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Inhalt Vorwort (Erika Diehl) ................................................................................... XI Verzeichnis der Tabellen .......................................................................... XVII Verzeichnis der Abkürzungen .................................................................... XIX Teil I: Die Ausgangslage ..................................................................................1 1 Einleitung (Erika Diehl) ..................................................................3 1.1 Fragestellung; Zielsetzung...............................................................3 1.2 Zum Korpus ....................................................................................4 1.3 Zur Datenanalyse.............................................................................9 1.4 Zur Gliederung des Bandes ...........................................................11 2 Deutsch in Genf (Helen Christen) .................................................13 2.1 Deutsch in der französischsprachigen Westschweiz......................13 2.2 Deutsch als Schulfach ...................................................................16 2.3 Zur Einschätzung des Schulfachs Deutsch und der deutschen Sprache durch die Testpersonen....................................................17 2.4 Einstellung und schulischer Erfolg ................................................21 2.5 „Deutsch als Fremdsprache“ in Abhängigkeit von verschiedenen Schülervariablen ....................................................22 2.6 Ausblick ........................................................................................24 3 Theorien zum Zweitsprachenerwerb: Standortbestimmung des DiGS-Projektes (Erika Diehl) .................................................25 3.1 Forschungsstand ............................................................................25 3.2 Theorien zum Zweitsprachenerwerb .............................................30 3.2.1 Der mentalistische Ansatz: Das UG-Modell .................................30 3.2.2 Theorien der Sprachverarbeitung ..................................................34 3.2.3 Konnektionistische Modelle ..........................................................39 3.2.4 Das dualistische Modell ................................................................43 3.3 Explizites vs. implizites Lernen – die Rolle der Bewusstheit im L2-Erwerb ................................................................................44 3.4 Exkurs: Implizites Lernen in der Sicht der Lernpsychologie ........49

digs complete postprint v1 - RERO DOC · VI Teil II: Empirische Untersuchung.....53 4 „Wenn sprechen sie, alles gehts besser“ – Erwerb der

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Inhalt Vorwort (Erika Diehl)................................................................................... XI

Verzeichnis der Tabellen .......................................................................... XVII

Verzeichnis der Abkürzungen.................................................................... XIX

Teil I: Die Ausgangslage..................................................................................1

1 Einleitung (Erika Diehl)..................................................................3 1.1 Fragestellung; Zielsetzung...............................................................3 1.2 Zum Korpus ....................................................................................4 1.3 Zur Datenanalyse.............................................................................9 1.4 Zur Gliederung des Bandes...........................................................11

2 Deutsch in Genf (Helen Christen).................................................13 2.1 Deutsch in der französischsprachigen Westschweiz......................13 2.2 Deutsch als Schulfach ...................................................................16 2.3 Zur Einschätzung des Schulfachs Deutsch und der deutschen Sprache durch die Testpersonen....................................................17 2.4 Einstellung und schulischer Erfolg................................................21 2.5 „Deutsch als Fremdsprache“ in Abhängigkeit von verschiedenen Schülervariablen ....................................................22 2.6 Ausblick ........................................................................................24

3 Theorien zum Zweitsprachenerwerb: Standortbestimmung des DiGS-Projektes (Erika Diehl).................................................25 3.1 Forschungsstand............................................................................25 3.2 Theorien zum Zweitsprachenerwerb .............................................30 3.2.1 Der mentalistische Ansatz: Das UG-Modell .................................30 3.2.2 Theorien der Sprachverarbeitung..................................................34 3.2.3 Konnektionistische Modelle..........................................................39 3.2.4 Das dualistische Modell ................................................................43 3.3 Explizites vs. implizites Lernen – die Rolle der Bewusstheit im L2-Erwerb ................................................................................44 3.4 Exkurs: Implizites Lernen in der Sicht der Lernpsychologie ........49

VI

Teil II: Empirische Untersuchung ..................................................................53

4 „Wenn sprechen sie, alles gehts besser“ – Erwerb der Satzmodelle (Erika Diehl).............................................................55 4.1 Einleitung......................................................................................55 4.2 Der Erwerb der deutschen Satzmodelle in L1 und L2: Forschungsstand............................................................................56 4.2.1 Zum natürlichen L2-Erwerb: Das ZISA-Projekt ...........................56 4.2.2 Zum L1-Erwerb: Der DFG-Forschungsschwerpunkt Spracherwerb ................................................................................59 4.2.3 Bilanz ............................................................................................63 4.3 Die involvierten Sprachen: Strukturvergleich ...............................64 4.3.1 Die Verbstellung im Deutschen.....................................................65 4.3.2 Die Verbstellung im Französischen...............................................68 4.4 Analyse der DiGS-Daten: Satzmodellerwerb im Unterricht..........71 4.4.1 Vorüberlegungen...........................................................................71 4.4.2 Die frühen Stufen: Satzmodellerwerb in der Primarschule ...........73 4.4.2.1 S-V-Sätze und koordinierte S-V-Sätze..........................................74 4.4.2.2 W- und E-Fragen...........................................................................76 4.4.2.3 Die Subjekt-Verb-Inversion ..........................................................78 4.4.2.4 Die Verbalklammer.......................................................................81 4.4.2.5 Zwischenbilanz..............................................................................83 4.4.3 Der Ausbau: Satzmodellerwerb im Cycle d’orientation................85 4.4.3.1 Die Satzmodelle im Lehrplan........................................................85 4.4.3.2 Verbalklammer, Inversion, Nebensatz: Erwerbsfolge...................87 4.4.3.3 Erwerbsstrategien..........................................................................87 4.4.3.4 Individuelle Unterschiede .............................................................94 4.4.3.5 Zwischenbilanz..............................................................................98 4.4.4 Die Konsolidierung der Satzmodelle im postobligatorischen Unterricht ......................................................................................99 4.4.4.1 Erwerbsfolge und Erwerbsstrategien...........................................102 4.4.4.2 Stand am Ende des postobligatorischen Unterrichts ...................106 4.5 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse .....................109

5 Erwerb der Morphologie.............................................................117 5.1 Einleitung (Helen Christen)........................................................117 5.2 „Die Leute weissen nicht mehr sehen die positive Punkt des Leben“ – Der Erwerb der Verbalflexion (Sandra Leuenberger, Isabelle Pelvat).......................................124 5.2.1 Deutsche und französische Verbalflexion: ein Vergleich............124 5.2.2 Die Verbalflexion im Genfer Deutschunterricht .........................125 5.2.3 Untersuchungen zum Erwerb der Verbalmorphologie ................126 5.2.3.1 Untersuchungen zum Erstsprachenerwerb des Deutschen...........126

VII

5.2.3.2 Untersuchungen zum ungesteuerten Zweitsprachenerwerb.........128 5.2.3.3 Untersuchungen zum gesteuerten Zweitsprachenerwerb.............129 5.2.4 Der Erwerb der Verbalflexion im Genfer Deutschunterricht ......131 5.2.4.1 Korpus und Analyseverfahren.....................................................131 5.2.4.2 Die sechs Phasen im Erwerb der Verbalmorphologie .................133 5.2.4.2.1 Phase I: Die präkonjugale Phase .................................................133 5.2.4.2.2 Phase II: Bearbeitung der regelmässigen Konjugation................137 5.2.4.2.3 Phase III: Bearbeitung der irregulären Verbalflexion .................141 5.2.4.2.4 Phase IV: Der Erwerb des Perfekts .............................................143 5.2.4.2.5 Phase V: Der Erwerb des Präteritums .........................................152 5.2.4.2.6 Phase VI: Ausbau und Konsolidierung .......................................156 5.2.4.3 Verteilung der Schülerpopulation auf die sechs Erwerbsphasen ............................................................................159 5.2.5 Zusammenfassung: Erwerb der Verbalmorphologie unter gesteuerten Bedingungen ............................................................161 5.2.5.1 Einflussfaktor Grammatikunterricht............................................161 5.2.5.2 Einflussfaktor L1-Transfer ..........................................................163 5.2.5.3 Fazit ............................................................................................165 5.3 „Der Brot, die Mädchen, das Führerschein“ – Der Erwerb der deutschen Genera (Helen Christen)......................................167 5.3.1 Ausgangslage ..............................................................................167 5.3.2 Forschungsstand..........................................................................169 5.3.3 Genus im gesteuerten Unterricht .................................................171 5.3.4 Die Genuszuweisung in den DiGS-Texten..................................173 5.3.4.1 Quantitative und qualitative Tendenzen der Genuszuweisung ....174 5.3.4.2 Genusregeln?...............................................................................176 5.3.4.3 Das Genus und die morphosyntaktische Stelle der Genusmarkierung ........................................................................182 5.3.5 Statt einer Zusammenfassung: Individuelle Pseudo- Variabilität der Genuszuweisung als Indikator für die Regularitäten des Genuserwerbs .................................................184 5.3.6 „Eine unermessliche Erfolg“ – Der Erwerb des syntagmatischen und paradigmatischen Genus am Beispiel der attributiven Adjektivflexion ..................................................188 5.3.6.1 Komplexe Nominalgruppen und ihre morphologische Ausprägung: Gesamtüberblick ....................................................189 5.3.6.2 Individuelle Verfahren zur Markierung der komplexen Nominalgruppen..........................................................................192 5.3.6.2.1 Das Adjektiv als flexionsrelevante Kategorie .............................194 5.3.6.2.2 Das Adjektiv als genus-, numerus-, kasusrelevante Kategorie ....194 5.3.6.3 Bilanz: Wer kann die Adjektive richtig flektieren?.....................197

VIII

5.4 „Hünde und Kätze“ – Der Erwerb der substantivischen Pluralmarkierungen (Helen Christen).........................................199 5.4.1 Einleitung....................................................................................199 5.4.2 Plural aus der Lernerperspektive.................................................201 5.4.3 Die Pluralallomorphe in den Lernertexten ..................................204 5.4.3.1 Zur Materialauswertung ..............................................................205 5.4.3.2 Ergebnisse ...................................................................................206 5.4.3.2.1 Der 0-Plural bei pseudopluralischen Substantiven? ....................208 5.4.3.2.2 Die marginale Rolle der e-Plurale ...............................................209 5.4.3.2.3 Die Übergeneralisierung des -(e)n-Plurals ..................................210 5.4.3.2.4 Die „Untergeneralisierung“ des er-Plurals ..................................211 5.4.3.2.5 Die lernersprachlichen s- Plurale für „lexikalische Sonderfälle“ ................................................................................211 5.4.3.2.6 Bemerkungen zum Umlaut..........................................................212 5.4.3.3 Stufenabhängiges oder individuelles Lernerverhalten? ...............213 5.4.3.4 Exkurs: Pluralmarker und Kompositionsfuge..............................216 5.4.4 Schluss ........................................................................................219 5.5 „... aber den Deutsch steht katastroffisch“ – Der Erwerb der Kasus in Nominalphrasen (Thérèse Studer)................................221 5.5.1 Zum Kasus in deutschen Nominalphrasen...................................222 5.5.1.1 Funktion ......................................................................................222 5.5.1.2 Zur Kasusmorphologie................................................................224 5.5.2 Der Erwerb der Kasus im Unterricht...........................................225 5.5.2.1 „... und sie nicht verstanden“.......................................................225 5.5.2.2 Hypothese....................................................................................226 5.5.3 Empirische Untersuchung ...........................................................226 5.5.3.1 Ziel der Untersuchung.................................................................226 5.5.3.2 Das untersuchte Teilkorpus.........................................................227 5.5.3.3 Kriterien für die Auswertung der Texte ......................................228 5.5.3.4 Probleme bei der Ermittlung der Phasen.....................................230 5.5.3.5 Die Erwerbsphasen......................................................................231 5.5.3.5.1 Phase I: Ein-Kasus-System – nur N-Formen...............................232 5.5.3.5.2 Phase II: Ein-Kasus-System – beliebig verteilte N-, A- und D-Formen....................................................................................233 5.5.3.5.3 Phase III: Zwei-Kasus-System – mit systematischer Markierung von Subjekt und Objektkasus ..................................235 5.5.3.5.4 Phase IV: Drei-Kasus-System – mit systematischer Markierung von Subjekt, Akkusativobjekt und Dativobjekt .......236 5.5.3.5.5 Exkurs zu den Pronomina ...........................................................237 5.5.3.5.6 Diskussion...................................................................................242 5.5.3.6 Vergleich mit den Phasen im L1-Erwerb und im ungesteuerten L2-Erwerb ............................................................245

IX

5.5.3.7 Einstufung der Testpersonen – Ergebnisse..................................247 5.5.3.7.1 Erwerbsstufen am Ende jeder Klassenstufe.................................247 5.5.3.7.2 Erwerbsstand nach der Behandlung der Kasus im Unterricht .....251 5.5.3.7.3 Diskussion...................................................................................252 5.5.3.8 Und wenn alles nicht so dramatisch wäre ...................................258 5.5.3.8.1 Korrekte vs. abweichende NP mit eindeutigem Kasus (Maskulina) .................................................................................258 5.5.3.8.2 Korrekte vs. abweichende NP (alle)............................................260 5.5.3.8.3 Kommentar..................................................................................262 5.5.4 Schluss ........................................................................................263 5.6 „Wir lernen heraus in die Umwelt, under dem Sonne“ – Der Erwerb von Präpositionalphrasen (Thérèse Studer).............264 5.6.1 Einleitung....................................................................................264 5.6.2 Präpositionen und Präpositionalphrasen im Deutschen und im Französischen.........................................................................265 5.6.3 Präpositionen und Präpositionalphrasen im L1-und im L2-Erwerb ...................................................................................269 5.6.3.1 Zum L1-Erwerb...........................................................................269 5.6.3.2 Zum ungesteuerten L2-Erwerb....................................................272 5.6.3.3 Zum gesteuerten L2-Erwerb........................................................273 5.6.4 Vorkommenshäufigkeiten der Präpositionen (Types und Tokens) .......................................................................................274 5.6.4.1 Wechselpräpositionen (WP)........................................................276 5.6.4.2 Präpositionen mit festem Kasus (PfK) ........................................280 5.6.4.3 Konsequenzen für den Unterricht................................................282 5.6.4.4 Frequenz und Varianz der Präpositionen auf den verschiedenen Klassenstufen.......................................................284 5.6.5 Präpositionen mit festem Kasus (PfK) ........................................286 5.6.5.1 Der Kasus in den für-Phrasen......................................................287 5.6.5.2 Der Kasus in den mit-Phrasen .....................................................290 5.6.6 Raumpräpositionen – die semantische Opposition ‘lokativ – direktiv’.......................................................................................300 5.6.6.1 Lokative und direktive Kontexte: Was tun die Lernenden? ........301 5.6.6.2 Gibt es „einfache“ und „schwierige“ Raum-PP? .........................312 5.6.6.3 Exkurs: Lernen in festen Formeln – ja aber! ...............................319 5.6.7 Schluss ........................................................................................322 5.7 Deklination: Fazit (Thérèse Studer)............................................323 5.7.1 Die wichtigsten Ergebnisse .........................................................323 5.7.2 Konsequenzen für den Unterricht................................................328

X

Teil III: Bilanz .............................................................................................333

6 Individuelle Unterschiede (Erika Diehl).....................................335 6.1 Zum Terminus „Strategie“ ..........................................................336 6.2 Erwerbsstrategien im DiGS-Korpus............................................337 6.2.1 Transfer aus L1 ...........................................................................338 6.2.2 Chunks ........................................................................................340 6.2.3 Generalisierung ...........................................................................342 6.2.4 Vermeidung.................................................................................347 6.2.5 Exkurs: Monitor-Einsatz .............................................................349 6.3 Language aptitude – Sprachlernfähigkeit ....................................352 6.4 Intraindividuelle Variation ..........................................................355

7 Schluss: Die Ergebnisse im Überblick (Erika Diehl)..................359 7.1 Die Eigendynamik des Erwerbsprozesses ...................................359 7.2 Zur Frage der Korrelationen........................................................361 7.2.1 Korrelationen in der wissenschaftlichen Diskussion ...................362 7.2.2 Die DiGS-Ergebnisse: Parallelen statt Korrelationen..................366 7.3 Erwerbsstand und Klassenstufe...................................................369 7.4 Und die Rolle des Grammatikunterrichts? ..................................372 7.4.1 Untersuchungen zur Effizienz des Grammatikunterrichts ...........372 7.4.2 Didaktische Konsequenzen: Vorschläge .....................................377 7.4.3 Umsetzungsvorhaben in Genf .....................................................383

Anhang ....................................................................................................385 Tabellen zu Fragen III 1, 2...........................................................................386 Tabellen zu Fragen III 3, 4...........................................................................387

Literatur ....................................................................................................389

Vorwort Erika Diehl Wenn man eine Fremdsprache beherrschen will, muss man „seine Gramma-tikregeln können“, das scheint eine Binsenweisheit zu sein. Wer mit dem Fremdsprachenlernen Mühe hat, macht seine Unkenntnis der Grammatikre-geln dafür verantwortlich; Schüler und Schülerinnen verlangen nach Gram-matikunterricht, und Fremdsprachenlehrer halten es für ihre Pflicht, dieses Verlangen möglichst kompetent zu befriedigen.

Andererseits ist es zugleich eine weitverbreitete Erfahrung, dass dieses Grammatikwissen nicht ohne weiteres im spontanen Sprachgebrauch aktiviert werden kann. Wohl jeder Fremdsprachenlerner befand sich schon in der Situation, dass er seine eigenen Fehler nicht „verstand“. Die Diskrepanz zwi-schen Regelwissen und Regelanwendung in Kommunikationssituationen ist eines der grossen Ärgernisse des Fremdsprachenlernens und ist es auch über alle sprachdidaktischen Revolutionen der vergangenen Jahrzehnte hinweg geblieben; weder die behavioristisch ausgerichteten audiolingualen Methoden der siebziger Jahre noch der kommunikative Unterricht der achtziger Jahre vermochten dem abzuhelfen. Wie eh und je ist beispielsweise in Genf der Satz zu hören: „Je ne sais pas l’allemand, je l’ai seulement appris à l’école.“ Die einzige „Methode“, von der übereinstimmend deutlich bessere Erfolge als im üblichen Fremdsprachenunterricht gemeldet werden, ist der immersive bzw. bilinguale Unterricht, und der überlässt es (weitgehend oder ausschliesslich) den Schülern, ihre grammatische Kompetenz selber aufzu-bauen.

Dergleichen Erfahrungen stimmen bedenklich, und seit den siebziger Jah-ren werden sie auch innerhalb der Zweitsprachen-Erwerbsforschung themati-siert. Empirische Untersuchungen legen den Gedanken nahe, das Erlernen einer zweiten Sprache – unter natürlichen, aber auch unter gesteuerten Bedin-gungen – könnte Analogien zum Erstsprachenerwerb aufweisen und ähnlichen internen Zwängen unterworfen sein wie dieser. Doch trotz der didaktischen Brisanz einer solchen Hypothese blieb sie, soweit wir sehen, bisher ohne Folgen für den institutionellen Fremdsprachenunterricht. Das mag einerseits mit der klassischen zeitlichen Verschiebung zwischen Forschungsergebnissen und Schulpraxis zu tun haben. Es mag allerdings auch darin begründet sein, dass die bisher vorgelegten Forschungsarbeiten sich nur auf schmale Korpora berufen konnten, deren Ergebnisse nicht hinreichend Beweiskraft haben, um grundlegende Revisionen des Grammatikunterrichts zu bewirken. Dafür bedarf es eines umfangreichen Datenmaterials und überzeugender Resultate.

XII

Die Ambition unseres Forschungsprojektes ist es, diese Lücke zu schlies-sen, zumindest was den Erwerb der deutschen Grammatik durch frankophone Lerner betrifft. Dass ein solches Projekt konzipiert und durchgeführt werden konnte, ist der günstigen Konstellation verschiedener Faktoren zu verdanken: − Deutsch ist in Genf ein ungeliebtes Schulfach. Die deutsche Grammatik

gilt als unlernbar, entsprechend niedrig ist das Motivationsniveau. Genfer Deutschlehrern muss man das Missverhältnis zwischen Aufwand und Er-gebnis beim Deutschunterricht nicht lange auseinandersetzen, es ist ihre alltägliche Erfahrung. Somit besteht bei ihnen eine gewisse Bereitschaft, sich auf einen Perspektivenwechsel einzulassen.

− Seit Anfang der 90er Jahre wurden am deutschen Departement der Uni-versität Genf Untersuchungen über den Grammatikerwerb frankophoner Deutschstudierender durchgeführt. Die Ergebnisse bestätigten für den Be-reich der Deklination die Hypothese von der Autonomie des Grammatik-erwerbs.1 Diejenigen Deutschlehrerinnen und -lehrer, die mit diesen Un-tersuchungen in Berührung kamen, erkannten darin vieles aus ihren eige-nen Unterrichtserfahrungen wieder. Sie waren es, die eine Untersuchung auf breiter Basis verlangten und auch durchsetzten, im Bewusstsein der didaktischen Relevanz eines solchen Projekts für die Fremdsprachendi-daktik an der Schule.

− Auch im institutionellen Bereich standen die Zeichen günstig. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre kamen auf die Genfer Erziehungsdirektion eine ganze Reihe schulpolitischer Änderungen zu, von denen der Deutschunterricht direkt betroffen war: eine neue eidgenössische Maturi-tätsverordnung einschliesslich der möglichen Abwahl des Deutschen als Schulfach auf Sekundarstufe II sowie die Einführung neuer Lehrwerke für Deutsch in der Primarschule und auf Sekundarstufe I. Ein Forschungsvor-haben, das bei der Formulierung neuer Lehrpläne, neuer Lernziele und neuer Mindestanforderungen Orientierungshilfe zu bieten versprach, hatte somit gute Aussichten auf finanzielle und organisatorische Förderung.

So konnte ein Forschungsprojekt zustandekommen, an dem über 40 Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter beteiligt waren und in dem wissenschaftliches und didaktisches Interesse ständig aufeinander bezogen blieben. Die wissen-schaftlichen Ergebnisse legen wir in diesem Buch vor; die didaktischen Um-setzungversuche sind in Genf bereits angelaufen. Alle am Projekt Beteiligten sind nach wie vor davon überzeugt, dass das Resultat ihrer Arbeit im wahr-sten Sinn des Wortes zur „Humanisierung“ des Deutschunterrichts beitragen kann.

