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filmedition suhrkamp 12 Die Zeit ist aus den Fugen 1. Auflage 2009. Sonstiges. ISBN 978 3 518 13512 9 Gewicht: 142 g schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

Die Zeit ist aus den Fugen - · PDF fileler Ulrich Mühe und Heiner Müller selbst auf, der jedoch ausge-pfiffen wurde, da er vor der kommenden Arbeitslosigkeit warnte

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filmedition suhrkamp 12

Die Zeit ist aus den Fugen

1. Auflage 2009. Sonstiges.ISBN 978 3 518 13512 9

Gewicht: 142 g

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

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Leseprobe

Rüter, Christoph

Die Zeit ist aus den Fugen

DVD mit Materialien und Interviews. 100 Minuten (+ Extras). Farbe

© Suhrkamp Verlag

filmedition suhrkamp 12

978-3-518-13512-9

Suhrkamp Verlag

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Suhrkamp

Christoph RüterDie Zeit ist aus den Fugen

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Inhalt

»Was man auf der Bühne gesagt hat, kann man nicht mehr zurücknehmen«Christoph Rüter erinnert sich an die Dreharbeiten zu Die Zeit ist aus den Fugen 5

Alexander Kluge / Heiner MüllerDas Garather Gespräch 14

Heiner MüllerKrieg ohne Schlacht Leben in zwei DiktaturenEine Autobiographie(Auszug) 30

Heiner MüllerDiE HAmLEtmAScHinE 39

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»Was man auf der Bühne gesagt hat, kann man nicht mehr zurücknehmen«Christoph Rüter erinnert sich an die Dreharbeiten zu Die Zeit ist aus den Fugen

Die Zeit der Kunst ist eine andere Zeit als die der Politik. Das berührt sich nur manchmal, und wenn man Glück hat, entstehen Funken.

Heiner Müller

1988 arbeitete ich als Dramaturg an der Freien Volksbühne in Westberlin bei der Produktion The Forest (Regie: Robert Wilson) zum ersten Mal mit Heiner Müller zusammen. Müller wurde im-mer sehnlichst von Wilson erwartet, da er die Wilson-Maschine mit Fremd- und eigenen Texten speiste. Aber Müller kam und ging, wie es ihm paßte, und verschwand dann wieder hinter »sei-ner« Mauer, wo er kaum zu greifen war. An den »Müller-freien« Tagen passierte bei Wilson dann nicht sehr viel.

1988 gastierte außerdem zum ersten Mal eine DDR-Theater-produktion beim Theatertreffen an der Freien Volksbühne, Hei-ner Müllers Die Lohndrücker, die er auch selbst inszeniert hatte. In dieser Zeit begann Müller mit den Vorbereitungen für seine nächste Inszenierung am Deutschen Theater: Shakespeares Ham-let, gekoppelt mit Müllers Text Die Hamletmaschine unter dem Titel Hamlet/Maschine. Erich Wonder, sein damaliger Bühnen-bildner, baute im oberen Foyer der Volksbühne das Modell für Hamlet auf, und ich war sofort fasziniert von dem Entwurf: Die Bühne war praktisch leer, und der gewaltige Rundhorizont des Deutschen Theaters wurde dominiert von einem Prospekt, der in Umrissen eine hünenhafte menschliche Figur als Torso zeigte, so als wäre jemand direkt durchs Papier gegangen. Das war stark.

Ein Jahr später verließ ich die Freie Volksbühne, und weil ich in einem regen Austausch mit Müllers persönlicher Mitarbeiterin

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Renate Ziemer stand, wußte ich natürlich, daß er am 29. August 1989, also noch vor dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR, mit den Proben zu Hamlet/Maschine mit Ulrich Mühe in der Haupt-rolle begonnen hatte. Die Premiere fand dann sieben Monate spä-ter statt, am 24. März 1990. In dieser Zeit verschwand die DDR.

Angetrieben durch den Exodus Tausender DDR-Bürger, die über die Tschechoslowakei und Ungarn in den Westen gingen, brach in der DDR die »erste deutsche friedliche Revolution von unten« (Heiner Müller) aus, die den Wiedervereinigungsprozeß in Gang setzte und schließlich zu den ersten demokratischen Volks-kammerwahlen am 18. März 1990 führte.

