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Medienproduktion - Online Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis 2 Digitale Lernszenarien im Hochschulbereich von Klaus Wannemacher der Klassifikation, zum gegenwärtigen Verbreitungsgrad, zu Lernelementen und -formaten, die sich dem jeweiligen Lernszenario zuordnen lassen, und zu Stärken und Chan- cen sowie Schwächen und Risiken des jeweiligen Szenarios lassen sich dem Bericht „Digitale Lernszenarien im Hoch- schulbereich“ entnehmen [2]. Abbildung 1: Digitalisierte Lernszenarien (Abbildung folgt einer Anregung Jürgen Handkes) 1. Anreicherung Bei dem Szenario „Anreicherung“, dem klassischen Ein- stiegsszenario in den Bereich digitalisierter Lernformate, werden regulären Lehrveranstaltungen wie Vorlesungen, Seminaren oder Übungen digitale Medien hinzugefügt. Da- bei bleibt, anders als z.B. beim Blended Learning-Ansatz, die Rolle der Lehrenden und Lernenden unverändert. Ne- ben dem Besuch der einzelnen Präsenzveranstaltungen, die nicht digital substituiert werden, nutzen Studierende er- gänzend digitalisierte Lernressourcen, die vom Lehrenden auf einer digitalen Lernplattform bereitgestellt werden. Die Materialien können zur Nachbereitung und Vertiefung des Lernstoffes von Lehrveranstaltungen sowie zur Vorberei- tung auf Prüfungen genutzt werden. Gängige Beispiele für dieses Szenario sind u.a. das digitale Bereitstellen von Vor- lesungsskripten, Semesterapparaten und Vorlesungsauf- zeichnungen (Live-digitized-Lectures). Mit der Einführung von Lernmanagementsystemen wie Moodle, ILIAS oder OLAT/OpenOLAT fand die digitale Bereitstellung nicht nur von Texten, sondern auch weiterer digitalisierter Lernmate- rialien weite Verbreitung an den Hochschulen. Die Formen, in denen Hochschulen ihren Kernaufgaben in Forschung und Lehre nachgehen, wandeln sich unter dem Einfluss der Digitalisierung langsam, doch stetig. Die Aus- wirkungen der Digitalisierung auf die Hochschulen spiegeln sich nicht zuletzt in einer punktuell veränderten Lehr- und Lernpraxis wider. An Hochschulen werden verschiedene digitalisierte Lernelemente und -formate eingesetzt, die sich durch unterschiedlich anspruchsvolle didaktische und technische Voraussetzungen und unterschiedliche Grade von Virtualität und Interaktion auszeichnen. Digitalisierte Lernelemente und -formate können zudem unterschiedlich hohen Kosten- und Arbeitsaufwand verursachen und wei- chen auch im Hinblick auf ihren Verbreitungsgrad an Hoch- schulen deutlich voneinander ab. Während das digitale Be- reitstellen seminarbegleitender Unterlagen im Lernmanage- mentsystem oder von Vorlesungsaufzeichnungen häufiger praktiziert wird, werden Ansätze des simulationsgestützten Lernens und des Game-based Learning deutlich seltener genutzt. Um einen Gesamteindruck von dem breiten Spektrum an digitalisierten Lehr- und Lernformen zu vermitteln und Leh- renden die Entscheidung für oder gegen einzelne digitali- sierte Lernelemente und -formate zu erleichtern, hat das HIS-Institut für Hochschulentwicklung (HIS-HE) im Auftrag des „Hochschulforums Digitalisierung“ [1] einen strukturier- ten Überblick über digitalisierte Lernelemente und -formate im nationalen und internationalen Hochschulbereich erstellt. Im Rahmen einer Literatur- und Internetrecherche wurden 57 nationale und 188 internationale Fallstudien und -bei- spiele digitalisierter Lernelemente und -formate gesammelt und ausgewertet. Diese Lernelemente und -formate wurden anschließend auf Grundlage ähnlicher Merkmale und Di- mensionen zu acht (teilweise) digitalisierten Lernszenarien aggregiert. Ausschlaggebend für die Zusammenstellung zu Lernszenarien war u.a. der Innovationsgrad der Szenarien, d.h. das Ausmaß, zu dem sie Hochschulen Anregungen zur Weiterentwicklung des Repertoires an Lehr- und Lernfor- men bieten. Allen acht Lernszenarien ist gemeinsam, dass sie Vorteile sowohl aus Sicht von Entscheider(inne)n an den Hochschulen, Lehrenden als auch Studierenden bieten. Die Lernszenarien lassen sich teilweise untereinander kombi- nieren. Auch Kombinationen von Lernelementen und -for- maten treten in der Praxis regelmäßig auf, z.B. im Rahmen von Ansätzen des ‚Seamless Learning‘, das auf durchgängi- ge Lernlösungen abzielt. Nachfolgend sollen die acht (teilweise) digitalisierten Lernszenarien (Abb. 1) anhand weniger Charakteristika vorgestellt werden. Vertiefende Informationen zur Methodik