_______________

1 Diehl et al. (1991: 1–71).

XIII

Ein so ambitiöses Vorhaben ist auf intensive und vertrauensvolle Zusam-menarbeit angewiesen. Wir können nicht genug betonen, dass das Projekt ohne das Engagement des Lehrerteams niemals hätte durchgeführt werden können.

Unser Dank gilt an erster Stelle den Koordinatorinnen für die einzelnen Schulstufen: für die Primarschule Lucrezia Marti, für die Sekundarstufe I Annie Fayolle Dietl und Cornelia Rohner, für die verschiedenen Schultypen der Sekundarstufe II Chantal Andenmatten Gerber, Hannelore Pistorius Dia-mond und Brigitte Weber. Ihrem Organisationstalent, ihrer Ausdauer und ih-rer Diplomatie bei der Koordinierung zwischen dem wissenschaftlichen Team und der Lehrerschaft sur le terrain ist es zu verdanken, dass eine so ungewöhnlich intensive (und freundschaftliche) Zusammenarbeit zwischen akademischer Forschung und Schulpraxis zustande kommen und bis zum Ende durchgehalten werden konnte. Zudem standen sie für unsere Rückfragen nach den Usancen der Unterrichtspraxis (und auch für Interpretationshilfen bei allzu rätselhaften Schülerproduktionen) jederzeit zur Verfügung.

Ebenso ausdrücklich sei dem Team von Deutschlehrerinnen und -lehrern gedankt, die die Arbeit „an der Basis“ leisteten: Sie liessen während zwei Jahren in ihrem Unterricht die Aufsätze schreiben, die das Korpus des For-schungsprojektes bilden, und übernahmen auch den ersten Analysedurch-gang.2 Ein Teil von ihnen beteiligte sich zusätzlich im dritten Jahr unter der Federführung der Koordinatorinnen an der Formulierung der didaktischen Konsequenzen des Forschungsprojektes; ihre Namen sind mit * bezeichnet. Es sind dies: − für die Primarschule: Marianne Bonenfant, Marie-Claire Godard, Nicole

Good Mohnhaupt, Magali Leutwyler, Roland Pasche, Samuel Perriard, Pierre Pricat, Jean-Louis Torimbert und Claire-Lise Wünsche;

− für die Sekundarstufe I (cycle d’orientation): Albert Baumgartner, Roland Battus, Sandrine Buechli*, Carmen Fatsini Marquez*, Claudine Haessig, Jacqueline Hegg, Chatrina Largiadér Lutz*, Doris Rottstock*, Arlette Schipperijn und Inge Unterlerchner*;

− für die Sekundarstufe II (Ecole de Culture générale, Ecole supérieure de Commerce, Collège): Sandra Ballis*, Brigitte Bodmer Hauri*, Silvia Cre-monte, Esther Diener Willig, Blaise Extermann*, Heidi Gembicki, Chris-tine Guinand, Christophe Hauser*, Tanja Jermann*, Monique Matthey, Bettina Montavon, William Nater, Judith Rohner und Renata von Davier.

In unseren Dank seien auch unsere „Testpersonen“ einbezogen, die Schüle-_______________

2 Bei manchen von ihnen erstreckte sich das Engagement auf nur ein Jahr. Die De-

tails hierzu sind nachzulesen in der Broschüre „Recommandations DiGS – Deutsch in Genfer Schulen. A propos de l’acquisition de la grammaire allemande“, Dépar-tement de l’Instruction Publique, Genève 1998 (siehe auch Fussnote 24, S. 383).

XIV

rinnen und Schüler aus dreissig Klassen, denen das ihnen ungewohnte „freie Schreiben“ von Aufsätzen abverlangt wurde, ohne dass sie damit irgendeinen Pluspunkt verdienen konnten. Sie haben uns mit ihren Texten nicht nur Ein-blick in ihr Ringen mit der deutschen Grammatik gewährt, sondern auch in ihre Gedanken- und Erlebniswelt. Sooft wir ihre Aufsätze in den vergangenen Jahren auch hin- und hergewendet haben – immer sind uns die jugendlichen Autorinnen und Autoren gegenwärtig geblieben; immer deutlicher lernten wir ihre Erkundungswege in die komplizierte deutsche Grammatik als je individuelle Versuche zu interpretieren, mit den Anforderungen der Aus-senwelt fertig zu werden.

Den finanziellen Rahmen für das Projekt stellten verschiedene Instanzen bereit. Die wissenschaftliche Arbeit wurde überwiegend durch Mittel des Schweizerischen Nationalfonds für wissenschaftliche Forschung finanziert, dem an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Dass die Arbeit auch nach Beendi-gung dieser Förderung weitergeführt werden konnte, verdanken wir der Un-terstützung verschiedener Sponsoren. An erster Stelle sei den Stiftungen Ernst und Lucie Schmidheiny und Hans Wilsdorf für ihre ausserordentlich grosszügige Hilfe gedankt. Mit weiteren Beiträgen unterstützten uns Cater-pillar Overseas, der Touring Club Suisse, die Union Bancaire Privée, die Walter Oertli Stiftung und D.S.R. Morges. Ihnen allen gilt unser Dank, nicht nur für die finanzielle Unterstützung, sondern auch für die Ermutigung, die dieses positive Echo aus ausserakademischen Kreisen für uns bedeutete.

Die Genfer Erziehungsdirektion gewährte den mitarbeitenden Lehrerinnen und Lehrern Entlastungen von Unterrichtsstunden. Ausserdem ermöglichte sie mehrere Veranstaltungen im Rahmen der Lehrerfortbildung, auf denen über Verlauf und Ergebnisse des Projektes informiert werden konnte. Wir danken allen Verantwortlichen, insbesondere Maurice Bettens, dem Präsidenten der Commission de l’enseignement de l’allemand und Direktor des Enseignement du Cycle d’Orientation, Marie-Claire Andres, Direktorin des Enseignement primaire, und Marianne Extermann, Direktorin des Enseignement du Postobligatoire, dass sie das Projekt ermöglicht und wohlwollend bis zu seinem Abschluss begleitet haben.

Schliesslich danken wir Gottfried Kolde, der das Projekt beim National-fonds mit getragen und uns bei schwierigen Fragen beraten hat, und Horst Sitta, der uns als erfahrener Projektleiter von Anfang an mit wichtigen orga-nisatorischen und wissenschaftlichen Ratschlägen zur Seite gestanden hat. Elizabeth Williamson und André Gigon halfen uns bei der Sponsorensuche, und Raphael Berthele erstellte die Druckvorlage – auch ihnen allen herzlichen Dank!

Und last but not least sei dankbar unserer Ehemänner und Partner gedacht, deren Geduld und Nachsicht in den vergangenen drei Jahren viel zugemutet worden ist. Wir können nur hoffen, dass die Ergebnisse dieser langen Mühe

XV

so positive Folgen in den Klassenzimmern haben werden, dass sich alle diese Opfer im Nachhinein als gerechtfertigt erweisen.

Verzeichnis der Tabellen Tab. 1: Satzmodelle in der Primarschule: Kontexthäufigkeit (korrekte vs. abweichende Realisierung) ......................................................74 Tab. 2: Satzmodelle in der Primarschule: Korrektheitsquote ....................74 Tab. 3: W- und E-Fragen und Inversion in der Primarschule: Klassenvergleich (korrekte vs. abweichende Lösungen + Korrektheitsquote) ........................................................................78 Tab. 4: Inversion in Klasse 4b/5b: Selbstkorrekturen................................78 Tab. 5: Inversion in Klasse 4b/5b: Bilanz nach 2 Jahren...........................79 Tab. 6: Fragesätze und Inversion in der 6. Klasse .....................................80 Tab. 7: Stand am Ende der 4., 5. und 6. Klasse (nach Schülern, ohne Klasse 4b/5b) ................................................................................83 Tab. 8: Stand am Ende der Klasse 4b/5b...................................................83 Tab. 9: Erwerbsstand in den 7. Klassen (S-V- und Fragesätze).................87 Tab. 10: Verbalklammer, Inversion und Nebensatz im Cycle.....................87 Tab. 11: Verbalklammer und Inversion in der 7. Klasse .............................95 Tab. 12: Verbalklammer, Nebensatz und Inversion in der 8. Klasse...........95 Tab. 13: Verbalklammer, Nebensatz und Inversion in der 9. Klasse..........96 Tab. 14: Erwerbsstand in der 10. Klasse in ECG, ESC und Collège.........101 Tab. 15: Erwerbsstand am Ende der 10. Klasse (nach Schülern) ..............101 Tab. 16: Erwerbsstand bei Schulabschluss der ECG.................................106 Tab. 17: Erwerbsstand bei der Maturität (ESC und Collège) ....................107 Tab. 18: Beispiel eines Analysebogens mit 5 Testpersonen......................108 Tab. 19: Korpus für die Analyse des Verbalbereichs................................132 Tab. 20: Verwendete Verbalformen in Phase I..........................................134 Tab. 21: Häufigste vorkommende Verbalformen ......................................135 Tab. 22: Generalisierungen einer Personalform ........................................139 Tab. 23: Bildung des Partizips ..................................................................149 Tab. 24: Verben, die als feste Wendungen im Präteritum benutzt werden.........................................................................................153 Tab. 25: Vorkommende Präteritaformen in der Phase V...........................155 Tab. 26: Einstufung der Testpersonen in die Phasen des Verbalerwerbs ..160 Tab. 27: Zusammenfassung richtiges/falsches Genus pro Arbeit ..............175 Tab. 28: Die Genuszuweisung nach zielsprachlichem Genus....................177 Tab. 29: Genuszuweisung nach der morphosyntaktischen Stelle der Genusmarkierung ........................................................................183 Tab. 30: Formale Richtigkeit der Flexive in DET und ADJ in derselben Nominalgruppe ...........................................................189

XVIII

Tab. 31: Formale Richtigkeit der komplexen Nominalgruppen nach dem Genus des Nomens und nach morphosyntaktischer Umgebung...................................................................................190 Tab. 32: Komplexität verschiedener Flexionsverfahren ............................193 Tab. 33: Die Stadien der Adjektiv-Flexion nach Schuljahren ...................197 Tab. 34: Pluralmarker im lernersprachlichen Input der 4. bis 6. Klasse....204 Tab. 35: Auftretenshäufigkeit von verschiedenen Pluralflexiven (Tokens) ......................................................................................207 Tab. 36: Nomen nach zielsprachlichen Pluralallomorphen (Tokens) ........207 Tab. 37: Abweichende Pluralallomorphe (Tokens) und ihre zielsprachlichen Entsprechungen ................................................208 Tab. 38: Anzahl generalisierter Pluralmarker im Untersuchungszeitraum nach Klassenstufe..................................213 Tab. 39: Art der generalisierten Pluralmarker im Untersuchungszeitraum nach Klassenstufe..................................214 Tab. 40: Pluralaffixe in Komposita ...........................................................218 Tab. 41: Erwerbsstand – am Ende jeder Klassenstufe...............................248 Tab. 42: Erwerbsstand nach Behandlung im Unterricht – nach Phasen ....252 Tab. 43: Erwerbsstand nach Behandlung im Unterricht – Ein-Kasus- System vs. Mehr-Kasus-System ..................................................252 Tab. 44: Korrekt gewählter Kasus vs. korrektes Syntagma (NP Sg. mask.) ............................................................................259 Tab. 45: Korrekte und abweichende NP (einfache und komplexe) ...........261 Tab. 46: Verbreitung der WP ....................................................................276 Tab. 47: Frequenz WP...............................................................................279 Tab. 48: Verbreitung PfK..........................................................................280 Tab. 49: Frequenz PfK ..............................................................................281 Tab. 50: Frequenz WP + PfK ....................................................................283 Tab. 51: Kasuswahl nach mit.....................................................................291 Tab. 52: Lokative und direktive Kontexte in den Testarbeiten..................303 Tab. 53: Anteil korrekter PP – 6 Gruppen.................................................304 Tab. 54: zu Hause vs. nach Hause .............................................................320 Tab. 55: Erwerbssequenzen.......................................................................364 Tab. 56: Erwerbsstand im Verbalbereich ..................................................370 Tab. 57: Erwerbsstand im Bereich der Satzmodelle..................................370 Tab. 58: Erwerbsstand im Bereich der Kasus in Nominalphrasen.............370 Tab. 59: Resultate aus den Klassen der obligatorischen Schulzeit ............386 Tab. 60: Resultate aus den Klassen der nachobligatorischen Schulzeit.....386 Tab. 61: Zusammenfassung nach Schultyp................................................387 Tab. 62: Resultate aus den Klassen der obligatorischen Schulzeit ............387 Tab. 63: Resultate aus den Klassen der nachobligatorischen Schulzeit.....388 Tab. 64: Zusammenfassung nach Schultyp................................................388

XIX

Verzeichnis der Abkürzungen / statt (z. B. N/A = Nominativ statt Akkusativ) [K: ...] Selbstkorrektur (vor der eckigen Klammer steht das Ergeb-

nis der Korrektur, in der Klammer steht die ursprüngliche, noch nicht korrigierte Version)

12 (10/2) erste Zahl: Gesamtvorkommen einer Form bzw. Struktur, 1. Zahl in der Klammer: korrekte Lösungen, 2. Zahl in der Klammer: abweichende Lösungen

A Akkusativ ADJ Adjektiv Anne B 7/8, 6 Quellenangabe: Vorname + 1. Buchstabe des Nachnamens

der Testperson; die beiden Schuljahre des Beobachtungs-zeitraums; Nummer des zitierten Aufsatzes (dabei ist zu be-achten, dass sich die TP vom 5. Aufsatz an im nächsten Schuljahr befindet, also im Beispiel: in der 8. Klasse)

C collège (entspricht dem Gymnasium) CO cycle d’orientation, Orientierungsstufe (entspricht etwa der

Sekundarstufe I) D Dativ DEM Demonstrativum DET Determinans DIR Direktiv DO direktes Objekt E-Fragen Entscheidungsfrage (ohne Fragewort) ECG école de culture générale (10.–12. Klasse, Diplommittel-

schule EP école primaire (Primarschule) ESC école supérieure de commerce (entspricht der höheren

Handelsschule) INDEF Indefinitartikel IO indirektes Objekt L1 Erstsprache L2 Zweitsprache; Fremdsprache LOK Lokativ M in Quellenangaben bei Schülertexten: Maturitätsarbeit N Nominativ NGP Natürliches-Geschlecht-Prinzip NP Nominalphrase O Objekt

XX

PfK Präposition mit festem Kasus POSS Possessivum PP Präpositionalphrase S Subjekt TP Testperson V Verb W-Fragen Fragen mit einleitendem Fragewort WP Wechselpräposition

Teil I: Die Ausgangslage

1 Einleitung Erika Diehl 1.1 Fragestellung; Zielsetzung In den Beiträgen dieses Bandes werden die Ergebnisse eines dreijährigen Forschungsprojektes vorgestellt, das den Erwerb der deutschen Grammatik durch Schülerinnen und Schüler an Genfer Schulen zum Gegenstand hatte. Der vollständige Titel des Projektes – „Grammatikerwerb im Fremdspra-chenunterricht untersucht am Beispiel Deutsch als Fremdsprache“ – wurde im Verlauf der Projektarbeit bald verdrängt durch die handlichere Kurzbe-zeichnung „DiGS“ (= Deutsch in Genfer Schulen). Wir werden diese Abkür-zung auch im Folgenden benützen.

Ziel des DiGS-Projektes ist es, die Hypothese der kognitiv ausgerichteten Zweitsprachen-Erwerbsforschung zu überprüfen, nach der der Erwerb einer Fremdsprache auch unter gesteuerten Bedingungen einer inneren Gesetzmäs-sigkeit unterliegt und in einer bestimmten Phasenabfolge verläuft, die durch Unterricht nicht verändert werden kann. Diese Hypothese ist in zweierlei Hinsicht bedenkenswert:

Aus wissenschaftlicher Sicht stellt sie die kognitive Beschaffenheit von Spracherwerb generell zur Diskussion. Denn die Hypothese von der Eigenge-setzlichkeit von Zweitsprachenerwerb auch unter gesteuerten Bedingungen behauptet ja nichts anderes, als dass eine Fremdsprache nur sehr beschränkt über explizites Regelwissen zugänglich ist, m. a. W. dass Fremdsprachenler-ner aus dem didaktisch aufbereiteten Regelwissen, das sie im Unterricht ange-boten bekommen, nur einen begrenzten Nutzen ziehen können und trotz aller Erklärungen und ungeachtet allen negativen Feedbacks, mit dem sie ja reich-lich eingedeckt werden, nicht umhin können, die Regeln der L2 selbst aus dem Input zu erschliessen. Metasprachliches Wissen über die L2 wäre dem-zufolge auf einer anderen kognitiven Ebene angesiedelt als die Fähigkeit, die L2 regelkonform in Kommunikationsakten anzuwenden.

Aus didaktischer Sicht stellt diese Hypothese die Tradition fremdsprachli-chen Unterrichts radikal in Frage. Wenn es zutrifft, dass explizite grammati-sche Instruktion für den Aufbau der grammatischen Kompetenz gar nicht oder nur eingeschränkt nutzbar gemacht werden kann, dann wurde bisher im Fremdsprachenunterricht viel Zeit vertan, die sinnvoller eingesetzt werden könnte, indem die Bedingungen natürlichen Erwerbs so weit wie möglich simuliert würden.

4

Im DiGS-Projekt sind beide Erkenntnisinteressen miteinander verknüpft. Un-ser Ziel ist, die bisher vorliegenden Forschungsergebnisse auf der Grundlage eines breit angelegten Korpus zu überprüfen, und zwar unter folgenden Fra-gestellungen: a) Wie verhalten sich Grammatikinstruktion und Grammatikerwerb zuei-

nander? Weicht der Grammatikerwerb unserer Probanden tatsächlich sig-nifikant von der schulischen Grammatikprogression ab? Und wenn ja, in welcher Weise?

b) Wenn (a) zutrifft, welchen Gesetzmässigkeiten gehorcht dann der Gram-matikerwerb? Welchen alternativen Erwerbswegen folgen die Schülerin-nen und Schüler? Wie bauen sie ihre grammatische Kompetenz auf?

c) Lassen sich überindividuelle Erwerbsreihenfolgen ermitteln? Gelten diese Erwerbsreihenfolgen für alle Teilbereiche der Grammatik in gleicher Weise? Bestehen Korrelationen zwischen ihnen?

d) Wenn (c) zutrifft: Gibt es zu diesen Erwerbsfolgen und Korrelationen Pa-rallelen im L1-Erwerb und/oder im natürlichen L2-Erwerb?

e) Wo verläuft die Grenze zwischen überindividuellen Erwerbsgesetzen und individuellen Unterschieden? Wie gross ist der Spielraum der individuel-len Variation; worauf können die erheblichen individuellen Unterschiede im Erwerbserfolg zurückgeführt werden?

1.2 Zum Korpus Es war von Anfang an klar, dass ein breit angelegtes Korpus notwendig war, um zu verlässlichen Ergebnissen zu gelangen, nicht nur aus wissenschaftli-chen Gründen, sondern auch, um überzeugende Argumente für die eventuell fälligen didaktischen Konsequenzen vorlegen zu können. Ebenso war klar, dass nur dann Aussicht auf die Mitarbeit einer hinreichen-den Anzahl von Deutschlehrerinnen und -lehrern bestand, wenn sich die Da-tenerhebung ohne allzu nachhaltige Störungen in den Schulalltag integrieren liess. Es mussten also akzeptable Kompromisse zwischen dem wissenschaft-lich Vertretbaren und dem praktisch Zumutbaren gefunden werden.

Im Auftrag der Commission de l’Enseignement de l’Allemand (CEA) der Genfer Erziehungsdirektion wurde deshalb zunächst von einer kleinen Gruppe von Deutschlehrern unter Leitung von Erika Diehl eine Pilotstudie entworfen und im Schuljahr 1993–94 mit einem schmalen Sample von Schülern aller Klassenstufen durchgeführt.1 Dabei wurden die ersten Fassun-_______________

1 An der Pilotstudie waren beteiligt: für die Primarschule Nicole Good Mohnhaupt

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gen von Erhebungsbögen erstellt und Analysemethoden getestet. Gestützt auf die Erfahrungen dieses Probelaufs wurde dann das eigentliche DiGS-Projekt entworfen, die Datenerhebung geplant, die künftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewonnen und die Analyseverfahren verfeinert. Im September 1995 begann die Datenerhebung; im Juni 1997 wurde sie abgeschlossen.

In 30 Schulklassen, von der 4. Primarschulklasse an (in der der erste Deutschunterricht stattfindet) bis zur 12. Klasse, wurden im Verlauf von zwei Schuljahren acht Aufsätze geschrieben; hinzu kamen die Deutscharbeiten der Maturitätsprüfungen. In jeder Klasse wählten die Deutschlehrerinnen und -lehrer für die Untersuchung zehn Schüler aus, die in etwa den Klassendurch-schnitt repräsentierten – also schwache, durchschnittliche und gute Schüler. Um die Lehrervariable zumindest etwas zu reduzieren, war jede Klassenstufe mit mindestens zwei Parallelklassen vertreten. An den Schulübergängen er-höhten wir die Zahl der Parallelklassen, um die erwartbarenVerluste zwischen dem ersten und dem zweiten Beobachtungsjahr (durch Schulwechsel unserer Testschüler, Nichtversetzung, Schulabgänge usw.) auffangen zu können. Auf diese Weise gelang es, von den im ersten Jahr erfassten 300 Schülern immerhin noch 220 im zweiten Jahr beizubehalten.

Das Korpus des DiGS-Projektes wurde, so weit irgend möglich, auf fran-kophone Schüler beschränkt, da wir von der Annahme ausgingen, dass die Erstsprache den Verlauf des Zweitsprachenerwerbs beeinflussen könnte. Wenn in einer Klasse keine zehn frankophonen Schüler zu finden waren, wur-den nach Möglichkeit solche mit anderen romanischen Muttersprachen – ita-lienisch, spanisch, portugiesisch – hinzugenommen. Prinzipiell ausgeschlos-sen waren alle Schüler mit regelmässigen Deutschkontakten ausserhalb der Schule, etwa in der Familie. – Zur Klärung des jeweiligen sprachlichen Kontextes innerhalb der Familien (Muttersprache[n], eventuelle Zweitspra-chen, deren Beherrschungsgrad, Kontaktpersonen usw.) wurde den Schülern zu Beginn des Projektes ein Fragebogen vorgelegt, in dem sie auch nach ihrer Einstellung zum Deutschen gefragt wurden.2

Erhoben wurden ausschliesslich grammatische Formen und Strukturen. Diese Einschränkung legte die gegenwärtige Forschungslage in der Sprach-erwerbsforschung nahe, die sich generell auf die Analyse grammatischer Strukturen konzentriert. Es war also sinnvoll, dass wir denselben Untersu-chungsgegenstand wählten, um unsere Ergebnisse mit denen anderer Unter-suchungen (zum Erstsprachenerwerb sowie zum gesteuerten und ungesteu-erten Zweitsprachenerwerb) vergleichen zu können. Allerdings konnten wir dank des grossen Mitarbeiterstabs unseren Untersuchungsbereich breiter an-________________

und Jeanne-Marie Killisch; für die Sekundarstufe I Annie Fayolle Dietl und Ro-land Battus, für die Sekundarstufe II Chantal Andenmatten Gerber, Hannelore Pis-torius Diamond und Brigitte Weber.

