services GmbH,

Siemensstraße 32, 71254 DitzingenPrinted in Germany 2017

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK undRECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartISBN 978-3-15-018123-2

www.reclam.de

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Inhalt

I

Die Geschichte der Stoa

Der geistesgeschichtliche Hintergrund . . 9Die geschichtliche Entwicklungder stoischen Philosophie . . . . . . . . . 17

Die »alte« Stoa . . . . . . . . . . . . . . 17Die mittlere Periode der Stoa . . . . . . 20Die Stoa der Kaiserzeit . . . . . . . . . 23

Zur Wirkungsgeschichte der Stoa . . . . . 42

II

Texte

Zur Auswahl der Texte . . . . . . . . . . . 53

Der stoische Philosophiebegriff

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55Zum Begriff der Philosophie . . . . . . . 57Vom Nutzen der Philosophie . . . . . . . 63

Logik

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72Themen der Dialektik . . . . . . . . . . . 81Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . 82

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Sprachtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . 85Urteile und Schlüsse . . . . . . . . . . . . 89Zur Funktion der Logik . . . . . . . . . . 102

Naturphilosophie

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105Die Einheit von Welt und Gottheit . . . . 113Schicksal und Vorsehung . . . . . . . . . . 131Weissagung . . . . . . . . . . . . . . . . . 150Naturlehre und Völkerkunde . . . . . . . 159

Ethik

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194Vernunft und Affekt . . . . . . . . . . . . 203Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 230Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261Regeln für den Alltag . . . . . . . . . . . . 274

Das richtige Verhalten . . . . . . . . . . 274Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . 295Leibesübungen . . . . . . . . . . . . . . 301

Vergänglichkeit und Tod . . . . . . . . . . 305

Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . 329

Autoren- und Werkregister . . . . . . . . 339

Inhalt6

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Die Geschichte der Stoa

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Der geistesgeschichtliche Hintergrund

Die abendländische Philosophie entwickelte sich in der Po-lis, dem griechischen Stadtstaat. Diese war bis zu Alexan-ders Zeiten nicht nur politisches Machtzentrum und festerSozialverband, sondern vor allem auch der Ort sittlicherBewährung. In ihr verwirklichte sich der Mensch als zoonpolitikon, als gemeinschaftsfähiges Wesen. Das schloss auchein, dass sich der Einzelne dem Willen des Staates zu unter-werfen hatte. Aus diesem Grunde lehnte Sokrates es ab, vorder Hinrichtung zu fliehen,1

1 Vgl. seine Argumentation in Platons Kriton (50a ff.).

und nahm den Schierlings-becher.

Seit etwa 600 v. Chr. betrachteten in den griechischenStädten Naturphilosophen, wie etwa die Milesier Thales,Anaximander und Anaximenes, die Welt auf eine neue, eherrationale Weise. Sie forschten z. B. nach kosmischen Gesetz-mäßigkeiten und fragten nach dem Urstoff oder – wie Py-thagoras – nach dem Urgesetz. Heraklit aus Ephesos (geb.um 540), vielleicht der einflussreichste dieser sogenannten»Vorsokratiker«, fand im »Logos« jenes Weltgesetz, das al-les schafft, ordnet und vorherbestimmt. Diese Vorstellungwurde später von der Stoa aufgegriffen. Parmenides stellteeine Lehre vom Sein auf, und Leukipp entwickelte eineAtomlehre. Seit dem 5. Jahrhundert traten die kosmologi-schen Fragen zurück; es wurden zunehmend, etwa durchSokrates, Platon und Aristoteles, erkenntnistheoretischeund ethische Problemstellungen reflektiert.

Als im Laufe der Zeit die politische und militärische Be-deutung der griechischen Städte sank, gelang es Philipp vonMakedonien (um 382 – 336 v. Chr.), sie unter seiner Füh-rung zu einem panhellenischen Bund zusammenzufassen.Während sein Machtinteresse sich auf Griechenland be-

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schränkte, wurden die Eroberungen seines Sohnes, Alexan-ders des Großen, von der Idee der Weltherrschaft bestimmt.So kam er bis nach Indien. In politischer Hinsicht scheitertesein Vorhaben: Nach dem frühen Tod Alexanders zerfieldieses Reich wieder. Es begann eine Zeit politischer Wirrenund militärischer Auseinandersetzungen um die Alleinherr-schaft, bis sich, etwa um 280 v. Chr., drei neue Königreicheetablierten, und zwar das der Ptolemäer in Ägypten, das Se-leukidenreich, das sich von der östlichen Mittelmeerküstebis zur indischen Grenze erstreckte, und die makedonischeHerrschaft der Antigoniden.

