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Die vier Elemente Feuer – Wasser – Erde – Luft Ziegler, Heinz Veröffentlicht in: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft Band 64, 2011, S.9-22 J. Cramer Verlag, Braunschweig Digitale Bibliothek Braunschweig http://www.digibib.tu-bs.de/?docid=00049014

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Die vier Elemente Feuer – Wasser – Erde – Luft

Ziegler, Heinz

Veröffentlicht in: Abhandlungen der Braunschweigischen

Wissenschaftlichen Gesellschaft Band 64, 2011, S.9-22

J. Cramer Verlag, Braunschweig

Digitale Bibliothek Braunschweig

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9Die vier Elemente

Die vier Elemente Feuer – Wasser – Erde – Luft*

HEINZ ZIEGLER

Campestraße 1, D-38102 Braunshweig

Zusammenfassung

Zu den vier Elementen, die Platon im Dialog 'Timaios' postuliert hat, ist über die Jahrhun-derte hinweg viel publiziert worden und zwar von Autoren unterschiedlichster Provenienz.Die Literatur ist derart umfangreich, daß nur ein Bruchteil herangezogen werden konnte,um die wichtigsten Ansichten zum Thema Elementaufbau zu referieren. Es erweist sich,daß den Platonischen Zahlenangaben häufig nicht die erforderliche Aufmerksamkeit ge-schenkt wurde. Platon nennt dasjenige Dreieck, das er als „Urbaustein“ oder „Urdreieck“ansieht, explizit das „schönste“ und konstruiert mit ihm drei der vier Elemente (Feuer,Wasser und Luft). Mit der Würdigung seiner eigentümlichen „Schönheit“ wird eine neueThese über die Bedeutung dieses tatsächlich einzigartigen Dreiecks für Platons Konstruk-tion zur Diskussion gestellt.

Wenn heute von den vier Elementen bei Platon gesprochen wird, so ist jedemvon uns bekannt, daß es sich dabei um die von ihm postulierten mathemati-schen Körper, d.h. um reguläre Polyeder handelt. Als Elemente finden sich Erde,Wasser, Luft und Feuer schon bei Empedokles (483/82–424/23), und sie spieleneine höchst beachtliche Rolle im Rahmen der europäischen Kultur – bis inunsere Zeit!

„Unter den Dialogen Platons nimmt der 'Timaios' in mehrfacher Hinsicht eineSonderstellung ein. In keinem anderen Dialog Platons wird eine solche Füllenaturwissenschaftlicher Lehren ausgebreitet. […] Der 'Timaios' galt schon in derAntike als ein ungemein schwieriger, erklärungsbedürftiger Dialog. Bekanntlichhat bereits Krantor, ein Schüler des Xenokrates und somit ein Vertreter der zwei-ten Schülergeneration nach Platon, einen Kommentar zu diesem Dialog verfaßt“.1

* (Eingegangen 15.02.2012). Vorgelegt von Thomas Sonar.

1 Theodor Ebert, Von der Weltursache zum Weltbaumeister, in: Antike und Abendland,37., 1991, S. 43–54, hier S. 43.

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In der Geschichte der Interpretation des 'Timaios' sind vor allem zwei Ansätzeverfolgt worden, die ihre Fruchtbarkeit einerseits für die Theologie, anderer-seits für die Naturwissenschaften hatten. Beide Ansätze, denen gemäß der'Timaios' als das zugleich mythische und mathematisch- naturphilosophischeHauptwerk des späten Platon galt, sind entsprechend zur berücksichtigen.2

Für die antiken Naturphilosophen sind die Elemente Grundbestandteile oderGrundstoffe überhaupt, aber bei Platon sind sie als Polyeder ihrerseits zusammen-gesetzt. Er konstruierte ihre Flächen aus rechtwinkligen Dreiecken, die von derForschung auch als „Urdreiecke“ oder „Grundbauteile“ bezeichnet werden. Diefünf regelmäßigen Körper, deren „Theorie von Theaitet unter den Augen Platonssystematisch ausgebaut“ und abgeschlossen wurde, nennen wir „Platonische Kör-per“, weil im 'Timaios' alle Stoffe auf atomare Tetraeder, Oktaeder, Ikosaeder undHexaeder zurückgeführt werden und das Dodekaeder mit der Gesamtform desKosmos in Verbindung gebracht wird.3 Das Dodekaeder, das sich von den ande-ren regulären Polyedern darin unterscheidet, daß man seine Begrenzungsflächennicht mit rechtwinklig-ungleichschenkligen oder rechtwinklig-gleichschenkli-gen Dreiecken (wie beim Würfel) aufbauen kann – es sind vielmehr gleichseitigeFünfecke – , bleibt den Göttern für andere Zwecke reserviert.4

Das Dodekaeder ist von Platon auch nicht Element genannt worden! Erst späte-re Erklärer schreiben das Dodekaeder dem Äther zu, der von Platon nur alsreinster Teil der Luft gedacht wird. Das Dodekaeder, das nach Ansicht des Pro-klos und der Modernen die Form des Ätheratoms sein soll, wird von Platon miteiner geheimnisvoll-unpräzisen Formulierung 'dem All' zugewiesen.5 PlatonsAndeutungen bezüglich des Dodekaeders haben im Altertum eine ganze Litera-

2 Norbert Fischer, Die Ursprungsphilosophie in Platons „Timaios“, in: PhilosophischesJahrbuch, 89. Jg., 1982, S. 247–268, hier S. 249.