2 Ein Exemplar dieses Fragebogens ist im Anhang wiedergegeben.

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legen als bisherige Forschungsarbeiten und parallel die drei grammatischen Hauptbereiche bearbeiten, die auch im Schulunterricht zentral sind: den Satzbau (insbesondere die Verbstellung), den Verbalkomplex (Konjugation, Tempora, Modi) und die Deklination (Genus, Numerus, Kasus). Für eine sol-che Ausweitung des Untersuchungsbereichs sprach zum einen das wissen-schaftliche Interesse, auf diese Weise auch die Existenz möglicher Korrela-tionen beim Erwerb der verschiedenen Bereiche zu überprüfen, zum andern der Wunsch des Lehrerteams, sich für eventuelle didaktische Umsetzungen auf eine möglichst breit gefächerte Untersuchungsbasis stützen zu können.

Im Verlauf der Projektarbeit sind dann allerdings einige der ursprünglich erhobenen Strukturen wieder aus der Untersuchung eliminiert worden, und zwar solche, die – obwohl Unterrichtsgegenstand – in den Schülerarbeiten so selten auftauchten, dass keine Schlüsse daraus gezogen werden konnten. Dies gilt beispielsweise für Passiv-Konstruktionen, auf die sich nur ganz wenige Schüler der Oberstufe einliessen, ebenso wie für den Genitiv.

In einem weiteren Punkt weicht unsere Datenbasis von der aller anderen uns bekannten Untersuchungen zum Zweitsprachenerwerb ab: wir verwenden schriftliche, nicht mündliche Daten. Zu dieser Entscheidung veranlassten uns zunächst rein arbeitsökonomische Gründe: die Transkription hätte einen unverhältnismässig hohen Zeitaufwand in Anspruch genommen, zudem wäre die Aufnahme mündlicher Sprachdaten nicht ohne weiteres in den üblichen Schulalltag integrierbar gewesen.

Das freie Schreiben deutscher Texte war allerdings für unsere Probanden eine höchst ungewohnte Übung. Für die Primarschulkinder der 4. und 5. Klasse bedeutete es sogar einen ausgesprochenen Verstoss gegen die Didaktik des Lehrwerks,3 das während des ersten Jahres jede Form von Schriftlichkeit vermeidet und erst im zweiten Jahr die Lektüre einführt, weshalb die deutsche Orthographie der Viert- und Fünftklässler ein teilweise überaus originelles Schriftbild aufweist.4 Und die Schüler des cycle d’orientation waren durch ihr der audiovisuellen Methode verpflichtetes Lehrwerk5 eher an Mündlichkeit gewöhnt, insofern sie sich überhaupt des Deutschen als Werkzeug der Kommunikation bedienten... Somit wurde ihnen eine im Unterricht üblicherweise nicht trainierte Leistung abverlangt, was von den einen als Gelegenheit genutzt wurde, ihrer Mitteilungslust und Phantasie freien Lauf zu lassen, was aber bei anderen ebenso offensichtlich zu Blockaden und Verweigerung führte. Für die Zwecke unserer Untersuchung sind freilich auch solche Minimaltexte noch aufschlussreich. Erst auf den weiterführenden Schulen findet allmählich das Schreiben freier Texte Eingang in die Unter-_______________

3 Es handelte sich um den „Cours romand“ (1983/1984/1985). 4 Siehe das Textbeispiel in separater PDF-Datei : digs_complete_anhang2.pdf. 5 Vorwärts International (1972, 1974). – Beide Lehrwerke, sowohl der „Cours ro-

mand“ als auch „Vorwärts“, wurden seitdem durch andere Lehrwerke abgelöst.

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richtspraxis, in den ersten beiden Klassen zunächst eher sporadisch, in der 12. und 13. Klasse dann als weitgehend regelmässig wiederkehrende Übung – dies in Vorbereitung der Maturitätsprüfung, in der neben einer mündlichen Prüfung auch die Redaktion eines Aufsatzes verlangt wird.

Die Aufsatzthemen wurden mit den Lehrerinnen und Lehrern abgespro-chen und so formuliert, dass sie zwar einerseits offen genug waren, um noch genügend Spielraum für die anvisierte Textsorte „freies Schreiben“ zu lassen, andererseits aber doch auch bestimmte Formen und Strukturen elizidieren sollten (so etwa das Thema: „Erfinde ein Interview mit deinem Idol“ zur Eli-zidierung von Fragekonstruktionen; Bildbeschreibungen, um den Gebrauch von Präpositionalphrasen und/oder Adjektiven nahezulegen, oder die Wei-tererzählung einer Geschichte, deren Anfangssatz in der Vergangenheit vor-gegeben wurde). Soweit möglich, wurden die Themen zwischen den ver-schiedenen Klassen abgestimmt, unter Berücksichtigung der jeweiligen Al-tersstufen. Hilfsmittel (Wörterbücher, Lehrbücher) waren nicht erlaubt. Kor-rekturen sollten den ursprünglichen Text noch erkennen lassen. Den Schülern wurde klargemacht, dass diese Arbeiten nicht benotet würden und dass sie als Grundlage eines Forschungsprojektes dienten. Auf diese Weise sollten sie dazu ermuntert werden, auch Strukturen zu benützen, deren sie sich noch nicht sicher waren.

Schriftliche Daten haben ihre Vor- und Nachteile. Ein Vorteil ist zweifel-los, dass Unsicherheiten wie bei der Transkription mündlicher Daten entfal-len. Ein weiterer Vorteil ist, zumindest bei unseren Genfer Schülern, dass wir ihnen innerhalb des oben beschriebenen Rahmens vermutlich mehr deutsche Äusserungen entlocken konnten, als dies bei einer mündlichen Datenerhebung möglich gewesen wäre. Andererseits impliziert die Verwendung schriftlicher Daten auch Nachteile, deren wir uns durchaus bewusst sind:

Schriftliche Daten können keinesfalls in gleichem Masse als „Spontandaten“ interpretiert werden wie mündliche Daten. In der reichlich vorhandenen Literatur zur Schriftlichkeit wird auf den wesentlichen Faktor Zeit verwiesen, der in schriftlichen Produktionen die Möglichkeit bewusster Planung, Regelanwendung und Selbstkorrektur offenhält.6

Dass manche Schüler diese Möglichkeit reflektierter Sprachproduktion in der Tat zu nutzen verstehen, liess sich auch unseren Daten entnehmen, am deutlichsten natürlich dort, wo sich die Schüler selbst korrigiert hatten. Un-sere Daten zeigten aber auch, dass bei vielen Schülern das Bedürfnis – oder die Fähigkeit – einer solchen Selbstkontrolle doch eher gering, wenn nicht inexistent ist. Bei einem recht grossen Anteil der Schüler dürfen wir wohl _______________

6 Zu den Unterschieden zwischen gesprochener und geschriebener Sprache vgl. bei-

spielsweise Sieber/Sitta (1986: 124ff.), dort auch weitere Literatur. Eine sehr aus-führliche Behandlung der Problematik des Schreibens ist nachzulesen bei Paul Portmann (1991).

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zuversichtlich davon ausgehen, dass die Spontaneität ihrer schriftlichen Pro-duktion derjenigen ihrer mündlichen Äusserungen kaum nachsteht. Nicht nur das Schriftbild, sondern auch semantische Inkonsequenzen nähren eine solche Vermutung.

Eine weitere Einschränkung sind die Aufsatzthemen selbst. Sie waren zwar zum Elizidieren bestimmter Strukturen notwendig (wie z. B. Fragesätze mit dem Thema „Interview“), schlossen aber zugleich die Verwendung anderer Formen und Strukturen weitgehend aus (im Thema „Interview“ ist bei-spielsweise die Auftretenswahrscheinlichkeit von Vergangenheitsformen ge-ring). Es war also nicht möglich, alle grammatischen Phänomene kontinuier-lich über alle acht Schüleraufsätze hinweg zu beobachten.

Ein weiterer Nachteil unseres Korpus liegt – unvermeidlich bei allen mehr oder weniger „freien“ Sprachproduktionen – in den Ausweichmöglichkeiten, den „Vermeidungsstrategien“, die gerade von einer durch Evaluation und Fehlersanktion traumatisierten Schülerpopulation extensiv in Anspruch ge-nommen werden. Die Ankündigung, ihre Texte würden nicht benotet, ver-mochte dieses Handicap nur teilweise aufzufangen. Um den Schülern bei-spielsweise attributive Adjektive abzuverlangen, bedurfte es sehr stark ge-lenkter Anweisungen (etwa der Beschreibung farbiger Bilder); manchen Schülern gelang es auch, im Verlauf der beiden Beobachtungsjahre ein Mi-nimum von Präpositionalphrasen zu verwenden. So aufschlussreich auch sol-che Vermeidungsstrategien sind – indem sie sehr genau erkennen lassen, welche Strukturen von Schülern als fehlerträchtig und deshalb als vermei-dungsbedürftig interpretiert werden –, so behutsam sind Beobachtungen über Erwerbsverläufe in diesen Bereichen in ihrer Aussagekraft zu werten (in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches werden wir die nötigen Einschrän-kungen immer explizit benennen).

Viel prinzipieller als alle obengenannten Einwände ist jedoch jener, dass mit schriftlichen Produkten nur ein bestimmter Ausschnitt aus der gesamten Sprachkompetenz erfasst wird, nämlich die Fähigkeit, gespeichertes Wissen – wo immer es auf der Achse bewusst- unbewusst angesiedelt sein mag – in „Handeln“ umzusetzen, mit anderen Worten: aus unseren Daten geht nicht hervor, welches Mehr an grammatischem Wissen unsere Probanden eventuell bereits als declarative knowledge7 gespeichert haben, ohne es schon aktiv in ihrer Sprachverwendung einsetzen zu können. Wir erfassen also nur denjeni-gen Teil ihrer Deutschkompetenz, der sich in ihren Aufsätzen als procedural

_______________

7 Bei O’Malley/Chamot definiert als „a special type of information in long-term memory that consists of knowledge about the facts and things we know. This type of knowledge is stored in terms of propositions, schemata, and propositional net-works. It may also be stored in terms of isolated pieces of information, temporal strings, and images.“ (O’Malley/Chamot 1990: 229)

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knowledge8 niederschlägt. Bestenfalls die Selbstkorrekturen der Schüler sind als sichtbare Spuren von Transferprozessen zwischen deklarativem und pro-zeduralem Wissen greifbar; doch lässt sich aus solchen einzelnen, unsystema-tischen Beobachtungen sicher kein anderer Schluss ziehen als der, dass im sprachlichen Wissensbestand offensichtlich konkurrierende interimsprachli-che Regeln existieren, die in schriftlicher Produktion abgerufen werden kön-nen (wobei solche Selbstkorrekturen ja durchaus nicht immer zu normkonfor-men Lösungen führen müssen). Was unsere Daten zugänglich machen, ist demnach nur diejenige grammatische Kompetenz von frankophonen Schü-lern, die in schriftlichen Äusserungen aktiviert werden kann.9 1.3 Zur Datenanalyse Für die Auswertung der rund 1800 Schüleraufsätze des DiGS-Korpus musste ein arbeitsteiliges Verfahren gefunden werden. Eine erste Voranalyse wurde von den Deutschlehrerinnen und -lehrern vorgenommen. Sie übertrugen die Texte der zehn ausgewählten Testschüler auf Erhebungsbögen, die abwei-chenden Formen und Strukturen ebenso wie die normkonformen. Je ein Bo-gen war vorgesehen für die Satzmodelle, den Verbalbereich, die Nominal-phrasen und die Präpositionalphrasen. Ein fünfter Bogen diente als „Sammelbogen“ für alle Äusserungen, die nicht auf den vier anderen Bögen rubriziert werden konnten oder nicht eindeutig entscheidbar waren, sowie für Beobachtung und Bemerkungen der Lehrerinnen und Lehrer.10

Diese Voranalysen bildeten die Arbeitsgrundlage für das Team der fünf wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen. Die Hoffnung, diese Detailanalyse ei-nem elektronischen Datenverarbeitungsprogramm überlassen zu können, ver-flüchtigte sich mit zunehmender Vertrautheit mit dem Datenmaterial. Es wa-ren zu viele Variablen zu berücksichtigen; viele Fragen konnten nur durch einen Blick auf den grösseren Kontext entschieden werden – eine rein quan-titative Auswertung der Daten hätte zu geradezu absurden Ergebnissen ge-führt; eine qualitative Analyse wäre unverhältnismässig aufwendig gewesen. _______________

8 „Knowledge that consists of the things that we know how to do. It underlies the

execution of all complex cognitive skills. [...] Procedural knowledge includes mental activities such as problem solving, language reception and production, and using learning strategies“. (O’Malley/Chamot 1990: 231)

9 Entsprechende Überlegungen zum Problem des Verhältnisses zwischen grammati-schem Wissen und Sprachgebrauch sind auch nachzulesen bei Clahsen/Meisel/Pie-nemann 1983: 74 und 89ff.

10 Im Anhang sind diese Erhebungsbögen abgedruckt.

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Welche spezifischen Analyse- und Interpretationsprobleme in den verschie-denen untersuchten Grammatikbereichen aufgetreten sind, wird in den ein-schlägigen Kapiteln diskutiert.

Neben der eigentlichen Datenerhebung brauchten wir auch genaue Aus-künfte über den behandelten Grammatikstoff. Wir erhielten sie von der Leh-rerschaft direkt, sei es durch entsprechende Notizen als Beilage zu den Schüleraufsätzen, sei es als Angabe der behandelten Lektion im Lehrbuch. Zudem konnten wir uns auf sehr detaillierte, ebenfalls vom Lehrerteam auf unsere Bitte durchgeführte Lehrbuchanalysen stützen, in denen zwischen dem „expliziten“ Grammatik-Input (dem „Grammatikstoff“ der jeweiligen Lektion) und dem „impliziten“ Input (der blossen Verwendung der entspre-chenden Formen und Strukturen in den Texten der Lektion) unterschieden wurde. Zusätzlich hatten wir Einblick in die Grammatikbroschüren, die von Genfer Deutschlehrern erstellt worden waren, um dem „Manko“ an systema-tischer Grammatikpräsentation in dem audiovisuell orientierten Lehrwerk „Vorwärts“abzuhelfen. Gestützt auf all diese Informationen war es möglich, die „Inkubationszeit“ zu ermitteln, die eine grammatische Regel braucht, be-vor sie in den Schülertexten produktiv eingesetzt werden kann. Eine erhebli-che zeitliche Verschiebung zwischen Präsentation im Unterricht und produk-tiver Verwendung in Texten interpretieren wir als Indiz für eine Diskrepanz zwischen der schulischen Grammatikprogression und der natürlichen Er-werbsfolge; kann jedoch eine Regel relativ kurz nach ihrer Einführung inte-griert werden, so sehen wir darin einen parallelen Verlauf von Grammatikin-struktion und natürlichem Erwerb.

Und wenn es auch überflüssig erscheinen mag, so möchten wir doch noch einmal ausdrücklich betonen, dass unsere Analysen nur für die Genfer Schü-lerpopulation Anspruch auf Gültigkeit erhebt. Dass deren Lernmotivation für Deutsch sich in Grenzen hält, wurde bereits angedeutet; in Kapitel 2 wird noch näher darauf eingegangen. Wir wollen nicht ausschliessen, dass mögli-cherweise in anderen Kontexten, in anderen Lernkulturen bei gleichem Un-terrichtsaufwand höhere Erwerbsstände erreicht werden können, so wenig wir ausschliessen wollen, dass auch die Genfer Schülerinnen und Schüler weiter kommen können – vielleicht mit Hilfe einer Fremdsprachendidaktik, die sich von unseren Projektergebnissen anregen lässt. Unsere Resultate sollen also nicht missverstanden werden als Festschreiben dessen, was im Schulunterricht überhaupt möglich ist.

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1.4 Zur Gliederung des Bandes Das Buch ist aus einer Teamarbeit hervorgegangen, in der zunächst gemein-sam die Analysemethoden erarbeitet wurden; erst in einem zweiten Schritt wurde die Bearbeitung der einzelnen Grammatikbereiche aufgeteilt.

Wir bemühten uns, die Kapitel so zu redigieren, dass sie auch einzeln gelesen werden können. Wer also beispielsweise weniger an theoretischen Fragen des Spracherwerbs interessiert ist, kann Kapitel 3 überschlagen; wer sich nur über Kasuserwerb informieren möchte, kann sich mit der Lektüre der Abschnitte 5 und 6 aus Kapitel 5 begnügen. Beziehungen zwischen den einzelnen Kapiteln werden durch entsprechende Querverweise hergestellt. Wer auf keines der Ka-pitel verzichten möchte, wird auf die eine oder andere Wiederholung stossen, was sich bei einer solchen Konzeption nicht vermeiden liess.

Der Band ist folgendermassen aufgebaut: Als Hintergrundsinformation schil-dert Helen Christen im 2. Kapitel zunächst die Situation des Deutschen in der Westschweiz und des Deutschunterrichts in Genf. Zur Ergänzung und Illustra-tion zieht sie die Ergebnisse einer punktuellen Auswertung der Schüler-Frage-bögen hinzu, die zu Beginn der Datenerhebung ausgefüllt worden waren. – Die theoretische Ausgangslage des DiGS-Projektes umreisst Erika Diehl (3. Ka-pitel), um einen Einblick in die Hauptströme der gegenwärtigen theoretischen Diskussion zum Erst- und Zweitsprachenerwerb zu vermitteln. Mit Kapitel 4, dem Erwerb der Satzmodelle (E. Diehl), beginnt der eigentliche Hauptteil, die Analyse des DiGS-Korpus. Im umfangreichen Kapitel 5 wird der Erwerb der Morphologie vorgeführt, die Verbalmorphologie von Sandra Leuenberger und Isabelle Pelvat, der Genus- und Numeruserwerb von Helen Christen und der Kasuserwerb in Nominal- und Präpositionalphrasen von Thérèse Studer. Diesem Kapitel 5 werden Überlegungen zum derzeitigen Stand der wis-senschaftlichen Diskussion um Beschreibung und Kategorisierung der Morpho-logie vorangestellt (H. Christen); Th. Studer beschliesst das Kapitel mit zusam-menfassenden Beobachtungen zum Nominalbereich. Kapitel 6 geht auf die in-dividuellen Unterschiede und die beobachteten Erwerbsstrategien ein; das Schlusskapitel fasst die Ergebnisse zusammen und diskutiert die didaktischen Konsequenzen, die aus dem DiGS-Projekt gezogen werden könnten (E. Diehl).

In allen Beiträgen führen wir zahlreiche Beispiele aus unserem Korpus vor – zur Veranschaulichung, als „Beweismaterial“ – und sicher auch zur Erhei-terung. Bei den Quellenangaben verzeichnen wir, zusätzlich zu den jeweiligen Vornamen (deren allermeiste mehrmals im Korpus vorkommen), den ersten Buchstaben des Nachnamens. Auf diese Weise können Testpersonen identifiziert werden, die in verschiedenen Kapiteln zitiert werden. In Anbe-tracht der grossen Anzahl von Probanden ist die Anonymität der einzelnen Testpersonen dennoch hinreichend gewährleistet. Nur diejenigen Vornamen,

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die auf Grund ihrer Originalität eventuell doch zu einer Identifizierung führen könnten, haben wir geändert.

Abschliessend noch einige Bemerkungen zu unserer Verwendung einiger Termini. Wir verwenden als Synonyme die Termini „Inter imsprache“ und „Lernersprache“, ebenso „ungesteuerter“ und „natür licher“ Erwerb in Opposition zum gesteuerten Erwerb. Auch die Opposition zwischen Fremd- und Zweitsprachenerwerb halten wir nicht konsequent durch; wir folgen dem Usus, nach dem sich in Komposita mit „Erwerbsforschung“ der Terminus „Zweitsprache“ eingebürgert hat, und verwenden ansonsten ohnehin weitgehend das Symbol „L2“ zur Bezeichnung des Deutschen bei un-seren frankophonen Probanden. Für diejenigen, die an der Differenzierung „Zweitsprache“ vs. „Fremdsprache“ festhalten, sei präzisiert, dass Deutsch in Genf für unsere frankophonen Lerner selbstverständlich eine Fremdsprache ist, mit allen nur denkbaren Assoziationen von „Fremdheit“.11 Bedenklicher mag erscheinen, dass wir auch die Termini Strategien und Verfahren austauschbar verwenden, da es für beide ja unterschiedliche Defintionen gibt. In Kapitel 6 werden wir begründen, weshalb wir unseren Sprachgebrauch dennoch für legitim halten. Ausserdem sprechen wir von General is ierung in Fällen, wo in der Literatur gewöhnlich von Übergeneral is ierung die Rede ist. Uns scheint der Terminus „Generalisierung“ den gemeinten Sach-verhalt schon deutlich genug zu benennen. Andere Termini wie Chunk oder Fossi l is ierung werden jeweils bei ihrer ersten Verwendung in den einzel-nen Kapiteln erläutert. Zu Chunk ist in Kapitel 6 Genaueres nachzulesen.

