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20. Februar 2015 Die Zeitschrift «Widerspruch» übt scharfe Kritik an der EU-Politik Mehr Europa, aber anders Die EU betreibe heute eine desaströse Politik. Darum müssten sich die Gewerk- schaften europapolitisch mehr einmischen, fordert der linke «Widerspruch». RALPH HUG Der deutsche Dichter Heinrich Heine schrieb im 19. Jahrhun- dert: «Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht!» Fast zwei- hundert Jahre später scheint das Zitat unvermindert aktuell. Vor allem, wenn man an die Eu- ropapolitik Berlins und Brüs- sels denkt. Ihre turbokapita- listischen Rezepte treiben die Südstaaten wie Italien, Spanien und Griechenland in die Ar- mut. Wer nicht privatisiert, Steuern senkt, Renten kürzt und die Arbeitnehmerrechte abbaut, kriegt keine Gelder der EU mehr und rutscht noch tie- fer in die Schuldenfalle. Dasselbe passiert interes- santerweise auch jenen Län- dern, die sich brav an die Vorga- ben der «Troika» (bestehend aus EU, eu- ropäischer Zentralbank und internatio- nalem Währungsfonds) halten. So wie Griechenland: Sein Bruttosozialpro- dukt sank trotz EU-Geldern um etwa 30 Prozent. Die Gelder flossen nämlich nicht ins Land, sondern zu den Banken. RADIKALER KURSWECHSEL Der deutsche Kritiker Leo Mayer ist des- halb der Ansicht, in Europa sei ein «stil- ler Staatsstreich» im Gang. So weit ge- hen nicht alle Autorinnen und Autoren in der neuen Ausgabe der Zeitschrift «Widerspruch». Doch sind sie sich ei- nig, dass ein neues, solidarisches und gerechtes Europa nötig sei. Einen radikalen Kurswechsel in der EU verlangt in ihrem Artikel auch Unia-Co-Chefin Vania Alleva (zusam- men mit Unia-Mann Vasco Pedrina). Sie bemängelt, dass die alte Idee eines sozialen Europa komplett verloren ge- gangen sei. Alleva und Pedrina interes- siert vor allem die innenpolitische Situation nach dem Ja zur SVP-Abschot- tungsinitiative. Und sie üben auch Selbstkritik: Die Gewerkschaften hät- ten im Vorfeld die Chancen der Rech- ten unterschätzt, räumen sie ein. Beide plädieren für ein Festhalten an der Per- sonenfreizügigkeit. Gleichzeitig ver- langen sie mehr Schutz für Lohn- und Arbeitsbedingungen. Pedrina und Alleva schwebt ein breites Bündnis zur Rettung der bilateralen Verträge vor. Spannend ist auch der Beitrag des Tessiner Journalisten Beat Allenbach über die Lage im Tessin. Dort seien die Auswirkungen von zwanzig Jahren Lega dei Ticinesi zu besichtigen. Die rechtspopulistische Partei des verstor- benen Giuliano Bignasca prägt mit ihrer vulgären Propaganda die Polit- szene. Stets müssen die Grenzgängerin- nen und Grenzgänger aus Norditalien als Sündenböcke herhalten, obwohl diese für die einheimische Wirtschaft unentbehrlich sind. Tröstlich, dass laut Allenbach heute viele Leute von der Radau-Politik der Lega die Nase voll hätten. DUBLIN IST GESCHEITERT Viel Raum nimmt im Heft die Frage der Migration ein. Mit ihrer Abschottungs- politik sei die EU mitschuldig am Tod von Tausenden von Flüchtlingen im Mittelmeer. Die deutsche Grüne Bar- bara Lochbihler beobachtet die illegale Abschiebepolitik seit langem. Die spa- nische und die italienische Polizei hin- derten Flüchtlinge gewaltsam an der Einreise, schreibt sie. In sogenannten «Push back»-Operationen verfrachte sie diese ohne weitere Prüfung nach Li- byen und Marokko zurück. Für Loch- bihler ist damit das Dublin-System ge- scheitert. Das Prinzip, dass Flüchtlinge nur in jenem Staat einen Antrag stellen können, in dem sie angekommen sind, sei teuer, ineffektiv und ungerecht. Stattdessen regt sie an, neue Wege für eine legale Migration zu öffnen und so Menschenleben zu retten. Widerspruch Nr. 65: Europa, EU, Schweiz – Krise und Perspektiven. 225 Seiten, Fr. 25.– HILFLOS UND SCHWACH: ZAHMER EGB Andreas Rieger, früher Co-Präsi- dent der Unia, hält nicht viel vom Europäischen Gewerk- schaftsbund (EGB). In seinem Beitrag kritisiert er, der EGB unternehme zu wenig gegen die Sparpolitik und den Sozial- abbau der EU-Machthaber. Der Verband sei nicht viel mehr als eine Lobbyorganisation mit einem Sekretariat in Brüssel. Wenn es um Kampagnen gehe, zeige er sich hilflos und durch- setzungsschwach. Rieger: «Der EGB muss sich ändern.» ZUSAMMEN. Das findet auch Frank Bsirske, Chef der deut- schen Dienstleistungsgewerk- schaft Verdi. Von ihm stammt der Slogan «Mehr Europa, aber anders». Er meint, der EGB müsse mit sozialen Bewegun- gen, Kirchen und Parteien zu- sammenspannen. (rh) Die Idee eines sozialen Europa ging komplett verloren. GUTER RAT IST TEUER: Das gilt vor allem für die Ratschläge von Kanzlerin Merkel und der Troika an die Länder Südeuropas. FOTO: KEYSTONE

