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1 Die Welt-Krise im Spiegel der Gestalttherapie Thesen zur Re-Politisierung der Psychotherapie Hans Peter Dreitzel Vortrag auf der Fachtagung der Fachsektion Integrative Gestalttherapie im ÖAAG zu ihrem dreißigjährigen Bestehen in Graz am 23. Januar 2009-01-2009 Tagungsthema: „Samma krank?“ - Aktuelle Krankheitsbilder unter besonderer Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehung von Individuum und Gesellschaft“ Die im Thema dieser Tagung implizierte Vermutung, dass es die Gesellschaft ist, die uns krank macht, könnte aktueller nicht sein. Gleich eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Krisen haben den letzten Monaten zu einer solchen Inflation des Krisenbegriffs geführt, dass einem ganz schwindlig davon werden kann: Finanzkrise – Krise des Kapitalismus – Energiekrise - Klima- Veränderung, und dann all die damit verbundenen Teil-Krisen, die im Wechsel ihres Auftretens jeweils von den Medien hoch gekocht werden und dann wieder verblassen – Krise der Automobilindustrie – Krise der Gasversorgung - Krise des Arbeitsmarktes, oder die uns dauerhaft begleiten wie die Bildungskrise oder die Krise des Gesundheitssystems. Ich will im Folgenden versuchen zu zeigen, dass all diese Krisen unterschiedliche Erscheinungsformen eines Vorganges sind, für den mir der Begriff „Weltkrise“ nicht zu groß erscheint. Das verlangt allerdings nach einer sorgfältigen Begründung. Ich möchte mich nacheinander drei Fragen zuwenden: Worin besteht das Krisenhafte weltweiter Entwicklungen? Wie schaut diese Weltkrise aus, wenn wir sie aus dem Blickwinkel der Psychotherapie betrachten? Welchen Beitrag könnte speziell die Gestalttherapie zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben leisten? Die erste Frage, die dem Begriff der Weltkrise gilt, wird dabei den meisten Raum einnehmen, denn um Klarheit darüber zu gewinnen, worum es dabei eigentlich geht, müssen wir den Schleier unserer natürlichen Abwehr gegenüber diesem bedrohlichen Thema für einen Moment beiseite schieben, und uns erst einmal ganz darauf einlassen. Ich hoffe dann bei der Beantwortung der zweiten und dritten Frage zu zeigen, dass dieses Thema dennoch gut geeignet ist für eine Jubiläumsveranstaltung, auf der sich die Gestalttherapie auch selbst feiert.

Die Welt-Krise im Spiegel der Gestalttherapie

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Die Welt-Krise im Spiegel der Gestalttherapie

Thesen zur Re-Politisierung der Psychotherapie

Hans Peter Dreitzel

Vortrag auf der Fachtagung der Fachsektion Integrative Gestalttherapie im ÖAAG zu ihrem dreißigjährigen Bestehen in Graz am 23. Januar 2009-01-2009 Tagungsthema: „Samma krank?“ - Aktuelle Krankheitsbilder unter besonderer Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehung von Individuum und Gesellschaft“ Die im Thema dieser Tagung implizierte Vermutung, dass es die Gesellschaft ist, die uns krank macht, könnte aktueller nicht sein. Gleich eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Krisen haben den letzten Monaten zu einer solchen Inflation des Krisenbegriffs geführt, dass einem ganz schwindlig davon werden kann: Finanzkrise – Krise des Kapitalismus – Energiekrise - Klima- Veränderung, und dann all die damit verbundenen Teil-Krisen, die im Wechsel ihres Auftretens jeweils von den Medien hoch gekocht werden und dann wieder verblassen – Krise der Automobilindustrie – Krise der Gasversorgung - Krise des Arbeitsmarktes, oder die uns dauerhaft begleiten wie die Bildungskrise oder die Krise des Gesundheitssystems. Ich will im Folgenden versuchen zu zeigen, dass all diese Krisen unterschiedliche Erscheinungsformen eines Vorganges sind, für den mir der Begriff „Weltkrise“ nicht zu groß erscheint. Das verlangt allerdings nach einer sorgfältigen Begründung. Ich möchte mich nacheinander drei Fragen zuwenden:

Worin besteht das Krisenhafte weltweiter Entwicklungen?

Wie schaut diese Weltkrise aus, wenn wir sie aus dem Blickwinkel der Psychotherapie betrachten?

Welchen Beitrag könnte speziell die Gestalttherapie zur Bewältigung der

anstehenden Aufgaben leisten? Die erste Frage, die dem Begriff der Weltkrise gilt, wird dabei den meisten Raum einnehmen, denn um Klarheit darüber zu gewinnen, worum es dabei eigentlich geht, müssen wir den Schleier unserer natürlichen Abwehr gegenüber diesem bedrohlichen Thema für einen Moment beiseite schieben, und uns erst einmal ganz darauf einlassen. Ich hoffe dann bei der Beantwortung der zweiten und dritten Frage zu zeigen, dass dieses Thema dennoch gut geeignet ist für eine Jubiläumsveranstaltung, auf der sich die Gestalttherapie auch selbst feiert.

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Ich habe durchaus Verständnis für die Kritik jener Kultur- und Zivilisationskritik, die im deutschsprachigen Raum immer wieder eine ungute Tradition der Modernitätsfeindlichkeit neu belebt. Von Spenglers „Untergang des Abendlandes“ bis zur gegenwärtigen Katastrophenrhetorik kommt darin eine „Lust am Untergang“ (Friedrich Sieburg, Die Lust am Untergang ,1954 damals ein Bestseller) zum Ausdruck, die lange als deutsche Spezialität galt, wie es noch im französischen Fremdwort „Le Angst“ zum Ausdruck kommt. Inzwischen aber erfreut sich das besonders von Hollywood gepflegte Genre des Untergangs- und Katastrophenfilms weltweiter Beliebtheit. Ich habe also durchaus Verständnis für die Kritik der Schriftstellerin Thea Dorn, die in einem jüngst im SPIEGEL erschienen Essay sagt: „Es ist also nichts Neues, wenn in unseren Tagen wahlweise die Vogelgrippe, der Millenium-Bug, die demographische Entwicklung, die Erderwärmung oder aktuell die Wirtschaftskrise als Reiter der Apokalypse besungen werden. Das Geschäft mit der Angst dürfte das in Wahrheit älteste Gewerbe der Welt sein.“ (Spiegel 2, 2009, S. 126), Daran ist viel Wahres, und dennoch handelt es sich um eine völlig unzulässige Verallgemeinerung. Zum Beispiel zitiert Thea Dorn, Jg. 1970, Karls Jaspers’ aus seiner 1957 erschienenen Schrift. „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen“ mit den Sätzen „Vor der Drohung totaler Vernichtung sind wir auf den Sinn unseres Daseins zurück geworfen. Die Möglichkeit der totalen Zerstörung fordert unsere ganze innere Wirklichkeit heraus“ (zitiert nach T.Dorn, a.a.O.). Wenn Thea Dorn dann diese Sorge als ein gutes Beispiel für die in der BRD „schon länger solide und begeistert geleistete Katastrophenarbeit“ (S.127) belächelt, hast sie etwas nicht verstanden, und zeigt damit nur, dass fortdauernde atomare Bedrohung seit Ende des Kalten Krieges leichter als zuvor verdrängt werden kann. Und die wird durchaus verständlich, wenn man sich klar macht, das es sich bei den Zuschauern um eine Identifikation mit dem Aggressor handelt, also nicht um eine Lust am Untergang, was immer das psychologisch überhaupt sein soll, sondern um eine Bewältigungsstrategie der Angst vor den weltweiten Bedrohungen durch Terroristen oder Energieknappheit oder die Erderwärmung, die nicht eingebildet sind. Die Epoche der weltweiten Bedrohung begann paradoxerweise am Ende des 2. Weltkriegs 1945 mit dem Abwurf der ersten Atombombe. In den Fünfziger Jahren veröffentlichte der damals bedeutendste Philosoph deutscher Sprache Karl Jaspers seine Schrift „Die Atombombe und die Zukunft der Menschheit“. Darin heißt: „Vor der Drohung totaler Vernichtung sind wir auf den Sinn unseres Daseins zurück geworfen. Die Möglichkeit der totalen Zerstörung fordert unsere ganz innere Wirklichkeit heraus“. (Zitiert nach Thea Dorn, a.a.O.)