Digitale Lernszenarien im Hochschulbereich · Augmented bzw. Virtual Reality-Projekte werden vorrangig in Lernkon- ... der Nutzung adaptiver Lernumgebungen, bei denen sich die Auswahl

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Medienproduktion - Online Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis2

Digitale Lernszenarien im Hochschulbereichvon Klaus Wannemacher

der Klassifikation, zum gegenwärtigen Verbreitungsgrad, zu Lernelementen und -formaten, die sich dem jeweiligen Lernszenario zuordnen lassen, und zu Stärken und Chan-cen sowie Schwächen und Risiken des jeweiligen Szenarios lassen sich dem Bericht „Digitale Lernszenarien im Hoch-schulbereich“ entnehmen [2].

Abbildung 1: Digitalisierte Lernszenarien (Abbildung folgt einer Anregung Jürgen Handkes)

1. AnreicherungBei dem Szenario „Anreicherung“, dem klassischen Ein-stiegsszenario in den Bereich digitalisierter Lernformate, werden regulären Lehrveranstaltungen wie Vorlesungen, Seminaren oder Übungen digitale Medien hinzugefügt. Da-bei bleibt, anders als z.B. beim Blended Learning-Ansatz, die Rolle der Lehrenden und Lernenden unverändert. Ne-ben dem Besuch der einzelnen Präsenzveranstaltungen, die nicht digital substituiert werden, nutzen Studierende er-gänzend digitalisierte Lernressourcen, die vom Lehrenden auf einer digitalen Lernplattform bereitgestellt werden. Die Materialien können zur Nachbereitung und Vertiefung des Lernstoffes von Lehrveranstaltungen sowie zur Vorberei-tung auf Prüfungen genutzt werden. Gängige Beispiele für dieses Szenario sind u.a. das digitale Bereitstellen von Vor-lesungsskripten, Semesterapparaten und Vorlesungsauf-zeichnungen (Live-digitized-Lectures). Mit der Einführung von Lernmanagementsystemen wie Moodle, ILIAS oder OLAT/OpenOLAT fand die digitale Bereitstellung nicht nur von Texten, sondern auch weiterer digitalisierter Lernmate-rialien weite Verbreitung an den Hochschulen.

Die Formen, in denen Hochschulen ihren Kernaufgaben in Forschung und Lehre nachgehen, wandeln sich unter dem Einfluss der Digitalisierung langsam, doch stetig. Die Aus-wirkungen der Digitalisierung auf die Hochschulen spiegeln sich nicht zuletzt in einer punktuell veränderten Lehr- und Lernpraxis wider. An Hochschulen werden verschiedene digitalisierte Lernelemente und -formate eingesetzt, die sich durch unterschiedlich anspruchsvolle didaktische und technische Voraussetzungen und unterschiedliche Grade von Virtualität und Interaktion auszeichnen. Digitalisierte Lernelemente und -formate können zudem unterschiedlich hohen Kosten- und Arbeitsaufwand verursachen und wei-chen auch im Hinblick auf ihren Verbreitungsgrad an Hoch-schulen deutlich voneinander ab. Während das digitale Be-reitstellen seminarbegleitender Unterlagen im Lernmanage-mentsystem oder von Vorlesungsaufzeichnungen häufiger praktiziert wird, werden Ansätze des simulationsgestützten Lernens und des Game-based Learning deutlich seltener genutzt.