Im Oktober 1989 rumorte es schon gewaltig in der DDR; in Leipzig gingen jeden Montag immer mehr Demonstranten auf die Straße, in Ostberlin ließ Stasi-Chef Erich Mielke am 7. Okto-ber, dem Gründungstag der DDR, seine Truppen von der Leine, die erbarmungslos zuschlugen und viele Demonstranten verhaf-teten.

Durch Renate Ziemer wußte ich, daß auch am Deutschen Theater einiges in Bewegung war, und so bekam ich im Oktober eine Einladung (damals noch per Telegramm, das mich u. a. vom Zwangsumtausch befreite) zu den Hamlet/Maschine-Proben.

Was ich dort als erstes sah, war eine Probe der Wahnsinnsszene von Ophelia. Ich hatte die Bilder von den Unruhen draußen im Kopf und begriff schnell, daß hier etwas Einmaliges passierte. Der Text von Shakespeare, in der Übersetzung von Müller, bekam eine ungeheure Brisanz und war aktuell wie selten. Was hier stattfand, war »der Einbruch der Zeit in das Spiel« (Carl Schmitt), und in-stinktiv sagte ich mir: Kamera her!

Ich hatte bis dato noch keinen Film gedreht, aber schon bei vie-len mitgemacht. So war das Terrain für mich nicht völlig fremd. Aber wer würde mir als Unbekanntem die nötigen Mittel geben, und wie sollten wir jeden Tag mit unserem ganzen Equipment in die DDR kommen? Die Mauer stand ja noch.

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Rasch schrieb ich ein Exposé und versuchte, über Bekannte an Fernsehgelder zu kommen. So einfach ging es dann aber doch nicht. Der ganze Westen starrte mit allem, was er hatte, auf die DDR, und Heiner Müller war nur einer von vielen. Auch stellte ich schon damals fest, daß die Fernsehgewaltigen sich nicht son-derlich für seine Arbeit interessierten, da er ihnen doch zu DDR-treu war. Kurz: Ich hatte kein Geld, stand mit leeren Händen da, und die Zeit lief mir davon. In meiner Not lieh ich mir von den Theaterwissenschaftlern der FU – ich hatte da früher studiert und wußte, daß die eine ganz passable Kamera hatten – die Ausrü-stung, schnappte mir einen Ex-Kommilitonen, und endlich fingen wir an, bei den Proben zu drehen.

Müller hatte nichts gegen eine Kamera, aber ich mußte die Ein-willigung jedes einzelnen Schauspielers einholen, und so kostete es mich einige Überredung, zu den Proben zugelassen zu wer-den. Mittlerweile war schließlich die Mauer gefallen, und bei den Schauspielern hatte sich eine Menge Frust aufgestaut, da der schö-ne Traum vom Dritten Weg nun abgelöst wurde von dem Run auf die Deutsche Mark.

Die Schauspieler des Deutschen Theaters waren Mitveranstal-ter der größten Demonstration gewesen, die in der DDR jemals stattgefunden hatte, der Kundgebung am 4. November auf dem Alexanderplatz. Als Redner traten dort auch der Hamlet-Darstel-ler Ulrich Mühe und Heiner Müller selbst auf, der jedoch ausge-pfiffen wurde, da er vor der kommenden Arbeitslosigkeit warnte. So etwas wollte an diesem Tag der Illusionen keiner hören.

Als dann fünf Tage später überraschend tatsächlich die Mauer fiel, trennten sich die Wege der Theaterleute und der übrigen De-monstranten: Die Künstler, die in der DDR »privilegiert-kritisch« agiert hatten, glaubten nach wie vor an eine gesellschaftliche Al-ternative zur BRD, während viele andere sich immer heftiger den schnellstmöglichen Beitritt der DDR zur BRD wünschten. Das DDR-Theater, das vor der Folie der Diktatur ein weitgehend un-

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zensiertes Medium war (»Das, was man auf der Bühne gesagt hat, kann man nicht mehr zurücknehmen«, sagt Heiner Müller dazu im Film), erfuhr von einem Tag auf den anderen einen Funktions-wandel, in ihrer kritischen Funktion wurden die Künstler nun nicht länger »gebraucht«. Das Stück selbst erhielt im Spiegel der Ereignisse jedoch plötzlich eine ungeahnte Schärfe und Aktualität, in der sich das ganze Dilemma der DDR-Gesellschaft zwischen Ohnmacht, Anpassung und Widerstand problematisierte, so daß die Begriffe »Sein« und »Schein« jeweils in ihr Gegenteil verkehrt wurden: Auf der einen Seite die Wirklichkeit eines zusammen-brechenden Staates, der quasi jeden Tag auf einem anderen histo-rischen Boden steht und mit einer Geschwindigkeit alle Phasen einer klassischen Revolution durchläuft, die an ein Laborexperi-ment im Zeitraffer erinnert; auf der anderen Seite ein Theater, das versucht, die Geschichte von Hamlet zu erzählen, der zugrunde geht an der Differenz zwischen Erkennen und Handeln. Hamlet als Versager, als die Inkarnation des von Selbstkritik zerfressenen Intellektuellen, der keinen Partner hat und der sich aufreibt in sei-nen Monologen.