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Bis heute hat Jaspers unverändert Recht. Tatsächlich wird die atomare Bedrohung nie wieder verschwinden; sie ist vielmehr noch schlimmer geworden, seit die Bombe auch in Staaten gebaut wird, deren sozio-kulturtelle Verhältnisse einen fruchtbaren Nährboden für den internationalen Terrorismus bieten. In Wirklichkeit ist die atomare Bedrohung inzwischen zu einer kulturellen Selbstverständlichkeit geworden. Das ist es unter anderem, was Peter Sloterdijk zu der Behauptung bewogen hat, dass wir in einer „katastrophischen Kultur“ leben. Diese Formulierung nimmt einen Gedankengang auf, den in bis heute nicht übertroffnem, kompromisslosem Scharfsinn der Technik-Philosoph Günter Anders in seinem 1961 erschienen Hauptwerk „Die Antiquiertheit des Menschen“ entwickelt hat, dass nämlich die Menschheit mit der Entwicklung der Atom- und der Wasserstoffbombe sich in die Lage versetzt habe, einem Globizid, wie Anders das bündig nennt, zu begehen. In dieser Hinsicht weit mehr als durch das Ende des 2. Weltkrieges bedeutete das Jahr 1945 einen Epochenwechsel. Denn seit dem ersten Atombombenabwurf hat sich gezeigt, dass die Menschheit eine neue Qualität von Autonomie in ihrer Entwicklung erreicht hat, sie ist nämlich nunmehr als Gattung suizidfähig geworden. Damit mehr als durch jede andere inzwischen erfolgte Globalisierung ist die Menschheit irreversibel zu einem Ganzen geworden; jede Gesellschaft ist nun Teil der Weltgesellschaft. Und das eben nicht nur durch die Gefahr eines Atomkrieges, sondern auch durch die Tatsache, dass unsere heutige Zivilisation allein schon durch einen Unfall oder eine Serie von Unfällen in ihrem Kern getroffen werden kann. Kann – nicht muss. Aber wir wissen seit Tschernobyl um die unglaublichen Folgen selbst eines lokalen atomaren Unfalls Wir wissen heute, dass Technische Großunfälle durch ein zufälliges Zusammentreffen mehrerer geringfügiger, Störungen zustande kommen, deren Verkettung auf eine zu hohe Komplexität und eine zu geringe Flexibilität zurückzuführen ist. Charles Perrow Normale Katastrophen, Über die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik,, 1988). Es spricht nichts gegen die Annahme, dass auch atomare Kriegsunfälle auf ähnliche Weise entstehen können. Das Gleich trifft auf die globalen Netzwerke zu, wie z. B. das elektronische Netzwerk. Immer sind sie die gleichen Ursachen am Werk: ein zufälliges Zusammentreffen vieler in sich banaler Betriebsstörungen mit der immer vorhandenen hochgradigen Komplexität der Systeme. Diese Tatsache hat besonderes Gewicht auch bei den Auswirkungen des technisierten Lebens in seiner Gesamtheit auf die uns umgebende und uns tragende Natur z. B. beim Artensterben. Denn immer führen Störungen dieser Systeme schnell an den Rand von unkontrollierbaren Kettenreaktionen, die das System insgesamt aus so dem Gleichgewicht bringen können. Wie jetzt das der

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Finanzmärkte. Das aber ist eine chronische und daher chronisch beängstigende Bedrohung. Die „katastrophische Kultur“, die damit beschrieben ist, ist also eine Kultur der Angst. Ich bin davon überzeugt, dass die….neuen Existenzbedingungen der menschlichen Gattung allmählich zu einer vollständigen Änderung des Verhältnisses führen werden, dass wir zu uns selbst, zu unserer natürlichen Umwelt und zur Technik haben. Aber das mag Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dauern, und inzwischen setzen sich, auch ohne dass der Größte Anzunehmende Unfall, ein GAU, alle anderen Probleme obsolet macht, jene anderen katastrophischen Entwicklungsprozesse bedrohlich fort, die uns gegenwärtig mehr beschäftigen. Ein Bewusstsein von der neuen Qualität unserer Existenz nach Erlangung unserer Suizidfähigkeit ist aber die Voraussetzung jeder wirklich greifenden Analyse auch dieser Prozesse.“ ( Vgl. dazu auch H.P.Dreitzel, H.Stenger ,Hrsg., Ungewollte Selbstzerstörung, 1990 Reflexionen über den Umgang mit katastrophalen Entwicklungen. Einleitung (vom Autor) S. 9/10) Bevor ich also darauf zu sprechen komme, wie wir mit der zur katastrophischen Kultur gehörigen Angst umgehen, möchte ich erläutern wie und welche weltweiten krisenhaften Entwicklungen immer wieder und immer weiter dazu beitragen, das Katastrophische an unserer Lebenswelt zuzuspitzen und aktuell ins Bewusstsein treten zu lassen. Krisenhaft nenne ich solche Entwicklungen, die durch quantitatives Wachstum zwangsläufig an einen Kipp-Punkt geraten, an dem weiteres Wachstum in qualitative Veränderung umschlägt. Das Wachstum kann numerisch sein, wie z. B. der Anstieg der Weltbevölkerung, oder es kann struktureller Natur sein, wie z. B. beim Wachstum pilzartiger Verflechtungen in der Bürokratie. Die gemeinsamen Merkmale dieser Entwicklungsprozesse sind:

Beschleunigung, gesteigerte Komplexität und Unvorhersehbarkeit der qualitativen Veränderungen.

Jedes dieser drei Merkmale macht Angst. Und genau das ist es, wo Psychotherapie ins Spiel kommt. Denn es ist

die Beschleunigung unseres Lebens, die die Hauptursache für unseren Stress ist, und es ist

die wachsende Komplexität aller unserer Lebensbereiche, die uns so

hilflos und scheinbar handlungsunfähig macht, und es ist

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die Unvorhersehbarkeit von Entwicklungsprozessen mit katastrophischem Potential, die unsere Lebensangst so steigert, dass sie ständig verdrängt werden muss.

Ich möchte das an einem noch relativ harmlosen Beispiel erläutern: Die quantitative Entwicklung der Wissenschaft

Die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen verdoppelt sich etwa alle 30 Jahre. Der Kipp-Punkt, an dem diese Entwicklung in einen neuen qualitativen Zustand gerät, ist bereits überschritten. Die daraus resultierende Informations- und Kommunikationskrise unter Wissenschaftlern hat zu Neuerungen geführt, die selbst problematisch sind: Das Internet zum Beispiel hat die Lage nur vorübergehend verbessert; inzwischen generiert das Internet mehr Informationen als verarbeitet und verstanden werden können. Oder: in den Naturwissenschaften haben einige wenige Zeitschriften ihre Schleusenfunktion soweit ausgebaut, dass sie inzwischen weltweit über die Gültigkeit und den Wert von Forschungsergebnissen und damit auch über die Karriere von Wissenschaftlern entscheiden. – In den Geistes- und Sozialwissenschaften dagegen hat diese Wachstumskrise den Einfluss wissenschaftlicher Moden verstärkt, die wie auf einem Markt über die Relevanz von Theorien und Forschungsbereichen und damit den Zugang zu Forschungsgeldern entscheiden.

Angesichts der Bedeutung, die Wissenschaft für die moderne Welt hat, sind solche Veränderungen von immenser Bedeutung. Ein Beispiel ist von noch größerer Komplexität ist Die Entwicklung der Weltbevölkerung

Seit 15 Jahren etwa ist erstmalig die Steigerungs- bez. Progressionsrate des Wachstums gesunken. D. h. das Wachstum geht weiter, aber nicht mehr in ganz der gleichen Geschwindigkeit. Auch weiß man nun mehr über die Ursachen dieser Abschwächung des Bevölkerungswachstums: der Hauptwirkfaktor ist eine veränderte, nämlich autonomere Stellung der Frau in den Gesellschaften mit hohem Bevölkerungsdruck. Damit werden jetzt erst Überlegungen sinnvoll, wie viele Menschen unser Planet überhaupt verträgt. Einerseits ist klar - wenn auch schwer berechenbar - welche negativen Folgen dieses Wachstum für die ganze Welt haben wird, nämlich:

knappere Energieressourcen, größere Umweltverschmutzung, schnellere Erderwärmung,

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höhere Arbeitslosigkeit, stärkerer Migrationsdruck.

Andererseits ist völlig unklar, welche Auswirkungen die mit dieser Entwicklung verbundene Steigerung der Komplexität haben wird, auf welche Weise also die einzelnen negativen Auswirkungen auf einander einwirken, sich wechselseitig steigern oder aufheben bez. dämpfen. Welche politischen Folgen etwa das Bevölkerungswachstum haben wird, z. B. für die Verbreitung oder das Verschwinden der Demokratie, ist kaum voraussehbar. Denken wir nur daran, wie wenig die Ursachen und Wirkungsverflechtungen bei der gegenwärtigen Finanzkrise selbst von den Wirtschaftswissenschaftlern durchschaut wird! Oder um ein anderes Beispiel für die Unvorhersehbarkeit des Kipp-Punktes bei der krisenhaften Entwicklung hochkomplexer Systeme zu nennen: so gut wie kein Politiker oder Politikwissenschaftler hat den Zeitpunkt und die Geschwindigkeit des Zusammenbruchs der Sowjet-Union vorausgesehen! Diese Erfahrungen sollten einigermaßen skeptisch machen gegenüber allen Behauptungen, man bekäme die jeweilige krisenhafte Entwicklung schon in den Griff. Nach dem Kipp-Punkt haben wir es mit einer qualitativen Veränderung zu tun, in der die bisher erprobten Strategien nicht mehr taugen. Wenn wir aber zu wenig Informationen über uns existentiell berührende Situationen und Entwicklungen haben, dann – das wir wissen wir als Psychotherapeuten ja gut – dann müssen wir projizieren. Auch das erklärt den überquellenden Krisendiskurs dieser Tage.