Um einen Gesamteindruck von dem breiten Spektrum an digitalisierten Lehr- und Lernformen zu vermitteln und Leh-renden die Entscheidung für oder gegen einzelne digitali-sierte Lernelemente und -formate zu erleichtern, hat das HIS-Institut für Hochschulentwicklung (HIS-HE) im Auftrag des „Hochschulforums Digitalisierung“ [1] einen strukturier-ten Überblick über digitalisierte Lernelemente und -formate im nationalen und internationalen Hochschulbereich erstellt.

Im Rahmen einer Literatur- und Internetrecherche wurden 57 nationale und 188 internationale Fallstudien und -bei-spiele digitalisierter Lernelemente und -formate gesammelt und ausgewertet. Diese Lernelemente und -formate wurden anschließend auf Grundlage ähnlicher Merkmale und Di-mensionen zu acht (teilweise) digitalisierten Lernszenarien aggregiert. Ausschlaggebend für die Zusammenstellung zu Lernszenarien war u.a. der Innovationsgrad der Szenarien, d.h. das Ausmaß, zu dem sie Hochschulen Anregungen zur Weiterentwicklung des Repertoires an Lehr- und Lernfor-men bieten. Allen acht Lernszenarien ist gemeinsam, dass sie Vorteile sowohl aus Sicht von Entscheider(inne)n an den Hochschulen, Lehrenden als auch Studierenden bieten. Die Lernszenarien lassen sich teilweise untereinander kombi-nieren. Auch Kombinationen von Lernelementen und -for-maten treten in der Praxis regelmäßig auf, z.B. im Rahmen von Ansätzen des ‚Seamless Learning‘, das auf durchgängi-ge Lernlösungen abzielt.

Nachfolgend sollen die acht (teilweise) digitalisierten Lernszenarien (Abb. 1) anhand weniger Charakteristika vorgestellt werden. Vertiefende Informationen zur Methodik

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2. IntegrationIm Szenario „Integration“ sind generische Formen des Blen-ded Learning, d.h. hybride Lernformate, zusammengefasst, bei denen Präsenzanteile und digitale Anteile aufeinander abgestimmt sind und Präsenzphasen sowie digitalisierte Lernphasen alternieren oder sich ergänzen. Blended Lear-ning wird in zahlreichen Lehrveranstaltungen im Erststu-dium genutzt, z.B. um Studierenden ein größeres Maß an räumlicher und zeitlicher Flexibilität einzuräumen, digitali-sierte Formen der Kommunikation und Kooperation zu er-möglichen, das gemeinsame Bearbeiten von Dokumenten mittels Kollaborationssoftware zu unterstützen oder das Selbststudium durch semesterbegleitende Self-Assess-ments zu stärken. Studierende verlangen Blended Lear-ning-Angebote vielfach eine hohe Kompetenz im Zeit- und Selbstmanagement ab. Blended Learning-Ansätze können sehr unterschiedlich ausfallen: u.a. ein Präsenzangebot, das durch einzelne Online-Elemente angereichert wird, und eine Variante, bei der Online-Lernphasen einen größeren Anteil ausmachen [3]. Das Szenario weist enge Verknüpfungen mit dem Konzept des „Inverted Classroom“ auf, bei dem die Lehrvermittlung und Stoffaneignung online vor einer Präsenzveranstaltung erfolgt (z.B. durch E-Lectures) und das Gelernte anschlie-ßend in Präsenzphasen angewandt und vertieft wird. Di-daktisch schlüssig konzipierte hybride Lernformate lassen Studierende den Lernstoff selbstbestimmter erfassen. Dies kann die studentische Lernmotivation erhöhen und dazu beitragen, dass Präsenzphasen intensiver genutzt werden können.