3 Konrad Gaiser, Platons Zusammenschau der Mathematischen Wissenschaften, in: Antikeund Abendland. Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachle-bens, Bd. 32, 1986, S. 89–124, hier S. 96. Ausführlich zu diesem Thema berichtet Kurtvon Fritz, Platon, Theaetet und die antike Mathematik, 2. Auflage als Neudruck miteinem Nachtrag, Darmstadt 1969, S. 31 ff.: „Endlich erwähnt Platon noch, daß es außerdiesen vier regelmäßigen Körpern nur noch einen fünften gibt, dessen Aufbau er abernicht beschreibt und den er auch eigentlich nicht brauchen kann, da er nur vier Elementehat. Aus der ganzen Darstellung geht mit aller Deutlichkeit hervor, daß Platon wußte, daßes fünf und nur fünf regelmäßige Körper gibt, und dies um so mehr, als er den fünftennur gezwungen mit in Kauf nimmt.“

4 Hermann Gaus, Philosophischer Handkommentar zu den Dialogen Platos, 3. Teil, 2. Hälf-te, Bern 1961, S. 204.

5 Eva Sachs, Die fünf Platonischen Körper. Zur Geschichte der Mathematik und der Ele-mentenlehre Platons und der Pythagoreer (Philologische Untersuchungen, 24. Heft),Berlin 1917, S. VII. – Im Text (Timaios 58d) heißt es zum Begriff Luft: Ihre durchsich-tigste Art erhält den besonderen Namen „Äther“, die trübste heißt „Nebel“ und „Un-durchsichtigkeit“.

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tur hervorgerufen, und Eva Sachs schreibt dazu: „Ob Platon damit den Tierkreisgemeint hat, wie Plutarch und andere Ausleger glauben, ist nicht zu entschei-den. Er hat in Wahrheit den fünften Körper nur erwähnt, weil er ihn als fünftennicht weglassen mochte.“6

Dieser fünfte Körper hat bei Platon keine Unterteilung und ist von ihm auchnicht mathematisch behandelt worden – mit den beiden von Platon ausgewähl-ten „Urdreiecken“ ist die Konstruktion des Dodekaeders jedenfalls nicht mög-lich! Es ist ein Irrtum, wenn es heißt, „Platon konstruiert seine fünf regulärenKörper mit Hilfe von zwei Dreiecken […]. Eines davon gilt 'als das schönstealler Dreiecke'“.7

Platons 'Timaios', verfaßt vor 347 v. Chr., handelt von dem was „von Natur ausist“, von der Entstehung und Wirklichkeit des Kosmos. Dieser Text gilt – nebender 'Politeia' – als der wirkungsgeschichtlich bedeutendste Dialog Platons. DerMathematiker-Philosoph Whitehead, der den 'Timaios' und Newtons Scholiumzusammenstellt, bezeichnet die beiden Dialoge als die beiden großen kosmolo-gischen Urkunden, die das abendländische Denken bestimmt haben.8

6 Anm. wie vorh., S. 47 f.7 Michael Toepell, Platonische Körper in Antike und Neuzeit, in: Der Mathematikunterricht,

Jg. 37, Heft 4, 1991, Platonische Körper – Unterricht und Geschichte, S. 51. Die irrtüm-liche Auffassung findet sich auch bei anderen Autoren. So auch in der Jubiläumsausgabesämtlicher Werke von Platon zum 2.400. Geburtstag, 1974 Zürich, Bd. VI, Platon Spät-dialoge II, eingeleitet von Olof Gigon. Auf Seite XLIII schreibt Gigon: „Drei Elemente,so hören wir 54 C, sind aus ungleichschenkligen Dreiecken aufgebaut, das vierte ausgleichschenkligen. Wichtiger aber ist, daß sich fünf regelmäßige Körper als Zusammensetzungen aus solchen Ur-Dreiecken konstruieren lassen; es sind die berühmten fünfplatonischen Körper: der Kubus, das Oktaeder, das Dodekaeder, das Ikosaeder und diePyramide“. – Bei Hans-Georg Gadamer, Idee und Wirklichkeit in Platos ›Timaios‹. Vor-trag gehalten vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 10. November1973, Erstdruck in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften,Philosoph.-histor. Klasse, Heidelberg 1974. Neudruck in: Gesammelte Werke, Bd. 6,Tübingen 1985, S. 265. „Es sind die fünf platonischen Körper, und diese sind konstru-ierbar aus zwei ausgewählten Vorzugstypen von Dreiecken“. – Das Dodekaeder bestehtaus zwölf regelmäßigen Fünfecken, und diese Fünfecke lassen sich im Gegensatz zu denvier Elementen, die aus rechtwinkligen Dreiecken zusammengefügt sind, nicht in glei-che und ähnliche, also kongruente Teile zerlegen. Ausführlich hierzu: Fritz Krafft, Ge-schichte der Naturwissenschaft I. Die Begründung einer Wissenschaft von der Naturdurch die Griechen, Freiburg 1971, S. 336 ff. – Die Dodekaederflächen, also die Fünfecke,lassen sich zwar auch mittels rechtwinkliger Dreiecke darstellen, aber eben nicht mit den„schönsten Dreiecken“, sondern mit 10 ungleichschenkligen, wobei neben dem rechtenWinkel der eine 36° und der andere 54° beträgt!

8 Paul Friedländer, Platon, Bd.1, Seinswahrheit und Lebenswirklichkeit, 3. durchgeseheneund ergänzte Auflage, Berlin 1964, S. 261. – „Kein Werk Platons, ja, keine andere Prosa-Schrift überhaupt, hat in der Antike größere Bedeutung gehabt als der Timaios – und das,obschon dieser Dialog als ‚dunkel’ galt“. Vgl. hierzu Heinrich Dörrie, Der Planonismusin der Antike, Bd. 3, Der Platonismus im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus, Stuttgart –Bad Cannstadt 1993, S. 209.