Ich hatte mittlerweile eine engagierte Truppe von jungen Fern-sehmachern kennengelernt, die mich mit besserem Equipment und einem professionellen Kameramann versorgten. Die Hamlet/Maschine-Proben gingen weiter, auch weil die Schauspieler, elek-trisiert durch den Fall der Mauer, nun wieder wußten, wen oder was es zu bekämpfen galt. Vor dem Mauerfall war die Nähe zwi-schen den Künstlern und dem Volk so groß, daß, wie Ulrich Mühe es formulierte, es manchmal keine Probenergebnisse gab, da Thea-terspielen plötzlich sinnlos erschien, wenn draußen demonstriert wird und Egon Krenz von der »chinesischen Lösung« faselt. War die Hamlet/Maschine-Inszenierung ursprünglich als Angriff auf die verkrustete Obrigkeit der DDR gedacht, wurde sie nun zu ei-nem Spiegel, der dem Volk vorgehalten werden sollte. Überhaupt war es eindringlich zu sehen, daß dieses Stück immer und über-

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all auf jede Situation paßt, wie Heiner Müller damals sagte: »Das kann einen traurig stimmen oder auch das Gegenteil, es beweist eben, wie wenig sich geändert hat in der Geschichte und wie sehr hinter jeder Politik immer noch ein Abgrund gähnt, den Politik nur verschleiern kann oder nur verschleiert hat bisher – die Un-lösbarkeit von Problemen ist ein Thema von Shakespeare.«

Ich drehte bis zur Premiere am 24. März 1990 immer weiter und hielt am Schluß 60 Stunden Rohmaterial in den Händen.

Allmählich setzte sich der Film zusammen. Mir wurde klar, daß ich keinen Film machen wollte, der eines Kommentars bedürf-te. Ich war Westberliner und hatte erst mal nichts zu tun mit den Umwälzungen in der DDR. Auf eine gewisse Art war ich also auch Tourist. Man guckte über die Mauer und fragte sich: Was machen die denn da in ihrem Zoo? Da blieb eine Differenz, und es war klar, daß ich als gelernter Westler keinen besserwisserischen Kom-mentar über die Bilder legen sollte. Die Bilder, die ich hatte, waren stark, die Ereignisse waren es sowieso, und so hielt ich ein wenig Distanz, was dem Film sehr gut tat.

Die Zeit ist aus den Fugen (so der Titel, der früh feststand) ver-knüpft auf essayistische Art und Weise die Dokumentation der politischen Ereignisse, Fiktion und Ausschnitte von den Pro-ben (schwarz/weiß) und aus der Inszenierung (farbig). Die Pole »Kunst« und »Politik« konstituieren das Spannungsfeld und be-dingen auch formal die Erzählstruktur des Films: Bilder der gesell-schaftspolitischen Entwicklung im ehemaligen Ostblock stoßen schroff oder sublim auf den Text und die Bilder von Hamlet/Ma-schine. Durch die assoziativ-subjektive Montage wird die Ebene der historischen Wirklichkeit zum Kommentar, zum Zerrspiegel, zur Provokation, zur Antithese der theatralen Fiktion – und um-gekehrt. Die Gespräche mit den Schauspielern reflektieren in ers-ter Linie deren gesellschaftliche Rolle und Arbeitssituation.