Damit hatte sich das politische Ordnungsgefüge der Polisüberlebt: »Alles, woran der griechische Mensch der klassi-schen Zeit einstmals seinen Halt gehabt und worin er sitt-lich sein Dasein verankert hatte, war oder schien plötzlichverloren.«2

2 Hoffmann (1946), S. 6.

In dieser krisenhaften Zeit entstanden philosophischeSchulen, wie z. B. die Epikurs, der Skepsis oder der Stoa, diebei aller Unterschiedlichkeit ihrer Inhalte doch ein gemein-sames Ziel hatten: Sie versuchten als praktische Philoso-phien neue Orientierungshilfen zu geben und vor allem dieFrage zu beantworten, wie man zu einem sinnerfüllten,glücklichen Leben gelangen könne. So erklärt sich auch derErfolg der Stoa als »Philosophie der Krise«3

3 Abel (1978), S. 44.

.Die Komplexität dieser Philosophie wird aber erst ver-

ständlich, wenn man berücksichtigt, dass sie nicht nur Er-kenntnisse der Naturphilosophen und der klassischen Zeitverarbeitete – Sokrates blieb das große Vorbild –, sondernauch eingebettet war in eine kulturgeschichtlich sehr frucht-bare Epoche, die wir mit dem Historiker Droysen »Helle-nismus« nennen.

Der Blick ging nun über die engen Grenzen der Polishinaus; es entwickelte sich beispielsweise, vor allem in der

Der geistesgeschichtliche Hintergrund10

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Stoa, die Vorstellung des Kosmopolitismus. »Das griechi-sche Denken überwindet die bisherigen stadt-staatlichenGrenzen und strebt mit Energie nach Ausweitung undweltumspannender Wirksamkeit. Aus der Polis wird jetztim griechischen Denken der Kosmos, es vollzieht sich einProzeß von weltgeschichtlicher Bedeutung.«4

4 Mühl (1928), S. 44.

Sicherlich istes kaum ein Zufall, dass keiner der wichtigen Stoiker im en-geren Sinne Grieche gewesen ist, obgleich Athen das Zen-trum der stoischen Schule bleiben sollte.

Seinen überzeugendsten Ausdruck fand der Hellenismusin der Kunst, in der Wissenschaft und in der Philosophie.Die Bildhauerei, etwa mit den Werken Lysipps und seinerSchüler, entwickelte sich zu einem neuen Höhepunkt. Auchin der Architektur, etwa in der Ausbildung des korinthi-schen Stils, und der Malerei wurden – z. B. durch Ktesiklesund Protogenes – bedeutende Werke geschaffen.

Kulturgeschichtlich neu war die Erscheinung des wissen-schaftlichen Spezialisten: In der Geometrie wirkten Euklidmit der Lehre von den Axiomen, Apollonius mit seinenKegelschnitten und der viel gerühmte und erfindungsreicheArchimedes lange nach. Hipparch beeinflusste die Astro-nomie bis zu Kopernikus, und Aristarch von Samos ent-wickelte den Gedanken eines heliozentrischen Weltsystems,der sich aber in der Antike nicht durchsetzen konnte. Era-tosthenes, ein Schüler Zenons, des Begründers der Stoa,war einer der vielseitigsten Wissenschaftler der hellenisti-schen Zeit. In seiner Geographika entwarf er eine Grad-netzkarte der damals bekannten Welt, außerdem errech-nete er mit erstaunlicher Genauigkeit den Umfang derErde. Aber auch in der Botanik – z. B. mit der Geschichteder Pflanzen des Theophrast – oder in der Anatomiemit den Untersuchungen des Herophilos von Chalkedonüber das Auge und das Gehirn gab es erstaunliche Fort-schritte.

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In diesem geistigen Klima entwickelten und verändertensich auch die drei philosophischen Hauptrichtungen jenerZeit, der Skeptizismus, der Epikureismus und die Stoa bzw.der Stoizismus.

Die Skeptiker gingen davon aus, dass wahre Erkenntnisunmöglich sei. So formulierte Metrodoros von Chios:»Niemand von uns weiß etwas, selbst das nicht einmal, obwir etwas wissen oder ob wir nichts wissen, noch auch obetwas existiert oder nicht.«5

5 »Über die Natur«, überl. bei Eusebios (Praeparatio evangelica 14,19,8); zit.nach: Die Nachsokratiker, 2 Bde., hrsg. von W. Nestle, Jena 1923, Bd. 2,S. 248, Nr. 1.

Auch die Untersuchungen zurLogik dienten dazu, dies nachzuweisen. Das zeigen amnachdrücklichsten die Pyrrhonischen Hypothesen des SextusEmpiricus. So forderten die Skeptiker konsequent, dass derMensch sich eines jeden Urteils – in logischer, ästhetischerwie auch ethischer Sicht – enthalten müsse. Von Pyrrhon,dem eigentlichen Begründer des Skeptizismus, ist uns derAusspruch überliefert: »Die Dinge sind uns gleichermaßenununterscheidbar, unbestimmbar und unerkennbar. Des-halb kann man weder von unseren Empfindungen noch vonunseren Meinungen sagen, daß sie wahr oder falsch seien.Darum darf man ihnen nicht trauen, sondern muß uner-schütterlich bei dem Verzicht auf jede Meinung oder Ent-scheidung beharren.«6

6 Überl. bei Eusebios (Praeparatio evangelica 14,18,3); zit. nach: Die Nachso-kratiker (s. Anm. 5), Bd. 2, S. 248, Nr. 1.