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Lothar Schäfer schreibt in „Platon über Natur und Staat“, der 'Timaios' sei dereinzige Dialog Platons, der durch die Jahrhunderte hindurch immer gelesen undkommentiert wurde. Dennoch habe man ihn oft als Fremdkörper im Œuvre emp-funden und sogar als neupythagoreische Schrift gedeutet.9 Fest steht, dass„Platons Dialog 'Timaios' philosophie- und wissenschaftsgeschichtlich von au-ßerordentlicher Bedeutung ist, weil er fast der einzige Text ist, der von denDialogen Platons durchgängig in Europa den Gelehrten bekannt war“.10

Walter Burkert bemerkte zu den Platonischen Körpern in seinem Vortrag anläß-lich der Verleihung der Carl-Friedrich Gauß - Medaille in Braunschweig (1982):

„Den kühnsten Entwurf, wie die Gesamtheit unserer Welt geometrisch gestal-tet sei, hat er in seinem naturphilosophischen Dialog 'Timaios' vorgelegt.Demnach werde die ungeformte Materie, die 'Amme des Werdens', die prak-tisch mit dem Raum identisch ist, dadurch zur körperlichen Wirklichkeitgestaltet, daß sie im kleinsten Bereich zunächst durch Dreiecksflächen be-grenzt wird, die sich ihrerseits wieder zu gleichseitigen Dreiecken oder Qua-draten zusammensetzen, aus denen dann die regulären Körper aufgebaut wer-den, Tetraeder Würfel Oktaeder Ikosaeder; diese konstituieren als Korpus-keln, als teilbare Atome sozusagen, die Elemente Feuer Erde Luft und Was-ser; der fünfte reguläre Körper, das Dodekaeder, anders aufgebaut, nämlichaus Fünfecken, und scheinbar überschüssig im System der Elemente, wirdmit einer geheimnisvoll-unpräzisen Formulierung 'dem All' zugewiesen.Diese bizarre, unverifizierbare und willkürliche Konstruktion hat schon imAltertum viel Kopfschütteln hervorgerufen“.11

Mit dem vorliegenden Beitrag über die vier Elemente, die Platon in seinemSpätwerk postulierte, soll auf die Zahlenverhältnisse der regulären Polyederhingewiesen werden, die er als Elemente einsetzte. Es ist nämlich erstaunlich,daß Publikationen aus heutiger Zeit mit falschen Zahlenangaben aufwarten, diezu wesentlichen Irrtümern führen, weil die Angaben für die „Urdreiecke“ inPlatons Text unberücksichtigt blieben. Wenn darin auch manche Passagen un-

9 Lothar Schäfer, Das Paradigma am Himmel. Platon über Natur und Staat, Freiburg/ Mün-chen, 2005, S. 2. – Daß es sich um eine neupythagoreische Schrift handelt, ist aus heu-tiger Sicht nicht mehr zu vertreten. Der kosmologische Traktat Timaios ist im wesentli-chen ein Monolog und spricht über die Erschaffung der Welt bis zur Enstehung desMenschen. Rafael Ferber, Platon, Philosophie jetzt!, Hg. Peter Sloterdijk, München 1997,S. 55.

1 0 Gernot Böhme/Hartmut Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte derElemente, München 1996, S. 100.

1 1 Walter Burkert, Konstruktion und Seinsstruktur: Praxis und Platonismus in der griechi-schen Mathematik, in: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Ge-sellschaft, Bd. XXXIV, 1982, S. 125–141, hier S. 130.

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verständlich sind, kann doch nicht behauptet werden: „Plato nahm das Messenaus der Geometrie heraus“.12 Um es gleich vorweg zu sagen: Die eigentlicheErzählung, die den Timaios zum Sprecher hat, enthält keinerlei szenische Un-terbrechung und liest sich auf weite Strecken wie eine Abhandlung.

„Freilich, der Ton, in dem hier erzählt wird, ist eigentümlich, und der Wahr-heitsanspruch, der für die Erzählung erhoben wird, beschränkt sich ausdrück-lich auf den Bereich des Wahrscheinlichen, mag es sich dabei um Erzählunghandeln (Mythos) oder um rationale Argumente (Logos). So stellt sich in derTat das methodische Problem, den Sachgehalt der Erzählung und insbeson-dere ihre rationalen Motive aus einer Erzählweise herauszulesen, die eigen-tümlich locker, inkohärent und anspielungsvoll wie ein Märchen ist“.13

Zur Konstruktion und Erklärung bediente sich Platon der Sprache der Mathema-tik und ihrer Gesetzmäßigkeiten. Für ihn war „alle Naturwissenschaft nur soweit Wissenschaft, als sie Mathematik ist“.14

„Die Hinordnung der Zahlenlehre auf die Geometrie dürfte hinreichend klarsein. Die Geometrie führt uns in den Bereich des Idealen – im Sinne Platons.Die Zahlenlehre leistet dazu Hilfestellung. Der griechische Zahlenbegriff,der nur die ganzen Zahlen einschließt, läßt überall nach ganzen Zahlen undihren Verhältnissen forschen, auch in der Geometrie. Das geht soweit, daß dieZahlen eingeteilt werden, ob sie den Flächeninhalt eines Quadrates oder le-diglich eines Rechtecks angeben“.15

Zur Formung der Elemente benutzt Platon zwei rechtwinklige Dreiecke für dieFlächen der Polyeder, wobei das ungleichschenklige Dreieck als „schönstesDreieck“ bezeichnet wird; und dazu folgt die Erklärung, daß diese Dreiecks-form einzigartig sei. Die beiden Dreiecke, wovon das schönste rechtwinklig-ungleichschenklig und das andere rechtwinklig-gleichschenklig ist, sind dieElementarteilchen, die als „Urdreiecke“ oder „Grundbausteine“ bezeichnet wer-den.16

1 2 Lancelot Hogben, Mathematik für alle: Einführung in die Wissenschaft der Zahlen undFiguren, Köln 1985, S. 14. Der Text zu den Elementen ist hier völlig abstrus und dieAbbildungen dazu sind schlichtweg falsch.

