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Praxis der Psychomotorik Jg. 26 (3) • August 2001 140 Grundlagen Die psychomotorische Beobachtung in der psychomotorischen Praxis Aucouturier Dorothée Bortel 1. Einleitung Die psychomotorische Beobachtung (l’observation psychomotrice) ist der Versuch, das Kind in seinem psycho- motorischen oder somatopsychischen Ausdruck, den es auf unterschiedli- chen Symbolisierungsebenen (moto- risch, graphisch, sprachlich) im Raum, der Zeit, mit den Materialien, und vor allem in der Beziehung zum Anderen zur Sprache bringt, zu verstehen. Beobachten heißt hier weder testen, noch eine Bilanz der De- fizite aufstellen! Wie auch in der präventi- ven und therapeuti- schen Arbeit steht das Kind in seiner körper- lich-seelischen Einheit im Vordergrund 1 . Ausgangspunkt der psychomotorischen Intervention ist die in- dividuelle Ausdrucks- weise eines jeden Kindes, in der die Begegnung zwischen Kind und Psy- chomotorikerIn im Vordergrund steht. Diese individuelle, psychomotorische Ausdrucksweise (l’expressivité psy- chomotrice) ist geprägt von den gei- stig-seelisch-leiblichen Erfahrungen des Kindes, insbesondere von sei- nen frühen Beziehungserfahrungen der ersten Lebensperiode. Die Beobachtung ist ein sehr komple- xes Geschehen und ist immer im Zu- sammenhang mit der Person des Be- obachters, d.h. seiner Haltung gegen- über dem Kind, seinem theoretischen Fundament und seiner Persönlichkeit zu sehen. Bevor ich auf die Be- obachtung an sich eingehe, möchte ich auf das dem Ansatz zugrunde liegende Menschenbild sowie auf die wichtigsten theoretischen Grundlagen eingehen. 2. Menschenbild und theore- tische Grundlagen Natürlich entsteht dieses Bild vom Menschen und das darauf aufbauen- de Theoriegebäude nicht im luftlee- ren Raum. Es wird immer beeinflußt von der persönlichen Geschichte und den jeweiligen Strömungen der gesell- schaftlichen und historischen Situation. So hat sich die Psychomo- torische Praxis Au- couturier Ende der 60er Jah- re, wie vie- le körperorien- tierte Ansätze, im wesentlichen vom Gedankengut der humanistischen Psy- chologie und der psychoanalytischen Theorie inspirieren lassen. Interessant ist in diesem Zusammen- hang, daß Bernard AUCOUTURIER in ei- nem sehr freien, pädagogischen Mi- lieu aufgewachsen ist – sein Vater war Freinet-Pädagoge 2 . Es interessiert nicht, was ein Kind nicht kann, sondern was es zu tun vermag. Jedes Kind hat sein eige- nes Entwicklungstempo, und es soll ihm Gelegenheit gegeben werden, daß es so sein kann, wie es ist, und nicht, wie es der andere haben will. In seinem Buch „La pratique psycho- motrice“ schreibt AUCOUTURIER: „Das beste Mittel dem Kind zu helfen, sei- ne Schwierigkeiten zu überwinden, ist, sie vergessen zu machen ... Wir müssen das Kind als ganzheitliches Wesen betrachten, und der Versu- chung widerstehen, es in Teile zu zerlegen.“ 3 Diese ganzheitliche Sicht- weise des Kindes sowie der Respekt vor seiner Individualität sind Kern- punkte des Ansatzes. Zentraler Orientierungspunkt ist da- bei der Körper in seiner leiblich-see- lisch-geistigen Dimension. Unter dem Begriff „Körper“ wird nicht nur der anatomische Körper, der an die neu- rophysiologische Reifung gebunden ist, verstanden, sondern vor allem auch der imaginäre Körper mit sei- nem affektiv-emotionalen Aspekt. Dieses Imaginäre sind die nicht be- wußten Bilder des Körpers, die aus der ersten körperlichen Beziehung hervorgegangen sind. Die Vorstellung vom eigenen Körper hängt also nicht nur von den objektiven, anatomischen Gegebenheiten ab, sondern auch von dem, was der Andere gespiegelt hat. Der Körper strukturiert sich in der Be- ziehung zum Anderen. Diese Grundauffassung ist seit jeher Thema der Psychoanalyse. So schrieb bereits 1923 der Psychoana- lytiker PAUL SCHILDER, daß die Vorstel- lung, die der Mensch sich von sei- nem Körper macht, niemals seinen objektiven Gegebenheiten entspricht, sondern immer Resultat der geleb- 1 M. ESSER. Beweg-Gründe. Ernst-Rein- hard-Verlag, München, 1995, 2. Auflage 2 FREINET: Französischer Pädagoge, 1896- 1966; Begründer der „Ecole moderne Francaise“ (1944). Der freie Ausdruck, Aktivität, Eigenverantwortung und das Interesse des Kindes sind Grundlagen der Freinet-Pädagogik. 3 B. AUCOUTURIER, I. DARRAULT, J. EMPINET. La pratique Psychomotrice, Paris, 1984.

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Praxis der Psychomotorik • Jg. 26 (3) • August 2001140

Grundlagen

Die psychomotorische Beobachtung in derpsychomotorischen Praxis Aucouturier

Dorothée Bortel

1. EinleitungDie psychomotorische Beobachtung(l’observation psychomotrice) ist derVersuch, das Kind in seinem psycho-motorischen oder somatopsychischenAusdruck, den es auf unterschiedli-chen Symbolisierungsebenen (moto-risch, graphisch, sprachlich) im Raum,der Zeit, mit den Materialien, und vorallem in der Beziehung zum Anderenzur Sprache bringt, zu verstehen.

Beobachten heißt hier weder testen,noch eine Bilanz der De-fizite aufstellen! Wieauch in der präventi-ven und therapeuti-schen Arbeit steht dasKind in seiner körper-lich-seelischen Einheitim Vordergrund1.

Ausgangspunkt derpsychomotorischenIntervention ist die in-dividuelle Ausdrucks-weise eines jeden Kindes, in der dieBegegnung zwischen Kind und Psy-chomotorikerIn im Vordergrund steht.Diese individuelle, psychomotorischeAusdrucksweise (l’expressivité psy-chomotrice) ist geprägt von den gei-stig-seelisch-leiblichen Erfahrungendes Kindes, insbesondere von sei-nen frühen Beziehungserfahrungender ersten Lebensperiode.

Die Beobachtung ist ein sehr komple-xes Geschehen und ist immer im Zu-sammenhang mit der Person des Be-obachters, d.h. seiner Haltung gegen-über dem Kind, seinem theoretischenFundament und seiner Persönlichkeitzu sehen. Bevor ich auf die Be-

obachtung an sich eingehe, möchte ichauf das dem Ansatz zugrunde liegendeMenschenbild sowie auf die wichtigstentheoretischen Grundlagen eingehen.

2. Menschenbild und theore-tische GrundlagenNatürlich entsteht dieses Bild vomMenschen und das darauf aufbauen-de Theoriegebäude nicht im luftlee-ren Raum. Es wird immer beeinflußtvon der persönlichen Geschichte undden jeweiligen Strömungen der gesell-

schaftlichen undhistorischenSituation. Sohat sich diePsychomo-t o r i s c h ePraxis Au-coutur ierEnde der60er Jah-re, wie vie-

le körperorien-tierte Ansätze, im wesentlichen vomGedankengut der humanistischen Psy-chologie und der psychoanalytischenTheorie inspirieren lassen.

Interessant ist in diesem Zusammen-hang, daß Bernard AUCOUTURIER in ei-nem sehr freien, pädagogischen Mi-lieu aufgewachsen ist – sein Vaterwar Freinet-Pädagoge2.

Es interessiert nicht, was ein Kindnicht kann, sondern was es zu tunvermag. Jedes Kind hat sein eige-nes Entwicklungstempo, und es soll

ihm Gelegenheit gegeben werden,daß es so sein kann, wie es ist, undnicht, wie es der andere haben will.In seinem Buch „La pratique psycho-motrice“ schreibt AUCOUTURIER: „Dasbeste Mittel dem Kind zu helfen, sei-ne Schwierigkeiten zu überwinden,ist, sie vergessen zu machen ... Wirmüssen das Kind als ganzheitlichesWesen betrachten, und der Versu-chung widerstehen, es in Teile zuzerlegen.“3 Diese ganzheitliche Sicht-weise des Kindes sowie der Respektvor seiner Individualität sind Kern-punkte des Ansatzes.

Zentraler Orientierungspunkt ist da-bei der Körper in seiner leiblich-see-lisch-geistigen Dimension. Unter demBegriff „Körper“ wird nicht nur deranatomische Körper, der an die neu-rophysiologische Reifung gebundenist, verstanden, sondern vor allemauch der imaginäre Körper mit sei-nem affektiv-emotionalen Aspekt.Dieses Imaginäre sind die nicht be-wußten Bilder des Körpers, die ausder ersten körperlichen Beziehunghervorgegangen sind. Die Vorstellungvom eigenen Körper hängt also nichtnur von den objektiven, anatomischenGegebenheiten ab, sondern auch vondem, was der Andere gespiegelt hat.Der Körper strukturiert sich in der Be-ziehung zum Anderen.

Diese Grundauffassung ist seit jeherThema der Psychoanalyse. Soschrieb bereits 1923 der Psychoana-lytiker PAUL SCHILDER, daß die Vorstel-lung, die der Mensch sich von sei-nem Körper macht, niemals seinenobjektiven Gegebenheiten entspricht,sondern immer Resultat der geleb-

1 M. ESSER. Beweg-Gründe. Ernst-Rein-hard-Verlag, München, 1995, 2. Auflage

2 FREINET: Französischer Pädagoge, 1896-1966; Begründer der „Ecole moderneFrancaise“ (1944). Der freie Ausdruck,Aktivität, Eigenverantwortung und dasInteresse des Kindes sind Grundlagender Freinet-Pädagogik.