So kann es kaum überraschen, dass gerade die Skeptikerdie Bemühungen der Stoiker, mit Hilfe der Logik zu ge-sicherten Erkenntnissen zu gelangen, als dogmatisch undfehlerhaft verwarfen. Immerhin verdanken wir dieser Kri-tik der Skeptiker wichtige Informationen über die stoischeDialektik. In manchem berühren sich jedoch auch beideSchulen: Wie der Stoiker sucht auch der Anhänger desSkeptizismus als Lebensziel die unerschütterliche Seelen-

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ruhe (ataraxia): Es ist nicht sinnvoll, Partei zu ergreifen,sich von seinen Sehnsüchten quälen zu lassen oder die Weltverändern zu wollen, denn letztlich ist zwischen Leben undTod kein Unterschied.7

7 So Pyrrhon, überl. bei Stobaios (121,28); zit. nach: Die Nachsokratiker(s. Anm. 5), Bd. 2, S. 249, Nr. 6.

Eine ähnliche Position vertrat Epikur. Auch er setzte dieheitere Ruhe des Geistes als höchstes Ziel, denn nur in die-sem Zustand ist der Mensch glücklich. Epikur forderte kei-neswegs, wie oft behauptet, der sinnlichen Lust nachzuja-gen. Als Philosoph der Lebensklugheit wusste er, dass ei-nem zügellosen Hedonismus zwingend die Unlust folgt,aber gerade diese gilt es zu vermeiden. In einer Betrachtung,die ihm zugeschrieben wird, heißt es: »Denn die Begierdensind unersättlich. Sie richten nicht nur einzelne Menschen,sondern ganze Familien zugrunde.«8

8 Überl. bei Cicero, Über das höchste Gut und das größte Übel 1,9,29 ff.; zit.nach: Die Nachsokratiker (s. Anm. 5), Bd. 1, S. 203, Nr. 87.

Epikurs Ethik ist wir-kungsorientiert: Ein Verhalten, das Unlust und Schmerznach sich zieht, ist töricht und damit letztlich unsittlich.Zwar soll der Mensch, seiner Natur gemäß, nach Lust stre-ben, doch kann dies nur erfolgreich sein, wenn er um die in-neren Zusammenhänge und die Bedingungen seines Stre-bens weiß. Diogenes Laertios hat uns einen Ausspruch desPhilosophen überliefert, der dies deutlich macht: »Ein lust-volles Leben ist nicht möglich, ohne ein einsichtsvolles, lob-würdiges und gerechtes Leben, und ein einsichtsvolles, lob-würdiges und gerechtes Leben nicht ohne ein lustvolles.«9

9 Leben und Meinungen berühmter Philosophen 10,40; zit. nach der Aus-gabe von O. Apelt (Hamburg 21967, S. 288).

Deshalb proklamierte Epikur auch die Selbstgenügsamkeitund Bescheidenheit der Ansprüche als Bedingung für denLebensgenuss, denn: »Man kann mit Zeus an Glückseligkeitwetteifern, wenn man Gerstenbrot und Wasser hat.«10

10 Überl. bei Stobaios (17,30); zit. nach: Die Nachsokratiker (s. Anm. 5),Bd. 1, S. 207, Nr. 102.

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In zweierlei Hinsicht unterscheiden sich die Lehren Epi-kurs erheblich von der Philosophie der Stoa: Anders als dieStoiker (vor allem der römischen Zeit) lehnte er gesell-schaftliche und politische Aktivitäten ab, ihn interessiertenur das Glück des Einzelnen; deshalb konnte er auch sagen:»Der Weise wird sich nicht an der Politik beteiligen«.11

11 Überl. bei Diogenes Laertios (10,119); zit. nach: Die Nachsokratiker(s. Anm. 5), Bd. 1, S. 199, Nr. 80.