1 3 Hans-Georg Gadamer, wie Anm. 7, S. 244 f.1 4 Eva Sachs, wie Anm. 5, S. VII.1 5 Wilhelm Ettelt, Mathematische Beispiele bei Platon, in: Gymnasium, Zeitschrift für Kul-

tur der Antike und humanistische Bildung, Bd. 68, Heidelberg 1961, S. 124–145, hier S. 138.1 6 Zitiert wird folgend aus der Übersetzung von Hans Günter Zekl, Platon: Timaios (Philo-

sophische Bibliothek, Bd. 444), Hamburg 1992, der den griechischen Text: Platonisopera. Tomus IV Tetralogiam VIII continens. Ed. Joannes Burnet. Oxford 1902, benutz-te, hier 54a.

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(54a) „Von den zwei Dreiecksformen also hat die gleichschenklige eine ein-zige Art erhalten, die ungleichseitige dagegen unendlich viele. Wir müssenalso wieder von den unzähligen die schönste auswählen, wenn wir den An-fang sachgemäß nehmen wollen. Wenn nun jemand eine schönere auswählenund vorbringen kann zur Zusammensetzung dieser, so ist der nicht unserFeind, sondern soll im Siege unser Freund sein“.

Welch enorme Bedeutung für Platon das rechtwinklig-ungleichschenklige Drei-eck, also das „schönste“ und einzige in dieser Art hat, ist unmißverständlich ausdem anschließenden Text zu entnehmen.

(54a) „So setzen wir also von den vielen Dreiecksformen als schönste eineeinzige (die anderen übergehen wir), nämlich die, aus deren Paar als Drittesdas gleichseitige Dreieck besteht. Weshalb wir das tun, wäre eine längereErklärung; doch wer das widerlegen kann und nachweisen, daß es nicht soist, für den ist ein Freundespreis ausgesetzt. – Es seien also ausgewählt zweiDreiecksformen, aus denen der Feuerkörper wie auch die der anderen Grund-stoffe hergestellt sind, einerseits das gleichschenklige, andererseits das-jenige, welches die größere Seite im Quadrat dreimal so groß hat wie diekleinere.

(54d) „Es soll also den Anfang bilden die erste Art, die kleinste in ihremZusammentritt; ihr Grundbaustein ist die Dreiecksform, welche ihre Grundli-nie doppelt so groß wie die kleinere Seite hat. Zwei davon, entlang der Grundlinie zusammengelegt und dies dreimal hintereinander gemacht, wobei dieentstandenen Durchmesser und die kurzen Seiten an einer Stelle wie in einemStichpunkt zusammenstoßen, so ist ein gleichseitiges Dreieck aus diesenursprünglich sechsen entstanden“.

Für die Erschaffung des gleichseitigen Dreiecks werden demnach 6 „schönste“Dreiecke gebraucht, bei der die Grundlinie doppelt so groß wie die kleinereSeite ist – und die größere Seite (große Kathete) im Quadrat dreimal so groß wiedie kleinere.17 Nachweisbar sind die sechs Grundbausteine („Urdreiecke“) auchaus dem weiteren Text. So besteht das Ikosaeder „aus zweimal sechzig solcherzusammengefügter Grundbausteine und 12 Raumwinkeln, deren jeder von fünf

1 7 Walter Bröcker, Platos Gespräche, 3. Aufl., Frankfurt/Main 1985, S. 517: „Vielmehrbauen diese Flächen sich auf aus gewissen Urdreiecken, das Quadrat aus gleichschenklig-rechtwinkligen Dreiecken, und das gleichseitige Dreieck aus rechtwinkligen Dreiecken,deren eine Kathete doppelt so lang ist wie die andere“. – Richtig ist: Die Grundlinie desrechtwinklig-ungleichseitigen („schönsten“) Dreiecks ist die Hypotenuse des „Urdreiecks“und diese ist doppelt so lang wie die kleine Kathete! (54d). – Vgl. Abbildung in derAnlage am Schluß.

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gleichseitigen Dreiecksflächen eingefaßt und mit zwanzig Standflächen in Formgleichseitiger Dreiecke ausgebildet“ ist (55a).18

Bei den Platonischen Körpern, deren Flächen aus gleichseitigen Dreiecken be-stehen, also Tetraeder, Oktaeder und Ikosaeder, hat jede Dreiecksfläche sechssolcher rechtwinklig-ungleichschenkligen Grundbausteine oder „schönstenDreiecke“.19

Nur beim Hexaeder werden die sechs quadratischen Flächen mit jeweils vierrechtwinklig- gleichschenkligen Dreiecken gebildet.

Die vier Polyeder, die in Platons Elementenlehre mathematisch behandelt wer-den, enthalten folgende „Grundbausteine“, die als „Urbausteine“ oder „Urdrei-ecke“ zu bezeichnen sind.