Wenn Ulrich Mühe zum Beispiel am Tag der Volkskammerwah-

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len am 18. März 1990 ein von mir initiiertes Gespräch mit Hans Modrow über das Hamlet-Thema »Erkennen – (Nicht)Handeln – Scheitern« führt, so entsteht auch ein Bild des politisch engagier-ten Schauspielers. Margarita Broich (Ophelia) war als Gast am Deutschen Theater engagiert und fuhr sieben Monate lang täglich mit der S-Bahn von West- nach Ostberlin. Folglich zeigt der Film sie in diesem »grenzüberschreitenden« Verkehrsmittel, aus dem heraus sie hauptsächlich die Veränderung des deutsch-deutschen Alltags miterlebte. Der Darsteller des Horatio, Jörg Michael Koerbl, übernimmt in Die Zeit ist aus den Fugen die Funktion eines Kommentators, der einen imaginären, improvisierten und poetischen Diskurs über Kunst, Politik und den Untergang der DDR führt und am Ende als einziger »Überlebender« von Ham-let/Maschine das Theater verläßt.

Die Zeit ist aus den Fugen wurde auf allen relevanten Festivals der Welt gezeigt, der Westdeutsche Rundfunk erwarb für eine Dauer von fünf Jahren die Rechte. Die Kritiker nahmen den Film sehr positiv auf. Im August 1991 schrieb Die Zeit:

»Und wie ein Fels in der Brandung: Heiner Müller, der seine Zi-garre pafft und die Lage immer analytisch-dialektisch im Griff hat … . Spannend wird die Dokumentation … durch die harte Montage von Theaterbildern und historische Tableaus, wie sie auch das beste Theater nicht hinkriegt.«

Auf der Gedenkfeier für Ulrich Mühe, der am 22. Juli 2007 ver-starb, wurden in der Schaubühne am Lehniner Platz auf seinen Wunsch hin zwei der Filme gezeigt, in denen er als Schauspieler mitgewirkt hatte: Michael Hanekes Funny Games und Die Zeit ist aus den Fugen.

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Der Filmemacher Christoph Rüter, geboren 1957, drehte nach Die Zeit ist aus den Fugen (1990) unter anderem Dokumentarfilme über Klaus Michael Grüber (L’Homme de Passage, 1999), Klaus Kinski (Ich bin kein Schauspieler, 2000), An-gela Winkler (Einfach und stolz, 2004), Ulrich Mühe (Jetzt bin ich allein, 2008) und Heiner Müller (Ich will nicht wissen, wer ich bin, 2009).

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Alexander Kluge/Heiner Müller Das Garather Gespräch

Alexander Kluge: Was hast du mit deiner Hand gemacht?Heiner müller: Ich habe mit dem mir angeborenen techni-

schen Geschick versucht, ein Feuerzeug zu füllen.Kluge: Verbrannt?müller: Ja, als ich es angezündet habe, war so viel Benzin über-

gelaufen, daß meine Hand in Flammen stand. Das sah sehr gut aus.

Kluge: Und was bedeutet diese elegante Vorkehrung an deiner Hand?

müller: Dieser Verband? Das ist die Arbeit eines Chirurgen mit japanischem Namen. Offenbar ist das eine fernöstliche Me-thode. Gestern hatte ich noch einen Gesamtverband, der die ganze Hand eingewickelt hat. Es ist natürlich besser, die Finger einzeln zu bearbeiten. Aber sonst ist es kein Problem.

Kluge: Du schreibst aber nicht mit der Hand?müller: Doch. Aber ich kann eigentlich mit beiden Händen

schreiben.Kluge: Sag mal, wieviel Interviews hast du seit Oktober/No-

vember letzten Jahres gegeben?müller: Es ist entsetzlich. Ich weiß es nicht, ich habe nicht mit-

gezählt, aber es war ganz schwer, das zu vermeiden, wenn man im Theater jeden Tag erreichbar ist. Das hat mir aber sehr geholfen, diese Inszenierung genau zu der Zeit machen zu müssen.

Kluge: Wie lang ist das Stück jetzt?müller: Es ist jetzt siebeneinhalb Stunden mit drei Pausen. Mit

einer langen Pause und zwei kurzen Pausen.Kluge: Und was hast du alles hineingebracht?müller: Der »Hamlet« ist ohnehin das längste Stück der Welt-

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literatur, betrachtet man allein die Textmenge. Und ich hab’ fast nichts gestrichen. Weil in dem Stück jetzt fast alles wichtig ist. Das war auch 1988 die Überlegung nach LOHNDRÜCKER. Es muß noch etwas getan werden, um das Ensemble zusammenzu-halten, weil diese sogenannte Wende sich natürlich schon lange vorbereitet und angekündigt hat. Und schon 1988 war klar, daß diese Ensembles auseinanderfliegen würden, wenn man nichts un-ternimmt. Da fiel mir eigentlich nur »Hamlet« ein, weil ich das Gefühl hatte, daß dies das aktuellste Stück zu der Zeit in der DDR wäre. Ich hätte überhaupt keinen Grund gesehen und keine Idee gehabt, warum und wie man Hamlet hier in der Bundesrepublik inszenieren sollte. Das wäre mir sinnlos erschienen.