Und eine letzte Präzisierung betrifft die Bezeichnung weiblicher Personen. Wir haben uns keine einheitliche Sprachregelung auferlegt; jede Autorin wählte diejenige Lösung, die ihr angemessen erschien. Jedenfalls verbergen sich hinter unseren individuellen Varianten keine grundlegenden weltan-schaulichen Divergenzen. _______________

11 Wolfgang Klein schlägt als Definitionen vor: „Mit ‘Fremdsprache’ ist [...] eine

Sprache gemeint, die ausserhalb ihres normalen Verwendungsbereichs – gewöhn-lich im Unterricht – gelernt und dann nicht neben der Erstsprache zur alltäglichen Kommunikation verwendet wird. [...] Eine ‘Zweitsprache’ hingegen ist eine Spra-che, die nach oder neben der Erstsprache als zweites Mittel der Kommunikation dient und gewöhnlich in einer sozialen Umgebung erworben wird, in der man sie tatsächlich spricht“. (1984: 31)

2 Deutsch in Genf1 Helen Christen 2.1 Deutsch in der französischsprachigen Westschweiz Deutsch ist in der französischsprachigen Westschweiz – so die gängige Mei-nung – eines der unbeliebtesten Schulfächer überhaupt. Womit hängt dieses negative Bild zusammen? Sind entsprechende Haltungen auch bei den Test-personen der vorliegenden Untersuchung anzunehmen? Das obligatorische Unterrichtsfach „Deutsch“ an Westschweizer Schulen, seine immer wieder formulierte Unbeliebtheit, kann gewiss nicht isoliert von der schweizerischen Sprachsituation betrachtet werden: Der schulische Stellenwert einer Sprache, die Motivation, eine Sprache (im Unterricht) zu lernen, und ihr soziokultu-reller und politischer Status in einem mehrsprachigen Land sind miteinander verzahnt.

Deutsch ist neben Französisch, Italienisch und Rätoromanisch eine der vier Landessprachen der Schweiz. Die Landessprachen sind regional verteilt und haben – das Rätoromanische in eingeschränktem Rahmen – auf gesamt-schweizerischer Ebene den Status von verbindlichen Amtssprachen. Deutsch ist in der Schweiz die Sprache der Mehrheit und gleichzeitig die Sprache der wirtschaftlich dominanten Regionen. Die französisch- und italienischsprachi-gen Sprachgemeinschaften sind wesentlich kleiner, durch die Sprache jedoch mit ihren „grossen“ Nachbarn Frankreich und Italien verbunden, während der rätoromanischen Sprache mit ungefähr 40’000 Sprecherinnen und Sprechern ohne Anschlussmöglichkeit an eine gleichsprachige Nachbarschaft ein ei-gentlicher Minoritätenstatus zukommt.2

Das Zusammenleben der vier Sprachregionen ist nun keineswegs so un-getrübt, wie das vielleicht von einer Aussenperspektive her gesehen werden kann. So hat eine Umfrage des Forschungsinstituts der Schweizerischen Ge-_______________

1 Die Basisarbeit für den Abschnitt 3 ist von Chantal Andenmatten Gerber und An-

nie Fayolle Dietl geleistet worden, die in verdankenswerter Weise die Rohdaten der Fragebogen tabelliert und zusammenfassend dargestellt haben (vgl. Kapitel 9.3). Sandra Leuenberger und Isabelle Pelvat haben sich der Korrelationen von Daten des Fragebogens mit Sprachdaten angenommen und durch ihre aufwändige Arbeit Kapitel 2.3 und 2.4 ermöglicht.

2 Die Eidgenössische Volkszählung 1990 hat in Bezug auf die gesamte schweizeri-sche Wohnbevölkerung die folgenden Sprecheranteile ermittelt: Deutsch 63,6%, Französisch 19,2%, Italienisch 7,6%, Rätoromanisch 0,6%. Zur Sprachenstatistik der Schweiz vgl. Lüdi u.a. (1997).

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sellschaft für Marketing (1985) ergeben, dass über die Hälfte der 15- bis 29-jährigen Schweizerinnen und Schweizer von Problemen zwischen den Be-völkerungsgruppen der vier Sprachregionen ausgeht und über die Hälfte die-ser Gruppe diese Probleme direkt den jeweiligen Sprachen und Dialekten anlastet. Das „Wissen“ um die Sprache und die Mentalität der anderssprachi-gen Mitschweizerinnen und -schweizer ist durch verbreitete Stereotypen überformt (vgl. Kolde 1981), bei denen kaum zwischen den Wertungen, die die Sprechenden und jenen, die die Sprachen betreffen, unterschieden wird rsp. unterschieden werden kann.

Eine Reihe von Einstellungsmessungen haben nun wissenschaftlich er-härten können, dass beträchtliche Unterschiede bestehen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Bevölkerung der verschiedensprachigen Landes-teile.3 Was die Einstellung der französischsprachigen Schweizerinnen und Schweizer zu ihren deutschsprechenden Landsleuten rsp. zu deren Sprache betrifft, so zeigt sich in entsprechenden Umfragen, dass die Westschweiz die Deutschschweiz eher unsympathisch findet, dass umgekehrt jedoch die Welschen in der Deutschschweiz über einen hohen Sympathiegrad verfügen (vgl. Pedretti 1994: 98), ein Befund, den Pedretti (1994: 113) zur folgenden These ausführt: „Einer natürlichen Unbekümmertheit der Mehrheit ist es zu-zuschreiben, dass einerseits Probleme zwischen Sprachgruppen eher von den Minderheiten wahrgenommen werden, andererseits die Mehrheit den Min-derheiten gegenüber durchwegs positiver eingestellt ist als umgekehrt.“

Was die Deutschschweiz in den Augen vieler Romands sprachlich auffällig macht, ist ihr diglossischer Dialekt-/Standardgebrauch, den die Frankophonen häufig missbilligen und dessen identitätsstiftenden Charakter sie nur schwer nachvollziehen können (zur welschen Perspektive der deutschschweizerischen Diglossie vgl. Schläpfer u.a. 1991: 240ff.). Oft werden denn auch binnenschweizerische Verständigungsprobleme auf die Dialektfrage re-duziert, oder wie Kolde (1986: 134) hintergründig in Erwägung zieht: „Der relativ unbeteiligte Zuschauer hat gelegentlich den Eindruck, die Diglossie der Deutschschweizer diene manchem Romand als willkommener Vorwand, sich gar nicht erst ernsthaft auf Sprache, Lebensweise und Kultur der deutschsprachigen Eidgenossen einzulassen“. Dieser Gedanke wird von Ped-retti (1994: 122) in einer These wieder aufgenommen und dezidiert verall-gemeinert: „Bestehende Probleme wirtschaftlicher, politischer und psycholo-gischer Natur werden nicht selten auf reine Sprach- und Identitätsprobleme reduziert.“

_______________

3 Vgl. zu den Einstellungen zu den verschiedenen Sprachregionen: Kolde (1981, 1986); Camartin (1984); Forum Helveticum (1990); Schläpfer/Gutzwiller/Schmid (1991); Bickel/Schläpfer (1994).

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Inwiefern sich nun die Einstellungen der Genfer Bevölkerung, deren Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehen, allenfalls von jenen in anderen (französischsprachigen) Landesteilen unterscheiden, kann nicht genau abgeschätzt werden. Immerhin erwägen Kolde/Rohner (1997: 211), dass „Genf geographisch, historisch und menta-litätsmässig der am weitesten von der deutschsprachigen Schweiz entfernte Kanton ist“. Es darf dabei nicht übersehen werden, dass Genf nicht nur die Westschweizer Metropole ist, sondern durch seine internationalen Organisa-tionen auch einen besonderen Status hat, was sich ja durchaus auf das kol-lektive Selbstwertgefühl seiner Einwohnerinnen und Einwohner auswirken kann. Die grosse mentalitätsmässige Entfernung von der deutschsprachigen Schweiz, von der Kolde/Rohner ausgehen, mag auch durch den hohen Anteil an ausländischer Bevölkerung zustande kommen, die hier nicht wie in ande-ren Landesteilen in erster Linie aus Arbeitsmigranten und -migrantinnen be-steht, sondern das ganze soziale Spektrum umfasst.4

Was den schulischen Alltag des Deutsch-als-Fremdsprache-Unterrichts betrifft, so ist also einerseits die sozialpsychologische Einbettung einer Spra-che entscheidend, die im vorliegenden Fall wenig günstig zu sein scheint.5 Sozusagen „verschärfend“ kommt aber noch dazu, dass sich nicht nur nega-tive Einstellungen zum (Schweizer-) Deutschen auf die Motivation des Ler-nens dieser Sprache auswirken können, sondern auch das Faktum, dass das Sprachenlernen überhaupt – wie Otto Stern (1998: 5) ausführt – als ein in vielerlei Hinsicht problematischer Fremdsprachenunterricht konzipiert ist: „[Fremdsprachenunterricht] ist obligatorisch, er findet in vorgegebenen Ge-fässen und in verordnetem Rhythmus statt, und die Sprache kann nicht ge-wählt werden; die Lernenden tragen somit wenig Verantwortung für ihr sprachliches Lernen.“

_______________

4 Der hohe Ausländeranteil hat sich direkt auf die Datenerhebung des DiGS-Projekts ausgewirkt: in vielen Schulklassen (insbesondere solchen der école de culture générale) bestand eine gewisse Schwierigkeit darin, genügend „rein“ frankophone Testpersonen zu rekrutieren, weil die meisten aus anderssprachigen Elternhäusern stammen.

5 Zur Interdependenz von Einstellungen und Spracherwerb vgl. weiterführende Lite-ratur in Klein (1987: 48); Wode (1988: 300); Ellis (1997: 36ff.).

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2.2 Deutsch als Schulfach Genf ist offiziell eine französischsprachige Stadt,6 Französisch wird folglich in den öffentlichen Schulen als Muttersprache unterrichtet, alle übrigen (Landes-) Sprachen als Fremdsprachen.

Die Schülerinnen und Schüler begegnen dem Deutschen erstmals in der 4. Primarklasse, wo die Sprache täglich während zehn bis zwanzig Minuten in spielerischer Form und ohne Benotung unterrichtet werden sollte. Während der beiden ersten Schuljahre konzentriert sich der Unterricht auf die gespro-chene Sprache. Werden von den Kindern – wider das didaktische Konzept – trotzdem schriftliche Texte verlangt, wie dies beim vorliegenden Projekt nicht umgangen werden konnte, so orientieren sie sich bei der Umsetzung von Mündlichem ins Schriftliche an der französischen Orthografie (vgl. Kapitel 9.2).

In der Sekundarstufe I (cycle d’orientation „Orientierungsstufe“, 7.–9. Schuljahr) ist Deutsch reguläres Selektionssfach und nimmt 4 bis 5 Unter-richtsstunden pro Woche in Anspruch. Von der 8. Klasse weg sind die Schü-lerinnen und Schüler nach Leistungsniveaus in verschiedenen Klassenzügen gruppiert: in den classes prégymnasiales – mit den Ausrichtungen latines, scientifiques, modernes – sind die leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler, die den gymnasialen Weg ins Auge fassen, in den classes générales und pratiques besuchen, die leistungsschwächeren, wobei in der Orientie-rungsstufe die Durchlässigkeit zwischen den Niveaugruppen garantiert ist.

Nach der obligatorischen Schulzeit gab es zur Zeit der Datenerhebung verschiedene weiterführende Schulen: das Gymnasium (collège, 10.–13. Schuljahr mit abschliessender Maturität), die Handelsoberschule7 (école su-périeure de commerce, 10.–13. Schuljahr mit abschliessender Maturität) und die Diplommittelschule (école de culture générale, 10.–12. Schuljahr), die meist von solchen Schülerinnen und Schülern besucht wird, die kein Studium anstreben, sondern später eine Berufsausbildung absolvieren wollen, aber – wie etwa für medizinische Pflegeberufe – noch nicht das geforderte Mindest-alter haben.

Im Lehrplan für den postobligatorischen Unterricht der genannten Schulen sind für Deutsch drei bis vier Wochenstunden vorgesehen. Wer in Genf die _______________

6 Die französische Sprache geniesst wegen des Territorialitätsprinzips einen beson-

deren Status: offizielle Sprache in Stadt und Republik Genf ist das Französische. Von den im Kanton Genf Ansässigen geben aber nur 70,4% das Französische als Hauptsprache an (Lüdi u.a. 1997a: 161). Insgesamt nennen 5,5% der Genfer Wohnbevölkerung Deutsch als ihre Hauptsprache (Lüdi u.a. 1997b: 292).

7 Seit 1998 ist die Differenzierung zwischen Handelsoberschule und Gymnasium aufgehoben.

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Matura ablegt, hat damit 10 Jahre Deutschunterricht hinter sich, wer nach der obligatorischen Minimalzeit von der Schule abgeht, deren sechs. Die neue schweizerische Maturitätsverordnung wird hier allerdings zu erheblichen Veränderungen führen, weil die Schülerinnen und Schüler künftig zwischen Deutsch und Italienisch als Maturitätsfach wählen können.

Was die Unterrichtsmittel betrifft, so wird in der Primarschule momentan der „Cours romand d’allemand“ von „Tamburin“ abgelöst, auf der Sekundar-stufe I werden zur Zeit der Datenerhebung des Forschungsprojektes das au-diovisuelle Lehrwerk „Vorwärts“ und die dazugehörigen Lehrerbegleitmate-rialien benutzt, während in ersten Pilotklassen bereits mit dem zukünftigen Lehrmittel „Sowieso“ unterrichtet wird, das auf einem konstruktivistischen Modell des Sprachenlernens basiert. Die postobligatorischen Schulen sind in der Wahl ihrer Lehrmittel weitgehend frei, wobei in den letzten Klassen der Handelsoberschule und des Gymnasiums ohnehin das Hauptgewicht auf die Beschäftigung mit deutscher Literatur gelegt wird. 2.3 Zur Einschätzung des Schulfachs Deutsch und der

deutschen Sprache durch die Testpersonen Die Testpersonen des vorliegenden Projekts sowie ihre Eltern haben je einen Fragebogen ausgefüllt, der eine Reihe von Sozialdaten und Daten zum per-sönlichen und familiären Sprachgebrauch sowie Angaben über den allfälligen Kontakt mit der deutschen Sprache und die Einstellungen zum Unter-richtsfach Deutsch erhebt.8

Im folgenden werden die Antworten kommentiert, die zum Fragenkomplex der Einstellungen gegenüber dem Fach Deutsch und der Sprache Deutsch eingegangen sind. Inwiefern die Einstellungen, die durch die Antworten dokumentiert werden, einfach typisch sind für Einstellungen gegenüber von Fremdsprachen(fächern) oder für Einstellungen von Frankophonen gegenüber „Deutsch als Fremdsprache“, kann natürlich ohne entsprechende Bezugsgrössen nicht beurteilt werden. Als eine Vergleichsmöglichkeit bieten sich die Ergebnisse von Allal u.a. (1978) an, die die Einstellungen von Schülerinnen und Schülern der Genfer Orientierungsstufe – unter den Vor-aussetzungen des damaligen Unterrichts – gemessen haben. Zudem liegt eine Studie von Muller (1998) vor, die am Gymnase français in Biel bei 84 Fran-kophonen im Alter zwischen 17 und 18 Jahren Einstellungen zum Fach _______________

8 Fragebögen und Auswertung der Fragen vgl. separate PDF-Datei:

digs_complete_anhang2.pdf.

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Deutsch, zur deutschen Sprache und zu Deutschland rsp. zur Deutschschweiz erhoben hat. Eines der Ziele dieser Untersuchung ist es, eine Erklärung zu finden für jenes erstaunliche Ergebnis, das eine frühere, international ange-legte Studie der UNESCO (1995) zur Einstellung erbracht hat, nämlich dass „les élèves de la Suisse romande présentent à la fois une perception plus négative concernant l’apprentissage de l’allemand et une attitude plus néga-tive face à l’Allemagne que d’autres élèves d’autres pays.“ (Muller 1998: 31)

Absolut gesehen weisen nun die Daten der DiGS-Fragebögen darauf hin, dass bei den Schülerinnen und Schülern eher negative Wertungen überwiegen oder zumindest solche, die bloss den extrinsischen Nutzen des Deutschlernens betonen und damit eher auf eine instrumentelle als eine integrative Lernmotivation schliessen lassen.9 Eine generelle oder undifferenzierte Ab-lehnung des Deutschen kann aber keineswegs festgestellt werden.

Auffällig ist, dass eine Mehrheit der Schülerinnen und Schüler angibt, die allerersten Deutschstunden gemocht zu haben (Frage III 1,2; vgl. Kapitel 9.3.2). Als formulierte Begründungen findet sich eine breite Palette verschie-dener Aspekte, die zur Beliebtheit eines (Fremdsprachen-) Fachs beitragen (z. B. c’était nouveau; on faisait des jeux; c’était convivial; assez simple; pas noté; c’était parce qu’on écrivait pas encore; c’est bien de pouvoir dialo-guer; j’aime bien les langues, la maîtresse était gentille; la prof était belle). Dabei sticht aber ins Auge, dass die Primarschülerinnen und Primarschüler, die tatsächlich am Anfang des schulischen Deutschunterrichtes stehen, ihre Zuneigung zu diesem Fach am häufigsten bekunden (in der 4. Klasse, also im ersten Schuljahr mit Deutschunterricht, sind es fast alle, nämlich 38 von 41 Schulkindern). Im Gegensatz dazu sieht der Anteil jener, die von sich sagen, Deutsch am Anfang geliebt zu haben, bei den Älteren unterschiedlich aus. Es sind jeweils etwa ein Drittel der Schülerinnen und Schüler einer Klasse, die angeben, Deutsch am Anfang nicht gern gehabt zu haben, bei den Jugendli-chen der Ecole de culture générale sind es sogar über die Hälfte. Es können mindestens zwei Erklärungslinien für diese „stufenabhängigen“ Antworten in Erwägung gezogen werden: die Älteren hatten anfänglich tatsächlich einen Deutschunterricht, den viele von ihnen (aus welchen Gründen auch immer) nicht mochten; allenfalls haben aber auch eher schlechte Erfahrungen mit dem späteren Deutschunterricht (z. B. die Benotung, die ab dem 7. Schuljahr einsetzt) oder negative Einstellungen zum Deutschen, die man in der Soziali-sation erworben hat, den Blick zurück getrübt und im Sinne aktuell schlechter _______________

9 Der „dimension instrumentale“ des Deutschlernens wird auch im Bieler Gymna-

sium deutlich mehr Wichtigkeit beigemessen als der „dimension intégrative“. Während auf die Frage „A votre avis, apprendre l’allemand est utile pour...“ 89,2% der Testpersonen als Antwort „trouver un emploi, à l’avenir“ geben, sind es nur gerade 14,5%, die „mieux comprendre les Suisses allemands et leur manière de vivre“ ankreuzen (Muller 1998: 56).

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Erfahrungen „korrigiert“ (z. B. parce que les règles de grammaire étaient trop difficile et je trouve que l’allemand n’est pas beau lorsque on le parle).

Was die Einschätzungen des Faches Deutsch betrifft (Frage III, 2: main-tenant l’allemand est...), so deckt sich die gute Erfahrung der Anfängerinnen und Anfänger aus der Primarschule mit dem am häufigsten genannten Urteil, wonach Deutsch un plaisir sei; zahlenmässig deutlich abgeschlagen ist die Aussage, Deutsch sei une corvée mit nur 20 Nennungen aus der Gruppe der 137 Primarschülerinnen und -schüler. In den übrigen Klassen wird plaisir nur von einem vergleichsweise kleinen Teil angekreuzt. Bemerkenswert ist, dass von 78 Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums deren 61 Deutsch als enrichissement betrachten (als corvée nur deren 8);10 bei den Klassen der Se-kundarstufe I und den postobligatorischen nicht-gymnasialen Klassen wird am häufigsten nécessité vermerkt, aber auch hier entscheiden sich doch er-staunlich viele für das Urteil, Deutsch sei eine Bereicherung.

In einem gewissen vordergründigen Widerspruch zu den erläuterten Wer-tungen stehen die Antworten auf die Frage, ob das Deutsche abgewählt würde (Frage III, 3; vgl. S. 387), wenn die Möglichkeit dazu bestünde. Dass hier 42 von 137 Primarschulkindern dies tun würden, erstaunt im Zusammenhang mit der relativen Beliebtheit, die sich in der obigen Frage gezeigt hat.11 Bei einer differenzierteren Durchsicht der Daten zeigt sich allerdings, dass sich bereits in der 6. Primarklasse eine „Imageverschlechterung“ des Deutschen abzuzeichnen beginnt. Als Grund für die zunehmend negativen Wertungen kann hier also nicht die Benotung angesetzt werden. Zu erwägen sind folgende Aspekte: Deutsch hat nach den ersten zwei Jahren den Nimbus des Neuen verloren; die fachlichen Anforderungen sind komplexer geworden; die Schülerinnen und Schüler sind bereits in einer frühpubertären Phase, in der Schulisches generell in Frage gestellt wird; die negativen Wertungen gegenüber dem Deutschen als Sprache und als Schulfach sind vom sozialen Umfeld übernommen worden.12 Am höchsten ist der Anteil der potentiell _______________

10 Dass die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten einen gewissen Sonderfall darstellen

könnten, erwägt Muller (1998: 47). Im Gymnasium sind ausschliesslich Jugendli-che mit guten Schulleistungen, die sich freiwillig für eine weiterführende Schule entschlossen haben und damit wohl auch eher positive Haltungen gegenüber den Schulfächern entwickeln, in denen sie sich ja bereits als leistungsstark bewiesen haben.

11 Es muss mit einer gewissen Verzerrung der Daten aus der Primarschule gerechnet werden, weil nicht bei allen Schülerinnen und Schülern dieser Schulstufe voraus-gesetzt werden kann, dass sie die gestellten Fragen tatsächlich verstehen. Insbe-sondere Fragen, die sich auf bloss hypothetische Sachverhalte beziehen, sind für Kinder anspruchsvoll.

12 Es sei daran erinnert, dass die Sozialpsychologie davon ausgeht, dass Einstellun-gen – auch sprachliche – erlernt werden und dass sich „Einstellungen schon im Alter von zwölf Jahren stabilisieren und sich in ihrer affektiven und kognitiven

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„Abwählenden“ in der Sekundarstufe I und in der Handelsschule, was hier in Zusammenhang stehen könnte mit der häufig stark selektiven Funktion des Fachs, was auch in einigen zusätzlichen Kommentaren der folgenden Art ausgedrückt wird: cette matière me baisse la moyenne. Die sehr häufig formulierte Begründung für eine mögliche Abwahl des Deutschen, die Spra-che sei (zu) schwierig, kann zum Teil wohl ebenfalls als ein Urteil zustande kommen, das indirekt mit der Selektion zusammenhängt: die komplexe For-menvielfalt des Deutschen kann für die Schülerinnen und Schüler nämlich tatsächlich zu einem Stolperstein werden, wenn sich die schulische Benotung einseitig nach der sprachlichen Korrektheit ausrichtet. Zudem muss wie bei der 6. Klasse insbesondere hier die Pubertät als beeinflussender Faktor mit in Betracht gezogen werden.