Feuer Tetraeder 24 Grundbausteine (schönstes Dreieck)

Wasser Ikosaeder 120 Grundbausteine (schönstes Dreieck)

Erde Hexaeder 24 Grundbausteine (gleichschenkliges Dreieck)

Luft Oktaeder 48 Grundbausteine (schönstes Dreieck)

Bemerkt werden sollte hierbei, daß in der Vielheit das Maß als ordnendes Prin-zip herrscht. Es ist der Grund der Einheit in der Vielheit. Aber das Maß ist nichtsanderes als das durch Zahlen anzugebende Verhältnis.20

1 8 Paul Friedländer, wie Anm. 8, S. 269. Hier findet man die Zahlen zum Ikosaeder: „Was-ser, das aus 20 gleichseitigen = 40 rechtwinklig-ungleichschenkligen Dreiecken besteht“.Friedländer rechnet also das Ikosaeder mit 40 Urdreiecken. Im nachfolgenden Satz je-doch findet sich: „Wasser, das aus 160 rechtwinklig- ungleichschenkligen Dreieckenbesteht“, und das heißt, hier werden acht „Urdreiecke“ für eine Dreiecksfläche des Iko-saeders gerechnet. Diesen Zahlenspekulationen stehen die Texte im 'Timaios' (56/57)entgegen. Sie lassen sehen, daß die von Platon postulierten Zahlenverhältnisse von Feuer– Wasser – Luft bei der theoretischen Umwandlung der Elemente strikt eingehalten werden.

1 9 Michael Toepell, wie Anm. 7, S. 51, rechnet irrtümlich für das gleichseitige Dreieck (hierbeim Oktaeder): „aus acht der genannten schönsten Grunddreiecke zusammengesetzt“.Es ist eine Abbildung dabei, die aufzeigt, daß das gleichseitige Dreieck in 8 rechtwinklig-ungleichseitige Dreiecke eingeteilt ist. – Zum Problem der Körperlichkeit bei den Platonischen Körpern in der Elementenlehre ist im vorliegenden Beitrag eine Stellungnahmenicht möglich. Vgl. hierzu: Dietrich Joachim Schulz, Das Problem der Materie in Platons'Timaios' (Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik, Bd. 31), Bonn1966, S. 27 ff.

2 0 Heinz Ziegler, Die Zahlenverhältnisse in den Körpern der Elementenlehre des Platon im'Timaios', in: Ders., Studien zum Umgang mit Zahl, Maß und Gewicht in Nordeuropa seitdem Hohen Mittelalter, (Sachüberlieferung und Geschichte: Siegener Abhandlungen zurEntwicklung der materiellen Kultur, Bd.23), Hg. Harald Witthöft, St. Katharinen 1997,S. 336–342.

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Das „schönste“ Dreieck, die Form, die eine Hälfte des gleichseitigen Dreiecksdarstellt, bezeichnet Platon als einzigartig, und so wird sich der interessierteLeser die Frage stellen, was Platon dazu bewog, das gleichseitige Dreieck fürdie Flächen der drei Polyeder mit sechs „Urdreiecken“ zu konstruieren unddann dieses „Urbauteil“ als „schönstes Dreieck“ zu bezeichnen. Das gleichsei-tige Dreieck hätte Platon doch mit zwei oder auch mit acht „Urdreiecken“ bil-den können. Was ist überhaupt so einzigartig an diesem „Urdreieck“? Otto Apeltgeht auf diese Frage nicht näher ein.21 In einer Anmerkung schreibt er: „Hiergeben 6 ungleichseitige Elementardreiecke das gleichseitige Dreieck“. Danachstellt sich für ihn die Frage, warum Platon, um die Dreiecksflächen für das Tetra-eder (die Pyramide) zu gewinnen, sich nicht mit der Zusammensetzung zweierungleichseitiger Elementardreiecke begnüge – die mit der längeren Katheteaneinander geschoben doch auch schon ein gleichseitiges Dreieck ergeben –,sondern eine viel weitläufigere Konstruktion vornimmt. Die Einzigartigkeitdieses Dreiecks wird von Apelt nicht angesprochen; auch darauf geht er nichtein, warum Platon gerade dieses Dreieck als das „schönste“ herausstellt. BeiLuc Brisson heißt es: „Bis heute ist ungeklärt, warum Timaios sechs rechtwink-lige, ungleichseitige Dreiecke braucht, um ein gleichseitiges Dreieck zu kon-struieren, wo doch zwei ausreichen würden.“22 Lothar Schäfer meint: Die „Rede

2 1 Otto Apelt, Platons Dialoge, Timaios und Kritias (Philosophische Bibliothek, 2. Auflage,Bd. 179), Leipzig 1922, S. 174.

2 2 Luc Brisson, Den Kosmos betrachten, um richtig zu leben: Timaios, in: Platon. SeineDialoge in der Sicht neuer Forschungen, Hg. Theo Kobusch und Burkhard Mojsisch,Darmstadt 1996, S. 229–248, hier S. 237. – Zu den von Platon ausgewählten Dreieckengibt es unterschiedliche Ansichten. Bei Gernot Böhme lesen wir: „Einen Grund gibtPlaton dafür nicht an. Er könnte aber darin bestehen, daß auf diese Weise die Flächen derregulären Körper so zusammengesetzt werden, daß alle Elementardreiecke in einemPunkt, ihrem gemeinsamen Schwerpunkt, zusammenhängen, um den herum sie mitein-ander im Gleichgewicht stehen“. Gernot Böhme, Symmetrie: Ein Anfang mit Platon, in:Bernd Krimmel, Red., Symmetrie in Kunst, Natur und Wissenschaft, AusstellungskatalogBd. 1, Mathildenhöhe Darmstadt, 1. Juni bis 24 August 1986, S. 9–16. Eine andere An-sicht findet sich bei Karl Popper in seiner Abhandlung „Platon und die Geometrie“: Pla-ton brauche im Timaios für die Konstruktion der Primärkörper ein elementares Quadratund ein elementares gleichseitiges Dreieck. Diese beiden sind ihrerseits aus zwei Artenvon subelementaren Dreiecken ausgebildet – dem Halbquadrat, das die √2 enthält, unddem halben gleichseitigen Dreieck, das die √3 enthält. Über die Frage, warum er diesezwei subelementaren Dreiecke statt des Quadrats und des gleichschenkligen Dreiecksbenutzte, haben sich viele die Köpfe zerbrochen, wie auch über die Frage, warum erseine Elementarquadrate aus vier subelementaren Halbquadraten und nicht aus zweienkonstruierte und warum er die elementaren gleichseitigen Dreiecke aus sechs subelemen-taren halben gleichschenkligen Dreiecken anstatt aus zweien konstruierte. – Was die erstedieser zwei Fragen betrifft, so scheint man ganz allgemein übersehen zu haben, daßPlaton mit seinem brennenden Interesse für das Problem der Irrationalität nicht die zweiirrationalen Zahlen √2 und √3 (die er ausdrücklich im Timaios 54b erwähnt) eingeführthätte, wäre er nicht darauf bedacht gewesen, gerade diese beiden Irrationalitäten als nichtweiter auflösbare Elemente in seine Weltanschauung einzubauen. Karl R. Popper, Die Weltdes Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens, München/Zürich 1998, S. 330 f.