Epi-kur zog es vielmehr vor, im Verborgenen zu leben, in sei-nem Gärtchen, wo ihn Freunde und Schüler – zum erstenMal in der Geschichte der Philosophie waren auch Frauendabei – besuchten. Außerdem scheinen ihn, den radikalenMaterialisten, metaphysische Fragestellungen eher gelang-weilt zu haben. Zwar gab er, wie im Brief an Menoikos, aus-drücklich die Existenz der Götter zu – möglicherweise eherein Zeichen seiner Vorsicht –, doch bestimmen sie nach sei-ner Auffassung nicht das Schicksal des Menschen und gebenihm auch nicht mit Hilfe von Weissagungen Orientierungs-hilfen für sein Leben. Weder haben sie ihn geschaffen, nochsorgen sie sich um ihn: »Was soll die Verehrung einer Gott-heit, die selig und bedürfnislos ist?«12

12 Laktanz, Göttliche Unterweisungen 7,5,3.

Die Stoiker lehnten die Lehre Epikurs kategorisch ab.13

13 Vgl. z. B. Epiktet, Diatriben 1,23.

Lediglich Seneca scheint nicht die allgemeine Linie vertre-ten zu haben. So betont er in seinem Traktat Über dasglückliche Leben (De vita beata 13): »Ich bin nun der Auf-fassung – ich sage das ohne Rückendeckung durch meinephilosophischen Freunde –, dass Epikurs Lehren rein undrichtig sind, ja, wenn man näher hinschaut, sogar streng«.Mit diesem Urteil blieb Seneca weitgehend allein. Die Nei-gung der Stoiker, die Ansichten Epikurs und seiner Nach-folger abzuwerten, wirkte noch bis in die neueste Zeit nach.Ludwig Stein z. B. sieht das Verdienst der Stoa um dieMenschheit darin, »daß sie als mächtige Gegenfüßler derEpikureer einer entarteten, verweichlichten, sittlich ge-

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lockerten Gesellschaft durch ihre praktische Philosophie einschroffes sittliches Bewußtsein und einen starren Mannes-willen entgegengesetzt haben«.14

14 Stein (1886–88), Bd. 1, S. 4.

Im zweiten Jahrhundert wurde Rom zur bestimmendenMacht im östlichen Mittelmeerraum. »Mit der Schlacht vonPydna ließ schon der Zeitgenosse Polybios die römischeWeltherrschaft beginnen. Und in der Tat: die ZerschlagungMakedoniens, die Knebelung aller freien griechischen Staa-ten im Ägäisgebiet, die kategorische Beschränkung der se-leukidischen Außenpolitik und die Herabdrückung derPtolemäermonarchie zu einem Klientelstaat haben das hel-lenistische Staatensystem zertrümmert und Rom zur Herrinim östlichen Mittelmeer gemacht.«15

15 Berve (1953), S. 353.

Damit fand aber zugleich auch die Kultur dieser LänderEingang in Rom. Vor allem die religiösen Überzeugungenund philosophischen Einsichten des Hellenismus gewannenimmer mehr Aufmerksamkeit und brachten die festgefügterömische Normenwelt ins Wanken, was auch der Konserva-tive M. Porcius Cato nicht verhindern konnte. Andererseitsscheint die Lebenssicht der Römer ebenfalls nicht ohne Ein-fluss auf die stoische Lehre geblieben zu sein, wie diePflichtenlehre des Panaitios und seine positive Haltung zumStaatswesen zeigt. Bedeutender noch wurde sein SchülerPoseidonios, der sich zum Ziel setzte, der politischen Welt-macht Roms ein adäquates, alle Wissensbereiche umfassen-des Bildungssystem zur Seite zu stellen.16

16 Vgl. Barth (1946), S. 140.

Unter den Hörern des Poseidonios war der Staatsmannund Schriftsteller Cicero, der in seinen letzten Lebensjahrendurch eine Reihe von Werken die Ansichten der Stoa ver-breitete, ohne dass man ihn deshalb selbst dieser Philoso-phie zurechnen sollte. Vielleicht stellten sie einen späten

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und schließlich vergeblichen Versuch dar, der sich auflösen-den Republik noch einen Halt zu geben.

Mit Caesar und seinem Nachfolger Augustus löste sichschließlich das republikanische System endgültig auf, invielfacher Hinsicht brach eine neue Zeit an. Während Se-neca sich mühte, das Leben in der neronischen Zeit mit derstoischen Lehre zu einer Synthese zu bringen, entwickeltesich in der letzten Phase der Stoa, bei Epiktet und MarkAurel, ein ethischer Rigorismus, der in manchem an die alteStoa anknüpfte. Möglicherweise war auch dies wieder – wiein den Anfängen der Stoa – eine Reaktion auf die sich ab-zeichnenden Krisen der Zeit.

Das aufkommende Christentum adaptierte viele Über-zeugungen vor allem der stoischen Ethik und ersetzte alsreligiöse Weltanschauung mehr und mehr den philosophi-schen Gesamtentwurf der Stoa, die schließlich ihre Eigen-ständigkeit und Bedeutung als nicht-christliche Orientie-rung weitgehend verlor.