3 B. AUCOUTURIER, I. DARRAULT, J. EMPINET.La pratique Psychomotrice, Paris, 1984.

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Grundlagen

ten Erfahrung mit dem Anderen ist.Auch die Existenzphilsosophen, wieJean Paul SARTRE, formulierten: DerMensch konstituiert sich durch denBlick des anderen.4

Der Begründer der Psychomotori-schen Praxis, Bernard AUCOUTURIER,gehört keiner bestimmten Schulrich-tung an. Er hat in den letzten 40 Jah-ren mit den Mitarbeitern der ASEFOPein dynamisches Theoriemodell ge-schaffen, das über die praktischenErfahrungen ständig weiter ausgear-beitet wurde.5 So ist der heutige Standder psychomotorischen Beobachtungdas Ergebnis einer langen Entwick-lung, die in Form von losgelöstenTestsituationen begann und sich überdie empirische Forschung bis zumheutigen Stand entwickelt hat.

Ausgehend von der Grundannahme,daß viele Entwicklungsstörungen ih-ren Ursprung in der frühkindlichen,präverbalen Phase haben, sind dieaffektiven und kognitiven Entwick-lungstheorien Grundlagen diesesAnsatzes. Dies ist zum Einen dieEntwicklungspsychologie mit ihrenVertretern Jean PIAGET6 und dem inDeutschland weniger bekannten Hen-ry WALLON7. Letzterer betont vor al-lem den engen Zusammenhang zwi-schen Tonus und Emotionen. Er siehtden ersten Dialog zwischen Mutterund Kind, der in den ersten Monatenvorwiegend auf tonisch-emotionalerEbene stattfindet, als die Ausgangs-basis aller weiteren Kommunikations-formen bis hin zum verbalen Dialog.

„Dieser tonische Dialog, der das ge-samte Subjekt in die affektive Kom-

munikation wirft, kann als ihm an-gemessenes Instrument nur ein ein-ziges haben, – den Körper. Hand-lung bedeutet in diesem Stadium inhohem Maße, die Repräsentation zubegleiten. Das Denken ist praktischdurch den Ausdruck in der Bewe-gung nach außen projiziert.“ 8

Ich denke hier z.B. an das Kind imPsychomotorikraum, das erst seinenTeddy die Rutschbahn hinunterwirft,bevor es selbst hinterher rutscht.

Der Körper – die Bewegung – dieHandlung – gesehen als die Grund-lage späterer Denkprozesse.

Der zweite wichtige Grundpfeiler die-ses Ansatzes ist die Psychoanalyse;ich möchte sogar behaupten, daß siesich in den letzten 20 Jahren als diewesentliche theoretische Grundlageherauskristallisiert hat. Auch wennviele Körpertherapeuten die Psycho-analyse als „verkopft“ abstempeln –ich kann dem seit meiner eigenenmehrjährigen analytischen Erfahrungnicht zustimmen –, war es doch Sig-mund FREUD, der den Körper als denMotor der menschlichen Entwicklunggesehen hat. Er und seine Schüler(Anna FREUD, Melanie KLEIN, JacquesLACAN, Donald W. WINNICOTT, u.v.a.)haben mit den Theorien über dasUnbewußte ein fundiertes Theorie-modell geschaffen, das uns für diepraktische Arbeit mit dem Kind wert-volles theoretischen Erklärungswis-sen liefert. Besonders auch dieForschungsberichte aus der neuerenpsychoanalytischen Säuglings- undKleinkinderforschung der letzten 15Jahre (Serge LEBOVICI, R. DIATKINE,

Ester BICK, Manuel PEREZ-SANCHEZ,Alessandra PIONTELLI, T. Berry BRA-ZELTON)9 bis hin zum heutigen Stan-dardwerk von Daniel STERN10 habenmit ihren Erkenntnissen über die früh-kindlichen Interaktionen wichtigetheoretische Grundlagen für die prak-tischen Erfahrungen mit dem Kind imPsychomotorikraum geliefert.

Zum Abschluß möchte ich noch aufdas Werk des Kinderarztes und Psy-choanalytikers Donald W. WINNICOTT

(1896-1971) eingehen, das meinerMeinung nach am nachhaltigsten diepraktische Arbeit und Theorieentwick-lung Aucouturiers geprägt hat11. FürWINNICOTT bildet die Psychoanalysedie wissenschaftliche Grundlage sei-nes Theoriemodells.

„Die Psychoanalyse fährt da fort“,schrieb er, „wo die Physiologie auf-hört. Sie dehnt das Gebiet der Na-turwissenschaften dahingehend aus,daß auch die Persönlichkeit, dieGefühle und Konflikte der Menscheneinbezogen werden. Sie behauptetdaher, daß die menschliche Naturuntersucht werden kann; wo Un-kenntnis herrscht, kann sie es sichleisten zu warten und braucht nichtzu abergläubischen FormulierungenZuflucht zu nehmen“.12

Doch wurde ihm auch bald klar, daßdie klassische FREUDsche Theorie fürseine Zwecke, – also die Arbeit mitSäuglingen und Kleinkindern –, sei-ne Grenzen hatte.

„Damals, in den zwanziger Jahren,war der Ödipuskomplex überall derKern des Problems. Die Analyseder Psychoneurosen führte denAnalytiker immer wieder zu denÄngsten, die zum Triebleben derVier- bis Fünfjährigen in ihrer Be-ziehung zu beiden Eltern gehören... Nun zeigten mir aber unzähligeFallgeschichten, daß die Kinder, dieStörungen bekamen, ob psycho-neurotischer, psychotischer, psy-chosomatischer oder antisozialerArt, Schwierigkeiten in ihrer emo-tionalen Entwicklung im Säuglings-alter, sogar schon als Babys, auf-zuweisen hatten ... Irgend etwasstimmte irgendwo nicht.“ 13

5 ausführlich nachzulesen in: M. ESSER,Beweg-Gründe6 J. PIAGET. Das Erwachen der Intelligenzbeim Kinde, Stuttgart, 1969.7 H. WALLON. Les origines du caractèrechez l’enfant. Paris, 1984.

9 siehe u.a.: Journal de la psychanalyse del’enfant, 12, Bayard Editions Paris, 1992.10 D. N. STERN. Die Lebenserfahrung desSäuglings. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart,1996.11 Werke: „Reifungsprozess und förderndeUmwelt“, „Vom Spiel zur Kreativität“, u.a.12 M. DAVIES, D. WALLBRIDGE. Eine Einfüh-rung in das Werk von D. W. WINNICOTT.Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart, 1995, 2.Auflage, 30-31.13 M. DAVIES, D. WALLBRIDGE. Eine Einfüh-rung in das Werk von D. W. WINNICOTT.Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart, 1995, 2.Auflage, 35-36

4 M. ESSER. Wo läßt die Psychomotorikdie Psyche? Über die Weisheit derSprache und den Ansatz von B. Aucou-turier. in: W.u.W. DÖRING, G. DOSE, MSTADELMANN. Sinn & Sinne im Dialog.Dortmund, 1996, S. 131 ff.

8 J. de AJURIAGUERRA. Manuel de psychia-trie de l’enfant. Edition Masson, Paris,1980.

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Grundlagen

Seine Theorie über die emotionaleEntwicklung des Kindes setzte da-mals schon in der frühesten Kindheitan, in der pränatalen Phase. Nebenden inneren Konflikten ist für ihn auchdie Umwelt für die emotionale Ent-wicklung des Kindes entscheidend.

Einen interessanten Beitrag, geradeauch für die PsychomotorikerIn hat ermit seinen theoretischen Ausführun-gen über den Bereich der Illusionen,er nennt es den potentiellen Raum(z.B. die Übergangsobjekte des Klein-kindes), geliefert. Es ist die Periodezwischen etwa dem 6. und dem 18.Lebensmonat, in der das Kind anfängt,mit der Außenwelt in Beziehung zutreten, und es mit der Unterstützungseiner Umgebung beginnt, sein wah-res Selbst zu strukturieren.

Donald W. WINNICOTT nimmt unter denPsychoanalytikern nach Meinungseiner Kollegen einen ganz speziel-len Platz ein. So schreibt z.B. der Psy-chiater Jean DE AJURIAGUERRA:

„Seine, teilweise überarbeiteten,genialen Intuitionen faszinieren,aber man fragt sich, inwieweit sieübertragbar sind. Sie haben es ihmermöglicht, in die Welt des Kindeseinzudringen; es ist hier seine In-tuition, die zum System wird.“ 14

Intuition, klinische Erfahrung und Be-obachtungen, gesehen als die we-sentliche Grundlage der WINICOTT’-schen Theorie!