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von Schönheit ist bezogen auf die Vorschriften ihrer Zusammenfügung zu denGrenzflächen der Polyeder. Rein für sich genommen, wird Platon das ganzegleichseitige Dreieck allemal 'schöner' nennen als seine Hälfte“.23

Platon baut seine „Elementarkörperchen“ aus zwei „Urtypen“ von Dreieckenauf, dem gleichschenklig-rechtwinkligen und einem anderen rechtwinkligen„Dreieckstyp“, den er, aus welchem Grund auch immer, als 'das schönste Drei-eck' auswählt, um, wie es heißt, 'einen folgerechten Anfang zu haben'. Unddieses schönste sei das, aus welchem dann das gleichseitige Dreieck entstand.24

Wie aus dem Text (54a) zu ersehen ist, wird das ungleichschenklige „Urdreieck“explizit als „schönstes“ ausgewiesen und dabei die Einzigartigkeit des recht-winklig-ungleichschenkligen Dreiecks postuliert. Hierbei ist auf Platons Äuße-rungen über die Geometrie hinzuweisen, die sich wie folgt zusammenfassenlassen: Es sind zwei Formen von Geometrie zu unterscheiden: a) die Geometriedes täglichen Lebens und b) die philosophische Geometrie. Erstere befaßt sichmit den räumlichen Objekten der sinnlichen Welt. Sie sind dem Werden undVergehen unterworfen und mit gegensätzlichen Bestimmungen behaftet. DieseGeometrie erreicht deshalb nur angenäherte Wahrheit. Die Objekte der philoso-phischen Geometrie hingegen sind der sinnlichen Welt entzogen und besitzendie Exaktheit geometrischer Definitionen. Deshalb besitzt diese Wissenschaftgenaue und absolute Wahrheit.25

Zum Begriff Schönheit gibt es die unterschiedlichsten Meinungen. So ist z.B.Heisenberg der Ansicht:

„Die mathematische Struktur, nämlich das rationale Zahlenverhältnis als Quel-le der Harmonie – das war sicher eine der folgenschwersten Entdeckungen,die in der Geschichte der Menschheit überhaupt gemacht worden sind. Dasharmonische Zusammentönen zweier Saiten ergibt einen schönen Klang. Das

2 3 Lothar Schäfer, wie Anm.9, S. 216, beachtet nicht die Einzigartigkeit des „schönsten“Dreiecks. Auch andere Autoren gehen nicht auf das einzigartige Dreieck ein. Bei GernotBöhme, wie Anm. 10, finden wir auf S. 110 f.: „Die platonischen Körper werden ausgleichseitigen Dreiecken bzw. im Fall des Würfels aus Quadraten gebildet (vom Dodeka-eder sehen wir im folgenden ab). Platon führt diese Figuren auf die „schönsten Dreiecke“zurück, nämlich das halbe gleichseitige Dreieck und das halbe Quadrat. Die spielerischeWeise, mit der Platon auch diese Zurückführung einführt, enthebt uns wohl der Notwen-digkeit, die Frage zu beantworten, warum er etwa das halbe gleichseitige Dreieck schönerfindet als das gleichseitige.“

2 4 Walter G. Saltzer, Grundzustand und Erschaffung der Neuelemente in Platos Timaios-Kosmologie, in: Die Erfindung des Universums? Neue Überlegungen zur philosophi-schen Kosmologie (Insel Taschenbuch 1933), Frankfurt/Main und Leipzig 1997, S. 224–246, hier S. 236.

2 5 Eckhard Niebel, Untersuchungen über die Bedeutung der geometrischen Konstruktion inder Antike (Kantstudien, Ergänzungsheft 76), Köln 1959, S. 73.

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menschliche Ohr empfindet die Dissonanz durch die aus den Schwebungenentstehende Unruhe als störend, aber die Ruhe der Harmonie, die Konsonanz,als schön. Die mathematische Beziehung war damit auch die Quelle des Schö-nen. Die Schönheit ist, so lautete die eine der antiken Definitionen, die rich-tige Übereinstimmung der Teile miteinander und mit dem Ganzen“.26

Welche Ansicht über Schönheit die Philosophen zur Zeit Platons hatten, sagtuns Platons Schüler Aristoteles:

„Da nun das Gute und das Schöne voneinander verschieden sind (denn daseine findet sich immer nur in der Handlung, das Schöne aber auch in demUnbeweglichen), so sind diejenigen im Irrtum, welche behaupten, die mathe-matischen Wissenschaften handelten nicht von dem Schönen und Guten. IhreBegriffe und Beweise handeln nämlich sehr wohl davon; denn wenn sie dasSchöne und Gute zwar nicht nennen, aber dessen Werke und Verhältnissenachweisen, so kann man nicht sagen, daß sie nicht davon handelten. Diehauptsächlichsten Formen aber des Schönen sind Ordnung und Ebenmaßund Bestimmtheit, was ja am meisten die mathematischen Wissenschaftenzum Gegenstand ihrer Beweise haben. Und da dies, ich meine z.B. die Ord-nung und Bestimmtheit, sich als Ursache von vielem zeigt, so handeln offen-bar die mathematischen Wissenschaften in gewissem Sinne auch von einersolchen Ursache, welche als das Schöne Ursache ist. Deutlicher werden wirdarüber an einer anderen Stelle sprechen“.27

Die überragende, ja sogar zentrale Bedeutung des Schönen bei den Griechen istdie des vollkommenen Seins, dem kein Mangel anhaftet - sie ist vom Glanz desGöttlichen überstrahlt. Die Elemente des griechischen Schönheitsbegriffes sindsomit der göttliche Ursprung, das „Faszinosum“: vollkommene Gestalt, vollen-dete Formen, klare Gliederung, harmonische Verhältnisse der Teile zueinanderund zum Ganzen.

Der Neuplatoniker Plotin, der in der Mitte des 3. nachchristlichen Jahrhundertsseine Abhandlung „Über das Schöne“ (Enn. I.6) schrieb, bringt zum Ausdruck:„Den sinnlichen Harmonien ist es eigentümlich dem Maß unterworfen zu seinnicht in jedem beliebigen Zahlenverhältnis, sondern nur in demjenigen wel-ches dienlich ist zur Erzeugung der Idee, zur Bewältigung“.28

2 6 Werner Heisenberg, Die Bedeutung des Schönen in der exakten Naturwissenschaft. Vor-trag, gehalten vor der Bayerischen Akademie der schönen Künste, München 1970, in:Schritte über Grenzen. Gesammelte Reden und Aufsätze, München 1971, S. 288–305,hier 291 f.

2 7 Aristoteles’ Metaphysik, Neubearbeitung Horst Seidl, (Philosophische Bibliothek, 3. Auf-lage, Bd. 308), Hamburg 1991, Buch XIII, Kap. 3, 1078a/b.

2 8 Richard Harder, Plotin. Ausgewählte Einzelschriften (Philosophische Bibliothek, Bd.211a), Sonderdruck Plotins Schriften, Bd.1a, Nachdruck, Hamburg 1968, S. 13.

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19Die vier Elemente

Platon spricht aber nicht nur von der Schönheit, sondern auch von der Einzigar-tigkeit für dieses „Urdreiecks“. Tatsächlich ist diese Dreiecksform einmalig,weil es kein weiteres Dreieck mit diesen Winkel- und Längenverhältnissen gibt!Bei einer Diskussion über die Einzigartigkeit darf nicht übersehen werden, dassdieses Dreieck das einzige ist, bei dem die Winkel- wie auch die Längen-verhältnisse die Zahlen der Tetraktys beinhalten. Aus alter Überlieferung ist dieZahl Ordnungsbegriff und die Tetraktys galt als pythagoreische Weisheit.29

Den Zahlen kam eine sakrale und göttliche Würde zu, ihnen wurde ein Kultgeweiht. Erst später, als das Bewußtsein der ontologischen Zusammenhängeverlorenging, entartete die Zahlenlehre zu einer irrationalen Zahlenmagie. DiePythagoreer schwuren bei Pythagoras als demjenigen, „der unserem Geschlechtdie Tetraktys überbrachte“. Unter dem Begriff Tetraktys versteht man den Kern-punkt pythagoreischer Weisheit. Es ist die Vierergruppe der Zahlen 1, 2, 3, 4,die zusammen 10 ergeben. Den Begriff „Vollkommenheit“ für die Zehnzahlweist Aristoteles den Pythagoreern zu:

„Während dieser Zeit und schon vorher befaßten sich die sogenannten Pytha-goreer mit der Mathematik und brachten sie zuerst weiter, und darin eingelebthielten sie deren Prinzipien für die Prinzipien alles Seienden […] und indemsie ferner die Bestimmungen und Verhältnisse der Harmonien in Zahlen fanden;– da ihnen also das übrige seiner ganzen Natur nach den Zahlen zu gleichenschien, die Zahlen aber sich als das Erste in der Natur zeigten, so nahmen siean, die Elemente der Zahlen seien Elemente des Seienden, und der ganzeHimmel sei Harmonie und Zahl. […] Ich meine z.B., da ihnen die Zehnzahletwas Vollkommenes ist und das ganze Wesen der Zahlen umfaßt, so behaup-ten sie auch, der bewegten Himmelskörper seien zehn; nun sind aber nurneun wirklich sichtbar; darum erdichten sie als zehnten die Gegenerde. Die-sen Gegenstand haben wir anderswo genauer erörtert; daß wir aber jetzt dar-auf eingehen, hat den Zweck, auch von ihnen zu entnehmen, welche Prinzi-pien sie setzen und wie diese auf die genannten Ursachen zurückkommen.[…] Andere aus der selben Schule nehmen zehn Prinzipien an, welche sie inentsprechenden Reihen zusammenordnen: Grenze und Unbegrenztes, Unge-rades und Gerades, Eines und Vielheit, Rechtes und Linkes, Männliches undWeibliches, Ruhendes und Bewegtes, Gerades und Krummes, Licht und Fin-sternis, Gutes und Böses, gleichseitiges und ungleichseitiges Viereck“.30

2 9 Walter Burkert, Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon(Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft, Bd. X), Nürnberg 1962, S. 63 f.und 170 f. – Vergleiche Leonid Zhmud, Wissenschaft, Philosophie und Religion imfrühen Pythagoreismus, Berlin 1997, S. 131 ff.: „Der Einfluß des pythagoreischen Den-kens auf Platon (vor allem auf den späten Platon) ist unbestritten“.