Bei der Frage nach der Wertung des Deutschen selbst (Frage III, 4 L’allemand est...) – stehen die Einschätzungen der Sprache als difficile und utile im Vordergrund. Das Attribut belle wird – mit Ausnahme der Primar-klassen – immer am seltensten angekreuzt. Erstaunlicherweise sinkt der An-teil jener, die Deutsch als moyen de communication sehen, in den postobli-gatorischen Klassen, ist aber in der Primarschule und der Sekundarsschule hoch, also gerade in jenen Lernerstadien, in denen eine mögliche Kommuni-kation mit Deutschsprachigen von der sprachlichen Kompetenz her ja noch sehr eingeschränkt ist. Dass man über das Deutsche Zugang zu einer anderen Kultur habe, wird von höchstens einem Drittel pro Schultyp bejaht.

Jene Schülerinnen und Schüler, die die Frage III, 5 nach dem persönlichen Nutzen des Deutschen in eigenen Worten formuliert haben, erwähnen eher selten, dass das Deutsche als Kommunikationsmittel dienen könnte (pour communiquer avec d’autres personnes lorsque je vais dans un pays germa-nophone). Eine Mehrheit beschreibt den extrinsischen Nutzen hinsichtlich der aktuellen beruflichen Anforderungsprofile (aujourd’hui, de nombreuses places de travail demandent l’allemand). Ob man mit Muller (1998: 60), die in ihrer Bieler Untersuchung zum gleichen Resultat kommt, dieses Ergebnis dahingehend interpretieren will, dass dieses die Hypothese bestätige „selon laquelle présenter un intérêt pour la culture et les locuteurs de la langue cible peut être perçu comme un acte „déloyal“ à l’égard de son propre groupe“, bleibt zu diskutieren.

Die Wertungen der Schülerinnen und Schüler konstituieren ein Bild des Deutschen als wenig schöner, aber schwieriger Sprache, die zu lernen aber als durchaus nützlich und sogar als bereichernd erachtet wird.13 ________________

Struktur nicht mehr grundsätzlich von denen Erwachsener unterscheiden“ (Kolde 1981: 337). Man kann also damit rechnen, dass die älteren Schülerinnen und Schü-ler in ihrem Umfeld „gelernt“ haben, dass für das Deutsche das Prädikat „schöne Sprache“ nicht angemessen ist.

13 Muller (1998: 44) fasst die Einstellungen der Bieler Jugendlichen wie folgt zusam-

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Bezieht man dieses Resultat auf die Ergebnisse und insbesondere auf die optimistischen Perspektiven, die Allal u.a. (1978) im Hinblick auf das damals gerade neu eingeführte Lehrmittel „Vorwärts“ und auf das geforderte zeitliche Vorziehen des Deutschunterrichts in die Primarklassen und der damit verbundenen kommunikativen statt formalen Gewichtung des Deutschlernens skizziert haben, so konstatiert man, dass der in der Zwischenzeit derart kon-zipierte Deutschunterricht in der Primarschule – wie vorausgesehen – ein durchaus beliebtes Fach zu sein scheint. Allerdings deutet sich nun trotzdem eine Verschlechterung der Einstellungen bereits in der 6. Primarklasse an, die in der Orientierungsstufe noch deutlicher wird, sich allerdings später – vor al-lem im Gymnasium – weniger bemerkbar macht. Welches die Ursachen für diese Entwicklung sind (Wechsel in der Unterrichtsmethodik, Benotung, Ein-führung der Schriftlichkeit, zunehmende Komplexität des Stoffes, systemati-scher Grammatikunterricht, erworbene negative Stereotypen, Lehrerpersön-lichkeit, Lebensphase der Jugendlichen), kann hier nicht entschieden werden.14 2.4 Einstellung und schulischer Erfolg Die Heterogenitäten, die sich in den individuellen Unterschieden der Ein-schätzungen aber auch zwischen jenen von Lernenden aus Schulen mit unter-schiedlichem Leistungsanspruch zeigen, legen nahe, dass eine Interdependenz zwischen den manifestierten Wertungen und bestimmten Lernervariablen bestehen könnten. Aufgrund der Daten des DiGS-Projektes lässt sich die Hy-pothese formulieren, dass ein Zusammenhang zwischen Einstellung und in-dividueller Leistungsfähigkeit15 in der Fremdsprache bestehen könnte: Ver-gleicht man nämlich pro Klassenstufe16 die Wertungen der fortgeschrittensten mit jenen der schwächsten Schülerinnen und Schüler,17 so fällt auf, dass deut-

________________ men: „l’image de l’allemand se révèle relativement homogène: ni simple, ni facile à apprendre, ni chaud, mais utile, aux yeux de la majorité.“

14 Allal u.a. (1978: 29) können in ihrem Untersuchungskontext nachweisen „que la méthode d’enseignement a une certaine influence sur ces attitudes.“

15 Die Leistungsstärke haben Sandra Leuenberger und Isabelle Pelvat und aufgrund der erreichten Phasen im Syntax-, Verbal- und Kasusbereich ermittelt (vgl. Kapitel 4, 5.2, 5.5).

16 Deutlich widersprüchliche Antworten lassen darauf schliessen, dass die Schülerin-nen und Schüler der vierten und fünften Primarklasse den Fragebogen nicht ver-standen haben. Deshalb sind hier bloss die Daten ab der 6. Klasse berücksichtigt worden.

17 Die folgenden Aussagen gründen auf der Interpretation von absoluten und relati-

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lich mehr fortgeschrittene Lernende von sich sagen, Deutsch am Anfang ge-mocht zu haben. Es sind auch eher fortgeschrittene Lernende, die angeben, dass Deutsch eine Bereicherung sei, dass Deutsch Zugang zu einer anderen Kultur verschaffe und dass Deutsch eine schöne Sprache sei.18 Der deutlichste Unterschied ist bei der Beurteilung des Deutschen als einer corvée festzustel-len, was viel öfter von den Klassenschwächsten genannt wird, die zudem die Notwendigkeit des Deutschlernens und das Faktum der Schwierigkeit der Sprache öfters nennen. Mehr Testpersonen aus der Gruppe der klassen-schwächsten als aus jener der klassenstärksten Schülerinnen und Schüler wür-den das Fach bei Möglichkeit abwählen. Was die Einschätzung der Nützlich-keit und der Sprache als Mittel der Kommunikation betrifft, so zeigen sich keine Unterschiede.

Die Daten machen nun keineswegs klar, was Ursache und was Wirkung ist: gute Leistungen (und gute Noten) dürften sich auf die Einschätzung der gelernten Sprache auswirken; eine positive Einschätzung kann lernfördernd sein und damit zu Erfolg führen. Was die Einschätzungsdaten jedoch deutlich zeigen, ist die Tatsache, dass auch viele der Klassenbesten angeben, Deutsch sei eine schwere und nur wenige, Deutsch sei eine schöne Sprache.19 2.5 „Deutsch als Fremdsprache“ in Abhängigkeit von

verschiedenen Schülervariablen Die Fragebögen, welche die Testpersonen und ihre Eltern ausgefüllt haben, erlauben die Erstellung eines rudimentären sozialen Profils der einzelnen Schülerinnen und Schüler. Bei entsprechender Aufbereitung des Materials bestünde zweifellos die Möglichkeit, eventuelle ein- und mehrdimensionale Korrelationen zwischen Sozial- und Sprachdaten aufzudecken, die aber we-gen der primär inner- und psycholinguistischen Forschungsinteressen des DiGS-Projektes nicht im Vordergrund der Untersuchung stehen.20 Soweit wir

________________ ven Häufigkeiten, die jedoch nicht in ihrer statistischen Signifikanz berechnet worden sind.

18 Dass ein Zusammenhang zwischen den Leistungen im Fach Deutsch und dessen Bewertung besteht, nimmt auch Muller (1998) an. Sie erklärt sich damit auch die „besseren“ Werte der Bieler Gymnasiastinnen und Gymnasiasten im Vergleich zu den Daten aus der Studie der UNESCO (1995), die die jugendliche Gesamtpopu-lation untersucht hat.

19 Von den 84 Bieler Jugendlichen (Muller 1998: 44), die aufgefordert wurden, die drei schönsten Sprachen zu nennen, hat niemand Deutsch als erstes genannt. Im-merhin haben 4 Deutsch als zweite und 8 als dritte Wahl angeführt.

20 An dieser Stelle sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das DiGS-Korpus, was

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sehen, zeigen sich keine Korrelationen zwischen den ermittelten DiGS-Er-werbsphasen und irgendwelchen der erhobenen sozialen Parameter, die derart augenfällig wären, dass sie sich sogar darin manifestieren würden, dass in bestimmten Erwerbsphasen vor allem Schülerinnen und Schüler mit einem bestimmten Sozialprofil zu finden wären, wobei natürlich allzu simple Kor-relationen ohnehin nicht zu erwarten sind. Da allerdings nach wie vor an den Genfer Gymnasien die oberen Schichten überdurchschnittlich, die unteren Schichten unterdurchschnittlich vertreten sind,21 lässt sich mit gutem Grund vermuten, dass – ein wie immer gearteter – Zusammenhang zwischen der so-zialen Herkunft der Schüler/innen und dem Erfolg rsp. der Art der schuli-schen Bewertung des Fremdsprachenlernens bestehen muss, da Deutsch ja eines der relevanten Selektionsfächer ist.

Was die sprachlichen Variablen betrifft, so wird der Lateinunterricht ge-rade bei den Lehrpersonen immer wieder als Garant für erfolgreiches Spra-chenlernen betrachtet. Die DiGS-Daten zeigen aber deutlich, dass der Stand des Deutschen in Klassen mit Latein- und Nicht-Latein-Schülerinnen und -Schülern nicht einfach dieser einen Komponente zugeschrieben werden kann,22 genauso wenig wie sich auf Anhieb das Vorurteil bestätigen liesse, wonach die von Hause aus mehrsprachigen Kinder zwangsläufig zu den „Besten“ (oder zu den „Schlechtesten“) gehören würden.23 Entsprechende Zusammenhänge zwischen den genannten Variablen sind zweifellos subtiler Natur, die von weiteren Faktoren abhängen, deren Zusammenspiel durch eine

________________ die objektiven und subjektiven Schülerdaten betrifft, Interessierten für weitere Forschungszwecke zur Verfügung steht.

21 Vgl. Annuaire statistique de l’enseignement public et privé à Genève. S.R.E. 1996, S. 73.

22 In einigen Klassen der Orientierungsstufe und des Gymnasiums sind Schülerinnen und Schüler mit und ohne Latein in derselben Klasse vereinigt. Die in Bezug auf die DiGS-Daten fortgeschrittensten Lernenden sind nicht durchwegs jene, die La-tein-Unterricht haben, umgekehrt sind bei den Klassenschwächsten auch Latein-schülerinnen und -schüler zu finden. Der Stellenwert des Faktors „Latein“ beim schulischen L-2-Erwerb bedürfte jedoch einer speziellen Untersuchung. Es wäre dabei m.E. zu überprüfen, ob der Nutzen des Latein-Unterrichts, der von vielen Lehrpersonen immer herausgestrichen wird, vor allem darin besteht, dass im La-teinunterricht grammatikalische Kategorien und zugehörige Termini gelernt wer-den, die dann für das explizite Regellernen anderer Sprachen nutzbar gemacht werden können. Möglicherweise ist der Latein-Unterricht ja nur einem Teil der ge-samten Sprach- und Kommunikationsfähigkeit förderlich, allerdings einem Teil, dem in der Schule traditionellerweise grosse Bedeutung zukommt, sei es durch die Art, wie Sprachen unterrichtet werden, sei es durch die Art der schulischen Auslese.

23 Zu Mehrsprachigkeit und Schulerfolg vgl. Müller (1997).

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eigene Untersuchung mit präziser Hypothesenbildung24 und den statistisch adäquaten Mitteln der Faktorenanalyse fundiert aufgedeckt werden müsste.

2.6 Ausblick Die vorangehenden Erläuterungen verstehen sich als Anregungen zu weiterer Beschäftigung mit den Daten, die im Umfeld des DiGS-Projektes gesammelt worden sind, und decken keineswegs die komplexen Zusammenhänge zwi-schen Sprach- und Sprecherdaten auf. Das bloss fragmentarische Antippen dieses Themenbereichs soll aber nicht dahingehend interpretiert werden, dass wir von einem quasi autonom ablaufenden L2-Erwerb ausgehen würden. Wir sind im Gegenteil davon überzeugt, dass einerseits jene Teilbereiche der Sprache, die nicht in Phasen erworben werden, sehr wohl in einem Zusam-menhang mit individuellen und sozialen Parametern stehen und dass anderer-seits in jenen Bereichen, die tatsächlich in interindividuellen Phasen erworben werden, sowohl das zeitliche Durchlaufen der Phasen als auch die Art und Weise dieses Durchlaufens von sprachexternen Faktoren gesteuert ist. Die Relevanz des mikro- und makrosozialen Umfeldes für den Spracherwerb bleibt für uns unbestritten und dessen Untersuchung ein dringendes For-schungsdesideratum. _______________

24 Der Aufenthalt im fremden Sprachgebiet, der von den Lehrpersonen wohl zu

Recht immer wieder empfohlen wird, bedürfte zur Überprüfung seiner Effizienz wiederum einer eigenen Hypothesenbildung und -überprüfung. Um entsprechende Aussagen machen zu können, müssten die Sprachdaten vor und nach dem Sprach-aufenthalt mit jenen von Testpersonen ohne Sprachaufenhalt verglichen werden, was die Anlage des DiGS-Projektes jedoch nicht erlaubt. Die Angaben zu Aufent-halten im deutschen Sprachgebiet, die auf dem Fragebogen erhoben worden sind, könnten jedoch problemlos mit den übrigen Angaben dieses Fragebogens kor-reliert werden, wie etwa „Aufenthalt im Sprachgebiet“ mit den „Einstellungen“.

3 Theorien zum Zweitsprachenerwerb: Standortbestimmung des DiGS-Projektes

Erika Diehl 3.1 Forschungsstand Das Erkenntnisinteresse des DiGS-Projektes liegt nicht vorrangig auf theore-tischer Ebene. Unsere Untersuchung ist deskriptiv angelegt und hat nicht die Ambition, die eine oder andere Theorie zum L2-Erwerb bestätigen oder wi-derlegen zu wollen – und schon gar nicht, ein neues theoretisches Konzept zu entwickeln.

Aber sie steht natürlich nicht in einem theoretisch luftleeren Raum: Unsere Datenanlage erfolgte zwangsläufig unter bestimmten theoretischen Voran-nahmen,1 und bei der Interpretation unserer Daten ging es zunächst um die Überprüfung verschiedener erwerbstheoretischer Hypothesen.2

Die Hypothesen des DiGS-Projektes entstammen jener Konzeption des L2-Erwerbs, die im Gefolge der „kognitiven Wende“3 der frühen 70er Jahre _______________

1 Siehe dazu Barry McLaughlin: „[...] researchers do not select their procedures for

collecting and analysing data in a vacuum. Their choices are determined by their theoretical orientation and by theoretical views. Methodological choices reflect considerations about theory.“ (1987: 80)

2 „[...] in a most fundamental sense all research involves hypothesis testing, whether this es explicitly acknowledged or not. Every investigator begins with some hy-potheses about the phenomena being studied, although these hypotheses may not be stated formally. Even the researcher involved in descriptive research of the most rudimentary nature is testing hypotheses.“ (McLaughlin 1987: 2)

3 Wir vermeiden hier absichtlich die Bezeichnung „kognitive Linguistik“, da sie im Augenblick in der Forschungsliteratur noch sehr unterschiedlich gefasst ist. Nach Monika Schwarz (1992: 36ff.) ist die kognitive Linguistik „ein mentalistischer An-satz, da der mentale Charakter der Sprache akzentuiert wird und die Sprache als ein Teil der Kognition beschrieben wird“; somit bezieht sie auch den Chomsky-schen Ansatz mit ein. Die Kognitive Linguistik ist nach Schwarz „weder eine Per-formanzlinguistik noch ein bestimmtes Teilgebiet der Linguistik oder Psycholin-guistik, sondern ein umfassender Forschungsansatz mit bestimmten theoretischen Prämissen und methodischen Postulaten“. Allerdings lässt sie sich nach Schwarz noch nicht als „einheitlich definierter Forschungsbereich“ fassen: „Eine verbindli-che und einheitliche Definition oder Eingrenzung des Bereichs Kognitive Linguis-tik gibt es jedenfalls derzeit nicht“; der Terminus „kognitiv“ werde geradezu als „modische Etikette“ missbraucht.

Restriktiver versteht Rod Ellis den kognitiven Ansatz: Er stellt kognitive Theorien

26

entwickelt wurde und die unter verschiedenen Bezeichnungen mit jeweils unterschiedlicher Akzentsetzung und Perspektive empirisch überprüft und bestätigt wurde: in ihren frühesten Formulierungen als Creative construction in den vielzitierten (und -kritisierten) Morpheme-Studies von Heidi Dulay und Marina Burt, als Interlanguage bei Larry Selinker, als Natural Order bei Stephen D. Krashen, als natürliche Erwerbssequenzen bei Sascha Felix und Henning Wode.4 Ihnen allen liegt die Auffassung vom Zweitsprachenerwerb als einem Prozess zugrunde, der, einer internen Dynamik gehorchend, sich in einer unumkehrbaren Folge von Phasen vollzieht und eher einem Reifungs-prozess als einem beliebig manipulierbaren Lernprozess gleichzusetzen ist.5

Dass der Zweitsprachenerwerb unter natürlichen wie auch gesteuerten Be-dingungen in der Tat einer solchen Eigengesetzlichkeit gehorcht, braucht in-zwischen nicht mehr nachgewiesen zu werden; zahlreiche Untersuchungen haben im Verlauf der vergangenen beiden Jahrzehnte hinreichend empirische ________________

den linguistischen Theorien gegenüber, wobei letztere die Sprachkompetenz in Form abstrakter Regeln beschreiben – wie die UG –, während erstere sich als Per-formanztheorien verstehen, wobei sie die formalen Aspekte mit funktionalen ver-binden und ihr Forschungsinteresse auf die Sprachverwendung konzentrieren. Zu den kognitiven Ansätzen rechnet Ellis beispielsweise das Interlanguage-Modell ebenso wie die Operating Principles, das Competition-Modell, das Multidimensio-nale ZISA-Modell und die PDP (zu all diesen Ansätzen siehe unten, Kapitel 3.2). Allerdings ist nach Ellis diese Trennung kognitive vs. linguistische Theorien nicht mit aller Schärfe aufrechtzuerhalten: „[...] this distinction is not watertight, as many cognitive theories characterize the way in which L2 knowledge is represen-ted in terms of how it is actually used. Indeed, it is characteristic of cognitive as opposed to linguistic theories that this distinction is blurred.“ (Ellis 1994: 408)

Für McLaughlin hingegen ist die kognitive Spracherwerbstheorie anderen Theo-rien gegenüber genau abgrenzbar; er definiert sie folgendermassen: „Cognitive theorie stresses the limited information-processing capacities of human learners, the use of various techniques to overcome these limitations, and the role of practice in stretching resources [...] The acquisition of a complex cognitive skill, such as learning a second language, is thought to involve the gradual accumulation of automatized subskills and a constant restructuring of internalized representati-ons as the learner achieves increasing degrees of mastery.“ (McLaughlin 1987: 148)

Am anderen Extrem steht beispielsweise Christine J. Howe, die den Terminus „kognitiv“ im Wortsinn verstanden haben will und deshalb zu dem Schluss kommt: „[...] all theories concerned with grammatical knowledge must, in some sens, be ‘cognitive’.“ (Howe 1993: 80)

4 Vgl. Dulay/Burt (1975); Selinker (1972); Krashen (1981); Felix (1977); Wode (1978).

5 Das Konzept der geordneten Erwerbsfolgen wird – darauf sei noch einmal aus-drücklich hingewiesen – nur für den Erwerb von Teilbereichen der Grammatik postuliert und nachgewiesen; somit bleiben wesentliche Aspekte des Phänomens Spracherwerb ausser Betracht (wie z. B. der Erwerb der Lexik).

27

Evidenz dafür geliefert. Auch anfänglich extreme Gegenpositionen innerhalb dieses konzeptuellen Rahmens – etwa hinsichtlich der Rolle der Erstsprache im L2-Erwerb, der Identität oder Kontrastivität von L1- und L2-Erwerbsver-läufen, der Einflussmöglichkeit expliziten Regelwissens auf die impliziten Erwerbsvorgänge – haben sich weitgehend eingeebnet zu nuancierteren So-wohl-als-auch-Positionen. Über alle theoretischen Differenzen hinweg hat sich inzwischen ein Konsensus eingestellt, der folgende Charakteristika des L2-Erwerbs als erwiesen betrachtet:6 1) In bestimmten grammatischen Teilbereichen verläuft der L2-Erwerb wie

der L1-Erwerb in Phasen. Jede Phase repräsentiert ein Entwicklungssta-dium, in dem bestimmte Formen und Strukturen der L2 bearbeitet werden. Den Phasen entsprechen jeweils spezifische „Lernersprachen“ oder „Interimssprachen“,7 deren Struktur auf dem Kontinuum „zwischen Nichtswissen und voller Beherrschung“8 anzusiedeln ist.

2) Ebenfalls wie im L1-Erwerb sind diese Phasen sequentiell geordnet, d. h. sie gehorchen einer chronologischen Reihenfolge, ungeachtet, ob es sich um kindliche oder erwachsene Lerner handelt. Diese feste Phasenabfolge wird als „Erwerbssequenz“ (oder auch „Entwicklungssequenz“) bezeich-net.9

3) Erwerbssequenzen kommen im L2-Erwerb wie im L1 -Erwerb dadurch zustande, dass die Lerner die Strukturen der Zielsprache schrittweise er-schliessen; sie bearbeiten den Input selektiv. Für dieses Verfahren hat Wode den Terminus „Dekomposition von Zielstrukturen“ geprägt.10

4) Die Phasenabfolge im L2-Erwerb ist der im L1-Erwerb zwar ähnlich, aber nicht mit ihr identisch. Für unterschiedliche Erwerbssequenzen ist nach bisherigen Forschungsergebnissen in erster Linie die L1 verantwortlich.11

5) Ein wesentlicher Unterschied zwischen L1- und L2-Erwerb ist der ver-schiedene Grad an Sprachbeherrschung am Ende des Erwerbsprozesses. Während alle L1-Lerner volle Kompetenz erreichen, unabhängig von der Beschaffenheit ihrer L1, gibt es für L2-Lerner offensichtlich schwieriger

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6 Die folgende Zusammenstellung orientiert sich an den Bilanzen von Alex Housen (1996: 516f.; „Basic findings“), Lynn Eubank et al. (1997: 8f.) und Felix (1997: 139f.).