Sind es nicht gerade diese Intuition,die praktischen Erfahrungen und ihreVerbindung zur Theorie, die dieHandlungsgrundlage für die psycho-motorische Arbeit Aucouturiers cha-rakterisieren? Sind es nicht diese dreiPfeiler, aus denen sich die wichtig-sten theoretischen Konzepte derPsychomotorischen Praxis Aucoutu-rier, wie z.B. das Konzept der Hand-lung und Transformation und dasKonzept der Einheit, im Laufe derletzten Jahre entwickelt haben?15

Der französische PsychoanalytikerGérard MENDEL16, der schon seit zehnJahren mit Bernard AUCOUTURIER zu-sammenarbeitet, sagt zu dieser gei-stigen Verbindung zwischen WINNI-COTT und AUCOUTURIER sinngemäß,daß die Arbeit AUCOUTURIERs für ihnin gewisser Weise eine Weiterführungder praktischen Arbeit WINNICOTTs dar-stelle. WINNICOTT hat viel über seineEntwicklung von Spielen mit den Kin-dern geschrieben, doch nur wenigüber die Arbeit mit Erwachsenen.Hätte WINNICOTT die Erkenntnisse überdie psychomotorische Expressivitätund den Körperausdruck gehabt,hätte er sich davon in seiner Arbeitsicherlich inspirieren lassen. Es istder Psychomotorikraum, der durchseine vertrauensvolle und geschütz-te Atmosphäre die geistige Kreativi-tät eines Jeden anregt.17

Auch wenn sich in der Psychomoto-rischen Praxis Aucouturier die Arbeitim Rahmen der Aus-/Fortbildung mitden Erwachsenen und der prakti-schen Arbeit mit dem Kind völlig un-terscheiden, ist die Ausgangsphilo-sophie doch die gleiche: Wir bildennicht aus um auszubilden, sondernwir stellen einen Rahmen zur Verfü-gung, in dem sich der Andere aus-bilden kann, einen geschützten Rah-men, in dem er seine körperliche undgeistige Kreativität entfalten kann.

3. Die PsychomotorischeBeobachtung in Präventionund TherapieWie bekannt, gibt es in der Psycho-motorischen Praxis Aucouturier eineAufteilung in präventive und thera-peutische Arbeit. Es gibt zwar inGrundhaltung und Zielsetzung vieleÜberschneidungen, und man könn-te sagen, daß die therapeutische auf

der präventiven Arbeit aufbaut, dochhat jeder Bereich seine eigenenTechniken und Methoden. Dement-sprechend wird auch zwischen zweiBeobachtungsmethoden unter-schiedlichen Niveaus unterschieden,nämlich

● der Beobachtung eines Kindes vonaußen innerhalb einer Präventions-gruppe

● und der interaktiven Beobachtungals eigentlicher Schlüssel für diepsychomotorische Therapie.

4. Die externe Beobachtungeines Kindes in der Präven-tionsgruppe

4.1 Zu den Grundgedanken imPräventivbereich

In der psychomotorischen Praxis imPräventivbereich geht es darum, dieKinder auf ihrem psychologischenReifungsprozess, d.h. dem Weg derDistanznahme vom mehr körperlich-emotionalen Erleben zu mehr kogni-tiven Aktivitäten, zu begleiten. DieLust an der Handlung mit dem An-deren steht dabei im Vordergrund.Sie ist eine grundlegende Etappe inder kindlichen Identitätsentwicklung.Das Kind drückt seine Bilder, Wün-sche und Ängste nicht nur über dasSpiel aus, sondern das Spiel ist auchMittel zur Überwindung seiner inne-ren Konflikte, zur Rückversicherungseiner Ängste und Phantasmen.Doch die Grundlagen zu dieserHandlungsfähigkeit liegen in der frü-hen Kindheit begründet (siehe Ka-pitel 3.2).

„Nach und nach wird das Kindaus der Phase, in der es sichnoch nicht getrennt von der Mut-ter erlebt, welche sein Leben ga-rantiert und aufrecht erhält undan die es mit seinen Affekten derLust gebunden ist, auftauchen.Trotz seiner Wünsche, sie zuentfernen und die Allmacht zuerleben, ist Ihre Abwesenheit be-ängstigend für das Kind. Norma-lerweise ist es die Dynamik derLust und das Begehren, die demKind den Weg zur Außenwelt

14 J. DE AJURIAGUERRA. Manuel de psychia-trie de l’enfant. Edition Masson, Paris,1980. Seite 47.15 M. ESSER. Von Bruno bis heute ... in:Praxis der Psychomotorik, Mai 2000,25(2), 68-76.

17 Aus einem bisher unveröffentlichtenVortrag G. MENDELs im Rahmen desJahrstreffens der ASEFOP, Portimao,2000. Die Aussage basiert auf einerAnalyse der praktischen Arbeit Aucoutu-riers, die er im Rahmen der formationpersonnelle (Selbsterfahrung mit Erwach-senen) beobachtet hat.

16 in Deutschland bekannt durch dieBücher „Generationskrise“ und „DieRevolte gegen den Vater“

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Grundlagen

öffnen, die es ihm erlauben denVerlust zu akzeptieren und sym-bolische Kompensation zu finden,über die Lust an der spielerischenHandlung, der Sprache, und spä-ter den kognitiven und logischenAktivitäten.“ 18

Diese symbolischen Kompensatio-nen, die spielerischen Aktivitäten, diedas Kind uns ungefähr ab dem 10.Lebensmonat zeigt, sind für BernardAUCOUTURIER Repräsentationen unbe-wußter Bilder der frühen Interaktion.Sie basieren auf den lustvollen Er-fahrungen

● des Umhüllt und Gehalten Wer-dens

● der Nahrungsaufnahme und Aus-scheidung.

Nur wenn das Kind ausreichend be-friedigende Erfahrungen hat machenkönnen, gelingt es ihm, über seinenpsychomotorischen Ausdruck dieseBilder zu reaktivieren. BERNARD AU-COUTURIER nennt sie die sensomoto-rischen Urphantasmen.

4.1.1 Spiele und Phantasmen imPsychomotorikraum

Welches sind nun die Spiele und diedamit verbundenen Phantasmen, diewir im Psychomotorikraum beobach-ten können? Es sind dies

● die Spiele des sensomotorischenLusterlebens, die bei dem Kind inden ersten 1,5 Jahren auftauchenund sich in den ersten 4 Lebens-jahren mit hoher Intensität fortset-zen. Zuerst ist es die Lust an derBeschäftigung mit dem eigenenKörper, seine Körperteile berüh-ren, in die Hände klatschen, sichdrehen, sich strecken, sich wiegen,mit der Stimme experimentieren,etc. Mit zunehmendem Alter, abca. 15 Monaten, ist es die Lust ander Bewegung des Körpers imRaum, wie z.B. dem Sich-Fallen-lassen, Springen, Klettern, Rut-schen, etc. So wie das Kind um-hüllt, gehalten und bewegt wurde,so hat es später auch Freude am

eigenen Sich-Bewegen. (Phantas-ma der körperlichen Umhüllung)

● die Spiele des Füllens und Lee-rens, Öffnen und Schließen, Hin-ein- und Herausgehens, Haltensund Loslassens. Diese Spiele ha-ben im 2. Lebensjahr ihren Hö-hepunkt. (Phantasma der Nah-rungsaufnahme und Ausschei-dung)

● Die Lust, den anderen zu Verschlin-gen und die Angst, verschlungenzu werden zeigt sich ab ca. 2 bis2,5 Jahren als Identifikationsspie-le mit dem Aggressor, z.B. Wolf –Krokodil. Zu Anfang werden siemeist nur über Laute und Gestikausgedrückt, mit zunehmendemAlter werden sie dann immer aus-geschmückter dargestellt. (Phan-tasma des Verschlingens)

● die Lust am Zerstören und dieAngst zerstört zu werden: Türmeaus Klötzchen oder Schaumstoff-würfeln umwerfen, Papier zerrei-ßen, Knete zerlöchern, „den An-deren töten“. (Phantasma des Zer-störens)

● die Spiele des Verschwindens undWiederauftauchens, sich und denanderen verschwinden lassen, ein-zelne Körperteile verschwindenlassen, etc. (Phantasma des Ver-schwindens)

● Spiele, in denen es darum geht,der Stärkere/Schwächere zu sein,gewinnen – verlieren, der Größtesein, den anderen Befehle ertei-len... Batman, Superman u.a.(Phantasma der Allmacht)

Diese Spiele drücken sich bis zumAlter von 3 bis 4 Jahren in unter-schiedlicher Intensität und Darstel-lungsvielfalt aus, sie gehören zu dergesunden Entwicklung eines jedenKindes. Ab dem Alter von 4 Jahrenkommen verstärkt die Spiele, die mitder sexuellen Identitätsfindung ein-her gehen, hinzu, z.B. Identifikationmit maskulinen und femininen Per-sonen oder Helden. All diese Spieletauchen auch später immer wiederin veränderter Form auf, werden abermit zunehmendem Alter mehr und

mehr von der Freude an Regelspie-len, kreativem Gestalten und kogni-tiven Aktivitäten abgelöst.

4.2 Die Beobachtung im Präven-tivbereich

Bevor wir uns auf die Störungen kind-lichen Verhaltens konzentrieren, istes sinnvoll, zunächst zu sehen undzu verstehen, wie sich „normale“ Kin-der bewegen, Kinder, die Lust an derHandlung und am Kontakt mit demAnderen haben. Dazu bietet sich dieBeobachtung eines Kindes zwischen1,5 und 6 Jahren innerhalb einer Prä-ventionsgruppe an. Mittlerweile istdiese Art von Beobachtung ein wich-tiger Bestandteil der Psychomotorik-ausbildung geworden, da wir auf sehrunterschiedlichen Ebenen etwas überdas Kind und über uns selbst erfah-ren: Über das Verständnis der see-lisch-motorisch-geistigen Reifung desKindes, seinen psychomotorischenAusdruck, wir lernen uns auf ein Kindzu zentrieren, unseren Blick zu schu-len und wir lernen eine Menge überuns selbst, denn eine Beobachtungist niemals objektiv.

Die Wahrnehmung ist immer von deneigenen Gefühlen beeinflußt. Auchbei einer Beobachtung „von außen“bin ich beteiligt, beteiligt durch mei-ne Anwesenheit, die Auswahl des Be-obachtungskindes, meinen Blick,meine Projektionen, Wünsche undGefühle, die Auswahl der Worte inmeinen Notizen.