Nun zu den schwierigeren, durch ihre Undurchschaubarkeit bedrohlichen Entwicklungen. Gegenwärtig denken wir wohl zuerst an die aktuellste Krise, die Banken-Krise. Die Bankenkrise ist der Globalisierung der Finanzmärkte zu verdanken und hat eben deshalb diese enorme Größe, verursacht diese unglaublichen Kosten. Sie die erste globale Krise dieser Art - aber die Loslösung des Finanzkapitals von der Produktionssphäre, die sogenannte Geldblase, ist nichts prinzipiell Neues, sondern war ein charakteristisches Merkmal des Kapitalismus von je her, nur eben jetzt in neuer, bislang unbekannter Größenordnung. Auch hier haben wir es mit einem progressiven quantitativen Wachstum zu tun, (hier der im Umlauf befindlichen Geldmenge) die an einen Kipp-Punkt geraten kann. Daher die Panik mancher Bankiers und der meisten Politiker. Es war immerhin der Chef der Deutschen Bundesbank Axel Weber, der im November vor dem deutschen Parlament, also in aller Öffentlichkeit erklärte, dass möglicherweise der gesamte Geldverkehr zum Erliegen käme, wenn die Bundesregierung die Hypo-Real-Bank nicht mit entsprechenden Milliarden stützen würde….

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Die ersten Jahre nach dem 2.Weltkrieg sind nun schon so lange her, dass in der Öffentlichkeit kaum bemerkt wurde, was das hieße: kein Geld mehr von der Bank, kein Geld mehr aus dem Bankautomaten, keine Lohn- und Gehaltsauszahlungen mehr – einige Wochen später nur noch Naturalientausch und Lebensmittelkarten. Ich erinnere mich: Das könnte man schon eine Katastrophe nennen. Ich persönlich glaube allerdings nicht, dass dieser Punkt in der gegenwärtigen Krise bereits erreicht wird. Ich denke, dieses System ist noch regulations- und daher sogar noch ausbaufähig. Die nächste Krise allerdings kommt bestimmt. Ich weiß, dies ist nur die Meinung eines informierten Laien aus dem Nachbarfach Soziologie; aber es scheint ja nun so, als sei inzwischen eine solche Meinung nicht so viel weniger wert als die der Wirtschaftswissenschaftler selbst. Wie steht es mit anderen Krisen? Vor zwanzig Jahren habe ich einen Sammelband von „Reflexionen über den Umgang mit katastrophalen Entwicklungsprozessen“ herausgegeben, der dann unter dem Titel „Ungewollte Selbstzerstörung“ erschien. Ich erlaube mir, aus meiner Einleitung von damals zu zitieren: "Zu den katastrophalen Entwicklungsprozessen, die sich bisher als nicht umkehrbar oder jedenfalls nicht aufhaltbar erwiesen haben, gehören in erster Linie

das Wachstum der Weltbevölkerung; der Verbrauch an unwiederbringlichen Energien; die Vergiftung von Wasser, Land und Atmosphäre; die weltweite Zunahme radioaktiver Strahlung und die …die noch immer anhaltende Hochrüstung:

Andere katastrophale Entwicklungen sind eher die Folge dieser Prozesse:

die weltweite Verstädterung; die damit verbundene Verkehrsproblematik, und vor allem die globale Klimaveränderung.“

Schließlich gibt es noch Entwicklungen, deren Einfluss auf unser Leben mit Sicherheit enorm ist oder sein wird, die aber nicht auf einem befürchteten oder tatsächlich eingetretenen Umschlag einer quantitativen Entwicklung beruhen, sondern die an sich schon eine qualitative Veränderung unvorhersehbarer Art bedeuten. Ich meine

die Entwicklung der Gen-Technologie;

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die Entwicklung medizinischer Körpertechnologien; die Entwicklung der Gehirnforschung; die Entwicklung der visuellen Medien; sowie die Entwicklung des Computerwesens bez. die Elektronisierung unseres

Alltagslebens; und die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz.“

(hier mit leichten Veränderungen a. a. O., S. 10.) Die Unvorhersehbarkeit, ja zuweilen sogar Unvorstellbarkeit dieser Entwicklungen und ihrer wechselseitigen Beeinflussung und Durchdringung erweckt Hoffnungen und Ängste, die durch die Medien verbreitet und verstärkt werden. Sie stellen unsere überlieferten Menschenbilder in Frage und erschüttern damit auch die moralische Basis unseres Zusammenlebens und unserer gesellschaftlichen Institutionen. Sie fordern in der Tat, wie Karl Jaspers es „nur“ über die Atombombe sagte, unsere „ innere Wirklichkeit“ heraus. Auch diese strukturellen Entwicklungen haben insofern einen katastrophischen Charakter, als sie durch die gleichen drei Merkmale gekennzeichnet sind, die auch die genannten quantitativen Entwicklungsprozesse auszeichnen, nämlich: Beschleunigung der Entwicklung - Komplexitätssteigerung und - Unvorhersehbarkeit. Soweit die Lage, die ich im Titel dieses Vortrag zusammenfassend - und etwas pauschal - als Weltkrise bezeichnet habe. Vielleicht ist es notwendig zu betonen, dass mit diesem Begriff nichts Apokalyptisches gemeint ist; nicht der Weltuntergang steht an, auch nicht der der Menschheit, sondern für uns Heutige in den Industriegesellschaften ist erst einmal unser gewohnter Lebensstandard bedroht, möglicherweise aber auch das Funktionieren unserer sozialstaatlichen und sonstigen gesellschaftlichen Institutionen. Immer spürbarer wird aber auch heute schon eine viel tiefer liegende Veränderung, nämlich ein radikaler, ja epochaler Wandel unseres Verhältnisses zu der uns umgebenden Natur und zu unserer eigenen Natur. Die Titel der fast zur gleichen Zeit erschienen Bücher eines amerikanischen und eines deutschen Wissenschaftsjournalisten haben die Lage bereits treffend ins Auge gefasst: Bill McKibbens Buch heißt knapp Das Ende der Natur, Claus Kochs Buch trägt den ebenso bündigen Titel Das Ende der Natürlichkeit. McKibben, meint mit dem Begriff „Natur“ eigentlich Wildnis. Die Kernaussage seines Buches ist, dass es von nun an kein beobachtbares Phänomen der uns umgebenden Natur mehr gibt, das nicht unter dem Verdacht steht oder von dem wir bereits die Gewissheit haben, dass es von Menschenhand berührt, beeinflusst und verändert worden ist: die Landschaft, die Pflanzen, die Tiere, das Meer, die Flüsse, das Wetter, selbst der Himmel, an dem des nachts die Sterne nicht mehr von unseren Satelliten zu

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unterscheiden sind. - Claus Koch meint mit der Natürlichkeit, mit der es nun zu Ende sei, das psycho-kulturelle Korrelat dazu, nämlich die positive Bewertung und die Gewissheit der grundsätzlichen Natürlichkeit unseres Körpers . Dieser Vorgang ist meines Erachtens von so grundsätzlicher Art, dass er sich menschheitsgeschichtlich allenfalls mit dem Übergang der Jäger- und Sammlerkulturen zu den agrarwirtschaftlichen Hochkulturen beschreiben lässt - eben ein Epochenwandel. * * * Ich komme nun zu meiner zweiten Ausgangsfrage: wie stellt sich diese Weltkrise aus der Sicht der Psychotherapie dar? Anders formuliert muss diese Frage natürlich heißen: was ist an dieser Weltkrise psychopathogen, welche psychischen Störungen müssen wir lernen, auch als Folge der genannten Entwicklungsprozesse zu sehen? In dieser Allgemeinheit ist die Fragestellung gar nicht so neu: schon Freud hatte ja unter dem Eindruck der Katastrophe des Ersten Weltkriegs sein „Unbehagen in der der Kultur“ formuliert. Aber es ist sehr schwer, differenziertere diagnostische Antworten zu finden. Auch ich kann hier nur erste allgemeine Hinweise geben. und zwar ausgehend von den drei Merkmalen heutiger krisenhafter Entwicklungen.