3.Online-LernenDas Szenario „Online-Lernen“ umfasst Lernangebote, die nicht oder kaum in physischen Lehrgebäuden durchgeführt, sondern fast vollständig online genutzt werden und kaum bzw. keine obligatorischen Präsenzphasen umfassen (z.B. Online-Seminare oder E-Lectures). Für die Kollaboration im Online-Seminar können neben Videokonferenzsystemen auch Kollaborationssoftware, soziale Medien, Chat oder Fo-ren genutzt werden. Auch reine Online-Studiengänge, die für ein breites Spektrum an Disziplinen angeboten werden (u.a. in Wirtschaftswissenschaften, Informatik oder Päd-agogik) [4], entsprechen diesem Szenario. Entsprechende Angebote existieren für das grundständige und das postgra-duale Studium. Eine besondere Rolle kommt Online-Studi-engängen im Hinblick auf das lebenslange Lernen zu. Wei-terbildende Master-Studiengänge mit flexiblen Studienbe-dingungen bieten Berufstätigen die Möglichkeit, ergänzende Qualifikationen zu erwerben. Besonderes Potenzial weisen Online-Studiengänge u.a. in Ländern mit hohen Studienge-bühren auf, in denen sie Studierenden angesichts ihrer viel-fach niedrigeren Kostenansätze eine attraktive Alternative bieten können. In Deutschland stellen digitalisierte Studien-gänge nur selten einen festen Bestandteil der strategischen Hochschulentwicklung dar und sind oft an die Initiative von Einzelpersonen gebunden.

Die ersten drei Szenarien oder Ansätze digitalisierten Leh-rens und Lernens, die u.a. durch einen sich steigernden Grad der Virtualität gekennzeichnet sind, sind von den fol-genden Lernszenarien deutlich abzugrenzen [5]. Während die ersten drei Szenarien oder Ansätze sich gegenseitig ausschließen, lassen sich die folgenden fünf Lernszenarien mit anderen kombinieren:

4. Interaktion und KollaborationDem Szenario „Interaktion und Kollaboration“ sind alle For-men der Nutzung sozialer Medien und Netzwerke und in-teraktiver Anwendungen wie Online-Dienste für gemeinsam zu bearbeitende Dokumente, Blogs, Podcasts etc. zuzuord-nen. Häufig gelangt das Szenario in hybriden Lernarrange-ments zum Einsatz, bei denen Präsenz- und Online-Lern-phasen einander abwechseln. Auch alle Anwendungen aus dem Bereich des kollaborativen Lernens, bei dem mehrere Studierende unter Nutzung von Kollaborationssoftware si-multan interagieren (z.B. das gemeinsame Bearbeiten von Fallstudien), bis hin zum Peer-Lernen, bei dem Studierende zu zweit bzw. in Kleingruppen online Lernstoff diskutieren und gemeinsam Problemlösungen erarbeiten, sind Teil die-ses Szenarios. Die Kooperation in digitalen, webbasierten Anwendungen ist unter manchen Studierenden verbreitet. Soziale Medien treffen im Kontext der Hochschullehre auf steigende Akzeptanz [6], sofern sie an deren Rahmenbe-dingungen angepasst werden und Lehrende bzw. Tutor- (inn)en die Studierenden bei deren Nutzung im Bedarfsfall unterstützen können. Auch Peer Assessments finden wach-sende Verbreitung und können die Skalierbarkeit von Bil-dungsprozessen erhöhen.

5. Offene BildungspraxisIm Fokus des Szenarios „Offene Bildungspraxis“ steht die Nutzung hochwertiger freier Lernmaterialien (Open Educa-tional Resources, OER), d.h. Lernmedien, die gemeinfrei sind bzw. auf Basis freier Lizenzen bereitgestellt werden und adaptiert werden können, sowie der freie Zugriff auf Studienangebote und Lernmaterialien (Open Courses und manche MOOCs). Das Szenario steht für flexible und kol-laborative Lernprozesse sowie die schnelle, unkomplizierte und kostenlose Nutzung und Weiterverwertung von Lern-materialien. Im Hinblick auf Open Courses, d.h. rein online-basierte Kurse ohne Teilnehmerbeschränkung, und Massi-ve Open Online Courses (MOOCs) sind diesem Szenario auch vollständige Lehrveranstaltungen bis hin zu einzelnen Studiengängen, an denen jeder kostenlos teilnehmen kann, zuzuordnen. Impulsgebend für die Entwicklung und Verbrei-tung freier Lernmaterialien waren Akteure in den Vereinigten Staaten, in denen mehrere Stiftungen angesiedelt sind, die OER-Projekte maßgeblich mitfinanzieren [7]. An deutschen Hochschulen ist das Angebot von OER noch überschaubar und auf kleinere Themenbereiche begrenzt [8]. Mittlerweile hat sich die Orientierung im OER-Bereich von Lernmateri-alien auf Bildungsprozesse und die mögliche Verbesserung von Lernerfahrungen durch OER verlagert [9].