Von daher ist es wichtig, die eige-nen Emotionen einigermaßen zukennen, um nicht auf Grund der ei-genen Projektion, wie zum BeispielGefühle der Ablehnung oder desBeschützens zu einem verzerrten Bildoder zu vorschnellen Urteilen überdas Kind zu kommen. Diese Gefüh-le existieren immer, man kann nichteinfach über sie hinwegsehen, da-her ist es wichtig, sich ihrer möglichstweitgehend, – über Selbsterfahrungoder Supervision –, bewußt zu wer-den. Oft gibt uns das Kind einenSpiegel dessen, was wir sind, bzw.was wir – nicht – sein möchten. War-um beobachte ich lieber ein aggres-siveres als ein schüchterneres Kind?

18 B. AUCOUTURIER. UnveröffentlichterVortrag. Tours, 1990.

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Grundlagen

Was sehe ich in dem Kind? Schrei-be ich wirklich nur das auf, was ichsehe?

Aus diesem Grund ist es notwendig,beim Beobachten auch gleichzeitigauf die eigenen tonisch-emotionalenReaktionen zu achten und sie evtl.zu notieren: Was berührt mich andiesem Kind? Wann berührt es michund in welchen Situationen?

Nach der Stunde ist es interessant,die Verbindung zu ziehen zwischendem, was ich gespürt habe und demwas ich über das Kind aufgeschrie-ben habe. Was ist, wenn zwei ver-schiedene Beobachter dasselbe Kindbeobachten? Reden sie denn wirk-lich vom selben Kind?Auf diese Weise übenwir nach und nach zwi-schen den eigenenGefühlen und denendes Kindes zu unter-scheiden. Unser Blickbeginnt sich zu öffnen;unbemerkt beeinflußtdies auch unsere Hal-tung gegenüber demKind. Wir werden unsmehr und mehr der Ein-zigartigkeit des kindli-chen Ausdruckes be-wußt, der Vielfalt kind-licher Handlungen, undmerken, wie schwieriges ist, eben nicht zuwerten, nicht zu kategorisieren. Diesist ein erster Schritt in Richtung hinzur Objektivität.

4.3 Zum VorgehenDer Beobachter wählt sich ein Kindin der Gruppe aus, das er einmal proWoche über einen längeren Zeitraumhinweg beobachtet. Er befindet sichaußerhalb der Gruppe, die gemein-sam mit einer Psychomotorikerin impsychomotorischen Raum nach Ber-nard AUCOUTURIER agiert. Die Raum-aufteilung in die 2 Bereiche (Bereichder motorischen Expressivität undRepräsentationsbereich) entsprichtder kindlichen Entwicklungsdynamik:„Von der Freude am Handeln zur Freu-de am Denken!“ Aufgabe ist es, inReihenfolge die verschiedenen Hand-

lungen des Kindes, ihre Art und Wei-se der Ausführung, sowie seine Spra-che zu notieren. Um das Kind mög-lichst genau in seinen Handlungenbeobachten zu können, ist die Ver-wendung eines bestimmten Beobach-tungsschemas hilfreich: Beobachtetwird die Beziehung des Kindes

● zu seinem Körper: Wie ist sein To-nus, seine Haltung? Welche Emo-tionen zeigt es? Wie drückt es sieaus? Spricht es viel oder wenig?Was spricht es? Nimmt es Blick-kontakt mit dem Erwachsenen auf?Achtet es auf sein Bild im Spiegel?

● zum Raum: Nutzt es den Raumausgewogen, oder zieht es be-

stimmte Berei-che vor? Gibtes Bereiche,die es meidet?Welche Strek-ken legt es zu-rück?

● zur Zeit:Wie lange ver-weilt es in sei-nen Aktivitä-ten? Ist es einständiges Hinund Her, oderverweilt eslänger in ei-nem bestimm-ten Bereich?

Wenn ja, wie lange? Verändert esseinen Rhythmus während derStunde? Lebt es Brüche?

● zum Material: Welche Art von Ma-terial bevorzugt es? Auf welche Artund Weise nutzt es das Material?Mehr zu sensomotorischen und/oder zu symbolischen Zwecken?Wie geht es mit dem Material um?Mehr impulsiv, oder hält es sichlieber daran fest? Investiert es ver-schiedene Materialien oder bevor-zugt es immer dasselbe?

● zum Anderen: Wie sucht es Kon-takt zu den Erwachsenen, zu denKindern? Wie verhält es sich gegen-über Erwachsenen? Sucht es ihreNähe, oder ist es mehr auf Distanz?Kann es den Anderen als symboli-schen Spielpartner akzeptieren?

Akzeptiert es die Autorität des Er-wachsenen als Garant für Sicher-heit und Einhaltung der Regeln?

Diese Parameter sind jedoch nur einBeobachtungsgerüst, auf das mansich nicht fixieren sollte. Sie helfenvielmehr zu lernen, die verschiede-nen Handlungen des Kindes genau-er zu beobachten, und den Blick zuschulen.

Nach der Stunde werden diese Hand-lungen analysiert, wobei vor allemhervorgehoben wird, was sich wäh-rend der Stunde und von Stunde zuStunde verändert hat, beziehungswei-se gleich geblieben ist. Wir sprechenvon einer „dynamischen Beobach-tung“ (observation dynamique), da esdarum geht, die Veränderungsdyna-mik des Kindes innerhalb einer odermehrerer Stunde(n) zu beobachten.

Eine Synthese der verschiedenen Be-obachtungsstunden kann dann einenÜberblick über die Dynamik der psy-chologischen Reifung und affektivenEntwicklung des Kindes während desBeobachtungszeitraumes geben undevtl. erlauben, psychologische Hypo-thesen aufzustellen.

Doch diese sollten immer als eineMöglichkeit von vielen und im Zusam-menhang mit dem Wissen über dieLebenssituation des Kindes und demtheoretischen Hintergrund zu sehensein, und sind daher im Konditionalzu formulieren. Die externe Beobach-tung eines Kindes in der Gruppe istalso zum Einen eine wertvolle Me-thode im Rahmen der Psychomoto-rikausbildung, die uns lehrt genaubeim Kind und bei sich Selbst hinzu-sehen, genau zu beschreiben, unddie uns dem Verständnis des psy-chomotorischen Ausdrucks des Kin-des ein Stück näherbringt.

Zum Anderen war sie in der theore-tisch-praktischen Entwicklung, dertherapeutischen Arbeit, eine Art„Durchgangsetappe“ in Richtung derinteraktiven Beobachtung. Da bei derexternen Beobachtung der Beobach-ter sowieso bereits indirekt mit sei-nen Projektionen beteiligt ist, ist Ber-nard AUCOUTURIER in der therapeuti-schen Arbeit mehr und mehr dazu

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Grundlagen

übergegangen, ihn von Anfang andirekt in den Kontakt mit dem Kindeinzubeziehen.

5. Die interaktive Beobach-tung als Schlüssel für diepsychomotorische TherapieGeht es darum, mehr über die inne-ren Beweggründe des Kindes zu er-fahren, d.h. über die Geschichte sei-ner frühen affektiven Beziehungen, soreicht es nicht aus, daß wir nur indi-rekt am Geschehen beteiligt sind. 1991schreibt Bernard AUCOUTURIER dazu:

„Heute führen wir eine Beobach-tung in einer mehr oder wenigernahen „Zwischenbeziehung“ (in-terrelation) zum Kinde durch, inder das tonisch-emotionale Sich-Einbringen uns unerläßlich er-scheint.“ 19

Das bedeutet, wir sind mit unserenGefühlen direkt am Geschehen be-teiligt. Die Beobachtung im therapeu-tischen Prozeß ist eine Interaktion auftonisch-emotionaler Ebene, in derPsychomotorikerin und Kind auf un-terschiedlichen Ebenen miteinanderagieren.

Bevor ich nun näher auf die interak-tive Beobachtung eingehe, möchteich nun kurz beschreiben, welcheKinder zur psychomotorischen Beob-achtung kommen.

5.1 Welche Kinder kommen zurpsychomotorischen Therapie?

Die Kinder, die uns von Kinderärz-ten überwiesen werden, bzw. im Rah-men einer Institution vom Psychomo-torikangebot profitieren (Frühförder-stelle, Erziehungsberatungsstelle,etc.), haben alle etwas gemeinsam:

Sie haben es schwer, mit sich undihren Mitmenschen in Kontakt zu tre-ten, sich nach außen zu öffnen, undihrer Umwelt mit Freude und Neu-gier gegenüberzutreten – sie habenauf unterschiedlichste Art und Wei-se Schwierigkeiten in ihrem symbo-

lischen Ausdruck. Inder Regel sind es Kin-der im Alter zwischen4 und 9 Jahren.

Die Bewegung, ob ex-zessiv oder gehemmt,ist oft das einzige Aus-drucksmittel des Kin-des. Doch was möch-te es uns mit seinemSymptom, z.B. der Be-wegungsunruhe, mitteilen? Istes etwas, was es mit Worten nichtausdrücken kann, da dieses „Etwas“noch außerhalb seines Repräsenta-tionsvermögens liegt? Ist das Symp-tom nicht nur Ausdruck einer inne-ren Unruhe, einer inneren oder psy-chomotorischen Instabilität, die dasKind uns auf seine ihm eigene Artund Weise mitteilt? Es sind dies Kin-der

● die sich in sich verschließen, ihreLeidensgeschichte für sich behal-ten, was sie dann jedoch auf ei-nem anderen Weg über die ver-schiedenen Somatisierungen (z.B.im vegetativen, sensomotorischenoder respiratorischen System oderüber die Haut) äußern kann, oder

● die ihr Leiden ständig von sich weg-stoßen wollen, keinen inneren Halt(„contenant“) haben, was sich oftin motorischer Instabilität und/oderaggressivem Verhalten äußert.