Eine philosophische Schule wie die Stoa bildet sich we-sentlich durch die Auseinandersetzung mit früheren Sicht-weisen und durch die Reaktion auf neue oder neu formu-lierte Fragen der jeweiligen Gegenwart. So griff die Stoa fürihre Kosmologie auf die Vorsokratiker – vor allem auf He-raklit – zurück, lernte, nicht zuletzt bei ethischen Fragestel-lungen, viel von Platon und setzte sich kritisch mit demEpikureismus auseinander. Kulturgeschichtlich bedeutsamwurde aber vor allem ihr Bemühen, ein Gedankengebäu-de zu errichten, das den kosmischen Zusammenhang allerDinge philosophisch nachbildete.

Von den philosophischen Richtungen der hellenistischenZeit ist die Stoa die wirkungsreichste gewesen: Viele ihrerVorstellungen sind Gemeingut der abendländischen Kul-tur geworden. Es mag deshalb manchen verwundern, dassgroße Teile ihrer Philosophie weitgehend unbekannt geblie-ben sind. Dies hängt sicherlich auch mit der Überlieferungs-

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situation zusammen: Die Auffassungen der »älteren« und»mittleren« Stoiker müssen aus Sekundärquellen rekonstru-iert werden, im Wesentlichen blieben nur die Werke Sene-cas, Epiktets und Mark Aurels aus der »jüngeren« Stoa inrelativ gesicherter Form erhalten. Außerdem dürfte die Me-thode der historischen Philosophiebetrachtung, die Ge-schichte der antiken Philosophie in eine klassische und ineine vor-, bzw. nachsokratische Phase einzuteilen,17

17 Vgl. z. B. Die Vorsokratiker, hrsg. von W. Capelle, Stuttgart 1935, undW. Nestles Die Nachsokratiker (s. Anm. 5).

zu einerAbwertung der (»nachklassischen«) stoischen Philosophiegeführt und so den Blick für ihre Bedeutung verstellt haben.

Die geschichtliche Entwicklungder stoischen Philosophie

Die »alte« Stoa

(um 300 – um 150 v. Chr.)

Zenon

Die stoische Schule wurde etwa um 300 v. Chr. von Zenonaus Kittios oder Kit(t)ion (Zypern) in Athen gegründet. Sieerhielt ihren Namen von einer bunt bemalten Säulenhalle,der »Stoa poikile«, wo er sich mit seinen Anhängern zutreffen pflegte. Zenon gehört zu den großen Gestalten derantiken Philosophie. Wie nur wenigen gelang es ihm, Lebenund Lehre miteinander in Einklang zu bringen. So jeden-

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falls wirkt das Bild nach, das man von ihm in der Antikehatte.

Die umfangreichsten Nachrichten über Zenons Lebenund Werk trug Diogenes Laertios im siebten Buch seinesWerkes Leben und Meinungen berühmter Philosophen zu-sammen. Mit dieser Darstellung wurde er gewissermaßenzum Erfinder der populären Philosophiegeschichtsschrei-bung. Zwar ging ihm jegliche tiefere Einsicht in die Materieab, und mitunter verwundert das sprunghafte Hin und Herseiner Darstellung. Da er aber ein eifriger Sammler von Ein-zelheiten war, außerdem durchaus nicht das historisch Gesi-cherte vom Anekdotenhaften trennte, gelang es ihm, einrecht farbiges Bild vom Begründer der Stoa zu zeichnen.

Zenon – man nimmt an, dass er phönizischer Herkunftwar und um 335 v. Chr. geboren wurde – überlebte im Jahre313 einen Schiffbruch in der Nähe des Piräus, ging nachAthen und schloss sich dem Kyniker Krates an, in jenerZeit der bekannteste Vertreter der kynischen Philosophie inAthen. Charakteristisch für die Kyniker war, neben derVerachtung dem Besitz gegenüber, ihre Ablehnung derherrschenden gesellschaftlichen und moralischen Vorstel-lungen, da sie ein naturgemäßes Leben verhinderten. Des-halb versuchte etwa einer ihrer wichtigsten Vertreter, Dio-genes, genannt Kyon (»der Hund«), die Menschen – oft mitäußerst drastischen Mitteln – zur Natur zurückzuführen. Erwar der Überzeugung, natürliches Handeln könne nichtfalsch sein und man dürfe es deshalb auch vor aller Augentun.18

18 Vgl. Capelle (1971), S. 11.

Damit zielte er bewusst auf das Scham- und An-standsgefühl seiner Zeitgenossen.

Einige Jahre später gründete Zenon eine eigene, nämlichdie stoische Schule, ohne jedoch völlig die asketische Le-bensführung der Kyniker abzulegen. Sein philosophischesund pädagogisches Wirken fand bald Anerkennung. Sowurde ihm ein goldener Kranz verliehen, und die Volksver-

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sammlung beschloss, ihm ein Grabmal zu erbauen, unteranderem wegen der moralischen Wirkung seiner Lehre aufdie Jugend.