1. die Beschleunigung dieser Prozesse führt zu chronischem Stress,

2. die zunehmende Komplexität verursacht Ohnmachtsgefühle,

3. die Unvorhersehbarkeit und Undurchsichtigkeit macht Angst. Zur Beschleunigung: Wer erinnert sich noch an ein Leben vor dem Internet – vor dem Handy – vor dem Computer – gar vor der Schreibmaschine? Und wer erinnert sich noch an das Reisen ohne Flugzeug – ohne Auto - gar ohne Eisenbahn? Und wer erinnert sich noch an ein Leben im Haushalt ohne Tiefkühler – ohne Waschmaschine – gar ohne Eisschrank und ohne Dusche? Und wer erinnert sich noch an ein Leben ohne MP3 – ohne Fernsehen – ohne Hifi – ohne elektronisch verstärkte Musik - ohne Radio – gar ohne Plattenspieler? Ich will sagen, in den letzten hundert Jahren hat zumindest jede Generation eine neue Technologie hervorgebracht, die unser Alltagsleben entscheidend verändert hat. Aber in letzter Zeit sind es nicht mehr Generationen, sondern schon Jahrzehnte, die dazu ausreichen. Außer der Eisenbahn und dem Plattenspieler und der Schreibmaschine sind alle genannten Technologien erst in den sieben Jahrzehnten verbreitet, die meine eigene Erinnerung jetzt umfasst. Das hat schon

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etwas Atemloses. Denn jeder weiß ja aus der eigenen Erfahrung der Jahrzehnte, die er oder sie selbst mit erlebt hat, dass jede Innovation mit mehr oder weniger Stress verbunden war bez. noch ist. Über die Zusammenhänge aber zwischen Stress und psychosomatischen Störungen brauche ich an diesem Ort nichts zu sagen. Und noch etwas anderes bedeutet diese Beschleunigung: je kürzer die Abstände zu den jeweils neusten der sich durchsetzenden Innovationen ist, desto schneller versinkt die Vergangenheit im Nebel des nicht mehr Vorstellbaren. Ich erinnere mich also noch gut an ein Leben, das ohne die meisten Selbstverständlichkeiten unseres täglichen Lebens heute verlief. Aber ohne Eisenbahn – nein. Ich erinnere mich an mein Erstaunen, ja meine Begriffsstutzigkeit, als ich nach dem Krieg Leute auf dem Land traf, die noch nie mit einem Zug gefahren waren, die noch nie in der Stadt waren. Selbst dem Literaturkritiker Karl Raddatz unterlief der Lapsus, Goethe eine Stellungnahme zur Fahrt der ersten Eisenbahn in Deutschland (1835) zuzuschreiben, die erst drei Jahre nach seinem Tod stattfand. Die Beschleunigung der technischen Entwicklung beschleunigt auch den Schwund unserer Vorstellungskraft für vergangene Lebenswelten. Fragt Eure Kinder, wenn ihr daran zweifelt! Zur wachsenden Komplexität:. Wer wollte leugnen, dass wir alle unter der zunehmenden Komplexität unserer Lebensverhältnisse leiden. Jeder kennt die Beispiele aus dem eigenen Erleben mit der Bürokratie. Bezeichnend scheint mir, dass fast jede Regierung Abbau und Vereinfachung der Bürokratie verspricht und ihre Regierungszeit mit einer Flut von neuen bürokratie-generierenden Gesetzen und Verordnungen abschließt. Die Politiker sind durchaus willens, sie sehen das Problem- aber sie können nicht anders. Reduktion von Komplexität ist zu einer Hauptaufgabe von Politik geworden, an der sie regelmäßig scheitert, weil offenbar jeder Versuch der Reduktion die Komplexität selbst noch steigert. Zur Steigerung der Komplexität gehört auch das Wachstum des Expertenwesens. Aber auch der Laie steht ständig unter dem Druck, sich selbst zum Experten zu entwickeln – ein Nerven verschleißender, zeitraubender Prozess. Wer liest die dickleibigen Benutzerhandbücher für die Technik, die wir doch alltags gebrauchen, also brauchen? Wer kann seinen Videorecorder, Verzeihung, ich meine seinen DVD-Player fehlerlos bedienen? Im medizinischen Bereich finden sich besonders viele Beispiele für die Komplexitätssteigerung, weil hier wie kaum sonst der wissenschaftlich-

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technische Fortschritt auf das herkömmliche Ethos eines Berufsstandes stößt. Am deutlichsten ist das wohl bei der Problematik des ärztlichen Umgangs mit Sterbenden, seitdem die Medizin über Mittel und Maßnahmen verfügt, die das Leben über jene Grenzen hinaus verlängern können, die einstmals als naturgegeben oder gottgewollt erfahren wurden. Die Diskussion über Patientenverfügungen und Sterbehilfe, die inzwischen mit großer Anteilnahme der Bevölkerung geführt wird, zeigt, dass heute neben die wohl untrennbar mit der Natur des Lebens verbundene Angst vor dem Sterben eine Angst vor dem Nicht-Sterben-Können bez. Nicht-Sterben-Dürfen getreten ist. Diese Komplexitätssteigerung wirft unausweichlich Grundfragen von Autonomie und Fremdbestimmung auf, bei denen ganze Menschenbilder auf dem Spiel stehen. Auch hier haben wir es mit einer Entwicklung zu tun, die den Kipp-Punkt bereits überschritten hat Die neue Qualität erweist sich zuerst in der enorm gesteigerten Unsicherheit darüber, wie zu verfahren ist, und in dem chaotischen Nebeneinander unterschiedlichster Positionen und Praktiken in einer zentralen Frage unserer Existenz. Nicht alle Komplexitätssteigerungen sind aber auf technisch-wissenschaftliche Entwicklungen zurück zu führen. Im Privatleben dürften die beiden Hauptbeispiele aus der Familie stammen, nämlich Ehe und Kindererziehung. Über jedes dieser Themen sind bereits ganze Bibliotheken von Büchern geschrieben worden und jedes Jahr kommen weitere dazu – ein typisches Symptom für eine hochgradige Steigerung von Komplexität! In aller Kürze und pauschal gesagt sind die Gründe für diese Entwicklung in den vergleichsweise sehr hohen Anforderungen zu suchen, die moderne Gesellschaften an die innere Autonomie ihrer Menschen stellen. Die wichtigste Voraussetzung für die Erfüllung dieser gesellschaftlichen Rollenerwartungen, wie man soziologisch auch sagen könnte, ist eine überaus vielgestaltige und subtile Ausdifferenzierung der Subjektivität jedes Einzelnen. Daraus entstehen unzählige Anpassungsprobleme, die schließlich zur Struktur der Sache selbst zu gehören scheinen: jeder Mensch hat heute Beziehungsprobleme, und wenn nicht, wird genau das zum Problem. Jedes Kind heute zeigt Verhaltensauffälligkeiten, und wenn nicht, gibt das Anlass zur Sorge. Ein Heer von mehr oder weniger professionellen Helfern aus Pädagogik und Sozialarbeit, aus Medizin und Psychologie steht zur Verfügung, sich dieser Sorgen und Probleme anzunehmen – und trägt gleichzeitig dazu bei, sie zu vermehren. Man muss ja nicht gleich mit Karl Krauss meinen, die Psychoanalyse sei die Krankheit, die sie zu heilen vorgäbe. Aber ähnlich einem alten Anthropologenwitz, nach welchem die typische Familie der Hopi-Indianer aus Großeltern, Eltern, Kindern und zwei Ethnologen besteht gehören zur Familie in modernen Gesellschaften strukturell die jeweils gerade tätigen und die potentiell zur Verfügung stehenden Helfer aller Art. Was früher normales

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Ehejoch war, ist heute ein Partnerbeziehungsproblem, ausdifferenziert nach den Bereichen Sexualität, Emotionalität, Kommunikation, Geschlechterrollen-Verteilung, Kindererziehung und Arbeitszufriedenheit. So werden – oft mit unserer tätigen Mithilfe – aus Lebensbereichen Problembereiche oder Baustellen, wie man jetzt gern sagt. Zur katastrophischen Kultur, in der wir leben, gehört auch der Baustellen-Charakter unsere Beziehungswelt: kaum sind die Häuser und Wohnungen fertig, beginnen sie wieder zu bröckeln, bedürfen der Renovierung, oder stürzen gleich ganz wieder ein, so dass neue Baustellen eröffnet werden bez. das Gewicht auf die vorsichtshalber errichteten Nebenbaustellen verlagert wird. So wird also das Leben immer unvorhersehbarer und undurchsichtiger. Nun war es freilich zu jeder historischen Epoche eine Illusion, dass das Leben planbar sei. Nur haben Illusionen ja eine Wirkmächtigkeit, die nie unterschätzt werden darf. Im Rückblick glaube ich, dass die Vorstellung, man könne sein Berufsleben und sein Privatleben einigermaßen voraussehen und planen, in den vier Jahrzehnten zwischen der wirtschaftlichen Stabilisierung nach dem Krieg und dem Zusammenbruch des Ostblocks besonders stark verbreitet war. Wir haben mit der einzigen Ausnahme der Balkankriege eine unglaublich lange, historisch nie dagewesene Periode des Friedens in Europa erleben dürfen, die diese Illusion gestärkt hat. Für alle in Europa, die heute unter fünfzig Jahre alt sind, ist trotz aller Konjunkturschwankungen wirtschaftliche Stabilität in Frieden eine Selbstverständlichkeit, auf deren Hintergrund alle Katastrophen- und Krisenszenarien abstrakt bleiben. In den letzten zwei Jahrzehnten aber bröckelt es nun, die Illusion verblasst, aber es gibt keine andere Orientierung, die sie ersetzen könnte. Die neu ausgerufenen Tugenden der Flexibilität bedeuten nur den Dauerstress ständiger Abruf- und Umbaubereitschaft. Wir tappen zunehmend im Dunkeln – und das macht Angst. * * * Der Epochenwandel löst also Stress - Ohnmachtsgefühle - und Angst aus. Diese negativen emotionalen Erfahrungen werden neurotisch kompensiert entweder durch