Die Konsequenzen ihres Verhaltenssind ihnen zur Genüge bekannt. Fürdie Umgebung bedeutet diese kind-liche Instabilität

„... eine psychologische Entwick-lungsverzögerung, da die willkür-liche Beherrschung der Bewegung,das Stillhalten des Körpers, einSynonym für die Entwicklung desKindes ist, und für die Aufmerk-samkeit, die Konzentration, dieKommunikation und die Sprache,d.h. für die affektive und intellek-tuelle Reifung, bürgt.“ 20

Auffallend ist auch, daß diese Kin-der, sobald sie sich der echten Zu-

wendung eines Er-wachsenen gewißsind, oft viel ruhigeroder aufmerksa-mer sind alssonst.

„Die kind-liche Instabilitätist ein Zeichenvon affektiver

Unsicherheit diedie Um- wandlung der motori-schen Impulsivität in Interaktionund Kommunikation verhindert.“18

Ihre Wurzeln gründen in der affekti-ven Geschichte des Kindes und viel-leicht sogar in einer Zeit der frühenInteraktion, in der der sprachlicheAusdruck noch nicht ausgebildet war.

An dieser Stelle möchte ich noch kurzauf den Begriff der Instabilität einge-hen, der aus dem französischenSprachraum stammt21 und im Deut-schen weniger gebräuchlich ist. Hier-zu ein Zitat von J. DE AJURIAGUERRA,der in den 50er und 60er Jahren diefranzösische Psychomotorik mitge-prägt hat:

„Seit 1949 sind wir der Auffassung,daß die ständige Diskussion, dasgesamte Problem bei diesen Ar-ten von motorischen Schwierigkei-ten entweder als in den Bereichder charakterlichen oder in den-jenigen der rein motorischen Ent-wicklung gehörig zu beschreiben,fruchtlos ist. Wir glauben, wie A.M. J. CHORUS, daß der motorischeund der psychische Aspekt diebeiden Seiten desselben Persön-lichkeitszustandes darstellt, dersich „Instabilität“ nennt.“ 22

Was nützt uns die Diagnose ADS,HKS, MCD, ..., wenn es um das af-fektive Erleben des Kindes geht? Ichselbst ziehe den Begriff der Instabi-lität vor, da er meiner Meinung nachweniger etikettenhaft klingt und vorallem den emotional-affektiven As-pekt des Kindes mit einbezieht. In-

19 G.E.P.P. DE TOURS. L’observationinteractive. Groupe d’Étude en PratiquePsychomotrice sous la direction de B.AUCOUTURIER. Joué les Tours, 1993.

20 unveröffentlichter Vortrag von BernardAUCOUTURIER, Portimao, 2000.

22 J. DE AJURIAGUERRA. Manuel de Psychia-trie de l’enfant. Paris, 1984, 276-277.

21 siehe Werke von H. WALLON, J. DEAJURIAGUERRA und M. BERGER

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Grundlagen

sofern erübrigt sich meiner Meinungnach für die Psychomotoriktherapeu-ten auch die Diskussion bezüglichDiagnostik mittels motometrischerTestverfahren. Dazu noch ein Zitatvon DE AJURIAGUERRA von 1970:

„Es ist ebenso bedenklich, die psy-chomotorische Instabilität als reinmotorisches Syndrom zu betrach-ten, wie sie in eine Gesamtheit ex-trem heterogener Verhaltenswei-sen, im Rahmen einer minimalencerebralen Dysfunktion, einzuord-nen, ohne die affektive Entwick-lung des Kindes und seine Bezie-hungen mit der Umgebung zu be-rücksichtigen. Es handelt sich hier-bei häufig um einen Mechanismusder Rückversicherung des Arztes,der die Komplexität des Beneh-mens und Verhaltens nicht berück-sichtigt, und, insgesamt gesehen,in Wirklichkeit unterschiedliche undhäufig auch auf eine unzureichen-de oder noch unsichere Semiolo-gie gestützte Pathogenesen ver-wechselt.“

Die psychomotorische Beobachtungist keine Diagnose im medizinischenSinne, wo es darum geht, einen Aus-gangspunkt zu definieren, von demaus dann die Behandlung eingelei-tet wird. Sie ist vielmehr ein Hilfsmit-tel im Sinne einer qualitativen Ver-haltensbeobachtung, die es erlaubt,Einblick in die Lebensgeschichte undSituation des Kindes zu bekommen.Parallelen hierzu finden sich eher inden informellen und projektiven Ver-fahren aus der Kinder- und Jugend-psychopathologie23.

„Für meine Arbeit mit Kindern istentscheidend, daß ich sie nicht alsPatienten behandle und sie nichtunter diagnostischer Festlegunganschaue. ... Auch wenn die Be-einträchtigung eines Kindes aufeiner hirnorganischen Störungberuht, kann es doch nur darumgehen, dem Kind zu helfen, wie-der an sich zu glauben; unterstützt

in und von einer tragfähigen Be-ziehung, um mit der Beeinträchti-gung umgehen zu lernen, ohnedaß daraus ein Gefühl der Min-derwertigkeit erwächst.“ 24

5.2 Über die Beziehung zwischenPsychomotorikerIn und Kind

Eben diese „tragfähige Beziehung“ istentscheidend für das Gelingen destherapeutischen Prozesses. Die Psy-chomotorische Praxis Aucouturier istin erster Linie eine Art und Weise mitdem Kind zu sein, die Technik kommterst an zweiter Stelle. Die Qualität derBeziehung, die Art und Weise, wie wirein Kind willkommen heißen (l’accueil),wie wir ihm zuhören (l’écoute), esversuchen in seinem Ausdruck zuverstehen (la compréhension), und wiewir es begleiten (l’accompagnement),ermöglicht es dem Kind, uns überseine Bewegung, den Ausdruck sei-ner Emotion, das symbolische Spiel,usw. den Schmerz, der sich in seinemKörper eingeschrieben hat, mitzutei-len. Erst die echte Beziehung zwischenTherapeutin und Kind über den To-nus und die Emotion ermöglicht dasAuftauchen dieser unlustvollen Ge-schichte. Bernard AUCOUTURIER sprichthier von einer wechselseitigen „to-nisch-emotionalen Resonanz“: Nurwenn die Psychomotorikerin den Ge-fühlen des Kindes nahe ist und anihnen teilnimmt, – wenn auch auf ei-ner anderen Ebene –, wird ihr das KindDinge vor Augen führen, die es sonstnicht zur Sprache bringen kann.

Dieses Sein und Handeln mit demKind stellt hohe Anforderungen an diePerson der Psychomotorikerin: Au-thentizität, Stimmigkeit gegenüber dereigenen Person, sich dem Anderenöffnen können und trotzdem bei sichselbst bleiben, sind Fähigkeiten, de-nen man neben der Erfahrung imPsychomotorikraum oft erst über eineeigene Analyse oder Psychotherapieund Supervision näher kommt.

Das instabile Kind ist, wie bereits er-wähnt, ein Kind, dem es schwerfällt,

sein Erleben in Worte zu fassen. Esist aus verschiedensten Gründen nochnicht in der Lage, bestimmte Affektezu repräsentieren. Seine Sprache istdie Bewegung, der Tonus. Von daherist es notwendig, daß die Psychomo-torikerin dem Kind zuerst auf dieserEbene begegnet, um mit ihm in Kon-takt treten zu können. Es geht darum,eine gemeinsame Kommunikations-ebene zu finden, die es dem Kind er-möglicht, den Weg aus seiner Isola-tion (der Bewegunsimpulsivität oder derGehemmtheit) hin zu anderen Kom-munikationsformen zu finden.

Tobias, ein sehr impulsives Kind, be-tritt zum ersten Mal den Psychomo-torikraum: Er läuft zunächst ziellos imRaum umher und beginnt dann, dieSchaumstoffblöcke wild durch dieGegend zu werfen. Ich spüre, daß eralleine ist, allein in seiner Bewegungs-impulsivität verhaftet. Wie verhalte ichmich? Ich laufe zuerst hinter ihm herund sage ihm, daß ich mit mache. Ichbegleite ihn ein Stück weit mit mei-nem Tun und meinen Worten, wis-send, daß ich auf einer anderen Ebe-ne agiere als er. Mein Laufrhythmusist langsamer, meine Schritte sindbetont, ich zeige ihm mit meinenWorten meine Freude an der gemein-samen Aktivität. Dann werfe ich, wieer, auch die Kissen weg, allerdingsnur in eine Ecke des Raumes undspreche dazu: „Weg damit! ... Du, ...ich, ...Du, ...ich!“ Bereits hier beginntsich ein Dialog über die Handlung zuentwickeln. Zufällig stoßen unsere Kis-sen in der Luft zusammen. Tobiaslacht laut auf, beginnt dann sein Tunmit Worten zu begleiten: „Noch mal!Eins! Zwei! Drei! Peng!“ Der Bann istgebrochen und es entwickelt sichzwischen uns plötzlich ein Spiel. Ausdem anfänglichen Nebeneinander hatsich nach und nach ein lustvolles Mit-einander entwickelt, ein Dialog überdie Bewegung, zu dem die Wortedann hinzu kamen, ein Dialog, der dieTür zu unserer symbolischen Bezie-hung ein Stück weit geöffnet hat.