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6. Spiel und SimulationDas Szenario „Spiel und Simulation“ umfasst die unter-schiedlichen Varianten des Game-based Learning, d.h. des auf Spielen basierenden Lernens, bei denen eine Synthese zwischen der Vermittlung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten und dem Spielen angestrebt wird (z.B. digita-lisierte Lernspiele wie interaktive Online-Planspiele). Eine Variante des Szenarios ist die Gamification, bei der spiel-typische Elemente in einen nicht-spielbasierten Kontext eingefügt werden. Simulationsgestützte Lernformen wie interaktive Visualisierungen sowie Formen der „Augmen-ted Reality“, d.h. das Visualisieren von Informationen zu Objekten der realen Umgebung auf Mobilgeräten, und „Vir-tual Reality“, das vollständige Eintauchen in eine virtuelle Umgebung, sind diesem Szenario ebenfalls zuzurechnen. Spielerische Elemente, die motivierend und stimulierend auf den Lernprozess wirken, finden sich zunehmend in digitalen Lernmaterialien, z.B. Verlaufsanzeigen zum Lernprozess oder Hinweise auf erfolgreich abgeschlossene Lerneinhei-ten. Die Möglichkeiten, die Lernmotivation von Studieren-den durch spielbasierte Anwendungen zu erhöhen, werden an Hochschulen meist zurückhaltend genutzt. Augmented bzw. Virtual Reality-Projekte werden vorrangig in Lernkon-texten eingesetzt, in denen praktische Fähigkeiten trainiert werden sollen oder eine virtuelle Alternative zu aufwändigen Laborexperimenten benötigt wird. U.a. lassen sich mittels Simulationen komplexe klinische Szenarien darstellen und mittels „Virtual Reality Simulator“ chirurgische Eingriffe üben [10].

7. PersonalisierungDas Szenario „Personalisierung“ umfasst Lernformate, die auf eine Personalisierung von Lernprozessen und die Anpassung an individuelle Lernbedarfe fokussieren. Eine besondere Rolle fällt dabei dem adaptiven Lernen zu, d.h. der Nutzung adaptiver Lernumgebungen, bei denen sich die Auswahl von Lernmaterialien und -aufgaben an den individuellen Bedürfnissen der Lernenden ausrichtet. Von zentraler Bedeutung sind für dieses Szenario Entwicklun-gen aus dem Bereich Learning Analytics. Learning Analytics bezeichnet die Messung, Sammlung und Analyse von Ler-nendendaten zwecks Dokumentation von Lernfortschritten, Leistungsprognose sowie Identifizierung von Lernbarrieren. Im anglophonen Raum werden individuelle Lernendendaten häufig genutzt, um Studierenden mit Defiziten individuelle Unterstützung zu bieten und dadurch die Wahrscheinlich-keit eines erfolgreichen Studiums zu erhöhen. Auf Lern-plattformen bereitgestellte Lerneinheiten und Angebote wie formative E-Assessments ließen sich prinzipiell adaptiv gestalten und individualisieren, doch steckt die Technologie zur Erstellung adaptiver Lernangebote „noch in den Kinder-schuhen“. Es gibt „nur wenige Angebote (eher für Schule und Weiterbildung), die ein adaptives Lernen ermöglichen“ [11]. Adaptive Lernangebote setzen insbesondere auch die studentische Einwilligung in die Nutzung von Lerndaten vor-aus.