1. Unteranpassung, d. h. eine Art psychische Verweigerung, oder zweitens durch

2. Überanpassung, d. h. durch den misslingenden Versuch, mit der eigenen

Kraft die gesellschaftlichen Verhältnisse zu überholen,

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oder drittens durch 3. Vermeidungsstrategien, also Flucht in scheinbar von den Entwicklungen

unberührte Zonen. Wir werden es also bei uns und bei unseren Patienten und Klienten mit drei verschiedenen Gruppen von neurotischen Verhaltensweisen zu tun haben oder noch bekommen. Natürlich will ich damit jetzt nicht behaupten, dass alle neurotischen und psychiatrisch relevanten Störungen ihre Ursachen ausschließlich oder auch nur überwiegend denjenigen gesellschaftlichen Umständen zu verdanken haben, die ich hier kurz skizziert habe. Aber diese sind doch der bleibende, prägende, und tief ins Unbewusste wirkende Hintergrund aller weiteren Ursachenzusammenhänge, insbesondere auch die der familiären Herkunft und die der anderen rein biografischen Faktoren. Die erste Gruppe sind die Unterangepassten. Da gibt es einmal jene, bei denen der Körper streikt, nicht mehr mitmachen will, sich weiteren Anpassungen verweigert. Stress im weitesten Sinn des Wortes verursacht eine Fülle von psychosomatischen Störungen und Erkrankungen. - Weiters löst die wachsende Komplexität unserer Lebensbezüge Gefühle von Resignation aus und eine Neigung zu depressiven Prozessen, eventuell wechselnd mit Anfällen zielloser Wut. Bei Jugendlichen wird die allgemeine Perspektivlosigkeit leicht zu soziopathischen Prozessen führen, die sich in Vandalismus und Gewalttätigkeit ausdrücken. Die Undurchschaubarkeit der qualitativen Entwicklungssprünge schließlich mag zu depressiver Resignation und Apathie führen, kann sich aber eben gut bei denjenigen, die über mehr frei flottierende Energie verfügen, in Angstneurosen und paranoischen Vorstellungen ausdrücken. All diese neurotischen Reaktionen sind aber im Grunde genommen individuelle, einsame und misslingende Rebellionen gegen ein sozio-kulturelles Umfeld, in dem die Unterscheidung von Normalität und Wahnsinn immer mehr an Plausibilität verliert. Zu Recht hatten Fritz Perls und Paul Goodman Neurosen als Notfallreaktionen auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen verstanden. Dann gibt die nicht minder neurotischen Versuche der Überanpassung an die ständig wechselnden Anforderungen der kastrophischen Kultur. Dazu zähle ich den überdrehten „Workoholismus“ derer, die noch Arbeit haben, die ihnen sinnvoll erscheint. Bezeichnend für diese fehlgeleiteten Anpassungsversuche scheint mir aber vor allem aber die verbreitete emotionale Blindheit für alles, was nicht wenigstens potentiell als eigenes Selbst erlebt werden kann: der von den gesellschaftlichen Verhältnissen geförderte Narzissmus ist der der oft bis zum eigenen Untergang vorangetriebene Versuch, mit rein individuellen Mitteln den Überblick und die Kontrolle über die immer undurchschaubarer werdenden Systemzusammenhänge zu behalten. Die Ahnung vom unausweichlichen Scheitern dieses Versuch wird dann zum Motor der anders kaum verständlichen

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Raffgier, die offenbar alle Eliten inzwischen ergriffen hat, jedenfalls diejenigen unter ihnen, die glauben, dass einzig Geld äußere und innere Sicherheit bieten könnten. Es ist die Identifikation mit dem Aggressor, die nach der unvermindert gültigen Analyse von Perls und Goodman zu jener „Selbstvergewaltigung „ führt, die sich heute, im Vorfeld der Kipp-Punkte zahlreicher krisenhafter Entwicklungen in den beiden psychischen Hauptstörungen unserer Zeit manifestiert - Depression und Narzissmus. Schließlich gibt es drittens zahlreiche Vermeidungsstrategien, mit denen Menschen versuchen, dem Stress, der Hetze, dem Gefühl, nichts tun zu können, und der unbestimmten Angst zu entgehen. Mit diesem Begriff meine ich alle Verhaltensweisen, die geeignet sind, unsre Bewusstsein so einzutrüben, dass wir die aktuellen wie die anstehenden Gefährdungen unseres Lebens durch krisenhafte Entwicklungsprozesse nicht mehr so wahrnehmen, wie es unserer Intelligenz und unserem erreichbaren Kenntnisstand entspricht.. Jeder kennt solche Strategien von sich selbst – und soweit sie unseren Erholungs- Regenerationsbedürfnissen dienen, sind sie gesund und sie tragen zu unserem seelischen Gleichgewicht bei.

• Ein guter Schlaf ist überlebenswichtig, • Abschalten und innehalten Können ist hilfreich, • Loslassen oft notwendig, • Erholung und Ausspannen helfen uns dabei, danach wieder mit vollem

Gewahrsein aktiv zu werden, • ja sogar Muße und Müßiggang haben im Zeitalter der Geschwindigkeit

und Beschleunigung einen Wert an sich. Aber es gibt eine feine Grenze, jenseits der alle diese guten und notwendigen Verhaltensweisen nicht mehr coping strategies sondern Vermeidungen bez. Verdrängungen sind. Der moderne gestalttherapeutische Begriff der Verdrängung bezeichnet nicht mehr wie bei Freud die Verschiebung von Unangenehmen in die black box des Unbewussten, sondern die Tätigkeit der Vermeidung und Unterdrückung der Erinnerung an unlustvolle oder bedrohliche Erfahrungen und Tatsachen. Worin diese Tätigkeit jeweils besteht, muss im Einzelfall beobachtet und geprüft werden. Vieles geschieht hier sicherlich einfach aus Gewohnheiten, die sich aus Bequemlichkeit und Mangel an Gewahrsein einschleichen, und die - ohne dass wir es so ganz merken würden - den allgemeinen Gedächnis-Schwund unterstützen. Eine besonders gefährliche Grenze wird aber überschritten, wenn die Coping-Strategien Suchtcharakter bekommen. Ich denke, es ist an diesem Ort nicht

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notwendig, das weitläufige Gebiet des Suchtverhaltens zu betreten. Jeder von uns kennt ja seine eigenen Suchttendenzen. // Aber Sucht ist auch einer der Begriffe, die in Gefahr sind, inflationär benutzt zu werden. Deshalb: was ich hier unter Sucht verstehe ist eine gewohnheitsmäßig selbst herbeigeführte Veränderung der Neurotransmitter, die die Selbstorganisationskräfte des menschlichen Organismus unterhöhlen. Diese Veränderung kann durch Zufuhr von Drogen oder durch Gewöhnung und Einübung bestimmter Verhaltens- weisen herbei geführt werden. Das heißt einerseits: auch legale Drogen wie Alkohol oder Zucker und normale Verhaltensweisen wie Fernsehen oder Sport-Treiben können zur Sucht führen, und andererseits: nicht jeder Rausch ist schon Teil einer Sucht, und nicht jedes verbotene Rauschmittel macht süchtig. Auf die Selbstorganisation des Organismus und des Organismus/Umwelt-Feldes zu bauen ist natürlich ein Grundprinzip der Gestalttherapie. Dass die Psychotherapie insgesamt besonders wenige Erfolge bei der Therapie von Süchten zu verzeichnen hat. hängt damit zusammen, dass der Gebrauch süchtig machender Stoffe (selbst da, wo sie illegal sind) sowie die Verbreitung suchterzeugender Verhaltensweisen ein inhärenter Bestandteil unserer Kultur ist und damit die mit Suchtpatienten arbeitenden Therapeuten mehr und offensichtlicher noch als andere gegen einen Grundcharakterzug der Gesellschaft ankämpfen müssen. Diese Gesellschaft – nicht vergessen: das sind wir! – produziert Angst und damit zugleich das wirksamste Mittel zu ihrer Betäubung: die Sucht. „Samma krank?“ – Aber gewiss doch, die allermeisten schon. * * * Ich komme nun zu meiner dritten und letzten Ausgangsfrage, nämlich welchen Beitrag besonders die Gestalttherapie zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben leisten kann. Die Frage klingt angesichts der Größe des Themas „Weltkrise“ etwas vermessen. Gewiss, wir sitzen - meist allein - in unserer Praxis unseren Patienten gegenüber, in deren großen und kleinen Leiden nur selten der umfassendere, gesellschaftliche Hintergrund durchscheint. Andererseits wissen wir aber gerade als Gestalttherapeuten auch, dass alle Störungen ihre Ursachen im Hintergrund der Figur / Grund – Prozesse haben, und die Symptome, mit denen die Patienten zu uns kommen, die Folgen der Schwächung von Ich-Funktionen sind, die der Organismus für den Prozess der Gestaltbildung braucht. Ich meine, dass gerade ein Jubiläum, wie es heute hier gefeiert wird, ein besonders guter Anlass ist, sich erneut auf unsere Kräfte zu besinnen, und uns der Frage zu stellen, welchen wie immer auch bescheidenen Beitrag das Menschenbild der Gestalttherapie und die gestalttherapeutische Praxis zum kreativen Umgang mit den krisenhaften Entwicklungen unserer Welt schon leistet und in Zukunft noch leisten könnte.