Über „das gleiche Tun“ und „Ich ma-che wie Du!“ macht das Kind die Er-fahrung, daß es auf einen Erwachse-nen trifft, der bereit ist, sich verän-

23 RESCH ET AL. Entwicklungspsychopatho-logie des Kindes- und Jugendalters.Psychologie Verlags Union, Weinheim,1999.

24 M. ESSER. Beweg-Gründe. Ernst-Reinhard-Verlag, München, 1995, 2.Auflage

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Grundlagen

dern zu lassen. Nur so gelingt es ihm,sich langsam ebenfalls zu öffnen, umneue lustvolle Erfahrungen in der Be-ziehung mit dem Anderen zu erleben.Daß das Kind auf ein stabiles unddennoch veränderbares Umfeld trifft,in der es sich und sein Handeln mitdem Anderen als lustvoll erlebenkann, ist entscheidend für seine Fä-higkeit zur Symbolisierung. MauriceBERGER, ein französischer Psychiaterund Psychoanalytiker, sagt dazu:

Es ist dies eine notwendige Vorbe-dingung (Anmerk. d. Autorin: die Mög-lichkeit, auf eine veränderbare Um-welt zu treffen), damit es schrittweisedas Verhältnis von Symmetrie undgegenseitiger Einbeziehung, das sei-nen Körper mit dem des Anderen ver-bindet, verändern, sein Streben nachMacht über Objekte und Lebewesenausüben, und so die Wirkung seinesTuns begreifen kann. Die Fähigkeitzur Symbolisation gründet sich un-ter anderem auf dieser Transforma-tionshandlung.25

Zur Sprache der PsychomotorikerIn:

Während vor 20 Jahren die Thera-pie mit Bruno26 noch auf rein non-verbalem Niveau stattfand, hat dieSprache mittlerweile einen sehr ho-hen Stellenwert in der Psychomoto-rischen Praxis Aucouturier eingenom-men. Geht es darum, dem Kind zuhelfen, über den psychomotorischenAusdruck sein Denken zu organisie-ren, dann reicht es nicht aus, auf non-verbaler Ebene zu bleiben. Die Psy-chomotorikerin beschreibt mit ihrenWorten, was sie wahrnimmt, undnimmt dadurch auch aktiv mit ihrenWorten an der Handlung des Kindesteil. Sie beschreibt das, was sie sieht,mit einer gewissen Neutralität. IhreWorte können dem Kind einen Spie-gel geben und ihm helfen, sein Han-deln als sinnvoll anzuerkennen.

Der Gebrauch der Worte, die Wortwahlund Intensität hängt ab von dem je-weiligen Kind, der Situation und in-wieweit die Psychomotorikerin den Sinnder kindlichen Handlung versteht. Daes unmöglich ist, alles zu verstehen,ist es oft auch besser zu schweigen,und dem Kind in seinem psychomoto-rischen Ausdruck einfach „zuzuhören“.

5.3 Ziele der interaktiven Beob-achtung

Wie bereits erwähnt drückt das in-stabile Kind sein Problem vorwiegendüber die Bewegung aus. In der inter-aktiven Beobachtung, gesehen als ei-ne erste Begegnung zwischen Kindund PsychomotorikerIn, geht es so-mit darum, dem Kind in seiner ihmeigenen Ausdrucksweise zunächstzuzuhören und somit eine gemeinsa-me Ebene des Austausches, des Dia-logs zu finden, um ihm dann nachund nach zu helfen, seine Wünsche,Ängste – seine „Beweg-Gründe“ – aufsymbolischer Ebene zur Sprache zubringen. Sie ist die Ausgangsbasis,der Beginn eines Verstehensprozes-ses, der uns den Zugang zum kind-lichen Erleben eröffnet.

Wie auch später im therapeutischenProzeß geht es darum, daß wir ver-suchen, die schmerzvolle Geschich-te des Kindes, die es uns über denpsychomotorischen Ausdruck, die Be-wegung, die Repräsentation und dieSprache zeigt, zu verstehen, und esdabei zu unterstützen, sie auszudrük-ken. Es geht uns darum, Hinweisebeim Kind zu finden, – Hinweise inseinem körperlichen und sprachli-chenAusdruck –, die uns Aufschluß überdie Intensität seiner Ängste und Phan-tasmen, sowie über seine Wünscheund die Fähigkeit, Lust zu empfinden,geben, – Hinweise, die uns helfen, dasKind zu verstehen. Darüber hinausbietet die interaktive Beobachtungallen Beteiligten eine Entscheidungs-hilfe für das weitere therapeutischeVorgehen und die Orientierung.

5.4 Hinweise für eine möglichepsychomotorische Dysfunktion

Da wir uns in der therapeutischenArbeit auf Störungen beziehen, die

ihren Ursprung in den ersten 3 Le-bensjahren haben, interessieren unsvor allem auch die Ängste und Phan-tasmen, die in dieser Zeit entstan-den und präsent sind. Es handelt sichhierbei um Ängste und Phantasmen,die aus den körperlichen Erfahrun-gen in der Beziehung zum Anderenund vor der Entwicklung der Spra-che entstanden sind und sich daherauch in erster Linie über den körper-lichen Weg ausdrücken.

Wie ich bereits weiter oben erwähnthabe, ist die Lust am Spiel, am Han-deln, die Fähigkeit, verschiedeneRollen und Handlungsschemata zuleben, für uns ein Zeichen, daß dasKind nicht nur seine Phantasmen undÄngste ausdrückt, sondern auch da-bei ist, sie zu überwinden. Doch man-chen Kindern fällt es aus verschie-densten Gründen schwer, ihre Bilderzu mobilisieren, Rückversicherungs-prozesse zu leben. Sie bleiben in ih-rem emotionalen Erleben verhaftet,auf bestimmte Bilder und Bewegun-gen fixiert, und können kaum ihreÄngste über das Spiel kompensieren.

5.4.1 Um welche Ängste handeltes sich? Wie zeigen sie sich imPsychomotorikraum?

Zu den am häufigsten im Psychomo-torikraum auftretenden Ängsten ge-hören

● die Angst vor dem Fall und derSchwerkraft: Sie zeigt sich z.B. beiKindern, die Angst haben, in dieTiefe zu springen, Angst vor Zwi-schenräumen und Lücken haben,sich immer an Objekten festklam-mern, keine Freude an den Spie-len des Gleichgewichtes/Ungleich-gewichtes empfinden, – oder essind Kinder, die „alles riskieren“,sich wiederholt gefährlichen Sprün-gen aussetzen; dies geht oft miteiner Muskelhypertonie einher.

● die Angst vor Verflüssigung: Es istdie Angst, sich im anderen zu ver-lieren, die Angst vor Leere, vordem unendlichen Raum. Es sinddies Kinder, die laufen ohne an-zuhalten, sich im Raum und derZeit nicht zurechtfinden, Kinder, die

25 M. BERGER. L’enfant instable. Approcheclinique et thérapeutique. Dunod, Paris,1999, p. 102.26 B. AUCOUTURIER, A. LAPIÈRRE. Bruno.Bericht über eine psychomotorischeTherapie bei einem zerebral geschädig-ten Kind. Ernst Reinhardt Verlag, Mün-chen, 1982.

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permanent ihre Körperumrisse su-chen und sich in Kästen, Schrän-ken und Häusern einschließen,Kinder, die Angst vor Öffnungen(Türen, Fenster) haben. Oft sindes Kinder, bei denen man eine Hy-potonie spürt, wenn man sie in denArm nimmt. Später im Grundschul-alter folgen oft Schwierigkeiten, dieWorte/die Buchstaben voneinan-der zu trennen/zu unterscheiden.

● die Angst, die Haut als körperlicheUmhüllung zu verlieren: Sie zeigtsich bei Kindern, die sich nicht aus-ziehen wollen, die z.B. im Psycho-motorikraum ihre Socken gerneanlassen wollen. Sie haben Angst,berührt zu werden, massieren sicham liebsten selbst und schenkenihren kleinen Wehwehchen großeAufmerksamkeit. Es sind dies Kin-der, die sich immer wieder zudek-ken, in Tücher einhüllen, in Höh-len und Häusern verstecken.

● die Angst vor Verlust einer Kör-perhälfte: Es ist die Empfindung,daß die einzelnen Körperteile nichtzusammenhängen. Z.B. Kinder,die nach dem sensomotorischenErleben immer wieder in die Hän-de klatschen ...

● die Angst, den anderen zu verlie-ren: Nach dem 8. Lebensmonat ver-stärken sich die Ängste, die in Zu-sammenhang mit der fortschreiten-den Identitätsentwicklung des Kin-des stehen, die einher geht mit demBewußtsein, den anderen als „ge-trennt“ zu erleben. Mit zunehmendemAlter lernt das Kind bestimmte Re-geln kennen, die es in Konflikt mitden Eltern bringen. Beispielsweisekann der Wunsch nach Behauptungdas Kind dazu bringen, solche Re-geln zu übertreten, was gleichzeitigeinhergehen kann mit der Angst, denanderen zu verlieren. Diese Angstzeigt sich bei Kindern im Psychomo-torikraum, wenn sie z.B. immer dasgleiche tun, wenn ihnen jede Art vonVeränderung in Raum, Zeit undRhythmus Angst macht. Es sind diesKinder, denen es schwerfällt, Rollenzu wechseln, Neues auszuprobieren,Veränderungsprozesse zu leben.