7 Diese Termini haben sich im Deutschen als Äquivalente der Selinkerschen inter-language (1972) eingebürgert. Housen (1996) beschreibt Lernersprachen in An-lehnung an Selinker folgendermassen: „[...] at each point in their development, learners are operating from an underlying internally cohesive rule system – a lear-ner language or interlanguage.“ (Housen 1996: 516)

8 Wode (1988: 81). 9 Ebda. 10 Ebda. 11 McLaughlin (1987: 69).

28

und leichter zu erwerbende Strukturen und Formen, so dass ihr Erwerb vor Erreichen der vollen L2-Kompetenz zum Stillstand kommen kann (mit dem Terminus von Selinker: „Fossilisierung“).

6) L2- und L1-Erwerb unterscheiden sich überdies hinsichtlich der zeitlichen Varianz: Kinder lernen ihre L1 innerhalb eines relativ genau abgrenzbaren Zeitraums; bei L2-Lernern hingegen gibt es erhebliche individuelle Unterschiede, sowohl im zeitlichen Verlauf als auch im Ausmass ihrer Sprachbeherrschung.

7) Generell verläuft der L2-Erwerb weniger kontinuierlich als der L1-Er-werb. Abgesehen von Fossilisierungen, die den gesamten Spracherwerb oder auch nur Teilbereiche lahmlegen können, kommen auch Regressio-nen vor, die vorübergehend, aber auch dauerhaft zu Erwerbsverlusten führen.

8) Die Lernersprachen im L2-Erwerb sind erheblich unsystematischer und störungsanfälliger als im L1-Erwerb. Neben systematischen Variationen, die Spracherwerbsprozessen generell inhärent sind, gibt es speziell in L2-Lernersprachen ein hohes Ausmass an „freier Variation“,12 wobei mehrere konkurrierende Formen ohne erkennbare Regelanwendung alternativ verwendet werden.

9) Der prägende Einfluss der L1 für den L2-Erwerb ist inzwischen unbe-stritten. Transfer aus der L1 gilt nicht mehr, wie zu Zeiten des Behavio-rismus, als möglichst zu eliminierender Störfaktor, sondern als „kognitiv begründete Produktionsstrategie“,13 die für den L2-Erwerb wesentliche Impulse liefert.14

Die unter 1) bis 9) aufgeführten Charakteristika des L2-Erwerbs können wir bestätigen; sie treffen auch auf die Erwerbsverläufe unserer Probanden zu. Umso erstaunlicher mag in Anbetracht dieser doch recht eindeutigen For-schungsergebnisse erscheinen, dass bis jetzt – so weit wir sehen – entspre-chende Auswirkungen auf die L2-Unterrichtspraxis ausgeblieben sind, ob-wohl doch die Konsequenzen für die Fremdsprachendidaktik von höchster Relevanz wären. Dieses Ausbleiben einer didaktischen Breitenwirkung mag mit der üblichen Phasenverschiebung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und Schulpraxis zu tun haben;15 möglicherweise aber auch damit, dass die

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12 Ellis (1985: 75). 13 Peter Jordens (1988a: 43). 14 „[...] there is now clear evidence that the L1 acts as a major factor in L2 acquisi-

tion. One clear advance in transfer research has been the reconceptualization of the influence of the L1; whereas in behaviorist accounts it was seen as an impediment (a cause of errors), in cognitive accounts it is viewed as a resource which the lear-ner actively draws in interlanguage development.“ (Ellis 1994: 343)

15 Siehe dazu die sehr aufschlussreiche und umfassende Analyse der Schwierigkeiten,

29

bisher vorliegenden Arbeiten weder in ihrem Untersuchungsgegenstand noch in ihrer Datenbasis weit genug ausgeholt haben, um die schulpolitisch Ver-antwortlichen zu überzeugen.

Eben dieser Brückenschlag soll mit dem DiGS-Projekt versucht werden. Dazu war es erforderlich, mit einem breit angelegten Korpus zu arbeiten, um: 1) die Erwerbsverläufe einer hinreichend grossen Anzahl von Schülerinnen

und Schülern zu beobachten, damit individuelle Abweichungen von über-individuellen Regularitäten unterschieden werden konnten; dies mit dem Ziel, die Erwerbsfolge derjenigen Teilbereiche der deutschen Grammatik zu rekonstruieren, die für Fremdsprachenlernende relevant sind;

2) diese Ergebnisse für eine Umsetzung in die Praxis des Grammatikunter-richts anzubieten.

Mit anderen Worten: Es geht uns um die „Lernbarkeit“ – und damit „Lehrbar-keit“16 – der deutschen Grammatikregeln, um die Unterscheidung zwischen sequentiell geordneten und „sequenzenfreien“ Bereichen der Grammatik und, für die ersteren, um die Ermittlung der Erwerbsreihenfolge, mit der erklärten Absicht, auf diese Weise zu einem effektiveren Grammatikunterricht beizutragen.

Bei dieser Interessenlage kann die Frage nach den Gründen für die beob-achteten Phänomene – also die Frage nach einem explanatorischen Modell – unberücksichtigt bleiben; zumindest ist sie nicht prioritär.

Allerdings stiessen wir bei unseren Analysen immer wieder auf Erschei-nungen, die uns in den verschiedenen Theorien nicht – oder nicht angemessen – berücksichtigt scheinen. Insofern könnte unsere Untersuchung doch noch einem dritten Zweck dienen: nämlich als Prüfstein für die Validität von Zweitsprachen-Erwerbstheorien, wenn Validität daran gemessen werden kann, ob in einem Erklärungsmodell alle wesentlichen Komponenten eines Phänomens erfasst werden.

________________ die sich einer Innovation im Schulbereich entgegenstellen, insbesondere auch die Ausführungen zur Distanz zwischen akademischer Forschung und Schulpraxis, bei E. Kwakernaak (1996), vor allem 164ff. – Wir werden im Kapitel über die didakti-schen Konsequenzen (7.4) noch einmal darauf zurückkommen.

16 In Übernahme der Termini von Pienemann (1989). Wir werden an späterer Stelle noch ausführlicher auf die Pienemannschen Hypothesen eingehen (siehe unten, S. 375).

30

3.2 Theorien zum Zweitsprachenerwerb Nachdem seit Beginn der siebziger Jahre eine Vielzahl von deskriptiven Un-tersuchungen zum L2-Erwerb in all seinen Varianten vorgelegt wurde, erwies es sich als immer notwendiger, die Fülle der Ergebnisse zu ordnen, in Mo-delle zu fassen und theoretisch zu fundieren. So kam es im Verlauf der acht-ziger Jahre zu einer geradezu explosionsartigen Entwicklung theoretischer Konzepte; Alex Housen (1996) zählt über 40. Es kann nun nicht unsere Auf-gabe sein, einen vollständigen Überblick über den augenblicklichen Stand dieser theoretischen Reflexion zu bieten; entsprechende Bestandsaufnahmen sind an anderer Stelle nachzulesen.17 Wir werden uns damit begnügen, die grundlegenden Positionen der vier theoretischen „Familien“, denen sich die verschiedenen theoretischen Ansätze zuordnen lassen, in einigen ihrer expo-nierten Repräsentanten zu rekapitulieren – dies immer mit der Frage, inwie-weit ihre Aussagen mit unseren Analyseergebnissen zu vereinbaren sind. Gemeint sind: 1) mentalistische (nativistische) Theorien (die Universalgrammatik der

Chomsky-Schule, UG); 2) Theorien der Sprachverarbeitung (die Operating Principles von Slobin

und das Multidimensionale Modell der ZISA-Untersuchung); 3) konnektionistische Modelle (das Competition-Modell und das Parallel

Distributed Processing-Modell, üblicherweise als PDP bezeichnet); 4) das dualistische Modell (Pinker und Price). 3.2.1 Der mentalistische Ansatz: Das UG-Modell Das Spracherwerbsmodell der UG steht nach wie vor in der theoretischen Diskussion an vorderster Stelle; vor allem bei Arbeiten über den L1-Erwerb ist eine Auseinandersetzung mit den Konzepten und Postulaten der UG un-ausweichlich.18 _______________

17 Hierfür verweisen wir auf die Arbeiten von McLaughlin (1987), Housen (1996),

Eubank et al. (1997), dazu die sehr ausführlichen Darstellungen in Ellis (1994) und im „Handbook of Second Language Acquisition“, hrsg. von Ritchie/Bhatia (1996).

18 Vgl. Susan Gass (1997: 31). Auch in dem umfassenden Projekt „Schwerpunkt Spracherwerb“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Laufzeit 1987–1994) bil-det die UG für die meisten Untersuchungen den theoretischen Rahmen – wenn auch in Konkurrenz zu konnektionistischen Ansätzen, siehe den „Abschlussbericht zum Schwerpunkt Spracherwerb“ unter der Gesamtredaktion von H. Wode und T. Piske (1996).

31

Für den L2-Erwerb wurde das UG-Modell erst in seiner zweiten Fassung, der Prinzipien-und-Parameter-Version (Chomsky 1981) wirksam, die von der Annahme ausgeht, das menschliche Gehirn sei mit einem angeborenen Modul für Spracherwerb ausgestattet, in dem die Universalgrammatik verankert ist. Diese besteht aus einer Reihe von Prinzipien – abstrakten formalen Eigen-schaften, die die Menge aller logisch möglichen Sprachen kennzeichnen19 – und Parametern, die für einige Prinzipien verschiedene einzelsprachliche Realisierungen bereithalten, als Optionen der Universalgrammatik.20 Einige der Prinzipien sind miteinander verkoppelt (clustered), d. h. bestimmte grammatische Eigenschaften treten automatisch gemeinsam auf. Die Setzung der einzelsprachlich geltenden Parameter wird durch die Eingabe der jeweili-gen L1 ausgelöst.

Das Konstrukt der Parameter-Setzung ermöglicht nun die Übernahme des ursprünglich für den L1-Erwerb entwickelten UG-Modells für den L2-Er-werb: die Parametersetzungen der L1 müssen für die L2 je nachdem bestätigt bzw. neu fixiert werden. Dabei ist allerdings vorausgesetzt, dass die UG-Prinzipien auch noch nach dem Erwerb einer L1, auch noch nach dem Kin-desalter zugänglich bleiben und dass die verschiedenen Stadien der Lerner-sprachen immer UG-konform sind, in gleicher Weise, wie dies für die Stadien der L1 behauptet wird.21

Und damit stösst man auf ein Dilemma, das sich in der UG-Forschung immer wieder auftut, wenn es um den empirischen Nachweis der UG-Hypo-thesen geht: In Anbetracht des spekulativen Charakters der UG ist es offen-sichtlich ausserordentlich schwierig, zu eindeutigen Befunden zu gelangen.22 So wird von einigen UG-Theoretikern die – allerdings heute eher seltene – Ansicht vertreten, die UG stehe den L2-Lernern in gleicher Weise wie den L1-Lernern zur Verfügung (= „UG for all“ ), während andere dies bestreiten und den L2-Erwerb – in klarer Opposition zum UG-gesteuerten L1-Erwerb – ausschliesslich auf die Anwendung allgemeiner Lernstrategien zurückführen (= „UG not at all“ ),23 wobei beide „Lager“ dieselben Daten als Beweismate-rial anführen.24 Zwischen diesen Extrempositionen situiert sich die Position

_______________

19 Housen (1996: 519), Jordens (1988a: 35). 20 Jordens (1988a: 35f.). 21 Jordens (1988a: 36f.). 22 Housen (1996: 20); Ellis (1994: 458ff.). 23 Siehe dazu die Position von Jacquelyn Schachter, referiert und kritisiert von Felix

(1997: 143ff.). 24 Siehe dazu die Kontroverse zwischen Bonnie D. Schwartz und Harald Clahsen zur

Interpretation der Daten des ZISA-Korpus, auch Jürgen Meisel (1991) und Sascha Felix (1997: 139–151).

32

„Start with L1“,25 d. h. L2-Lerner benutzen zunächst die Parameterfixierun-gen ihrer L1; wo sich diese unverändert auf die L2 übertragen lassen, geht der Erwerb reibungslos vonstatten; wo die Parameter für die L2 neu fixiert werden müssen, sind Erwerbswiderstände und hohe Fehlerzahlen zu erwar-ten.26

Die Hypothese einer nur partiellen Zugänglichkeit zur UG für L2-Lerner gewinnt inzwischen an Boden. Bonnie Schwartz (1993) bietet die Variante an, UG-basiertes Wissen interagiere mit allgemeinen kognitiven Lernverfah-ren, mit deren Hilfe, ergänzend zu den Parametersetzungen und -umsetzun-gen, ein „gelerntes Sprachwissen“ (learned linguistic knowledge – LLK) auf-gebaut wird. Nach Birgit Haas (1993) ist der Zugang zur UG lernertypenab-hängig: bei manchen verläuft der L2-Erwerb effektiv über die Steuerungsme-chanismen der UG; andere dagegen sind auf explizites Regelwissen angewie-sen. Auch für Felix (1997) ist eine Kombination aus teilweisem Zugang zur UG und allgemeinen Problemlösungsverfahren denkbar.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist diese Kontroverse noch keinesfalls ab-geschlossen. Dass die UG in irgend einer noch zu klärenden Weise im L2-Erwerb wirksam ist, steht für die Mehrheit der UG-Theoretiker ausser Frage. Offen ist jedoch nach wie vor, welche UG-Prinzipien unter welchen Bedin-gungen und Beschränkungen aktiviert werden und welche zusätzlichen kom-pensatorischen Strategien angenommen werden müssen. Offen ist nach Felix (1997: 149) zudem die Frage, warum die Leistung der UG beim L2-Erwerb so weit hinter der beim L1-Erwerb zurückbleibt.27

Die Diskussion wird auch dadurch nicht vereinfacht, dass – noch bevor hinreichend empirische Evidenz für die bisher erarbeiteten theoretischen Po-sitionen vorgelegt werden konnte – Chomsky 1991 bereits mit einer weiteren neuen Version seiner Theorie an die wissenschaftliche Öffentlichkeit getreten ist: dem Minimalist Program, das nur noch mit den Konzepten „logische Form“ und „phonetische Form“ operiert und die Parameter nicht mehr formal, sondern funktional definiert,28 was von der gesamten UG-orientierten Erwerbsforschung eine Umorientierung verlangt, die sich, soweit wir sehen, noch nicht in empirischen Arbeiten niedergeschlagen hat. Wenn wir in der UG Erklärungsansätze für unsere Analyseergebnisse suchen, so beziehen wir uns auf das „alte“ Parameter-Modell von 1981.

_______________

25 Vgl. etwa Jordens (1988a: 34, 37). Weitere Ausführungen (zu Susan Flynn und Lydia White) bei Ellis (1994: 453ff.).

26 Vgl. die kritische Diskussion dieser Position bei Jordens (1988a: 37f.). 27 „The crucial question is this: If second language learners have knowledge of prin-

ciples of Universal Grammar, why is it that UG does not work as effectively in L2 acquisition as is does in L1 acquisition“ (Felix 1997: 149).

28 Siehe die Diskussion des „Minimalist Program“ bei White (1997: 63ff.) und Felix (1997: 148).

33

Fest steht, dass wir in den Erwerbsverläufen unserer Probanden, jenseits aller individuellen Unterschiede, Regularitäten beobachten können, die in sig-nifikanter Weise vom Unterrichtsstoff abweichen und die durchaus auf UG-gesteuerte Erwerbsprozeduren zurückgeführt werden könnten – allerdings wohl eher in der Version „back to L1“, denn ein Vergleich zwischen dem Satzmodell-Erwerb niederländischer Deutschlerner mit dem unserer frankophonen Schülerinnen und Schüler zeigt sehr eindrückliche Unter-schiede, die sich direkt aus dem Unterschied der syntaktischen Strukturen der beiden Erstsprachen herleiten lassen. Es wären demzufolge die von allen un-seren frankophonen Testpersonen gleichermassen verlangten Parameter-Um-setzungen vom Französischen ins Deutsche, die die gleiche Abfolge der Er-werbsphasen bewirkt.

Solche Parametersetzungen in unserem Material nachzuweisen, ist jedoch schwierig. Parametersetzungen werden ja vom Input ausgelöst (triggered) und müssten eine grammatische „Einsicht“ zur Folge haben, die – wenn auch gewiss nicht sofort systematisch realisiert – doch als Erkenntnisfortschritt in den Produktionen der Probanden zutagetreten müsste. Dies wäre beispiels-weise beim Erwerb der Satzmodelle zu erwarten, die ja im Grunde formal durchaus transparent sind, so dass sich Parametersetzungen auch unvermittelt in den Produktionen niederschlagen könnten. Wie allerdings unsere Proban-den verfahren, erweckt eher den Eindruck eines probierenden Auslotens der verschiedenen Strukturen, die sich erst im Verlauf eines kürzeren oder länge-ren Experimentier-Zeitraums etablieren; sie scheinen viel eher Hypothesen zu testen als Parameter zu setzen bzw. umzusetzen. Und für jenen Problem-bereich, der in unseren Analysen den grössten Platz einnimmt – die mor-phologische Markierung – sind ohnehin keine Klärungen seitens der UG-Theoretiker zu erwarten, da dieser Fragenkomplex (bisher) ausserhalb des Forschungsinteresses der UG liegt.29

Ohne ausschliessen zu wollen, dass die UG zumindest teilweise in den L2-Erwerb hineinwirkt, müssen wir doch aus unseren Daten den Schluss ziehen, dass das UG-Modell für wesentliche Merkmale des L2-Erwerbs eine Erklä-rung schuldig bleibt.

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29 Ein weiteres Indiz, dass sich das Konzept der Parametersetzungen nicht ohne wei-teres auf den L2-Erwerb übertragen lässt, liefern White, Usha Lakshmanan und Gass. Sie untersuchten L2-Produktionen auf clustering- Effekte, d. h. jenes im Rahmen der UG beobachtete Phänomen, dass mehrere Parameter miteinander ver-bunden sind, so dass die Setzung eines Parameters zugleich die Setzung des – oder der – anderen Parameter nach sich zieht. Sie konnten keine solchen clustering-Ef-fekte beobachten, so dass Gass zu dem Schluss kommt: „Learners are able to per-ceive the structural similarity in some cases, but not in others and it is the surface similarity that allows them to connect the structures. Learners do not appear to have access to underlying abstractions.“ (1997: 35)

34

3.2.2 Theorien der Sprachverarbeitung Ein alternativer Ansatz, der in der L2-Erwerbsforschung diskutiert wird, führt die überindividuellen Gemeinsamkeiten der L2-Erwerbsverläufe nicht auf ein angeborenes Grammatikmodul zurück, sondern auf universelle Prinzipien und Verfahren, nach denen L2-Lerner die L2-Eingabe analysieren, bearbeiten und speichern.

Bahnbrechend für diese Richtung war Dan I. Slobins Konzept der Ope-rat ing Pr incip les. Nach der Analyse einer Vielzahl von Untersuchungen zu Erwerbsverläufen in verschiedenen Erstsprachen kam Slobin zu dem Schluss, der menschliche Spracherwerb werde von universell gültigen Sprachverarbeitungsstrategien geleitet, aus denen sich wiederum „eine ge-meinsame, nicht einzelsprachlich gebundene Abfolge des Erwerbs verschie-dener Sprachen“30 ableiten lasse. Slobin postuliert kein angeborenes gram-matisches Wissen in Form abstrakter Prinzipien wie die UG, wohl aber ein im Kind angelegtes allgemeines Wissen von Sprache überhaupt und ihren Strukturen und Funktionen; und dieses Wissen setzt es instand, mit Hilfe universaler Operating Principles (= OP) – die Regeln der Erstsprache schrittweise aus dem Input zu erschliessen. Mit den Worten von Wode:

Slobin denkt sie [sc. die Operating Principles] sich als heuristische Verfahren, die Lerner u.a. in ihren Versuchen leiten, die Strukturen der Zielsprache zu erschliessen, sie im Gedächtnis zu repräsentieren und für die Produktion zu nutzen. (1988: 94)

Da diese OPs in den Rahmen allgemeiner menschlicher Kognition eingebettet sind, führen sie zwangsläufig zu gleichen Erwerbsverläufen in verschiedenen Sprachen – gleich in dem Sinne, dass zwar die Erwerbsfolgen je nach Struktur der L1 variieren, dass aber in allen Sprachen die nicht OP-konfor-men Strukturbereiche später erworben werden als die OP-adäquaten.31

Dieses Konzept, bereits in den 70er Jahren entwickelt und 1985 in erwei-terter, nicht grundsätzlich veränderter Form32 vorgelegt, hat in verschiedenen Varianten in die theoretische Reflexion zum L2-Erwerb Eingang gefunden, so _______________

30 Slobin (1973: 124). 31 Vgl. Slobin (1985: 16): „Crosslinguistic comparison thus reveals general language

acquisition strategies which have different effects on the course of acquisition of particular languages.“

32 Die Anzahl der Operating Principles wird in der Fassung von 1985 auf 40 erhöht und drei Typen zugeordnet: perceptual and storage filters, pattern makers und ge-neral problem solving strategies. Zudem verlagerte sich der Akzent in der Fassung von 1985 von allgemein kognitiven auf sprachspezifische Vorbedingungen: What has changed is the emphasis – from general cognitive prerequisites to those that seem more adapted to the task of language acquisition in particular (Slobin 1985: 1243). Vgl. dazu die Ausführungen von Jordens (1988a: 50f.) und den kritischen Kommentar von Gregg (1997: 69ff.).