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Als erstes: der notwendige Rückblick. Beginnen wir mit der Beobachtung; dass unser Begriff und unsere Erfahrung von Natürlichkeit obsolet geworden sind. Geistesgeschichtlich gesehen gehört die Gestalttherapie zu den gegen-kulturellen Strömungen und Bewegungen, die in Schüben und Sprüngen seit der Romantik den fortschreitenden, immer stärker technologisch gesteuerten Modernisierungsprozess begleitet haben. Von Rousseau bis Herbert Marcuse, von der Wartburg bis 1968,von Turnvater Jahn bis zu den Grünen, von der Psychoanalyse bis zur Gestalttherapie hat es eine Fülle von - zwischen konservativ und progressiv oszillierenden - Bewegungen gegeben, die bei all ihrer Unterschiedlichkeit doch eines gemeinsam haben, nämlich ihre positive Betonung der Natürlichkeit und ihre Skepsis gegenüber Technik und Zivilisation. Im Rückblick aus unserer hoch technisierten Welt klingt Rousseaus Ruf „Zurück zur Natur!“ kindlich und naiv. Schon hundert Jahre nach ihm war die Mechanisierung der Welt so weit fortgeschritten, dass es bereits schwer wurde, „unberührte Natur“ zu finden: eine Zeitlang hielt sich noch der Mythos von der unberührten Bergwelt, der heute nur noch nachklingt in den Schlagern, die über die Ski-Pisten hallen, dann zog sich „Mutter Natur“ in die exotischen Wildnisse der Dritten Welt zurück, wo sie nun unter dem Label „bedroht“ ein vorübergehend noch behütetes Dasein fristet. An die Stelle der „unberührten Natur“ ist schon im 19. Jahrhundert der Körper getreten. Dessen Natürlichkeit galt es gegenüber den zivilisatorischen Exzessen der viktorianischen Zeit wiederherzustellen und zu feiern. Das hat dann im 20igsten Jahrhundert zur Entstehung von Körpertherapien geführt, zu denen manche auch die Gestalttherapie zählen, und die nun einen Gegenpol zur weiteren Technisierung der Medizin bilden. Das war und ist sicherlich ein großer Schritt in Richtung Erhaltung und Wiedergewinnung der Ganzheitlichkeit unserer Welt-Erfahrung. Aus der Kultivierung des Körpers wird allerdings rasch ein Körperkult, wie wir ihn in ideologischer Form aus dem Faschismus kennen, und wie er gegenwärtig als Reaktion auf die zivilisatorische Bedrohung der Geschlechtsidentitäten von Vertretern beider Geschlechter mit Hilfe der Medien zelebriert wird. Diese Entwicklungen sind durch und durch ambivalent: es stellt sich heraus, dass die schon im 18. Jahrhundert gemachte Erfahrung, dass der menschliche Körper zum Zweck der militärischen und wirtschaftlichen Leistungssteigerung durch Disziplinierung, Zucht und Exerzitien zugerichtet werden kann, heute durch wissenschaftlich angeleitete Maßnahmen noch so optimiert werden konnte, das er sich durch seine Perfektionierung gewissermaßen selbst abschafft. Die Wiederbelebung des Körpers, die als Gegenzug zu dessen zivilisatorischer Zurichtung gemeint war, droht nun umzuschlagen in eine Perfektionierung des Körpers, die ihn immer maschinenähnlicher macht. Die Gestalttherapie tut gut daran, in dieser ambivalenten Entwicklung eine radikale Mitte einzuhalten, die

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konsequent auf Lebendigkeit setzt, ohne jedoch zu vergessen, dass der Mensch als Kulturwesen auch immer schon einen Bruch mit der Natur darstellt. Ihr seht schon – es geht um das Menschenbild der Gestalttherapie – auch unser Menschenbild steht jetzt auf dem Prüfstand: Stellen wir uns zu sehr auf die Seite der Natur, werden unsere Therapien zu Ferieninseln der Erholung vom Zivilisationsdruck, die, besonders bei wirtschaftlicher Krise, zu Wellness-Reservaten für die Wohlhabenden mutieren könnten. Überlassen wir die Technisierung unserer Körper durch Training und Medizin unkommentiert - und ohne ihr das Gewahrsein unserer Körperarbeit entgegen zu setzen - ihrem Wildwuchs, verlieren wir unseren Standort an der Seite des Lebens und der Lebendigkeit. Ich glaube, dass wir als Gestalttherapeuten angesichts der dramatischen Entwicklungen in den Biowissenschaften unsere Einstellungen zu Geburt und Tod, zum Zeugen, Empfangen und Gebären sowie Kranksein und Sterben einer ständige Überprüfung unterziehen müssen. Das kann aber nur in gemeinsamem Gespräch erfolgen. Und dieses Gespräch, diese Auseinandersetzung, fehlt uns noch, sie ist noch gar nicht in Angriff genommen, und w woran wir jetzt arbeiten sollten, womit wir auch in die Öffentlichkeit gehen müssen - statt uns in den unproduktiven Streitigkeiten über Differenzen zu verzetteln., die doch - gemessen an dem, was ansteht – verzeiht: wirklich banal sind. Noch einen anderen problematischen Grundzug der gegenkulturellen Bewegungen möchte ich hier kritisch ins Auge fassen: die Betonung von Authentizität, In ihrem Namen rebellierte die in Bewegung geratene Bohème schon in der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg mit Wanderbewegung, neuer lockerer Kleidung, Freikörperkultur und ersten Rauschgiftexperimenten gegen die steif-kragige Überzivilisierung des Bürgertums. Achtzig Jahre später wurde die Forderung nach authentischem Verhalten, authentischem Leben, authentischer Kultur, authentischer Musik zum Signum jugendlicher Protestbewegungen - und in deren Schatten - oder in derem Licht- kam auch die Geestalttherapie von Kalifornien bis in die Steiermark. Sie übernahm rasch die Forderung nach Authentizität, die schopn für Fritz Perls in seinen kalifornischen Jahren ein wichtiger Begriff war. Man wollte sich befreien vom Muff der Nachkriegsgesellschaft, dessen moralische Doppelzüngigkeit und Rigidität übrigens von späteren Generationen kaum noch richtig nachvollzogen werden konnte. Authentizität hieß in der Gestalttherapie damals ein unverstelltes Verhältnis zu seinen eigenen Bedürfnissen und eine Tendenz zu zivilisatorisch ungehemmten emotionalen Ausdruck. Ich erinnere mich noch gut an diese Zeit: ich habe den Elan der Achtundsechziger Generation, zu ich nicht mehr gehörte, als ungeheuer befreiend erlebt und fand zunächst, dass er in der Gestalttherapie die mir gemäße Form gefunden hatte.

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Aber zu meiner Begeisterung gesellte sich bald ein Unbehagen, von dem ich zunächst nicht wusste, ob es der Macht meiner bürgerlichen Introjekte geschuldet war, die doch von Perls als Kern aller Neurosen gesehen wurden, oder doch eher dem Verlust bestimmter zivilisatorischer Tugenden (vgl. Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, 1924, 2002) wie

die Wertschätzung von Distanz, ein Gefühl für Takt oder der Sinn für das Spielerische im Umgang mit sozialen Rollen.

Aus der Perspektive der Authentizitätsnorm konnten diese Tugenden nur als Ausdruck von Entfremdung gedeutet werden Das hielt und halte ich für ungenügend.. Inzwischen aber haben wir es mit einer völlig veränderten Situation zu tun. Die gegenkulturelle Welle verebbte gegen Ende der Siebziger Jahre. Die Apologeten des konservativen Backlash in den Achziger Jahren hatten es leicht, darauf zu verweisen, dass die latente Gewaltbereitschaft der 68iger sich bei einigen wenigen zum Terrorismus auskristallisierte, während ein anderer Teil dieser Generation sich in eine apolitische Welt innerer Sinnsuche zurückzog – beides konnte die herrschende Kultur nicht mehr berühren, die unter der Decke der langsam alles durchdringenden political correctness allmählich ihren Biss verlor. In der Gestalttherapie entwickelte sich damals eine kritische Diskussion über die Sünden der ersten Generation von Gestalttherapeuten - die notwendig war; aber zugleich breitete sich eine neue Ängstlichkeit im Umgang miteinander aus. Der alte unmittelbare Zugang zum Patienten, oft heilsam provokativ, wurde als zu konfrontativ empfunden, und kreative Kritik, die auch Negatives impliziert, wurde und wird zunehmend mit dem Ruf „Verletzung“ abgewehrt oder als „mangelnde Wertschätzung“ denunziert. Auf schleichende Weise wurde aus der Forderung nach Authentizität die Forderung nach Politischer – vielleicht sich sagen: psychologischer - Korrektheit. Kritisch gesagt hat die Gestalttherapie in den letzten dreißig Jahren eine Entwicklung vom offenen Druck zum emotionalen Stripptease zum sanften Druck zur emotionalen Kuschelei durchgemacht. Der in dieser Zeitspanne zu beobachtende Rückgang der Gruppentherapie zugunsten von Einzeltherapie hat auch damit zu tun, dass Gestaltgruppen heute eher als lauwarmer Ersatz für die nicht mehr funktionierende Familie erlebt werden, denn als Schauplatz emanzipatorischer Erfahrungen mit Autonomiegewinn. Zu dieser Entwicklung trägt auch die Neigung bei, Gestalttherapiegruppen mit esoterischem Spielzeug aufzurüsten, sowie die