Die Zeitschrift «Widerspruch» übt scharfe Kritik an der … · Adam LeBor: Der Turm zu Basel. BIZ – die Bank der Banken und ihre dunkle Geschichte, Rotpunktverlag Zürich, 344

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20. Februar 2015 workwissen 11

Mit dem Ausstieg der Nationalbank aus dem Mindestkurs droht der Schweiz eine Rezession. Hauptleidtra-gende sind Exportindustrie und Tou-rismus, die auf einen fairen Franken-kurs angewiesen sind. Dieser läge bei über Fr. 1.30 pro Euro. Zum heutigen Kurs ist der Franken sehr stark über-bewertet. Kommen jetzt noch andere wirtschaftspolitische Fehler dazu, kann auch die Binnenwirtschaft in grössere Schwierigkeiten kommen.

DRUCK AUF LÖHNE. Ein Problem sind die Sparpakete bei Bund und Kanto-nen: Der Staatssektor entzieht der Wirtschaft im laufenden Jahr so rund 5000 Millionen Franken an Kaufkraft. Das zeigen die Budgets für 2015. Diese Summe entspricht ca. 0,7 Pro-zent unseres Bruttoinlandprodukts.Das zweite Problem ist der Druck auf die Löhne. Verschiedene Firmen ver-suchen jetzt, die Löhne zu senken. Dies, obwohl die Personalkosten im Vergleich zu den Materialkosten re-

lativ gering sind und Lohnsenkungen auf der Kostenseite kaum etwas brin-gen. Sollte das Beispiel Schule machen, dann hat der Detailhandel bald einmal weniger Umsatz und der Bau weniger Aufträge, weil die Leute weniger verdienen. Auch Lohnsenkungen für Grenzgänger haben negative Folgen. Können Fir-men nämlich «billigere» Grenzgänger einstellen, werden sie das auf Kosten der inländischen Arbeitskräfte tun. Die Folge: mehr Arbeitslosigkeit und noch weniger Kaufkraft.

KONJUNKTUR STÜTZEN. Der dritte Problembereich ist der Einkaufs-tourismus. Wegen des überbewerte-ten Frankens fl iesst mehr Geld ins grenznahe Ausland. Die Schweizer Detailhändler, aber auch die Restau-rants und die Coiffeure verzeichnen Umsatzeinbussen. Wirtschaftspolitisch ist klar, was zu tun ist. Die Geldpolitik muss wieder für einen angemessenen Frankenkurs

sorgen. Der Franken muss uns nüt-zen, nicht schaden. Bund und Kanto-ne müssen die Konjunktur stützen, statt zu sparen. Wegen der Negativ-zinsen erhalten sie derzeit sogar Geld, wenn sie einen Kredit aufneh-

men. Und die Löhne müssen abge-sichert werden. Denn Lohnsenkungen sind Gift für die Wirtschaft.

Daniel Lampart ist Chefökonom des Schwei-zerischen Gewerkschaftsbunds (SGB).