Kluge: Meinst du solche Dinge, wie daß gerade Hamlet von Wittenberg kommt? Er kommt ja direkt von den Pfarrern.

müller: Nein, es ist viel sinnloser. Das ist ein Stück über einen jungen Mann, der Mitglied der herrschenden Schicht ist und der durch Wittenberg auch ein Intellektueller geworden ist. Es geht um einen Riß zwischen zwei Epochen. Und in diesem Riß geht er unter. Interessant ist daran, daß das Alte ihm zwar dubios ist, an-dererseits aber auch etwas Zwingendes hat, das liegt in der Natur der Vaterfigur. Aber das Neue schmeckt ihm auch nicht. Deswe-gen geschieht dieses blinde Massaker am Schluß, also die Flucht in eine blinde Praxis.

Die Schauspieler hatten während der Proben jeden Morgen alle Zeitungen gelesen und alle Nachrichten gehört. Es war oft sehr schwer, noch konzentriert zu arbeiten.

Kluge: Sind die Schauspieler auch politisch aufgetreten?müller: Ja, die Demonstration am 4. November in Berlin ging

eigentlich auf einen Vorschlag der Schauspieler des Deutschen Theaters zurück. Die Schauspieler hatten 1988 unmittelbar nach LOHNDRÜCKER schon eine wichtige Erfahrung gemacht. Im Deutschen Theater hatte es einen Auftritt von Schabowski gege-ben, der damit endete, daß Schabowski nur noch brüllen konn-

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te, weil ihm sonst nichts mehr einfiel. Es war schon klar, was da kommt. Das war eigentlich kaum noch aufzuhalten.

Kluge: Wie würdest du Schabowski beschreiben? Hast du den Bezirkssekretär von Berlin aus der Nähe gesehen?

müller: Schabowski ist so ein spätrömischer Typ, ein Provinz- Caracalla, aber interessant, sehr wendig. Persönlich habe ich ihn am 4. November gesehen, wo wir beide unter vielen anderen auf-traten. Er war lange vor mir dran und hielt eine Rede. Es gab riesi-ge Proteste gegen ihn, also Buh-Chöre – gegen mich später auch, aber aus anderen Gründen – und Pfeifkonzerte. Er hat das aber eigentlich mit einer sehr guten Haltung durchgestanden. Ich er-innere mich, daß wir uns vorher in einem Café trafen, gleich am Alexanderplatz. Er begrüßte mich. Wir hatten uns persönlich nie kennengelernt, aber er legte Wert darauf, mich am 4. November kennenzulernen. Und er sah sich noch am 4. November als den kommenden Mann.

Kluge: Was meinst du damit, wenn du Caracalla sagst? Wie sieht der Schabowski physisch aus, breit oder schmal?

müller: Es gibt einen Typus, den ich spätrömisch nennen wür-de. Er hat eine etwas weiche Unterpartie, so ein bißchen blasiert und auch ein bißchen magenkrank. Die Augen sind auch ein wenig apoplektisch. Da ist so eine Mischung aus Brutalität und Weich-heit und vielleicht sogar Sentimentalität.

Kluge: Sensibilität vielleicht auch?müller: Sensibilität ist da auch, ja. Es ist durchaus kein Beton-

gesicht.Kluge: Wie ist ein solcher Mann in diese Position geraten?müller: Er war einer der wenigen Intellektuellen im Politbüro.

Er war vorher Chefredakteur im Neuen Deutschland gewesen, und das bedingte häufige Auslandsreisen auch in den Westen. Er war oft in Frankreich. Sein Weltbild war nicht so eng wie das der anderen. Die anderen sind alle von der Mentalität und von der Ausbildung her Handwerker.

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Kluge: Wenn du die mögliche politische Linie skizzieren soll-test, für diese wenigen Wochen, in denen Schabowski die Presse-konferenzen geleitet hat. Angenommen, er wäre der neue Mann. Was wäre seine Linie gewesen?

müller: Ich glaube, seine Linie wäre die von Gorbatschow ge-wesen.