3 0 Aristoteles, a.a.O., Buch I, 985b/986a.

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20 Heinz Ziegler

Platons schönstes Dreieck ist Urdreieck als Baustein für Feuer, Wasser und Luft.

Vier rechtwinklig-gleichseitige Dreiecke sollen eine Seitenfläche des Würfels bilden, derals Elementkörper die Erde darstellt.

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21Die vier Elemente

Der Lehre von der Zahl und der Proportion, die sich im Kreise und unter demEinfluß der Pythagoreer des ausgehenden 5. Jahrhunderts v. Chr. verbreitete, istes zuzuschreiben, daß die Fragen um das Schöne und die Kunst mehr ins Blick-feld der Philosophie gerückt wurden.31 Die hier entstehenden Theorien warenjedoch keine mathematische Kunstlehre ästhetischer Art – ebensowenig wie derKanon des Polyklet. Da für die Pythagoreer die Mathematik das Gesetz der Weltdarstellt, liegt in ihr auch das Gesetz des Schönen und der Werke der Schaffen-den. Es ist also verständlich, daß Platon die Einzigartigkeit des von ihm kon-struierten „Urdreiecks“ für die Schaffung der drei Elemente Feuer, Wasser undLuft hervorhebt und dieses Dreieck das schönste nennt.

Luc Brisson bemerkt, daß bis heute ungeklärt sei, warum Platon sechs der „schön-sten“ Dreiecke benutzt, um ein gleichseitiges Dreieck zu konstruieren. – Hier-bei ist darauf hinzuweisen, daß Platon bei der Zahl sechs den Timaios sicherlichim Sinne der Pythagoreer sprechen läßt. Es ist also nicht überraschend, daß erdas gleichseitige Dreieck, das drei der regulären Polyeder aufweisen, aus sechs„schönsten“ Dreiecken konstruiert. Für die Pythagoreer war die Zahl sechs nichtnur eine vollkommene Zahl („Vollkommene Zahlen“ sind jene, die der Summeihrer aliquoten Teile gleich sind), sondern auch schon eine „Schöpfungszahl“.

Für sie war es nicht Zufall oder Zauber, wenn 6 Radien als Sehnen exakt dasSechseck in der Peripherie des Kreises bilden. Die Zahl 6 ist schon im Altertumeine gesetzmäßig maßgebliche Zahl. In biblischer Zeit (schon in der Thora) istsie mit der Schöpfung verbunden. Philon von Alexandria, auch Philo Judaeusgenannt, lebte um 20 n. Chr. in Alexandria. In seinem Buch „Über die Welt-schöpfung nach Moses“ kommentiert er den Schöpfungsbericht des Buchs Ge-nesis:

„In sechs Tagen, sagte er (Moses), ist die Welt geschaffen worden, nicht etwaweil der Schöpfer einen Zeitraum dazu nötig hatte – denn es ist selbstver-ständlich, daß Gott alles auf einmal bewirkt, nicht nur durch seinen Befehl,sondern schon durch sein Denken – , sondern weil für die Entstehung derDinge eine bestimmte Ordnung nötig war. Zur Ordnung aber gehört die Zahl,und von den Zahlen ist nach Gesetzen der Natur die für die Schöpfung pas-sendste Sechs“.32

3 1 Ernesto Grassi, Die Theorie des Schönen in der Antike, Köln 1962, Neuausgabe, Köln1980 S. 59 ff. Zu den Pythagoreern vgl. Christoph Riedweg, Pythagoras. Leben – Lehre– Nachwirkung. München 2002, S. 152 ff.

3 2 Van der Waerden, B.L., Die Pythagoreer. Religiöse Bruderschaft und Schule der Wissen-schaft, Zürich und München 1979, S. 309 f., zitiert nach der Übersetzung von L. Cohn,Philo von Alexandria, Werke, Bd. I, Nachdruck, 2. Auflage, Berlin 1962, S. 31. – Derweitere Text im Kommentar zeigt zweifelsfrei, daß Philon aus älteren Quellen schöpfte.Es ist davon auszugehen, daß Platon ebensolche Quellen zur Verfügung standen.

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22 Heinz Ziegler

Wenn wir heute von Zahlen sprechen, so denken wir häufig nur an numerischeGrößen zur Quantifizierung. In früheren Jahrhunderten jedoch verkörperten vieleZahlen Wertvorstellungen. Bestimmte Größenbegriffe waren mit einer bestimm-ten Zahl verbunden. Aus heutiger Sicht wird man sagen, alles nur Zahlenspielerei.Betrachtet man aber die Gesetzmäßigkeiten der Zahlenverhältnisse in der Geo-metrie der alten Kulturvölker, so stellt sich doch ein gewisses Verständnis fürderen Anschauungen ein. Es ist empfehlenswert, bei einer Diskussion die Ge-setzmäßigkeiten zu berücksichtigen, die in der Geometrie alter Kulturvölkereine Rolle spielen. Nicht nur in Griechenland finden sich ausgeprägte Traditio-nen, sondern auch im alten Ägypten bis in die ptolemäische Zeit.33

3 3 Heinz Ziegler, Die Elle als Längenmaß in den ägyptischen Tempeln der griechisch-römischen Epoche: Edfu – Dendera – Kalabscha, Vortrag gehalten am 13. Oktober 2006in der Klasse für Geisteswissenschaften der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Ge-sellschaft, in: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft,Bd. LVII, 2007, S. 55–108.

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