8. SelbststudiumDas Lernszenario „Selbststudium“ schließt alle Formen der digitalisierten Unterstützung von Prozessen des Selbststu-diums ein, die im Kontext der Präsenzlehre genutzt wer-den. Zahlreiche Varianten des mobilen Lernens fallen un-ter dieses Szenario, d.h. situative Lernformen, die mithilfe mobiler Geräte wie Smartphone, Tablet und Notebook und entsprechenden Lernanwendungen genutzt werden, um un-ausgefüllte Phasen im studentischen Tagesablauf zu über-brücken. Auch diagnostische E-Assessments, die im Vorfeld einer Lehrveranstaltung helfen, studentische Lerndefizite zu erkennen und durch Zusatzangebote aufzufangen, sind die-sem Szenario zuzuordnen. Formative E-Assessments wie lernfördernde Tests, die der Ermittlung des Lernfortschritts und der besseren Steuerung des weiteren Lernprozesses durch Studierende dienen [12], fallen ebenfalls unter dieses Szenario. Zudem lassen sich E-Portfolios, die als digitale Sammlung von Lernprozess-Dokumentationen und Lern-produkten dazu dienen, den Lernprozess zu veranschauli-chen und zu evaluieren, diesem Szenario zuordnen. Obwohl digitalisierte Lernangebote eine große Fülle an Möglichkei-ten der Unterstützung von Prozessen des Selbststudiums bieten (z.B. Erstellen von Gebäudemodellen mittels Rapid Prototyping in der Architektur), werden sie an deutschen Hochschulen bislang nur gelegentlich systematisch für sol-che Zwecke genutzt.

FazitWie die nationalen und internationalen Fallstudien für di-gitales Lernen im Hochschulbereich, die im Kontext des HIS-HE-Projekts erhoben wurden, belegen, bieten digitali-sierte Lernelemente und -formate ein breites Spektrum an Gestaltungs- und Profilierungsoptionen, das an deutschen Hochschulen noch eher zurückhaltend ausgeschöpft wird. Die zusätzlichen qualitativen Möglichkeiten, die mit digita-lisierten Bildungsangeboten einhergehen können, sollen abschließend noch einmal anhand weniger Beispiele für digitalisierte Lernformate – den Bestandteilen der zuvor ge-schilderten aggregierten Lernszenarien – veranschaulicht werden:

• E-Lectures, d.h. in einem Office- oder Studio-Setting aufgezeichnete Online-Vorlesungen, ermöglichen die kompakte Präsentation von Lernstoff in Orientierung an tatsächlichen Aufmerksamkeitsspannen.

• Inverted Classroom-Ansätze erleichtern die Personali-sierung von Lernprozessen, indem sie das Prinzip des Frontalunterrichts umkehren und die Präsenzlehre auf das Lösen individueller Probleme ausrichten.

• Digitalisierte Lernangebote eignen sich zur Unter-stützung individueller Selbstlernphasen, sei es durch mobile Apps, die auf spezifische Lernprobleme zuge-schnitten sind, kurze Lernspiele oder formative E-As-sessments.

• Anwendungen aus dem Bereich digitalisierter Wirklich-keit fördern durch interaktive Visualisierungen das Ver-ständnis komplexer Zusammenhänge und können das Aneignen praktischer Fähigkeiten erleichtern.

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Im Zuge der Erhebung und Auswertung der Fallstudien und -beispiele und deren Aggregation zu digitalisierten Lernsze-narien zeigte sich, dass Digitalisierungsprozesse sowohl zur Weiterentwicklung klassischer Lernformate als auch zur Öffnung der Hochschulen der Gesellschaft und neuen Zielgruppen gegenüber beitragen können. Bei der Bewäl-tigung von Herausforderungen im Hochschulsystem wie der gestiegenen Quote der Studienanfänger(innen) oder dem wachsenden Anteil an nicht-typischen Studierenden im Kontext der Öffnung des Hochschulzugangs könnte di-gitalisierten Lernszenarien künftig wachsende Bedeutung zukommen.