Aber zurück zum Theater. Jeden Tag um zehn fing die Probe an und ging bis zwei, und ab und zu gab’s noch Abendproben, das mußt du ja in Rechnung ziehen.

Kluge: Da sitzt du also im dunklen Theaterraum. Wann kamst du mal raus?

müller: Es war interessant. In der ganzen Probenzeit hörte man Polizeisirenen ab und zu und Hubschrauber. Alle diese Ge-räusche haben auch sehr inspiriert. Sie haben sozusagen den Ton-teppich der Aufführung gelegt.

Kluge: Und jetzt berichten dir deine Mitarbeiter, die Schau-spieler, was sie im Radio gehört haben, was die neuesten Nach-richten sind. Wurde das dann gleich diskutiert?

müller: Ja. Dadurch fing die Probe fast immer verspätet an.Kluge: Waren da Forderungen, das Gehörte künstlerisch in die

Inszenierung umzusetzen? Oder haben die anschließend diszipli-niert gearbeitet?

müller: Keins von beidem. Sie haben oft Witze mit dem Text gemacht. Verdrehungen, die mit der Isolation zu tun hatten.

Kluge: Wie geht das? Etwa, ist was faul im Staate Dänemark?müller: Nein, das nicht. Aber z. B., wenn da ein Gentleman

auftritt, nicht namentlich benannt bei Shakespeare, und dem Clau-dius die Nachricht vom Volksaufstand bringt. Und sagt dann, die Menge schreit: Wir wählen. Das war ein ungeheurer Gag, diese zwei Worte: Wir wählen.

Kluge: Haben sie das jetzt betont und rausgearbeitet, oder was hatte man da für einen Regie-Einfall?

müller: Das wird dann ein obszöner Text. Wir wählen. Und

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das macht der Schauspieler natürlich von sich aus. Das war ein politisch sehr interessierter Schauspieler, der nach wie vor auch noch in der PDS ist und da auch bleiben will. Und diese Möglich-keiten hat er dann auch ausgespielt, wenn er z. B. zitiert, daß das Volk schreit, Laertes soll König sein. Laertes König. Und dann überlegt er, ob es nicht besser ist, sich rechtzeitig von Claudius abzusetzen. Geht einmal ab, kommt wieder und guckt und geht wieder. Man versteht sofort, was er meint, daß er vorsichtshalber die Partei wechselt.

Kluge: Kannst du mir noch mal »Hamlet« in Erinnerung ru-fen? Also was ist die Handlung?

müller: Der alte König ist unter etwas dunklen Umständen gestorben. Man weiß nicht so genau, was passiert ist und wie er gestorben ist. Es gibt Gerüchte oder Vermutungen. Sein Bruder heiratet die Witwe, wird damit der neue König, obwohl nach der Verfassung Hamlet der Thronfolger wäre. Hamlet ist aus Witten-berg zum Begräbnis angereist und kommt damit auch rechtzeitig zur Hochzeit. Hamlet erfährt, daß sein Vater als Geist herum-spukt, also offenbar irgendeine Information loswerden will. Dann kommt die Begegnung mit dem Geist des Vaters, und der Vater erzählt ihm, daß er von Claudius vergiftet worden ist. Und jetzt hat er das Problem, daß er in Wittenberg studiert hat und einem Gespenst trauen soll. Das kann ja irgendein teuflisches Machwerk sein. Das ist ebenfalls ein Riß, der nie ganz geklärt ist. Es gibt ein Durcheinander von protestantischen und katholischen Vorstel-lungen in dem Stück. Auch das spielt eine Rolle. Das Interessan-teste ist eigentlich die Unklarheit. Es ist kein perfektes Stück. Es geht sehr durcheinander.

Kluge: Und wie endet das Stück?müller: Das Stück endet damit, daß Claudius zwischen Hamlet

und Laertes ein Duell arrangiert. Laertes hatte an sich den Volks-aufstand gegen ihn in Gang gebracht, den Hamlet aber umgedreht hat. Claudius hat Laertes hinterbracht, daß Hamlet den Polonius

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getötet hat, also den Vater von Laertes, was auch stimmt. Clau-dius sorgt dafür, daß Laertes ein vergiftetes Schwert bekommt, sorgt auch noch dafür, daß vergifteter Wein da ist, ein Pokal mit vergiftetem Wein, damit es auf jeden Fall gelingt, Hamlet umzu-bringen. Aber im Duell tauschen die beiden dann ihre Schwerter oder Degen, so daß sie beide sterben, also Laertes und Hamlet. Und Hamlet kann dann im letzten Moment noch rund um sich alles töten, was er haßt. Wir haben das so gemacht, daß er fast alle auf der Bühne in einem blinden Massaker umbringt. Aber das ist kein Kalkül. Es gab schon vorher immer dieses Hin und Her um Rache oder nicht Rache. Und das erste Mal, wo er etwas tut, ist es eigentlich was Blindes und was Unkalkuliertes. Es ist kein Plan mehr, es ist nur noch blinde Praxis.