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wachsende Beliebtheit von Familienaufstellungen. Ein positiver Gewinn dieser Jahre ist dass sich unsere Theorie sehr viel weiter entwickelt hat, und dass sich unsere Praxis inzwischen auch kompetent den sogenannten „Frühen Störungen“ angenommen hat, die zunächst völlig vernachlässigten worden waren. Wiederum ist die Gestalttherapie gut beraten, wenn sie sich in dieser Situation auf eine radikale Mitte konzentrieren würde, dieses Mal zwischen zwischen dem Authentizitätskult der frühen Jahre und der Politischen Korrektheit der späteren. Die Mitte halten heißt: ein besonnener, heiterer, kreativer Umgang mit den bewährten gestalttherapeutischen Techniken, der getragen ist von liebevoller Einfühlung in die individuelle Situation der Patienten UND zugleich einem geschärften, kenntnisreichen Durchblick auf die krisenhaften Entwicklungsprozesse, denen sie und wir unterworfen sind und die heute zunehmend den schattenhaften Hintergrund aller psychischen Störungen bilden. Die Begründer der Gestalttherapie waren davon überzeugt, dass es die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, die uns krank machen, und dass deshalb jede Therapie auch kreative Potentiale freisetzen müsste, die sich dem Krankmachenden an diesen Verhältnissen widersetzen würden. Ohne Gesellschaftsanalyse kann es kein zureichendes Verständnis von Psychotherapie geben. * * * * * * Aus dieser radikalen Mitte heraus hat unsere gestalttherapeutische Arbeit ein besonderes Potential zur Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens in den Katarakten der krisenhaften Entwicklungen, die jetzt allmählich immer heftiger werden. Das heißt im einzelnen: Creative Adjustment – schöpferische Anpassung – ist der Schlüsselbegriff, mit dem Perls und Goodman die Leistung des voll entfalteten Selbst im Kontaktprozess mit den jeweiligen Umwelten bezeichnet haben. Die schöpferische Anpassung ist etwas anderes als die bloße Wiederherstellung der Arbeitskraft im Dienste entfremdender gesellschaftlicher Systeme. Hier liegt das Politische Potential der Gestalttherapie, hier unterscheiden wir uns eben auch politisch - z. B. von der Verhaltenstherapie. Gewiss, wir haben es in der Praxis der therapeutischen Arbeit zunächst einmal mit der Wiederbelebung der Ich-Funktionen zu tun, die dem zurande Kommen, dem Coping, mit den alltäglichen Aufgaben der Lebensführung dienen. Aber gerade im Alltäglichen unserer Beziehungen und unserer Arbeitswelt schlägt das übergreifende Ganze gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse ja zu Buche! Und es gehört meines Erachtens auch zur Gestalttherapie, bei unseren Patienten und Klienten das Gewahrsein für diesen Tatbestand zu wecken und zu fördern.

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Gegen den Stress der Geschwindigkeit und Beschleunigung hilft die Verlangsamung, die eine automatische Folge eines geschärften Gewahrseins für das Hier und Jetzt unseres Erlebens und besonders unseres Fühlens ist. Es hat viel berechtigte Kritik an einem zu simplen Verständnis eines Lebens im Hier und Jetzt gegeben. Dennoch ist die Rückbesinnung auf dieses Grundprinzip unserer Arbeit sehr wichtig als Korrektiv gegenüber unserer Tendenz, uns in Erinnerungen und Zukunftsphantasien zu verlieren oder in Betäubungen zu flüchten. Es ist auch nicht so, dass es wie einige Autoren behaupten, das Hier und jetzt, den Augenblick, gar nicht gäbe. Es geht hier ja nicht um den unendlich kleinen Punkt einer physikalischen Zeitlinie, sondern um unser Erleben von Zeit. Dem berühmten Erforscher der frühen Kindheit, Daniel Stern, ist es jetzt gelungen, eine präzise phänomenologische Analyse des „Gegenwartsmoments“ vorzulegen, in der er unser Erleben von solcher Momente empirisch belegen kann. Ich empfehle die Lektüre des gleichnamigen Buches, weil es eine wissenschaftliche Untermauerung eines unser wichtigsten Arbeitskonzepte liefert, und weil sich seine Versuchsanordnung auch vorzüglich für Gestalt-Experimente zur Schärfung des Gegenwartsbewusstseins eignet. (Daniel Stern, The Present Moment, dt. Der Gegenwartsmoment, 2007).In der Therapie sind jedenfalls die Betonung des Hier und Jetzt des Erlebens und die Betonung der Verlangsamung zwei Interventionsstrategien, die einander verstärken, die beide gebraucht werden. Gegen die Raffgier hilft das Gewahrseins der Sättigung, des genug Habens - und das Zulassen der Freude am gewonnen und am uns Geschenkten, zuförderst unseres eigenen Lebens. Im übrigen stärkt ein geschärftes Gefühl für unsere jeweilige Einzigartigkeit das Selbstwertgefühl und damit die Einsicht, wie unheilvoll unsere Neigung ist, uns ständig mit anderen zu vergleichen. Gegen die Ohnmachtsgefühle angesichts der Komplexität der Verhältnisse setzt die Gestalttherapie vor allem auf die Wiederbelebung der Sinne und der Gefühle. In einer der wenigen gehaltvollen Untersuchungen des Verhältnisses von Gestalttherapie und Politik sagt Kathleen Höll es so: „Heute ist das Arbeiten an den subjektiven Befindlichkeiten einzelner und von Gruppen sinnvoll in der Weise, dass diese als Potential eines umfassenden Begreifens dessen, was vor sich geht, zum Zuge kommen können. ….Sinnliche Wahrnehmung und Gefühle sind weit sicherere Sensoren für den Zustand des umgebenden, meist sehr komplexen Feldes, als es das bloße logische Kalkül je sein kann. Die Gefühle der Menschen sagen etwas aus über das, was in dieser Welt vor sich geht.“ (Kathleen Höll, Bemerkungen zum demokratischen Potential der Gestalttherapie, in: Neue Entwicklungen der integrativen Gestalttherapie, hrsg. von R. Hutterer-Kriesch, I. Luif, G. Baumgartner, 1999, S. 275) Es ist doch so, dass der Gestaltbildungsprozess als solcher bereits eine Reduktion von Komplexität darstellt, denn er erreicht nur dann jenen Grad von leuchtender Prägnanz und Energie,

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den Perls und Goodman für das Signum psychischer Gesundheit hielten, wenn er die Hintergrundsdaten durch Weglassen und Prioritätensetzung übersichtlich und plausibel organisiert. Das ist ohne den Rekurs auf die verschütteten Gefühle nicht möglich. Und auch nicht ohne die Überwindung der so häufig anzutreffende Schwierigkeit, Nein zu sagen: NEIN zu unseren Selbstüberforderungen, NEIN zu den subtilen Ausbeutungen durch unsere Nächsten, wie auch NEIN zu den zahllosen unnötigen Zumutungen von Seiten staatlicher Agenturen, und NEIN zu den überflüssigen Konsumangeboten – denn es ist wahr: small is beautiful und weniger ist oft mehr – wenn wir denn nur genau hinschauen. Und schließlich: gegen die Angst vor dem Unvorhersehbaren helfen Neugier und Zorn. In einem wunderbaren Aufsatz über „Curiosity“ hat Vincent Miller, der Leiter des Bostoner Gestaltinstituts, gemeint, dass in der Gestalttherapie die Neugier den Stellenwert einnimmt, den in der Psychoanalyse der Begriff der Libido hat. Leider ist das deutsche Wort für Curiosity in seiner Verbindung mit dem Wort Gier schon semantisch negativ besetzt, so als sei das Verbot gleich mit in den Begriff eingeflossen. Ein alter Witz über die Schweizer, der wohl ebenso gut in Tirol spielen könnte, erzählt von einem Bauern im Berner Oberland, der mit seinem kleinen Sohn spazieren geht, und auf dessen Frage „Vater, gibt es jenseits der Berge auch Menschen?, nach langem Nachdenken antwortet „Junge, stell nicht so metaphysische Fragen! In der Gestalttherapie ist das Fragen eine Ich-Funktion, die oft erst wiederbelebt werden muss. Dabei gehört das Fragen von Anbeginn unseres Lebens konstitutionell zu uns Menschen: Was ist hinter den Bergen? Was ist hinter demVorhang? Gibt es außer uns noch andere? Und wer sind sie und wie sind sie? Woher kommen sie? Woher kommen wir? Neugier ist unsere ursprünglichste Triebkraft , unsere Libido. Wer sich seine Neugier bewahrt, kann nicht depressiv sein; wer interessiert ist, bleibt lebendig. Das gilt auch für die Neugier auf die Kuriositäten, die uns die krisenhaften Entwicklungsprozesse noch bescheren werden. Das andere Hilfsmittel gegen die Angst vor den unvorhersehbaren Auswirkungen katastrophischer Entwicklungsprozesse ist der kreative Zorn. Ich habe festgestellt, zunächst am eigenen Leibe als ich vor zwanzig Jahren mich zum ersten Mal mit diesen Entwicklungen befasst habe, dass eine intensive, aber rein rezeptive Beschäftigung mit ihnen krank macht. - Ich habe dann aber auch festgestellt, dass diejenigen, die sich aktiv an der Bekämpfung und kreativen Kursänderung dieser Entwicklungsprozesse beteiligen, durchweg weniger depressiv, ja glücklicher sind, obwohl gerade sie sich der katastrophischen Natur dieser Prozesse mehr als alle anderen bewusst sind. Der Schlüssel dafür ist, dass es ihnen durch ihre Tätigkeit gelingt, ihre ungerichtete und daher dumpf-ohnmächtige Wut in einen kreativen Zorn zu