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2015 2016 2017

Staat totalBIP Budgets Bund Kantone

Öffentliche Hand: Sparbudgets schmälern das BIP *

FRANKEN-KRISE: SPAREN IST JETZT GIFT FÜR DIE WIRTSCHAFT

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Filmstar Pedro Lenz

Mitten ins LandPedro Lenz bleibt dem Kino treu: Nach der Verfi lmung seines Er-folgsstücks «Der Goalie bin ig» un-ternimmt der Schriftsteller und sporadische work-Mitarbeiter eine Reise durch seine persönliche Schweiz. Im neuen Film «Mitten ins Land» von Norbert Wiedmer und Enrique Ros startet er an sei-nem Wohnort Olten eine Reise ins unerforschte Mittelland. Er begeg-net Menschen seiner Umgebung: der Lokomotivführerin Jeanine Kiefer, dem Werkhofmitarbeiter Volkan Inler oder dem Entsor-gungsspezialisten Marcel Hotz in der Sondermülldeponie Kölliken SO. Zusammen mit den Texten des Wortkünstlers zeichnet der Strei-fen ein poetisches Bild unserer All-tagsschweiz, das ans Herz geht.

Mitten ins Land, 90 min, läuft derzeit in verschiedenen Kinos.

Dokumentarfotografi e

Kodak-CityDie Industriestadt Rochester bei New York lebte jahrzehntelang vom Fotokonzern Kodak. Dann kam die Digitalfotografi e, und Ko-dak ging 2012 pleite. Heute ist die Stadt schwer gezeichnet vom Nie-dergang des einstigen Haupt-arbeitgebers. 30 000 Arbeitsplätze verschwanden. Viele Einwohner

sind arbeitslos und müssen sich umorientieren. Die Lausanner Fo-tografi n Catherine Leutenegger zeigt in ihrer Foto-Werkserie «Ko-dak City» die Auswirkungen der fatalen Krise auf die Stadt. Fünf Jahre lang ging sie den Spuren der Deindustrialisierung nach: zerfal-lende Häuser, leere Parkfelder, Geisterhallen. So sieht das trau-rige Ende des Werks von Kodak-Fir-mengründer George Eastman aus, der vor 125 Jahren als Vermarkter des Fotofi lms berühmt wurde.

Kodak City von Catherine Leuten egger. Coalmine, Forum für Dokumentarfoto-grafi e, Turnerstrasse 1, Winterthur. Bis 31. März. Öffnungszeiten: Mo–Fr 8–19 Uhr, Sa 11–16 Uhr.

Turm zu Basel:

Unbekannter GeldrieseSteigt man in Basel aus dem Zug, steht der schraubenförmige Turm der Bank für Internationalen Zah-lungsausgleich (BIZ) gleich ne-benan. Die BIZ ist die Bank der Notenbanken und das verschwie-genste aller Geldinstitute. Im Hin-tergrund zieht es die Fäden im internationalen Finanzmarkt. Der britische Autor Adam LeBor bringt in seinem Buch «Der Turm zu Ba-sel» Licht in die Machenschaften dieser mächtigen Institution. Er wirft ihr Geheimniskrämerei und mangelnde demokratische Legiti-mation vor und legt auch ihre nazifreundlichen Wurzeln in den 1930er Jahren frei. Das Buch ist ein spannendes Sittenbild von Ban-kern, die keine Moral kennen.

Adam LeBor: Der Turm zu Basel. BIZ – die Bank der Banken und ihre dunkle Geschichte, Rotpunktverlag Zürich, 344 Seiten, Fr. 37.50.

FOTO: ZVG

Die Zeitschrift «Widerspruch» übt scharfe Kritik an der EU-Politik

Mehr Europa, aber anders Die EU betreibe heute eine desaströse Politik. Darum müssten sich die Gewerk-schaften europa politisch mehr einmischen, fordert der linke «Widerspruch». RALPH HUG

Der deutsche Dichter Heinrich Heine schrieb im 19. Jahrhun-dert: «Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht!» Fast zwei-hundert Jahre später scheint das Zitat unvermindert aktuell. Vor allem, wenn man an die Eu-ropapolitik Berlins und Brüs-sels denkt. Ihre turbokapita-listischen Rezepte treiben die Südstaaten wie Italien, Spanien und Griechenland in die Ar-mut. Wer nicht privatisiert, Steuern senkt, Renten kürzt und die Arbeitnehmerrechte abbaut, kriegt keine Gelder der EU mehr und rutscht noch tie-fer in die Schuldenfalle.

Dasselbe passiert interes-santerweise auch jenen Län-dern, die sich brav an die Vorga-ben der «Troika» (bestehend aus EU, eu-ropäischer Zentralbank und internatio-nalem Währungsfonds) halten. So wie Griechenland: Sein Bruttosozialpro-dukt sank trotz EU-Geldern um etwa 30 Prozent. Die Gelder fl ossen nämlich nicht ins Land, sondern zu den Banken.