35

etwa in Roger W. Andersens „Nativization Model“, das, unter expliziter Berufung auf Slobins OPs,33 zwölf Prinzipien für die Wahrnehmung und Speicherung im L2-Erwerb aufführt.34

Auch in unserem Korpus lassen sich Erwerbsphänomene beobachten, die auf die Anwendung Slobinscher OPs zurückgehen könnten: so zum Beispiel das OP E (in der Fassung von 1973):

Vermeide die Unterbrechung und Reorganisation sprachlicher Einheiten,35

das der Erwerbsfolge der Satzmodelle zugrundeliegen könnte, oder das OP D:

Zugrundeliegende semantische Relationen sollten offen und deutlich markiert sein,36

das eine plausible Erklärung für die geradezu unüberwindlichen Schwierig-keiten beim Erwerb des deutschen Deklinationssystems sein könnte, da dieses in eklatanter Weise gegen das Postulat deutlicher Markierung verstösst: das gesamte Morpheminventar ist in höchstem Masse vieldeutig, und zudem sind in den Deklinationsmorphemen die Funktionen von Genus, Kasus und Numerus miteinander verschmolzen.

Generalisierungstendenzen lassen sich auf das OP F zurückführen:

Vermeide Ausnahmen.37

Als Beispiele für OPs in der erweiterten Fassung von 1985 seien etwa Über-markierungen wie einer Hund; meines Haus genannt als Illustration des OPs EXTENSION:

If you have discovered the linguistic means to mark a Notion in relation to a word class or configuration, try to mark the Notion on every member of the word class or every instance of the configuration, and try to use the same linguistic means to mark the Notion.38

Und die Tendenz einiger unserer Probanden, anstelle der ans Nomen affi-gierten Dativmorpheme die Präpositionen zu oder an zu verwenden (ich gebe das Brot an/zu meine Schwester) illustriert das OP ANALYTIC FORM:

If you discover that a complex Notion can be expressed by a single, unitary form (syntactic expression) or by a combination of several seperate forms (analytic ex-pression), prefer the analytic expression.39

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33 Andersen (1989: 46–64). Vgl. dazu die kritische Darstellung von Ellis (1994: 378ff.).

34 Andersen (1989: 50–56). 35 Slobin (1973: 153). 36 Slobin (1973: 155). 37 Slobin (1973: 160). 38 Slobin (1985: 1222). 39 Slobin (1985: 1229).

36

Die Beispiele liessen sich beliebig fortführen – aber gerade diese Beliebigkeit ist zugleich die Crux der OP-Modelle. Die Liste der OPs scheint offen zu sein; die Erhöhung von sieben OPs in der Fassung von 1973 auf vierzig zwölf Jahre später ist immerhin bezeichnend. Zudem fehlt eine Hierarchie der OPs, die für den Fall mehrerer konkurrierender OPs im selben Kontext die Prioritäten festlegt – alles Punkte, die Slobin zum Teil herbe Kritik zuge-zogen haben.40

Das hat jedoch keinesfalls verhindert, dass vom Slobinschen Ansatz we-sentliche Impulse für die L2-Erwerbsforschung ausgegangen sind. Im deut-schen Sprachraum wurde er von Wode aufgegriffen und in die dynamische Perspektive von Erwerbsprozessen integriert. Auf Slobin berufen sich auch ausdrücklich die Autoren des ZISA-Projektes,41 die für das Dilemma der Beliebigkeit der Slobinschen OPs eine überzeugende Lösung gefunden haben. Das ZISA-Forschungsteam deduziert nicht nur aus den Erwerbsverläufen von 45 Gastarbeitern deren Erwerbssequenz für die Wortstellungsregeln im Deutschen, sondern es nennt auch die jedem Stadium zugrundeliegenden Sprachverarbeitungsstrategien: 1) die Canonical Order Strategy (COS), die keine Permutationen von se-

mantisch zusammengehörigen Elementen zulässt und der Wortfolge der Phasen I (SVO) und II (ADV-Preposing: da Kinder spielen) zugrunde-liegt, wobei sich Clahsen (1984b: 221) ausdrücklich auf Slobins OP D bezieht: „Vermeide die Unterbrechung oder Reorganisation sprachlicher Einheiten“ (Slobin 1973: 153);

2) die Initialization/Finalization Strategy (IFS), nach der Permutationen nur an Satzanfang und Satzende möglich sind (dies entspricht der ZISA-Phase III, VERB SEP: alle Kinder muss die Pause machen);

3) die Subordinate Clause Strategy (SCS), die Permutationen in Nebensät-zen blockiert, nicht aber in Hauptsätzen (damit wird Phase IV möglich, die Inversion: dann hat sie wieder die Knocht gebringt).42

Diese Strategien sind hierarchisch – nach zunehmender Komplexität der Verarbeitungsprozeduren – geordnet; die jeweils höhergeordnete impliziert die vorausgehende. Erwerbsfortschritte lassen sich beschreiben als progressi-ves Durchbrechen der drei Strategien; erst wenn die letzte Strategie SCS überwunden ist, können auch Nebensätze gebildet werden.

Die Schlüssigkeit des ZISA-Modells ist bestechend, zumal sich ähnliche Entwicklungssequenzen auch für den Erwerb anderer Sprachen (z. B. Eng-

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40 Eine zusammenfassende Darstellung zur Kritik an den OPs ist nachzulesen bei El-lis (1994: 381f.).

41 Clahsen/Meisel/Pienemann (1983). 42 Ebda.

37

lisch) und anderer Grammatikbereiche (z. B. der Morphologie) nachweisen liessen,43 was den ZISA-Arbeiten auch ausserhalb des deutschen Sprachraums ein hohes Ansehen verlieh.44

Nun haben wir mit der so oft bestätigten – oder auch unhinterfragt über-nommenen – ZISA-Wortfolgensequenz das Problem, dass sie von unseren Daten nicht bestätigt wird, zumindest nicht in den letzten beiden Phasen INV und V-End (d. h. Inversion und Nebensatz). Unsere Schülerinnen und Schüler zeigen mit aller wünschbaren Deutlichkeit, dass für sie die Permutation Verb-Subjekt schwieriger ist als die Verb-Endstellung; die Strategie SCS scheint also für sie nicht zu gelten. Das trifft allerdings nicht auf alle Inversi-onskontexte zu: In W- und E-Fragen wenden schon unsere Primarschulkinder die Inversion korrekt an (und behalten sie auch über den ganzen Verlauf ihrer Schulzeit bei), was nach der ZISA-Sequenz erst in Phase IV geschehen dürfte (und was für die ZISA-Probanden offensichtlich auch zu stimmen scheint).

Ob dies mit dem Unterschied Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit zu tun hat (die ZISA-Daten wurden über Interviews erhoben) oder mit dem Unterschied natürlicher vs. gesteuerter Erwerb, wird an anderer Stelle diskutiert (siehe unten Kapitel 4.5). Störend bleibt in jedem Fall, dass die als universal postu-lierte ZISA-Reihenfolge eben doch nicht unter allen Bedingungen zu gelten scheint.

Ein anderes Problem ist für uns das Kriterium für „erworben“. Während in der Hauptveröffentlichung zum ZISA-Projekt von 1983 noch mit quantitati-ven Kriterien gearbeitet wird (Häufigkeit der Verwendungskontexte bezogen auf richtige bzw. fehlerhafte Realisierung),45 gilt in den Folgeveröffentli-chungen die erstmalige korrekte Verwendung einer Form bzw. Struktur be-

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43 Vgl. Ellis (1994: 383ff.). 44 Vgl etwa Ellis: „[...] the Multidimensional Model (= der ZISA-Forschungsgruppe)

is powerful not only because it provides a satisfactory explanation of observed de-velopment in learner-language, but because it also constitutes a predictive frame-work. [...] The predicitive power of the model is probably greater than that of any other model of L2 acquisition, with the possible exception of the Competition Model.“ (1994: 386f.)

Auf die anderen Aspekte des Multidimensionalen ZISA-Modells – die individuelle Variation und die sozialpsychologischen Faktoren, die mit den lernersprachlichen Daten korreliert werden – soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Vgl. dazu die Darstellungen bei McLaughlin (1987: 114), Wode (1988: 87f.) und Ellis. (1994: 382–388)

45 Um Aussagen darüber machen zu können, ob eine Struktur erworben ist oder nicht, müssen nach Clahsen/Meisel/Pienemann (1983) mindestens 5 entsprechende Verwendungskontexte vorhanden sein, wobei dieses Kriterium für ihre Quer-schnittsanalyse gilt. Dass ein solches Kriterium immer noch willkürlich ist und dass wirkliche Aufschlüsse über dauerhaften Erwerb nur von Longitudinalstudien erwartet werden können, betonen sie selbst ausdrücklich (1983: 96).

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reits als Indiz für „erworben“. Dieser Definition können wir uns nicht an-schliessen; denn nach unseren Beobachtungen sind dergleichen korrekte Verwendungen in sehr vielen Fällen – und keineswegs nur beim ersten Auf-treten – nichts anderes als memorisierte, unanalysierte Floskeln (Chunks),46 die über mehrere Erwerbsphasen als „Fremdkörper“ mitgeführt werden und oft fossilisieren, bevor sie überhaupt in ihrer Struktur durchschaut und bear-beitet werden. Im ZISA-Korpus, das sich überwiegend aus Querschnittserhe-bungen zusammensetzte, konnte dieses Problem wohl weniger in den Blick kommen; im longitudinal angelegten DiGS-Korpus erweist es sich als unum-gänglich – wenngleich in gewissen Fällen fast unlösbar –, memoriertes Chunk-Wissen von „echtem“ Erwerb zu unterscheiden.47

Nun sind aber diese Chunks, auf deren Existenz unter der Bezeichnung prefabricated patterns (K. Hakuta 1976: 331),48 formulaic speech (Ellis 1994: 84ff.) bzw. Formeln und Rahmen (Wode 1988: 101f.) in der Literatur mehrfach hingewiesen wurde, keineswegs eine Randerscheinung in unserem Korpus, sondern sie werden massiv eingesetzt – und dies nicht nur in den Anfängen des Deutscherwerbs. Offensichtlich kann das Memorisieren und Verwenden auch undurchschauter Wortketten nicht als Epiphänomen des L2-Erwerbs abgetan werden; es scheint vielmehr ein konstitutives Merkmal von Lernersprachen (übrigens auch im L1-Erwerb!) zu sein, dem eine Spracher-werbstheorie Rechnung tragen müsste.

Die Lernersprachen unserer Probanden sind durch eine weitere, ebenso zentrale Eigenschaft gekennzeichnet, für die weder das Parametermodell noch die Sprachverarbeitungsmodelle eine Erklärung bereithalten: ihre Variabilität. In den Schüleraufsätzen ist es durchaus die Regel, dass auf engstem Raum – innerhalb desselben Satzes – normgerechte Formen und Normverstösse koexistieren, die nach dem Zufallsprinzip miteinander kombiniert zu sein scheinen, ohne jede rekonstruierbare Kohärenz – in „freier Variation“, wie Ellis dieses Phänomen bezeichnet.49 Die beiden Erscheinungen – Chunks und Inkonsistenz – treten in unserem Korpus zu häufig auf, um sie als Ne-

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46 Zum Terminus „Chunk“ siehe insbesondere unten 6.2.2. 47 Vgl. dazu auch die kritischen Bemerkungen von Ellis (1994: 387f.). 48 „prefabricated patterns“: regular, patterned segments of speech used „without

knowledge of their underlying structure, but wirh the knowledge as to which par-ticular situations call for what patterns“. (Hakuta 1976: 331, zitiert nach Elaine Ta-rone 1988: 94) Tarone führt weiter aus: „Such prefabricated patterns can be identi-fied in the data in that they are invariable in usage, and frequently are misused in linguistically inappropriated contexts. (Tarone 1988: 94)

49 Ellis’ Definition der freien Variation, in Opposition zur „systematischen Varia-tion“: „This is the variation apparent in the haphazard use of two or more alternate forms which exist within the learner’s interlanguage. This type of variability will be referred to as free variability (Ellis 1985: 75). Vgl. auch S. 28, Punkt 8.

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benerscheinungen von Erwerb unter gesteuerten Bedingungen zu bagatelli-sieren; sie verdienen einen angemessenen Platz in einer Theorie, die den An-spruch erhebt, der psycholinguistischen Realität des Spracherwerbs gerecht zu werden.50 3.2.3 Konnektionistische Modelle Entsprechende theoretische Alternativen liegen auch vor; es sind diejenigen, die sich vom Konnektionismus herleiten – Alternativen, die allerdings nach den Worten von Ellis geradezu ein „Affront“ für die mentalistische Er-werbstheorie Chomskyscher Prägung sind (Ellis 1997: 62), von anderen hin-gegen als „Paradigmenwechsel“ begrüsst werden.51 Konnektionistische Mo-delle beziehen in allen Punkten eine extreme Gegenposition zur UG: 1) Sie verzichten auf die Annahme jeglichen angeborenen sprachspezifischen

Wissens oder sprachspezifischer Verarbeitungsprozeduren; Spracherwerb findet nach ihrer Auffassung ausschliesslich durch die Interaktion von allgemeinen Lernmechanismen und der sprachlichen Eingabe statt;52

2) sie postulieren einen Spracherwerb ohne Regeln und ohne symbolische Repräsentationen. Cues statt Rules, wie es in einer der ersten Arbeiten im Rahmen dieses Modells provozierend heisst53 – also einzelne Stimuli an-stelle von Regeln sind die Antriebskräfte des Spracherwerbs, bei dem der kognitive Apparat als ein Netzwerk vorzustellen ist, dessen Knoten unter-schiedlich aktiviert werden – je nachdem, wie stark sie im Verhältnis zu den anderen Knoten des Netzwerkes „gewichtet“ sind;

3) syntaktische und semantische Faktoren sind im Spracherwerb nicht von-einander zu lösen; der konnektionistische Ansatz ist somit funktional;

4) konnektionistische Modelle sind Performanzmodelle; sie fragen nicht nach der Repräsentation sprachlichen Wissens, sondern nach der Ver-wendung sprachlicher Form-Funktion-Verbindungen.54

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50 „[...] it is important to operate with a research model that does not ignore the in-herent variability, but gives explicit recognition to it.“ (Ellis 1985: 97)

51 Schneider (1987), zitiert nach Berry/Dienes (1993: 90). 52 M. Schwarz bezeichnet diesen Ansatz, in dem Sprache „nicht als ein autonomes

Subsystem, sondern eher als ein Epiphänomen der Kognition“ betrachtet wird, als „holistisch“ (1992: 49) – in Opposition zu der „modularen“ Konzeption der gene-rativen Grammatik, nach der Sprache „als ein eigenständiges Modul auf der Inter-ebene der Kognition von anderen Kenntnissystemen abgegrenzt [wird]“ (1992: 45).

53 MacWhinney et al. (1989): Language Learning: Cues or Rules? 54 Zur Darstellung des konnektionistischen Ansatzes vgl. den Überblick bei Ellis

(1994: 403–408); dazu die Zusammenfassung bei Housen (1996: 518f.), Schwarz (1992: 20f.) und Berry/Dienes (1993: 90–102).

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Von den zahlreichen Modellen, die von diesen Prämissen ausgehen, seien hier nur zwei kommentiert: das „Competition“-Modell und das Modell des „Parallel Distributed Processing“ (PDP).

Das Competi t ion-Model l55 geht von der Tatsache aus, dass dieselbe Bedeutung verschiedene formale Entsprechungen haben kann und umgekehrt, dass es also konkurrierende Form-Funktion-Verbindungen (form-function-mappings) gibt. Zum Spracherwerb gehört demnach nicht nur die Entdeckung dieser verschiedenen mappings, sondern auch die Aneignung der „cues“, die im jeweiligen Kontext für die Aktivierung bzw. Hemmung verantwortlich sind. Die Gewichtung der cues hängt ab von: 1) ihrer Erkennbarkeit (oder Deutlichkeit oder Markiertheit, detectability

nach Brian MacWhinney 1989); 2) der Häufigkeit ihres Vorkommens (in In- wie Output – task frequency); 3) der Abrufbarkeit, die mit der Häufigkeit der Verwendung zunimmt

(availability); und 4) der Eindeutigkeit, genauer: der Klarheit der Beziehung zwischen einem

Stimulus und der ihm zugeordneten Kategorie.56 Lernen – Sprachlernen wie jedes andere – bedeutet, Änderungen in der Gewich-tung von cues vorzunehmen und entsprechende Assoziationsmuster zu erwerben:

Within a single network the processes of rute, combination, analogy, and paradigm application are all expressed in terms of patterns of association between cues. [...] Whereas earlier research [...] was forced to think about generalizations in terms of rule use, we can now think about generalization in terms of cue acquisition. (MacWhinney et al. 1989: 275)

Die Aktivierung der cues ist einzelsprachenspezifisch. Experimente haben gezeigt, dass beispielsweise Englischsprachige für die Interpretation von Sät-zen prioritär den cue „Wortfolge“ benutzen, Italienischsprachige hingegen den cue „Bedeutung“ (Gass 1996: 335). L2-Lerner müssen also die in ihrer L1 habitualisierten Sprachverarbeitungsverfahren „umprogrammieren“, d. h. sie müssen sich die cues der L2 und deren jeweilige Gewichtungen aneignen. L2-Lerner versuchen zuerst – wie man aus Experimenten weiss –, ihre L1-cues für die L2 zu übernehmen; wo sich dies als undurchführbar erweist, re-kurrieren sie auf den cue „Bedeutung“.57

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55 Die folgende Darstellung orientiert sich an Bowermann (1985: 1257–1319), MacWhinney et al. (1989: 255–277) sowie an der zusammenfassenden Darstellung von Ellis (1994: 373–378) und Gass (1996: 335f.).

56 MacWhinney et al. (1989: 260f.). 57 Siehe die Arbeit von Gass (1996).

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Im Paral le l-Distr ibuted-Processing-Modell liegt der Akzent – wie der Name besagt – darauf, dass das Netzwerk die kognitiven Aufgaben nicht linear bearbeitet, sondern parallel, wobei sich syntaktische und semantische Faktoren ständig überlagern. Dabei hat die Aktivierung eines Elementes – oder „Knotens“ – des Netzwerks Auswirkungen auf sämliche anderen Ele-mente, sei es im Sinne einer Erregung oder einer Hemmung. PDP-Modelle sind dynamische, selbstregulierende Systeme; sie können über die Informa-tionen aus dem Input hinausgehen und „spontane Generalisierungen“ produ-zieren (Ellis 1994: 406). Es wird gerne darauf hingewiesen, dass die so kon-zipierten Netzwerke durchaus Ähnlichkeiten mit den neuronalen Vorgängen im Gehirn aufweisen.58

Die Validität konnektionistischer Modelle wird üblicherweise an Compu-ter-Simulationen getestet, so z. B. der Erwerb der Genera im Deutschen von MacWhinney et al. (1989) und der Erwerb der englischen Vergangenheits-tempora in der vielzitierten Untersuchung von Rumelhart und McClelland (1986);59 Housen (1996: 519) erwähnt ausserdem die Arbeit von Soho-lik/Smith (1992) über den Erwerb der Genera im Fanzösischen und die Un-tersuchung von Broeder (1993) über den L2-Erwerb des Niederländischen durch Arabisch- und Türkischsprachige.

Diese computersimulierten „Sprachlernprozesse“ scheinen menschlichen Lernprozessen durchaus ähnlich zu sein, insofern sie offenbar dieselben U-förmigen Lernkurven, ähnliche „Entwicklungsphasen“ und gleiche Fehler produzieren (vgl. Ellis 1994: 406; Housen 1996: 519). In Modellen dieser Art, die ihrer Natur nach assoziativ und probabilistisch sind (Ellis 1994: 374), fände auch die Inkonsistenz von Lernersprachen – die „freien Varianten“ von Ellis – ohne weiteres ihren Platz: sie wäre das Ergebnis von konkurrierend aktivierten cues, die in den verschiedenen Produktionskontexten un-terschiedlich gewichtet werden. Ebenso liesse sich in diesen Modellen auch erklären, weshalb unsere Probanden die Inversion in Fragen sehr früh in ih-rem Erwerbsprozess meistern – alle vier Kriterien für eine starke Gewichtung des cues treffen hier zu –, dieselbe Struktur aber in Matrixsätzen bis zum

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58 Vgl. M. Schwarz: „Konnektionistische Modelle inkorporieren eine grosse Anzahl einfacher Einheiten oder Knoten, die miteinander vernetzt sind. Die Verbindungen zwischen den einzelnen Einheiten sind wie bei den Neuronen im Gehirn gewichtet [...] Damit sind die Zusammenhänge von verschiedenen Zuständen in den Netz-werken assoziativer Natur. Wissen ist in solchen Modellen in den Verbindungen zwischen den Einheiten der Netzwerke enthalten. Lernen beruht hier auf einer Modifizierung der Gewichtung von Verbindungen. Diese Annahme entspricht der in der Neurophysiologie vertretenen Position, dass Lernvorgänge im Gehirn durch eine Veränderung der Synapsenverbindungen zwischen Nervenzellen entstehen.“ (1992: 20f.)

59 Siehe etwa die Darstellung bei Ellis (1994: 406f.).

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Ende ihres Erwerbsprozesses hinausschieben. Und die memorisierten Chunks liessen sich interpretieren als Routinen des Netzwerks; dies stünde übrigens auch durchaus im Einklang mit der Auffassung von E. Servan-Schreiber und J. R. Anderson, die in ihrer „Competitive Chunking Theory“ Wahrnehmungs- und Memorisierungsvorgänge als Chunkbildungen verstehen, die mit zunehmendem Gebrauch auch an Gewichtung gewinnen:

[...] the Competitive Chunking theory of Servan-Schreiber and Anderson (1990) models perception and memory as a process of successive chunk formation. As well as their content, chunks have a strength parameter associated with them, which reflects how frequently and recently they have been used. Every time a chunk is used, its strength is increased, and then decays with time. (Berry/Dienes 1993: 85)

Die Regelhaftigkeit von Zweitsprachen-Erwerbsverläufen wäre in konnekti-vistischer Interpretation also keineswegs auf ein genetisch angelegtes Pro-gramm – sei es im Sinne von Parametersetzungen und -umsetzungen, sei es im Sinne von geordneten Sprachverarbeitungsprozeduren – zurückzuführen, sondern sie wäre die Resultante eines ständigen Balanceaktes, der durch den Input in Gang gehalten wird, wobei die ins Netzwerk eingespeisten Einheiten und Strukturen je nach ihrer Frequenz, Markiertheit und funktionalen Ein-deutigkeit sich immer wieder zu einem neu kombinierten Gleichgewicht gruppieren.