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verwandeln, der die Energien wieder frei setzt und dem Leben einen neuen Sinn verleiht. Sich zu engagieren macht gesund! Die Gestalttherapie hat einen sehr positiven Begriff von Aggression. Die immer wieder gemachten Versuche, diesem Aggressionsbegriff den Zahn zu ziehen, ihm seinen Biss zu nehmen, indem man z. B. negative von positiven Aggressionen säuberlich unterscheiden will, wie es zuletzt Hilarion Petzold mit seinem Versuch getan hat, den englischen Begriff assertion als Assertion ins Deutsche einzuführen, diese Versuche vergessen vor allem eine wichtige Erkenntnis der gestalttherapeutischen Aggressionstheorie: dass nämlich die Unterdrückung aggressiver Impulse eine wesentliche Quelle von Gewalt ist. Der Mann, der seine Frau schlägt, ist in aller Regel ein emotionaler Analphabet und seiner Frau semantisch hoffnungslos unterlegen. Die Therapie der Aggressionshemmungen beginnt mit der Arbeit an der Unfähigkeit, Nein zu sagen. Oft ist sie damit sogar schon getan. Es bedarf keines Ausagierens von Wutausbrüchen in der Therapie - auch wenn dies manchmal den Patienten zu dem Aha-Erlebnis verhilft, wie viel ungeahnte Energie sie haben. Goodman sieht in der Aggression drei Ich-Funktionen am Werk, die konstitutionell zu jedem Kontaktprozess gehören: das Anpacken der Aufgabe (initiative), die Destrukturierung der vorgefundenen Gestalt, (destruction), und die Beseitigung der störenden oder hemmenden Faktoren im Feld (annihilation). Und natürlich können sich die aggressiven Ich-Funktionen sowohl senso-motorisch oder als auch intellektuell manifestieren. Dieses Konzept gibt der Gestalttherapie ein einzigartiges Instrument zur punktgenauen Bearbeitung von Aggressionsstörungen an die Hand, wobei das Hauptaugenmerk auch hier natürlich wieder auf der Steigerung des Gewahrseins für sich selbst und für das Gegenüber liegen muss. Wenn diese Arbeit gelingt, wird es weder zu Gewaltausbrüchen noch zu depressiven Prozessen kommen. Nur eines fehlt mir in diesem Konzept: es gibt auch das Scheitern aller Bemühungen, selbst wenn alle psychischen und intellektuellen Kräfte mobilisiert worden sind. Die Gestalttherapie hat von vornherein einen blinden Fleck gehabt, indem sie das Wesen des Lebendigen allein im Wachstum gesehen und dessen andere Seite, das Verwelken, Vergehen, Schrumpfen und Sterben ausgeblendet hat. Aber beide Seiten gehören zusammen, sie definieren gemeinsam, was Leben ist. Und das gilt genauso wie für jeden individuellen Lebenslauf im Ganzen auch für jeden Kontaktprozess im Einzelnen. Selbst wenn wir alle unsere Potentiale verwirklichen können, gelingt uns nicht alles im Leben, und so kann auch jeder Kontaktprozess im Kleinen auch bei Einsatz aller Kräfte scheitern. In der Therapie müssen die daraus entstehenden Frustrationen als das bearbeitet werden, was sie sind: Symptome einer narzisstischen Grandiosität, die nicht loslassen kann, die sich nicht bescheiden will, die keine Demut kennt, die unfähig ist zur Hingabe.

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Ich sehe nicht, dass eine solche Perspektive unserer Grundhaltung etwas nimmt, auf das Leben. die Lebendigkeit und das Gewahrsein zu setzen. Im Gegenteil kommen diese Werte erst so zu ihrer vollen Gestalt. (( Auf der letzten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gestalttherapie haben sich zwei ihrer bekanntesten Vertreter dergestalt geäußert: Bertram Müller sagte: „Die Gestalttherapie ist die Therapie des 21igsten Jahrhunderts!“ und Willi Butollo sagte „Die Gestalttherapie ist die beste aller Therapien – fragt sich nur für wem.“ Ich fürchte, dass viele von uns Bertram Müllers Formulierung doch für etwas vollmundig halten und mit Willi Butollos schlitzohrig formulierten Eingeständnis seiner Unsicherheit gegenüber der Gestalttherapie heimlich sympathisieren. Ich bin der Meinung, dass diese Unsicherheit ihre Gründe hat, aber unbegründet ist. Es wäre außerordentlich wichtig, diesen Gründen genauer nachzugehen. Die Tatsache, dass viele gestalttherapeutische Perspektiven und Techniken inzwischen von anderen Therapieschulen übernommen und praktiziert werden, sollten wir als Erfolg buchen auch dann, wenn uns dafür selten Kredit gegeben wird.)) Die Gestalttherapie ist tatsächlich in besonderer, vielleicht sogar einzigartiger Weise dazu geeignet, einen zentralen Beitrag zur psychotherapeutischen Bewältigung des Lebens in einer katastrophischen Kultur zu leisten, und an der humanen Ausgestaltung der bedrohlichen Entwicklungsprozesse mit zu arbeiten, und zwar:

weil sie am Werden und Vergehen des Lebendigen ihren Maßstab hat,

weil sie auf das Menschliche Grundpotential der schöpferischen Anpassung setzt, und

weil sie auf die tiefste menschliche Fähigkeit, nämlich das Bewusstsein in

Gestalt des achtsamen Gewahrseins als die letztlich heilende Kraft vertraut.

Vertrauen wir also auf das Leben und unsere Neugier - vor allem aber auf unsere spirituelle Intelligenz! Ich finde, dass dabei ein Satz hilft, der von Karl Renz stammt, der unter unseren heutigen spirituellen Lehrern gewiss den tiefsinnigsten Witz besitzt:

. Wenn Du stirbst, nimm es nicht persönlich.

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Literaturhinweise: Anders Günter; Die Antiquiertheit des Menschen, über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution Bostrom Nick; Cirkovic M.; Editors; Global Catastrophic Risks, 2008 De Solla Price Derek; Science Since Babylon. 1962. Dorn Thea; Spiegel-Essey, Spiegel 2, 2009 S 126 Dreitzel Hans Peter; Ungewollte Selbstzerstörung, 1990 Reflexionen über den Umgang mit katastrophalen Entwicklungen. Einleitung (vom Autor) S. 9/10) Sozialer Wandel; Zivilisation und Fortschritt als Kategorien der Soziologie, 2. Auflage 1988; Soziologie der Angst, in: Angst als Störung und Ressource, Hrsg. von R. Mertens und. W. Staemmler, 2003. Angedruckt auch in Gestalttherapie; Zeitschrift der DVG, November 2002; Reflexive Sinnlichkeit 1, Emotionales Gewahrsein, Die Mensch-Umwelt-Beziehung aus gestalttherapeutischer Sicht; 3.Auflage 2007; Gestalt und Prozess, Eine psychotherapeutische Diagnostik oder: der gesunde Mensch hat wenig Charakter, 2004 Höll Kathleen, Bemerkungen zum demokratischen Potential der Gestalttherapie, in: Hrsg. R. Hutterer-Krisch, I. Luif, G. Baumgartner, Neuentwicklung der Integrativen Gestalttherapie, 1999, S. 253 ff. Jaspers Karl; Die Atombombe und die Zukunft des Menschen,1957 Koch Claus, Ende der Natürlichkeit - Streitschrift zur Biotechnik und Biomoral, 1994 McKibben Bill; The End of Nature (1990) Miller Vincent; "Curiosity and its vicissitudes." The Gestalt Journal, 10(1), pp.18-32. Perls F., Hefferline, R., Goodman P., Gestalttherapie, Grundlagen der Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung, 2006) Perrow Charles; Normale Katastrophen, Über die unvermeidbaren Risiken der

Großtechnik, 1988 Plessner Helmuth; Grenzen der Gemeinschaft, 1924, TB 2002, Renz Karl; "Advaita-Karten : 48 x von Selbst zu Selbst" Stern Daniel; Der Gegenwartsmoment: Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag, 2005 Trilling Lionel; Sincerity and Authenticity, London 1972. www.dreitzel-gestalttherapie.org eMail: [email protected]