Zenon – er wird als hager, braunhäutig und etwas kränk-lich beschrieben – führte ein sparsames und enthaltsamesLeben. Im Umgang galt er als angenehm, weswegen KönigAntigonos von Makedonien oft bei ihm weilte. Berühmtwaren sein bissiger Spott und seine Schlagfertigkeit. Dioge-nes berichtet: »Man erzählt, er habe einen diebischen Skla-ven bestraft, und als dieser gerufen habe, es sei ihm vomSchicksal bestimmt zu stehlen, habe Zenon geantwortet:›Aber auch geschlagen zu werden.‹ Als man ihn einmalfragte, wie es möglich sei, daß ein so ernster und finstererMann wie er durch das Trinken heiter werde, antwortete er,es gehe ihm wie den Lupinen: Von Natur aus seien sie bit-ter, eingeweicht aber würden sie süß.«19

19 Leben und Meinungen berühmter Philosophen 7,26.

Wie alt Zenon wurde, ist nicht sicher überliefert; die ei-nen sagen 98, die anderen 72 Jahre. Nach dem Bericht desDiogenes soll sein Tod auf ungewöhnliche Weise erfolgtsein: »Als er aus der Schule kam, stürzte er und zerstieß sicheinen Finger, indem er mit der Hand auf die Erde schlug.Dabei rief er mit den Worten aus der Niobe [des Aischylos]:Ich komme doch schon, warum rufst du mich?«20

20 Ebd., 7,28.

Wenigspäter soll er freiwillig aus dem Leben geschieden sein.

Kleanthes und Chrysipp

Neben Zenon gelten als wichtigste Vertreter der alten StoaKleanthes von Assos und Chrysipp von Soloi. Letztererwar zwischen 232 und 204 v. Chr. Oberhaupt der stoischenSchule. Unter ihm, dem Systematiker, wurde sie für Jahr-hunderte die einflussreichste philosophische Richtung im

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griechisch-römischen Raum. Sicherlich war dafür auch seineaußerordentliche Produktivität verantwortlich: Er soll über700 Schriften, darunter 311 zur Logik, verfasst haben.

Sein Vorgänger Kleanthes ist deshalb im Gedächtnis ge-blieben, weil von ihm der sogenannte Zeushymnos überlie-fert ist, der Anlass zu vielerlei Betrachtung gab.21

21 Zur wissenschaftlichen Diskussion siehe: Pohlenz (1965), Bd. 1, S. 87 ff.;Wilamowitz-Moellendorff (1967), S. 306 ff.; Neustadt (1931), S. 387 f.

Der Text,im Grunde der einzige aus der »alten« Stoa, der vollständigerhalten blieb, zeigt den Nachfolger Zenons als einen gläu-bigen Mann, der über die Gottlosigkeit seiner Zeit tief be-unruhigt ist und gegen den weit verbreiteten Relativismusund Skeptizismus des dritten vorchristlichen JahrhundertsStellung bezieht. Jedoch bedeutet dieses Gebet keineswegseine Rückwendung zur Volksfrömmigkeit früherer Jahr-hunderte, vielmehr versuchte Kleanthes die Synthese my-thischer Vorstellungen und stoischen Gedankengutes.

Die mittlere Periode der Stoa

(um 150 v. Chr. bis zur Zeitenwende)

Panaitios

Panaitios von Rhodos (um 180 – um 100 v. Chr.) gilt als dererste griechische Philosoph, der unmittelbar Einfluss nahmauf die philhellenischen Intellektuellen im republikanischenRom. Mit der Stoa machte ihn in Athen Diogenes von Ba-bylon vertraut. Um 150 v. Chr. ging Panaitios nach Rom,lernte die lateinische Sprache und fand Einlass in den Kreisum den römischen Feldherrn Publius Cornelius Scipio,als dessen geistiger Mentor er eine Zeitlang wirkte, bis er

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129 v. Chr. die Leitung der stoischen Schule in Athen über-nahm.

Wohl unter dem Eindruck der römischen Mentalität for-mulierte Panaitios seine Vorstellungen im Vergleich zu denLehren Zenons oder Chrysipps wesentlich lebensnäher. Soerkannte er den Gütern des alltäglichen Lebens, wie Ge-sundheit, Wohlstand usw., durchaus eine Bedeutung für diesittliche Entwicklung des Menschen zu, während seine Vor-gänger wie auch die späteren Stoiker dazu neigten, sie alsadiaphora, bedeutungslose Dinge, einzuschätzen. Seine ent-scheidende Leistung war wohl, dass er die Härten der alt-stoischen Ethik milderte, sie damit gewissermaßen prakti-zierbar machte, im Sinne eines erfolgreichen Lebens, »indem sich der Mensch als sittliche Persönlichkeit aktiv zumWohle der Mitmenschen betätigt und zugleich unbefangendie Güter des Lebens genießt«.22

22 Pohlenz (1965), Bd. 1, S. 206.

Von den Werken des Panaitios ist, mit Ausnahme einesFragmentes23

23 Vgl. Pauly’s Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, neubearb. von G. Wissowa [u. a.], Bd. 36,2, Stuttgart 1949, Sp. 419.