RADIKALER KURSWECHSELDer deutsche Kritiker Leo Mayer ist des-halb der Ansicht, in Europa sei ein «stil-ler Staatsstreich» im Gang. So weit ge-hen nicht alle Autorinnen und Autoren in der neuen Ausgabe der Zeitschrift «Widerspruch». Doch sind sie sich ei-nig, dass ein neues, solidarisches und gerechtes Europa nötig sei.

Einen radikalen Kurswechsel in der EU verlangt in ihrem Artikel auch Unia-Co-Chefi n Vania Alleva (zusam-men mit Unia-Mann Vasco Pedrina). Sie bemängelt, dass die alte Idee eines sozialen Europa komplett verloren ge-gangen sei. Alleva und Pedrina interes-siert vor allem die innenpolitische Situation nach dem Ja zur SVP-Abschot-tungsinitiative. Und sie üben auch Selbstkritik: Die Gewerkschaften hät-ten im Vorfeld die Chancen der Rech-ten unterschätzt, räumen sie ein. Beide

plädieren für ein Festhalten an der Per-sonenfreizügigkeit. Gleichzeitig ver-langen sie mehr Schutz für Lohn- und Arbeitsbedingungen. Pedrina und Alleva schwebt ein breites Bündnis zur Rettung der bilateralen Verträge vor.

Spannend ist auch der Beitrag des Tessiner Journalisten Beat Allenbach über die Lage im Tessin. Dort seien die Auswirkungen von zwanzig Jahren Lega dei Ticinesi zu besichtigen. Die rechtspopulistische Partei des verstor-benen Giuliano Bignasca prägt mit ihrer vulgären Propaganda die Polit-szene. Stets müssen die Grenzgängerin-nen und Grenzgänger aus Norditalien als Sündenböcke herhalten, obwohl diese für die einheimische Wirtschaft unentbehrlich sind. Tröstlich, dass laut Allenbach heute viele Leute von der Radau-Politik der Lega die Nase voll hätten.

DUBLIN IST GESCHEITERTViel Raum nimmt im Heft die Frage der Migration ein. Mit ihrer Abschottungs-politik sei die EU mitschuldig am Tod von Tausenden von Flüchtlingen im Mittelmeer. Die deutsche Grüne Bar-bara Lochbihler beobachtet die illegale

Abschiebepolitik seit langem. Die spa-nische und die italienische Polizei hin-derten Flüchtlinge gewaltsam an der Einreise, schreibt sie. In sogenannten «Push back»-Operationen verfrachte sie diese ohne weitere Prüfung nach Li-byen und Marokko zurück. Für Loch-bihler ist damit das Dublin-System ge-

scheitert. Das Prinzip, dass Flüchtlinge nur in jenem Staat einen Antrag stellen können, in dem sie angekommen sind, sei teuer, ineffektiv und ungerecht. Stattdessen regt sie an, neue Wege für eine legale Migration zu öffnen und so Menschenleben zu retten.

Widerspruch Nr. 65: Europa, EU, Schweiz – Krise und Perspektiven. 225 Seiten, Fr. 25.–

HILFLOS UND SCHWACH:

ZAHMER EGBAndreas Rieger, früher Co-Präsi-dent der Unia, hält nicht viel vom Europäischen Gewerk-schaftsbund (EGB). In seinem Beitrag kritisiert er, der EGB unternehme zu wenig gegen die Sparpolitik und den Sozial-abbau der EU-Machthaber. Der Verband sei nicht viel mehr als eine Lobbyorganisation mit einem Sekretariat in Brüssel. Wenn es um Kampagnen gehe, zeige er sich hilfl os und durch-setzungsschwach. Rieger: «Der EGB muss sich ändern.»

ZUSAMMEN. Das fi ndet auch Frank Bsirske, Chef der deut-schen Dienstleistungsgewerk-schaft Verdi. Von ihm stammt der Slogan «Mehr Europa, aber anders». Er meint, der EGB müsse mit sozialen Bewegun-gen, Kirchen und Parteien zu-sammenspannen. (rh)

Die Idee eines sozialenEuropa gingkomplett verloren.

GUTER RAT IST TEUER: Das gilt vor allem für die Ratschläge von Kanzlerin Merkel und der Troika an die Länder Südeuropas.FOTO: KEYSTONE

* Die Finanzpolitik der öffentlichen Hand beeinfl usst das Bruttoinlandprodukt. 2015 wächst das BIP wegen der Sparpakete um ca. 0,7 Prozent weniger.