Bernard AUCOUTURIER bezeichnet die-se Ängste als „archaische Ängste vorVerlust des Körpers“ (angoisses ar-chaïques de la perte du corps) inAnlehnung an die französische Psy-choanalytikerin Geneviève HAAG. DieseÄngste sind in jedem von uns mehroder weniger vorhanden, ihre Inten-sität hängt ab von der affektiven Si-cherheit, dem Halt in der Beziehung,den das Kind hat erfahren können.Kindern, denen es gelingt, ihre Äng-ste über die Phantasmen auszudrük-ken und zu spielen, zeigen, daß siesich in einer Entwicklungsdynamik be-finden. Ein Mangel an lustvollem Er-leben im Psychomotorikraum kann dasZeichen eines vorausgegangenenLeidens sein, ein Zeichen einer Nicht-bewältigung einer Angst und/oder ei-ner Fixierung auf bestimmte Bilder.

In diesen ersten Begegnungen mitdem Kind geht es uns vor allem dar-um, zu beobachten, ob es dem Kindmöglich ist, in eine Dynamik der Lusteinzutreten. Die übermäßige Präsenzvon archaischen Verlustängsten, eineFixierung auf bestimmte sensomoto-rische Urphantasmen, sind wichtigeHinweise für die Indikation einer psy-chomotorischen Therapie.

5.5 Die Rahmenbedingungen derinteraktiven Beobachtung

Neben der vertrauensvollen Bezie-hung und dem Wissen um die theo-retischen Hintergründe ist es wich-tig, einen stabilen, gleichbleibendenäußeren Rahmen im Vorfeld und fürdie Beobachtungsstunde an sich ein-zuhalten. Nur ein geschützter Rah-men, sowohl im Vorfeld der Beobach-tung als auch während der Stunde,erlaubt es dem Kind, sich in seinerGesamtheit seines psychomotori-schen Ausdruckes mitzuteilen.

5.5.1 Rahmenbedingungen imVorfeld

Die klare Vorgehensweise im Vorfeldder Therapie ist mit entscheidend fürden späteren Erfolg der Therapie. Da-zu zählen Elterngespräche, Gesprä-che mit ErzieherInnen, die Durchfüh-rung der Beobachtung und der Ab-schluß eines Vertrages.

Wie gehen wir vor, nachdem unsEltern oder eine Institution von einemKind berichtet haben?

Wir geben ihnen Informationen überunsere Arbeitsweise sowie über un-ser Vorgehen in der Entscheidungs-findung für oder wider eine psycho-motorische Therapie. Dazu zählendas Erstgespräch mit Eltern und Kind,die Durchführung von 2 oder 3 Beob-achtungen, Gespräche mit Erziehernoder Lehrern, sowie ein 2. Elternge-spräch, in dem wir unsere Beobach-tungen und Schlußfolgerungen mit-teilen. Wichtig ist es, bei den Gesprä-chen zu bedenken, daß alle Bezugs-personen des Kindes an seinemWohlergehen mit beteiligt sind undein gemeinsames Interesse haben,dem Kind aus seinen Schwierigkei-ten zu helfen.

„Es reicht nicht aus, den Menschenin seiner Gesamtheit als ganzheit-liches Wesen anzuerkennen, ermuß wiederum auch als Teil ei-nes Ganzen, als Teil sozialer undgesellschaftlicher Zusammenhän-ge begriffen werden.“27

Auch den Eltern muß Raum gege-ben werden, ihre Probleme und Sor-gen mit dem Kind auszudrücken. Zu-hören was und wie sie von ihrem Kindberichten, welches Bild sie uns ver-mitteln.

5.5.2 Der äußere Rahmen für dieBeobachtungsstunde

Anzahl der Beobachtungsstunden:

Die erste Beobachtung dient dazu,dem Kind eine gewisse Sicherheit zuvermitteln, und die tonisch-emotionaleBeziehung zwischen Psychomotori-kerIn und Kind aufzubauen.

Eine zweite oder dritte Beobachtungist notwendig, um diese Beziehungzu intensivieren und um festzustel-len, welche Hinweise der ersten Stun-de sich bestätigen, bzw. veränderthaben.

Zur Wiederholung: In der interaktivenBeobachtung geht es uns darum, Hin-

27 M. ESSER. Beweg-Gründe. Ernst-Reinhard-Verlag, München, 1995, 2.Auflage, S. 84.

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Grundlagen

weise des körperlichen und sprach-lichen Ausdrucks zu finden, die unsAufschluß über die Intensität seinerUrängste und Phantasmen, sowieüber die verdrängten Wünsche unddie verlorengegangene Fähigkeit Lustzu empfinden geben.

Zeit: Eine Beobachtung dauert zwi-schen 45 und 60 Minuten, die bei-den Stunden finden im Abstand vonca. 1 Woche statt.

Raum und Material: Die Raumauftei-lung entspricht der Aufteilung, die wiraus den Therapie- und Präventions-stunden AUCOUTURIERs kennen.

Über dieses äußere Angebot gebenwir dem Kind die Möglichkeit, daß esdie Spiele der „tiefgreifenden Rück-versicherung“ leben kann. Zudemkönnen wir darüber erkennen, ob undwie das Kind in eine Handlungs-dynamik mit dem Anderen, demMaterial und dem Raum tretenkann.

Auch bieten wir kleine Mate-rialien an, wie z.B. Seile,Stöcke, Sandsäckchen undTücher, um die Phantasie-tätigkeit des Kindes anzu-regen (z.B. für die Spieledes Füllen – Leeren, Tren-nen – Wiedervereinen, All-machtsphantasien, ...).

Für den Repräsentationsbe-reich halten wir Papier, Stifte undKlötzchen bereit. Besonders interes-sant ist es, Knete, Ton o.ä. anzubie-ten, da dieses Material noch mehrdie archaischen Phantasien auftau-chen läßt (Zerdrücken, Zerstückeln,Abreißen, Zerquetschen).

5.6 Zum Ablauf der Stunde imEinzelnen

Beginn der Stunde:

Über unsere tonisch-empathischeHaltung und die Sprache vermittelnwir dem Kind Sicherheit und versu-chen, ihm seine Ängste zu nehmen.Wir setzen uns zusammen mit ihmauf die Bank, stellen uns vor und füh-ren ein kurzes Gespräch mit ihm, oh-ne es mit unseren Worten zu über-fluten.

Beispiel:

„Kennst Du den Raum? – WeißtDu, warum Du hierher gekommenbist?“„Wir werden uns jetzt zweimal hiertreffen, und zusammen eine Stun-de spielen.“„Hast Du Angst?“„Du darfst hier machen, was Dumöchtest, und wenn Du willst, spie-le ich mit Dir. Du kannst hier klet-tern, springen, bauen, malen, ...“„Wo möchtest Du anfangen?“

Die Auswahl der richtigen Worte ist,wie ich bereits vorne erwähnt habe,von großer Bedeutung.

Für sehr ängstliche oder verschlos-sene Kinder ist es evtl. beruhigend,wenn sie einen kleinen Gegenstand,

einen kleinen Ball oder einStofftier bekom-

men, oder wennman sie miteiner Zeich-nung anfan-gen läßt.

Es ist wichtig,daß wir versu-

chen flexibel zusein. Ich erinnere

mich an ein vierjäh-riges Mädchen, daserst auftaute, nach-dem sie zusammen

mit mir Mama, Papaund Bruder gemalt hatte.

Während der Stunde:

Wie bereits erwähnt ist die wechsel-seitige, tonisch-emotionale Resonanzvon entscheidender Bedeutung. Wirkönnen dem Kind Vorschläge ma-chen, es zu bestimmten Situationeneinladen, um Hinweise zu finden, dieim Zusammenhang mit seiner tiefenGeschichte stehen. Diese Vorschlä-ge werden zum Einen bereits überdie Struktur des Raumes und das an-gebotene Material vorgegeben, zumAnderen äußert sie die Psychomo-torikerIn über den non-verbalen undverbalen Weg.

Beispiele:

● einen Kissenturm umwerfen, Wi-derstand bei der Zerstörung lei-

sten, einfa-che Höhlenbauen, sichin die Kissenfallen lassen,etc.

● über das Anbieten von Tüchern,Seilen, etc. die Möglichkeit dessymbolischen Ausdrucks erweitern

● dem Kind einen Spiegel geben, indem es sich angenommen fühlt,über Worte wie „Ja, hier darfst Dudas!“ oder „Ja, ich mach’ wie Du!“

Doch auch diese Vorschläge sindimmer in Zusammenhang mit einembestimmten Kind zu sehen, und vondaher sehr unterschiedlich. Der/diePsychomotorikerIn sollte die Wün-sche des Kindes erraten und ihmhelfen, sie durch seine Vorschlägezu äußern. Sie sollte aber auch da-mit rechnen, daß das Kind auf dieImpulse nicht eingeht.

Ende der Stunde:

Das Ende der Stunde ist dem Kindrechtzeitig anzukündigen („in 5 Mi-nuten...“); oft bringt das unerwarteteEnde (der Bruch) das Kind dazu,noch etwas von sich zu erzählen/zei-gen. Die Stunde wird mit einem kur-zen Abschlußgespräch auf der Bankbeendet:

● nach der 1. Beobachtung: „Washat Dir am besten gefallen?... Dudarfst noch einmal hierher zurück-kommen!... Was möchtest Du dasnächste Mal spielen?“ Wir gebendem Kind eine Karte mit dem näch-sten Termin. Dies ist für die Kin-der wichtig, es ermöglicht ihnen,an ein Zurückkommen zu denken.)

● nach der 2. Beobachtung: „Daswar vorerst unsere letzte Stunde,ich werde mit Deinen Eltern be-sprechen, ob wir noch weiter zu-sammen spielen werden odernicht. Mit wem möchtest Du, daßich spreche: Mama oder Papa?Was möchtest Du, daß ich ihnenerzähle? Hast Du Fragen? WeißtDu, warum Du hergekommen bist?Damit wir uns kennenlernen undich sehe, was Du gerne spielst.Ich habe von Dir erfahren, wie ger-

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Grundlagen

ne Du es magst, zu klettern, zufallen, die Kissen umzuwerfen,...“

Wir geben dem Kind kurz einen Spie-gel darüber, was es im Raum erlebthat.