Kluge: Und hast du da auch eigene Texte in kräftigem Maßstab hineingearbeitet?

müller: Ja, Texte aus HAMLETMASCHINE. Das ergab sich zum Teil auch aus Vorschlägen der Schauspieler. Das hatte mit der Situa-tion zu tun, z. B. der Schauspieler des Hamlet hatte das Bedürfnis ganz am Anfang, nach seinen ersten Texten, wo Claudius ihn an-spricht: »Hängen noch die Wolken über euch? Also warum bist du so depressiv und wende dich dem Leben zu.« Da hatte er den Vorschlag, dazwischen seinen letzten Text zu sagen, und zwar von »Ich sterbe, Horatio« bis »Der Rest ist Schweigen«. Also, er spricht den Schlußtext schon am Anfang. Und dann kamen in bestimmten Szenen immer wieder Einschübe aus der HAMLETMASCHINE.

Kluge: Warum heißt das eigentlich HAMLETMASCHINE?müller: Das war ganz simpel. Ich hatte ein paar Shakespeare-

Sachen übersetzt und bearbeitet, und dadurch ist er natürlich im-mer wieder ein Material und Thema gewesen. Gerade in Zeiten von nachlassender Inspiration ist es eine Bluttransfusion, sich mit Shakespeare zu beschäftigen. Ich hatte diese Bände hier ge-plant, die »Shakespeare-Factory«, und da sollte im ersten Band die HAMLETMASCHINE enthalten sein.

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Kluge: Ach, sozusagen die Vorstellung einer Fabrik, in der die Dichtungen sich wiederholen …?

müller: Ja, und daraus kam dann automatisch der Titel HAM-LETMASCHINE, also als Teil dieser Factory, also Fabrik.

Kluge: Ist das so gemeint, daß diese HAMLETMASCHINE – man könnte auch Ödipus-Maschine sagen –, daß die grundle-genden Dramen eine ewige Schleife bilden?

müller: Na ja, das sind Maschinen, an die man immer neue Ma-schinen anschließen kann, oder wo man immer neue Leute rein-schicken kann. Von Anfang an habe ich, ohne genau zu wissen, warum, gewußt, daß Fortinbras nicht auftreten darf. Zuerst hatte ich keine Besetzung für Fortinbras, das war wirklich eine Verle-genheit. Niemand schien mir dafür geeignet. Aber das ist ja auch die Hauptfrage an jeder »Hamlet«-Inszenierung oder -Interpreta-tion: Wer ist Fortinbras, wofür steht Fortinbras?

Kluge: Das ist doch eine sehr kurze Rolle. Fortinbras kommt zum Schluß mit seinen Truppen an?

müller: Ja, Hamlet trifft ihn, wenn er nach England fährt, und da ist er gerade unterwegs nach Polen. Und am Schluß kommt er abräumen, als Konkursverwalter. Shakespeare ging es ganz schlicht darum, die Leichen von der Bühne zu bringen, also ei-nen Schluß zu haben, damit man das nächste machen kann. Die Bewertung dieser Fortinbras-Figur ist immer ein Problem. Sehr häufig ist er mit einem Kind besetzt worden …, aber er war immer militärisch. Und da wir keine Besetzung hatten, stand das Fortin-bras-Problem natürlich auch im Zusammenhang mit den Ereig-nissen. Am Schluß kam dann der Mann, der den Geist gespielt hat – der Geist ist bis auf ein paar Rüstungsteile im wesentlichen nackt – mit einer goldenen Maske und in einem Maßanzug. Ganz simpel könnte man sagen, vorher war es Stalin, also die Vaterfigur, und am Schluß tritt die Deutsche Bank auf. Und die ruft den to-ten Hamlet ab und hält ihm eine goldene Tafel vors Gesicht. Und dann kommt ein Text, der nicht von mir ist und auch nicht von