, nichts erhalten. Dass seine Philosophie dasrömische Denken beeinflusste, ist im wesentlichen Cicerozu verdanken, der die wichtigste Schrift des Panaitios, Deofficiis, als Vorlage für sein gleichnamiges Werk benutzt hat.Die politischen Vorstellungen des Stoikers sind in CicerosDe re publica eingeflossen und haben über Laktanz undAugustinus bis ins christliche Mittelalter gewirkt.24

24 Vgl. Capelle (1971), S. 204.

Poseidonios

Der zweite wichtige Denker der mittelstoischen Epoche istPoseidonios aus Apameia, einer makedonischen Tochter-stadt in Syrien. Er lebte von etwa 135 bis etwa 50 v. Chr.,war zunächst Schüler des Panaitios und studierte später auf

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großen wissenschaftlichen Forschungsreisen z. B. den Vul-kanismus auf Sizilien, das Brauchtum der Kelten in Süd-frankreich und die Gezeiten in Spanien. Später gründete erauf der Insel Rhodos eine Philosophenschule, die weithinberühmt werden sollte. Dort hörte ihn u. a. auch Cicero.

Seine Lehrtätigkeit bedeutete jedoch keinen Rückzug inden stillen Winkel, er entwickelte vielmehr, etwa als Ge-sandter der Republik Rhodos, erhebliche politische Aktivi-täten. Außerdem veröffentlichte er eine große Zahl vonSchriften beispielsweise über die Ethik, das Schicksal, dieSeherkunst, die Götter, über die Metereologie, das Meer, diePhysik, über die Seele und über die Geschichte seiner Zeit.

Viele seiner Schriften wurden von späteren Philosophen,Schriftstellern und Wissenschaftlern (von Cicero, Livius,Seneca, Strabon und anderen) als Quellen benutzt. Aus de-ren Bearbeitungen wurde inzwischen das poseidonischeGedankengut herausgefiltert, da von dem Stoiker direktnichts überliefert ist.

Es kann kaum überraschen, dass dieser genaue Beobach-ter – Reinhardt urteilte, er sei vielleicht der »größte Augen-denker der Antike« gewesen25

25 Reinhardt (1921), S. 5.

– den Menschen als Teilder gesamten Natur sah, für den die gleichen Gesetze geltenwie für den gesamten Kosmos. Es scheint, dass er die Vor-stellung von der Welt als Organismus konsequent durch-dachte: Die Sonne ist das Herz, der Mond die Leber undbeide wirken auf die Gestaltung der Erde, aber auch aufKörper und Seele des Menschen. Die ganze Welt wirdvon der göttlichen Lebenswärme durchatmet, ein Gedanke,den später Seneca in seinen Naturwissenschaftlichen Unter-suchungen (Naturales quaestiones) übernimmt. Er war einüberzeugter Anhänger der Astrologie und zweifelte nichtan der Wirkung der Planeten und Sterne auf das mensch-liche Schicksal.

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Poseidonios’ Leistung wurde mitunter geradezu enthu-siastisch gerühmt. Max Pohlenz urteilt: »Poseidonios ist dergrößte wissenschaftliche Geist, den der Hellenismus her-vorgebracht hat. [. . .] Die seit Aristoteles verlorene Einheitvon Philosophie und Fachwissenschaft wird von seinemuniversalen Geiste noch einmal hergestellt.«26

26 Pohlenz (1948/49), Bd. 1, S. 238.

Inzwischenneigt man zu einer nüchterneren Einschätzung. Hossenfel-der differenziert: »Wie groß immer sein Einfluß gewesensein mag, seine Originalität in der Philosophie war gering.Was ihn hier auszeichnete, scheint, neben beachtlicher Elo-quenz, die Fähigkeit zu einer systematischen Zusammen-schau alles erreichbaren Wissens, vor allem auch aus denEinzelwissenschaften, in denen er sich erfolgreich betätigte,unter stoischen Prämissen gewesen zu sein.«27

27 Hossenfelder (1985), S. 97.

Poseidonios’ Gesamtleistung mag umstritten sein, den-noch sind auch heute noch seine Gedanken, insoweit wir sieetwa aus Ciceros De divinatione (Über die Weissagung) undaus der Geographika Strabons kennen, beachtenswert.

Die Stoa der Kaiserzeit

(um 50 – 180 n. Chr.)