Klassifikationen digitaler Lernszenarien wie die vorgestellte erleichtern Entscheider(inne)n, Lehrenden und Studieren-den nicht nur die Beurteilung von Stärken und Schwächen unterschiedlicher Ansätze digitaler Lehre. Zugleich können sie einen Beitrag zur systematischen Erfassung der Praxis an einzelnen Hochschulen wie auch zur strategischen För-derung digitaler Lehre leisten. Dies belegt u.a. das Beispiel der RWTH Aachen, an der die in diesem Beitrag vorgestell-te Klassifikation auf Empfehlung des Rektoratsbeauftragten Blended Learning & Exploratory Teaching Space, Prof. Dr. Heribert Nacken, zur Dokumentation von Projekten im Be-reich digitaler Lehre herangezogen wird, die zwischen 2014 und 2017 im Rahmen eines universitätsweiten Förderpro-gramms mit einem Budget von rund fünf Millionen Euro un-terstützt werden.

Literatur[1] https://hochschulforumdigitalisierung.de/ (zuletzt abgeru-fen am 26.8.2016).

[2] Wannemacher, Klaus; Jungermann, Imke; Scholz, Ju-lia; Tercanli, Hacer & Villiez, Anna von (2016): Digitale Lernszenarien im Hochschulbereich. Hochschulforum Di-gitalisierung: Berlin. URL: http://www.his-he.de/pdf/33//pdf/pub_hfd_digitale_lernszenarien.pdf

[3] Alonso, Fernando; López, Genoveva; Manrique, Daniel et al. (2007): An instructional model for web-based e-lear-ning education with a blended learning process approach. In: British Journal of Educational Technology, Jahrgang 36, Nr. 2, S. 217-235.

[4] Wannemacher, Klaus (2014): Digitale Weiterbildungs-angebote an deutschsprachigen Hochschulen. In: Thomas Köhler & Helge Fischer (Hrsg.): Postgraduale Bildung mit digitalen Medien. Fallbeispiele aus den sächsischen Hoch-schulen. Waxmann: Münster etc., S. 19-21.

[5] Prof. Dr. Jürgen Handke regt aufgrund der unterschiedli-chen Charakteristika der ersten drei und der folgenden fünf Szenarien an, erstere („Szenario“ 1 bis 3) als Stufen bzw. Ansätze zu bezeichnen; dies habe sich in der Alltagstermi-nologie u. a. für die Klassifikation des Digitalisierungsgrades im Allgemeinen als praktikabel erwiesen.

[6] Ebner, Martin & Schiefner, Mandy (2009): Digital nati-ve students? – Web 2.0-Nutzung von Studierenden (e-tea-ching.org-Artikel, 26.1.2009). URL: https://www.eteaching.org/praxis/erfahrungsberichte/StudierendeWeb2.pdf

[7] Deimann, Markus; Neumann, Jan & Muuß-Merholz, Jöran (2015): Whitepaper Open Educational Resources (OER) an Hochschulen in Deutschland – Bestandsaufnah-me und Potenziale 2015. open-educational-resources.de: Hamburg, S. 52 f. URL: http://openeducational-resources.de/wp-content/uploads/sites/4/2015/02/Whitepaper-OER-Hochschule-2015.pdf

[8] Pongratz, Hans (Hrsg.) (2015): Neue Kooperations- und Finanzierungsmodelle in der Hochschullehre. Hochschul-forum Digitalisierung: Berlin, S. 36. URL: http://hochschul-forumdigitalisierung.de/sites/default/files/dateien/ThGrI_NeueGe schaeftsmodelle.web_.pdf

[9] Jacobi, Ria & van der Woert, Nicolai (2012): Trend Re-port: Open Educational Resources. SURF: Utrecht, Amster-dam, S. 18. URL: https://www.surfspace.nl/media/bijlagen/artikel-697ee18ac0f1441bb158e6122818f5f589e.pdf

[10] Feinberg School of Medicine, Northwestern University, http://www.feinberg.northwestern.edu/ (zuletzt abgerufen am 26.8.2016).

Dr. Klaus Wannemacher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Geschäftsbereichs

Hochschulmanagement im HIS-Institut für Hochschulentwicklung (HIS-HE) in Hannover.

Als Organisationsberater unterstützt er Hochschulen, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen

und Ministerien mit Grundlagenarbeiten, Beratungsleistungen, Forschungsprojekten sowie Angeboten zum Wissens- und Methodentransfer.