5.7 Zum Vorgehen nach derBeobachtung

Es ist zu empfehlen, nach jeder Stun-de gleich die wichtigsten Handlungenund Worte des Kindes in Reihenfol-ge zu notieren. Ideal wäre natürlicheine Videoaufzeichnung.

Wir sammeln Hinweise, die im Zu-sammenhang mit der unlustvollenGeschichte des Kindes stehen, undversuchen, den tieferen Sinn seinesmotorischen Ausdruckes, seinerSprache und seiner Darstellungen zuentschlüsseln. Dies setzt theoretischeKenntnisse über die seelische undmotorische Entwicklung des Kindes,seine symbolischen Darstellungen...Konstruktionen und Zeichnungen,sowie die Kenntnis der soziokulturel-len Bedingungen des Kindes voraus.

So können wir uns beispielsweisefolgende Fragen stellen:

● Ist es dem Kind gelungen, seineÄngste und Phantasmen zu zei-gen? Konnte es lustvoll im Raumhandeln?

● Ist das Kind handlungsfähig odernicht?

● Kann es mit dem anderen in Be-ziehung treten?

● Hat es sich im Laufe der Beob-achtung verändert? Hier geht essowohl um eine interne Verände-rung, die Veränderung des Tonus,der Emotion, als auch um eine ex-terne Veränderung, die Verände-rung seiner Handlungen. Oder istes immer auf das gleiche Spieloder Material fixiert?

● Kann es seine Ängste überwinden,oder wird es davon überflutet?

● Welche Hinweise gibt es uns überseine Sprache?

● Welche Hinweise gibt es uns überseine Zeichnungen und Konstruk-tionen?

Die Feststellung einer Veränderungs-dynamik innerhalb einer oder den bei-den Beobachtungsstunden ist bereitsein wichtiges Kriterium für die Orien-tierung in eine Gruppenförderungoder eine Einzeltherapie. Hat ein Kindsich z.B. in diesen beiden Stundennicht oder kaum verändert, so läßtdies mehr auf starke Abwehrmecha-nismen schließen, was für eine Ein-zeltherapie sprechen würde.

Natürlich müssen wir uns auch imFalle, daß das Kind sich nicht wei-terentwickelt, nach der Qualität un-serer wechselseitigen tonisch-emo-tionalen Resonanz hinterfragen. Wirdürfen nie vergessen, daß wir auchbeteiligt sind. Eine Psychomotori-kerIn, der sich in ihren eigenen Ge-fühlen dem Kind gegenüber ver-schließt, kann auch nichts überdessen affektive Geschich-te erfahren. Zur Erinne-rung: Die Transforma-tionsfähigkeit derTherapeutIn ist derwichtigste Verän-derungsfaktor fürdas Kind.

Wo hatte ich Gefühle der Ableh-nung oder des Beschützens demKind gegenüber? Wie stark warensie? Je stärker diese Gefühle wa-ren, desto mehr wurde ich durchmein Unbewußtes berührt. Wiekonnte ich auf die vom Kind aufmich projizierten Affekte und Bil-der eingehen? Konnte ich die to-nisch-emotionalen Reaktionen desKindes gut annehmen? Konnte ichauf seinen motorischen Ausdruckund seine Sprache angemessenreagieren? Konnte ich meineAbwehrmechanismen (Sprache,Körperhaltung,...) erkennen?

Erst dann ist es möglich, Hypothesenaufzustellen und zu überlegen, ob dasKind eine Therapie benötigt oder nicht.

5.8 Zum Vorgehen in der psy-chomotorischen Therapie

Hat das Kind uns einmal seine affek-tive Geschichte vor Augen geführt,ist bereits eine Ausgangsbasis für dasweitere therapeutische Vorgehengeschaffen. Anhand der Indizien, diewir über die Beobachtungen erhal-ten haben, können wir uns nun überdie für das Kind geeignetste Hilfe, dieseinen tieferen Wünschen am ehe-sten entspricht, klar werden.

Zu Beginn sprach ich von zwei Kin-dertypen, dem mehr verschlossenenund dem mehr impulsiven Kind, dieuns logischerweise auch zu unter-schiedlichen psychomotorischenStrategien veranlassen:

● Einem mehr verschlossenen Kind,das Schwierigkeiten hat, seine Ge-

fühle, Ängste und Wün-sche nach außen hin zuzeigen, müssen wir hel-fen sich zu öffnen, sei-ne Affekte zu mobilisie-ren (d.h. über die Spie-le, die sein tonisch-emotionales Niveau an-sprechen,... Suchenach Gleichgewicht –Ungleichgewicht, Fal-len, Zerstören – Wie-deraufbauen), um so-

mit das Auftauchen derBilder zu ermöglichen.

Über die Konstruktion mit denSchaumstoffblöcken, dem symbo-lischen Spiel, und später auch überdas Kneten, Malen, Klötzchenbauen, helfen wir ihm dann, sei-ne tiefliegenden Bilder vom kör-perlichen Erleben mehr und mehrzu lösen, und sie auf einer ande-ren symbolischen Ebene auszu-drücken und in Worte zu fassen.

● Beim mehr impulsiven Kind gehtes darum, ihm einen psychischenund physischen Halt zu verschaf-fen. Den physischen Halt bekommtes über das Bauen von Höhlen,Häusern (Verstecken – Wiederauf-tauchen), den körperlichen Kon-takt mit dem PsychomotorikerIn(Massagen, Einwickeln in Tücher,...). Den psychischen Halt erhält

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Grundlagen

es vor allem über die Worte derPsychomotorikerIn, und in derzweiten Phase über das Malen,Kneten und das Aufschreiben oderErzählen „seiner“ Geschichte.

Doch für beide Kindertypen geht esin der psychomotorischen Therapiedarum, dem Kind zu helfen, sein Lei-den, das sich im Körper, der Bewe-gung, eingeschrieben hat, und dases uns im Psychomotorikraum zeigt,zu symbolisieren. Dies heißt, wirhelfen ihm über das gemeinsameAgieren die Bilder zu befreien, los-zulösen, und Worte dafür zu finden.

In einem Abschlußgespräch mit denEltern teilen wir ihnen die Faktenbeider Beobachtungen mit.

Wichtig ist es hierbei, daß wir denEltern keine Interpretation über dasVerhalten des Kindes geben, da diesebestimmt selbst nur zu gut ihre Paral-lelen zu den Alltagsproblemen desKindes wiederfinden werden. Ist eineVertrauensbasis einmal geschaffen,so können wir uns mehr und mehrüber den Tagesablauf des Kindes er-kundigen. So können wir genügendAnhaltspunkte bekommen, die in Ver-bindung mit den Problemen des Kin-des stehen, ohne bei den Eltern ir-gendwelche Schuldgefühle über be-stimmte Fragen zu wecken.

Entscheidend dabei ist auch unsereBereitschaft, unsere eigene Bewer-tung nur als ein Bild zu behandeln,und die Bilder der Eltern, und dasje-nige, das vom Kind präsentiert wird,zu respektieren und nicht als Bedro-hung sondern als Bereicherung an-zusehen!28 Es sind die Eltern, die dasKind umgebenden Personen, dieentscheidend am positiven Verlaufder Entwicklung des Kindes beteiligtsind. Sie kennen es am besten. Wassie benötigen, ist eine andere Sicht-weise, eine Art Spiegel des Verhal-tens ihres Kindes von außen, umdann selbst Zusammenhänge erken-nen zu können. Oft merken die El-tern im Verlauf des Gesprächs, daßsie selbst auch Hilfe benötigen.

28 vergleiche: H. VON LÜPKE, R. VOSS.Entwicklung im Netzwerk. Pfaffenweiler,1997. S. 92.

29 C. ELIACHEFF. Das Kind, das eine Katzesein wollte. dtv München, 1999. S. 52

Anschrift der Verfasserin:

Dorothée BortelVorholzstr. 45, 76137 KarlsruheTel./Fax: 07 21/8 20 00 88

An dieser Stelle möchte ich noch dieBedeutung der interdisziplinären Zu-sammenarbeit betonen. Gerade wennes um einen so komplexen Bereichwie den des affektiven Erlebens geht,ist der Austausch mit anderen Fach-kräften unerläßlich. Interessant sinddabei auch die Aspekte aus demsystemischen Ansatz, der die Störungim Bezug zum umgebenden Famili-ensystem sieht. Doch dies ist auchnur als Ergänzung zu verstehen, daes meiner Meinung nach nicht aus-reicht, nur das System zu sehen unddie Störung zu entindividualisieren.

6. SchlußwortDiese Art von Beobachtung, in der wirmit unseren eigenen Gefühlen direktbeteiligt sind, hat natürlich auch et-

was Beängsti-gendes für unsan sich. Es istleichter, sich anTestschematazu halten, alssich ständigauch mit sei-nen eigenenWünschen undÄngsten kon-

frontiert zu sehen. Dabei sollten wirnicht vergessen, daß jede Beobach-tung einzigartig ist, oder um es mitDaniel WIDLÖCHER zu sagen:

„Nur der einzelne Fall führt zurEntdeckung, Überraschung, odergar widersprüchlicher Erfahrung(...). Ein einziger Fall kann einemnatürlich nicht über alles, wasman gerne wissen möchte, Auf-schluß geben. Oder genauergesagt, er könnte einen alles leh-ren, wenn man imstande wäre,alles zu verstehen, und sich nichtaus Mangel aus Erfahrung in dereigenen Wahrnehmung auf we-niges beschränken müßte.“ 29