Die Stoa nach der Zeitenwende hat sich philosophischkaum mehr entwickelt, »ihre schöpferische Kraft war er-lahmt«.28

28 Ebd., S. 98.

Dennoch prägte gerade diese Phase – wirkungsge-schichtlich gesehen – am stärksten das Bild von der Stoa:Erst in der Kaiserzeit wurden die Werke verfasst, die üb-licherweise mit dem Begriff »Stoa« verbunden werden. Derbedeutendste von ihnen war Seneca, von dem uns eine grö-

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ßere Zahl von Traktaten, z. B. über den Zorn, die Milde, dieWohltaten, den Gleichmut, eine umfangreiche Briefsamm-lung und naturwissenschaftliche Schriften überliefert sind.Die Lehren des Musonius und seines großen Schülers Epik-tet (beide haben selbst nichts aufgeschrieben) haben inForm von Vorlesungsmitschriften oder auch Gedächtnis-protokollen die Zeiten überdauert. Für Mark Aurel gilt si-cherlich, was schon für die Popularität Senecas eine Rollegespielt haben mag, nämlich dass seine politische Bedeutungdas Interesse an seinem Werk wachgehalten hat. Jedenfallsblieben die 12 Bücher des Kaisers Ta eis heauton (Selbstbe-trachtungen) erhalten, ohne dass damit schon ein Urteilüber ihren philosophischen Rang gefällt wäre.

Neben dem Zufall, der uns die Schriften erhielt, und derPopularität ihrer Verfasser spielte für die Verbreitung dieserPhilosophie die weitgehend positive Aufnahme ihrer Ethikdurch das Christentum ebenso eine Rolle wie der Verzichtauf »trockene« theoretische Themen und anspruchsvollewissenschaftliche Darstellung: Die meisten Schriften derSpätstoiker verlangten vom Leser keinerlei Vorbildung,sondern orientierten sich als eine Art von Lebenshilfelitera-tur nicht selten an konkreten Alltagssituationen. Vielleichthaben sie deshalb bis zum heutigen Tage wenig von ihrerAnziehungskraft verloren.

Seneca

Der Aristokrat Lucius Annaeus Seneca (um 4 v. Chr. – 65n. Chr.), geboren im spanischen Cordoba, zog mit seinemVater, der als Verfasser von Rhetorik-Büchern berühmtwerden sollte, nach Rom und erwarb dort seine philosophi-sche Bildung von Stoikern seiner Zeit. Seneca war vonschwächlicher Gesundheit, weshalb er seine politische Kar-riere relativ spät begann. Von Claudius wurde er aufgrunddes fingierten Vorwurfs des Ehebruchs nach Korsika ver-

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bannt (dessen direkte Fürsprache verhinderte ein Todesur-teil, Seneca durfte außerdem sein Eigentum behalten), abernach acht Jahren von Agrippina, der Mutter Neros, als Prin-zenerzieher zurückgerufen. Seine Aufgabe war es, den zu-künftigen Herrscher rhetorisch zu bilden, Reden für ihn zuverfassen und ihn bei seinen öffentlichen Auftritten zu be-raten. Mit der Thronbesteigung Neros (54 n. Chr.) stand Se-neca im Zenit seiner Macht. Als »Kaiserlicher Rat« führte erweitgehend die Regierungsgeschäfte, unaufhörlich bemüht,bis er zu Beginn der sechziger Jahre seinen politischen Ein-fluss verlor und sich ins Privatleben zurückzog. Aber auchgrößte Zurückhaltung und Vorsicht konnten das Misstrauenseiner Gegner nicht beruhigen: Im Jahre 65 n. Chr. wurdeeine Verschwörung gegen Nero aufgedeckt, und einer derBeteiligten nannte Seneca als Mitwisser, der sich auf Befehldes Kaisers tötete. Er starb mit sokratischer Gelassenheitund verlieh so seinen Werken mehr Überzeugungskraft alsdurch seine frühere, mitunter zwiespältige Lebensweise.Die Möglichkeit einer völlig anderen Bewertung soll jedochauch nicht geleugnet werden. So urteilt Wilamowitz-Moel-lendorff: »Auf dem Totenbett posiert er, wie er es in seinenSchriften immer getan hat.«29

29 U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen, 2 Bde., Darm-stadt 21955, Bd. 2, S. 439.

Seneca lebte, auch in übertragener Bedeutung, währendder Zeitenwende. Die altrömischen Tugenden, die Augustusnoch zu bewahren sich bemüht hatte, wurden als Leitliniendes Lebens immer wirkungsloser. Genusssucht und leereBeschäftigungen, die nur der Zerstreuung dienten, die poli-tischen Verhältnisse, in die ja auch Seneca verstrickt war, dasinnere Unbefriedigtsein, die allgemeine Unrast, welche dieKonzentration auf das Wesentliche verhinderte, kurz, dasgeistige Klima jener Zeit, welches Pohlenz30

30 Pohlenz (1948/49), Bd. 1, S. 278.

zutreffend als»Treibhauskultur« bezeichnet hat, verlangte nach Halt, Ori-entierung und Hilfe bei der Bewältigung des Lebens. Dies

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