In konnektionistischer Perspektive dürften identische Phasenfolgen beim L2-Erwerb grundsätzlich nur bei gleichen Sprachenpaaren auftreten, da dort die cue-Gewichtung der L1 in gleicher Weise „umgepolt“ werden muss auf das neue cue-Programm der L2. Bei unterschiedlichen Sprachenpaaren wären hingegen gleiche Erwerbssequenzen nur in denjenigen Grammatikbereichen zu erwarten, in denen unklare Form-Funktion-Zuordnungen die Identifikation der cue-Gewichtungen erschweren (wie etwa das Deklinationssystem des Deutschen). Beim Vergleich zwischen dem Deutscherwerb unserer fran-kophonen Probanden und dem anderssprachiger Deutschlerner fanden wir bislang keine Indizien, die diesem Erklärungsmodell widersprechen würden.

Konnektionistische Modelle des Spracherwerbs gerieten begreiflicherweise ins Kreuzfeuer der Kritik von UG-Theoretikern, die vor allem den Finger auf die Mängel der Computersimulationen legten und zudem der ganzen Richtung „Revisionismus“, d. h. Rückfall in simplen Behaviorismus vorwerfen. Ob diese Kritik grundsätzlich zutrifft oder ob sich die Schwächen des Konnektionismus mit zunehmendem Forschungsaufwand beheben lassen, bleibt abzuwarten. Beim jetzigen Stand sind sicher diejenigen Positionen am angemessensten, die mit einer wie auch immer gearteten Integration von Konnektionismus und Mentalismus rechnen:

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It is now clear that some form of connectionism will figure in a general model of human linguistic behavior. The only question is whether the role will be a minor one, relegated to low-level pattern matching tasks and the learning of exceptional behavior, or whether the connectionist account will supersede symbolic accounts, rendering them nothing more than approximations of the actual messy process. (Gasser 1990: 186)60

3.2.4 Das dualistische Modell Einen ersten richtungweisenden Vorschlag für eine Integration des „connectionist account“ mit den „symbolic accounts“ haben Pinker und Prince (1988, 1991) in ihrem dual mechanism-Modell vorgelegt.61 Für den Bereich der Flexion postulieren sie die Aktivierung zweier verschiedener Prinzipien: die irreguläre Flexion funktioniert nach diesem Modell in der Weise eines Netzwerks, in dem lexemspezifische Einträge (also einzelne Lexeme einschliesslich der Informationen über die jeweilige Anwendungs-weise der irregulären Flexion) miteinander verknüpft sind. Zu diesen Einträ-gen gehören auch Annahmen darüber, nach welchem phonologischen Muster das jeweilige Lexem flektieren könnte. Je häufiger ein solches Muster im Netzwerk vertreten ist, desto wahrscheinlicher wird es aktiviert.

Bei Lexemen, für die keine derartigen Anweisungen gespeichert sind, kommt das „Default“-Flexiv (also die regelmässige Form) zum Zuge. Das Regelwissen wird dabei aus einem Regelinventar bezogen, das immer dann abgerufen wird, wenn keine lexemspezifischen Einträge die Verwendung des regulären Flexivs blockieren.

Dergleichen mehrdimensionale Erklärungsansätze scheinen uns am ehesten geeignet, dem komplexen Phänomen des L2-Erwerbs gerecht zu werden. Gerade für Grammatikbereiche, in denen reguläre und irreguläre Formen ko-existieren – wie etwa im Deutschen die Verbalflexion, die Pluralbildung oder die Bildung der Partizipien – liegt mit dem dualistischen Modell erstmals, soweit wir sehen, ein adäquater Beschreibungsrahmen vor, in den sich auch die Ergebnisse unserer Korpusanalysen fügen.

Generell scheint sich der Tenor der wissenschaftlichen Diskussion – nach einer Zeit der mehr oder weniger heftig ausgetragenen Richtungskämpfe –

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60 Ähnlich abwartend auch die Stellungnahme von Schwarz: „Sicherlich liegt ein grosser Teil der Attraktivität konnektionistischer Modelle in der neuronal inspi-rierten Modellbildung, doch scheint es beim derzeitigen Forschungsstand verfrüht, symbolisch-funkionalistische Kognitionsmodelle aufzugeben.“ (1992: 21)

61 Die Darstellung folgt den Ausführungen von S. Bartke (1998: 24ff.). Siehe auch die Untersuchung von Clahsen (1997) zum deutschen Pluralsystem.

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nun mehr auf Komplementarität der theoretischen Modelle einzupendeln.62 Je umfangreicher das Datenmaterial, auf das man sich einzulassen bereit ist, des-to weniger wird man einem theoretischen Purismus das Wort reden können. Dies war schon vor zehn Jahren so,63 und uns ergeht es mit unserem Datenmaterial nicht anders. Unser Beitrag zur Theoriebildung für den L2-Erwerb könnte bestenfalls darin bestehen, dass aufgrund unserer Untersu-chung einer spezifischen L2-Erwerbssituation die Anteile der verschiedenen kognitiven Leistungen, die am gesteuerten L2-Erwerb beteiligt sind, neu ge-wichtet werden können. 3.3 Explizites vs. implizites Lernen – die Rolle der Bewusstheit

im L2-Erwerb Eine weitere Kontroverse, in der sich in den letzten Jahren eine Annäherung der Extrempositionen abzeichnet, ist die Frage nach der Rolle der Bewusst-heit in L2-Erwerbsprozessen. Sie wird in den oben erwähnten Modellen nicht diskutiert, da es dort – dem Erkenntnisinteresse der kognitiven Linguistik entsprechend – gerade um die Offenlegung jener Strukturen und Prozeduren des Spracherwerbsapparates geht, die unterhalb der Bewusstseinsschwelle liegen, eben jener „black box“, deren Beschaffenheit nur aus ihren Produk-tionen zu erschliessen ist. Welche Konsequenzen für konkrete Spracher-werbssituationen, etwa für die schulische Unterrichtspraxis, sich aus diesen Modellen eventuell ableiten liesse, interessiert bei dieser Fragestellung nicht.

Aus der Perspektive der Fremdsprachendidaktik ist nun allerdings gerade diese Frage höchst brisant, denn im L2-Unterricht dominiert bekannterweise nach wie vor die Annahme, L2-Beherrschung werde über Regellernen er-

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62 So etwa Wode: „Bis auf den behavioristischen haben alle Ansätze ihre Vorzüge. Sie erhellen einzelne Aspekte des gesamten Lernvorgangs. Die Erklärungskraft und der -bereich jedes einzelnen Ansatzes muss genauer abgesteckt und präzisiert werden, damit ersichtlich wird, ob und wie sie sich ergänzen.“ (1988: 57)

Entsprechend auch Ellis: „[...] it is unlikely that any one of the theories we have looked at here will win out over the others. The plethora of models and theories in L2 acquisition has often been noted, and in some cases regretted [...]. It testifies to two general points. One is that SLA research is still a very new field of enquiry, scarcely more than twenty-five years old. The other is the enormous amount of interest which the study of L2 learning has generated.“ (1994: 409)

63 Vgl. Adjémian/Liceras: „We have found that transfer, universal grammar, and le-arner-produced hypotheses all interact in shaping the emerging learner grammar.“ (1984: 116)

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worben, und von Schülern dürfe rechtens erwartet werden, dass sie sich diese didaktisch aufgearbeiteten Regeln auch in der angebotenen Progression an-eignen. Das Ausmass, in dem Schüler in der Lage sind, dieses Postulat zu er-füllen, bildet die Grundlage für die Evaluation – und dies wohl nicht nur im Deutschunterricht in Genfer Schulen. Die kognitiven L2-Erwerbsmodelle sind daher eine Provokation für die bestehende Schulpraxis; die These von der Eigengesetzlichkeit sprachlicher Erwerbsprozesse, die allen diesen Modellen zugrundeliegt, scheint auf den ersten Blick jedem schulischen Gram-matikunterricht den Boden zu entziehen.

In zugespitzter Form wurde die Frage bekanntlich von Stephen D. Krashen in den 80er Jahren in die Debatte geworfen. Mit dem Oppositionspaar „Lernen vs. Erwerben“ lieferte er eine griffige Terminologie, die Eingang in die didaktische Diskussion des Fremdsprachenunterrichts finden konnte.64 Ir-ritierend war dabei, dass Krashen jede Möglichkeit einer Durchlässigkeit zwischen dem bewussten Lernen formaler Eigenschaften der L2 einerseits und dem sich unbewusst vollziehenden Spracherwerbsprozess andererseits radikal bestritt. Dem „Monitor“, der bewusst operierenden Kontrollinstanz, wurden nur zwei Hilfsfunktionen zugebilligt: einmal für das Lernen einfacher Regeln, zum anderen als editor für die nachträgliche Kontrolle von L2-Äusserungen (erkennbar an Selbstkorrekturen).65 Ohnehin kann nach Krashen der Monitor nur von fortgeschrittenen L2-Sprechern eingesetzt werden, da diese sich im wesentlichen auf ihr unbewusstes Sprachwissen verlassen können, so dass noch genügend Verarbeitungskapazität für die bewusste Be-arbeitung der wenigen „Lücken“ in ihrer Kompetenz zur Verfügung steht. Voraussetzung für das Ingangsetzen des Spracherwerbsapparates ist nach Krashen „verständlicher Input“, wobei dessen grammatischer Schwierig-keitsgrad leicht über dem bereits erworbenen Kenntnisstand des Lerners lie-gen sollte.

An Krashens „Input-Hypothese“ ist inzwischen von verschiedenen Seiten Kritik geübt worden.66 Sie entzündete sich einmal an dem Begriffspaar be-wusst/unbewusst, das als unscharf und global und somit als unbrauchbar ab-gelehnt wurde, zum anderen an Krashens extremer „non-interface“-Position, also an der scharfen Trennung von „Lernen“ und „Erwerben“.

Krashens Gleichsetzung von Lernen mit Bewusstheit einerseits und Er-werben mit Unbewusstheit andererseits wurde schon 1989 von Wolfgang Butzkamm zurückgewiesen.67 Butzkamm glaubt den komplexen Phänomenen _______________

64 Krashen/Terrell (1983, reprint 1985) und Krashen (1985). 65 Krashen (1985: 1f.). 66 Eine zusammenfassende Darstellung der Krashen-Kritik ist nachzulesen bei

McLaughlin (1987: 55ff.) und Ellis (1997: 54ff.). 67 Butzkamm (1989), gleichlautend in der Neuauflage (1993). Die Seitenangaben der

folgenden Zitate beziehen sich auf die Auflage von 1993.

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des Spracherwerbs gerechter zu werden, indem er eine gleitende Skala von Bewusstheitsgraden annimmt, das am unteren Ende mit „ratiomorphem“ Wissen beginnt und am oberen Ende mit „aufmerksamem Bewusstsein“ en-det. Mit dem Terminus „ratiomorph“ greift er eine Begriffsprägung der Wahrnehmungspsychologie der 30er Jahre auf, die von der Verhaltensfor-schung der 70er Jahre übernommen wurde: als „ratiomorph“ werden dort die Fähigkeiten lebender Organismen bezeichnet, die es ihnen ermöglichen, in einer sich wandelnden und oft feindlichen Umwelt zu überleben. „Ratiomorph“ ist ein Verhalten, das „den klassischen drei Schritten induktiver Naturforschung, nämlich dem Sammeln einer Induktionsbasis, ihrem sys-tematischen Ordnen und der Abstraktion einer Gesetzlichkeit, wahrhaft ver-blüffend analog“ ist.68 Die bewusste Vernunft des Menschen bildet lediglich den Abschluss einer Entwicklung, die weit in die biologische Phylogenese zurückreicht.

In einer solchen entwicklungshistorischen Sicht sind auch Zwischenstufen und Querverbindungen zwischen verschiedenen Bewusstseinsgraden ohne weiteres einleuchtend:

Bewusstsein ist zwar eine neue psychische Qualität, der Weg dahin durchläuft je-doch die gleichen Systeme, die auch die unbewusst bleibende Information passiert. Wo Krashen eine rigide Trennung postuliert, ist vielerlei Konnex.69

Auch wenn Bewusstsein „nur die Spitze des Eisbergs [ist], eine Insel im Meer unbewusst verlaufender Informationsverarbeitung“,70 so können dennoch bewusste Erkenntnisse und bewusstes Üben zu effektivem Erwerb führen – eben zu jenen Automatismen, die das Bewusstsein entlasten und für weitere Lernprozesse freistellen (in Butzkamms Worten: der „nachbewusste Fertigkeitserwerb“). Ebenso kann zunächst unbewusstes Wissen post festum zu Bewusstsein gebracht werden. Aufgrund solcher Beobachtungen und Er-fahrungstatsachen darf nach Butzkamm legitimerweise angenommen werden, dass sich bewusst-rationale und unbewusst-ratiomorphe Leistungen vielfach verbinden können.71

Richard Schmidt72 schlägt – ebenfalls als Reaktion auf Krashens Monitor-Modell – anstelle der Dichotomie bewusstes Lernen – unbewusstes Erwerben die Unterscheidung intentional learning – incidental learning vor, also wil-lentliches, beabsichtigtes Lernen gegenüber beiläufigem, unbeabsichtigtem Lernen als Nebenprodukt von L2-Kommunikation, bei der der Fokus nicht

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68 Zitat von K. Lorenz (1953: 257), zitiert nach Butzkamm (1993: 93). 69 Butzkamm (1993: 102). 70 Ebda. 71 Butzkamm (1993: 103). 72 Vgl. dazu die Darstellung von Schmidts Position bei Robinson (1996: 9ff.) und

Ellis (1994: 361) sowie Ellis (1997: 55f.).

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auf dem Lernen von L2-Strukturen, sondern auf dem Verstehen von Inhalten liegt. Allerdings – so Schmidt – kommt es weder im einen noch im anderen Lernkontext zu Aneignung von L2-Wissen, wenn sich nicht die Aufmerk-samkeit auf gewisse L2-Elemente richtet; ohne noticing, ohne bewusstes Achten auf spezifische Merkmale der L2, gibt es keinen Lernfortschritt. Die Möglichkeit unbewussten Lernens – also „Erwerben“ in Krashens Sinn – wird somit von Schmidt abgestritten.

Mit einem anderen theoretischen Hintergrund, aber doch im wesentlichen demselben Ergebnis, kommentiert Barry McLaughlin diese Problematik. Er macht sich die Auffassung der kognitiven Psychologie zu eigen, nach der das menschliche Gehirn ein informationsverarbeitendes System mit begrenzter Verarbeitungskapazität ist. Um die umfangreichen und komplexen Informa-tionen, die bei (Zweit-)Spracherwerbsprozessen anfallen, bewältigen zu kön-nen, bedarf es kognitiver Entlastungsprozeduren. Von den beiden Verfahren, die McLaughlin nennt, ist nur das erste für unsere Fragestellung relevant: die Automatisierung von zunächst kontrolliertem Wissen (das zweite ist die Re-organisation des verfügbaren Wissensbestandes aufgrund neuer Erkennt-nisse). Automatisierung wird durch häufiges Üben und Anwenden (practice) erreicht; auf diese Weise wird das Verarbeitungssystem frei für die Aufnahme neuer, wiederum zunächst kontrollierter Wissensbestände.73

Nun will aber McLaughlin die Konzepte „kontrolliertes Wissen“ und „au-tomatisiertes Wissen“ in keiner Weise mit den Attributen „bewusst“ und „un-bewusst“ bzw. „implizit“ und „explizit“ in Verbindung gebracht wissen. Und das ist nicht ohne weiteres nachzuvollziehen, da zumindest für die Lernpsy-chologie automatisiertes und implizites Wissen durchaus einige wesentliche Charakteristika gemeinsam haben: beide sind sehr schnell abrufbar, beide sind unflexibel und vor allem: beide sind dem Bewusstsein nicht zugänglich, so dass doch die Frage gestellt werden darf, ob die beiden Vorgänge tatsäch-lich so verschieden sind:

Although the learning histories of implicit learning and automatization differ, it remains an open question as to whether the type of resulting knowledge is qualita-tively different or not. There are suggestive similarities. (Dienes/Berry 1993: 154)

Wie dem auch sei – in jedem Fall vertritt auch McLaughlin eine dezidierte Interface-Position, in dem Sinne, dass Wissen über zunächst kontrollierte (wenn nicht explizite), dann durch Üben automatisierte skills ins Langzeitge-dächtnis Eingang finden. _______________

73 Siehe dazu die Ausführungen von MacLaughlin (1987: 133–153). Eine vergleich-

bare Position vertritt J. R. Anderson: in seinem „ACT“-Modell ist jegliches Wis-sen zunächst „deklaratives“, bewusstes Wissen, das durch Übung in „prozedurales“, automatisiertes Wissen überführt werden kann. Genaueres dazu bei Ellis (1994: 388f.) und Berry/Dienes. (1993: 154)

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Eine weitere Variante von Interface-Position bietet Ellen Bialystok an. Bei ihr erscheint die Dichotomie explizit-implizit in dem Begriffspaar „analysiertes“ (in früheren Versionen „kontrolliertes“) bzw. „unanalysiertes“ Wissen. Analyzed knowledge definiert sie als

propositional mental representation which makes clear the structure of the know-ledge and its relationship to other aspects of knowledge;

unanalysiertes Wissen ist

the general form in which we know most things without being aware of the structure of knowledge. (Bialystok 1982: 183)

Für Bialystok sind die beiden Wissenstypen in beiden Richtungen durchläs-sig: durch Üben kann analysiertes, explizites Wissen implizit werden; impli-zites, unanalysiertes Wissen kann durch Deduktion in explizites Wissen über-führt werden. Die beiden Wissensformen überschneiden sich also. Kindlicher Spracherwerb beginnt mit unanalysiertem Lernen und erreicht in späteren Phasen verschiedene Elaboriertheitsgrade von analysiertem Wissen. Ob diese Reihenfolge auch für den L2-Erwerb gilt, ist für Ellis (1994: 358) fragwürdig; für unsere DiGS-Testpesonen könnten wir sie durchaus bestätigen.

An dieser Stelle brauchen nicht alle Versionen der Interface-Positionen vorgeführt zu werden; wir verweisen hier wieder auf die sehr vollständige Darstellung von Ellis 1994.74 Hier soll nur gezeigt werden, wie sehr die Dis-kussion noch im Fluss ist und wie spekulativ alle diese Interface- oder Non-Interface-Hypothesen noch sind und zwangsläufig auch bleiben müssen, so-lange ein brauchbares Messinstrumentarium noch aussteht. Denn weder von Introspektion – wie etwa bei R. Schmidt und seinen Selbsterfahrungen mit dem Erlernen des Portugiesischen75 – noch von self reports, wie sie etwa Ro-binson von seinen Testpersonen eingeholt hat,76 können verlässliche Aus-künfte erwartet werden.77 Im augenblicklichen Stand der Forschung ist man sich nur darin einig, dass es zwei verschiedene Arten von L2-Lernen gibt, ob man sie nun mit den Etiketten „explizit“ und „implizit“ oder anderen versieht. Weitgehend dürfte auch darin Einigkeit bestehen, dass L1- wie auch L2-Sprecher Regeln verwenden, die sie nicht nennen können, dass sie über ihr „implizites“ Wissen allerdings reflektieren können, und schliesslich, dass sie

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74 Dort insbesondere die Kapitel 9 und 14. 75 Siehe Ellis (1997: 55f.). 76 Vgl. etwa die Versuchsanlage in Robinson (1996) und die Ermittlung der „rule

awareness data“ über Fragebögen („debriefing questions“), Robinson (1996: 123 und 141ff.).

77 Vgl. Barry McLaughlin: „Recourse to conscious or unconscious experience is no-toriously unreliable and hence cannot be a source of testable hypotheses about the learning process.“ (1987: 153)

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über ein explizites Wissen verfügen können, ohne in der Lage zu sein, dieses Wissen in ihren Sprachproduktionen anzuwenden.78

Unklar ist hingegen nach wie vor, ob – und wenn ja, wie – explizites Wis-sen implizite Erwerbsprozesse stützen kann. Die nuancierte Position,die Ellis in dieser Frage einnimmt, könnten auch wir uns zu eigen machen: Explizites Wissen kann vermutlich dann hilfreich sein, wenn es zum „richtigen Zeit-punkt“ vermittelt wird, d. h. dann, wenn der Lerner sich in der entsprechen-den Erwerbsphase befindet, in der er für das vermittelte Regelwissen emp-fänglich ist, wenn also die erwerbsmässigen Voraussetzungen gegeben sind.79

Da nun das „implizite“ Wissen bei unseren Probanden eine auch für uns unerwartet grosse Rolle spielt – umso unerwarteter, als der Erwerbskontext ja ein ausschliesslich gesteuerter war, so dass ihnen ausreichend explizites Wis-sen hätte zur Verfügung stehen können –, sei am Ende dieses Abschnitts noch ein Blick auf die kognitive Psychologie und die dort entwickelten lern-psychologischen Ansätze geworfen. Dies einmal, um Positionen wie denen von Schmidt und McLaughlin entgegenzutreten, die die Existenz von Lernen unterhalb der Bewusstseinsschwelle abstreiten; dann auch, um das Konzept des impliziten Lernens und Wissens genauer in den Griff zu bekommen. 3.4 Exkurs: Implizites Lernen in der Sicht der Lernpsychologie Als Definition impliziten Lernens bieten Diane C. Berry und Zoltan Dienes in ihrem Forschungsbericht „Implicit Learning“ von 1993 an:

learning the links between stimuli, or stimuli and actions, without (in some sense) being aware of these links. (Berry/Dienes 1993: 13)

M.a.W.: Implizites Wissen liegt dort vor, wo Versuchspersonen in bestimm-ten Testanlagen glauben, Zufallsentscheidungen zu treffen, sich in Wirklich-keit jedoch in vorgängigen Trainingsperioden unbemerkt so viele Kenntnisse angeeignet haben, dass ihre Leistungen bei der nachfolgenden Aufgaben-stellung deutlich über dem Zufallsprinzip liegen. Als Indiz für die Explizitheit des angeeigneten Wissens gilt die Fähigkeit, dieses Wissen zu verbalisieren. Nachweisbar existierendes Wissen, das nicht verbalisiert werden kann, gilt als implizit.

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78 In Anlehung an Formulierungen von Ellis (1997: 56). 79 Ellis (1997: 57). Die Rolle und die Funktion von Regelvermittlung im Fremdspra-

chenuntrricht wird im Schlusskapitel (7.4) diskutiert.

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Die Existenz eines solchen impliziten Lernens und Wissens ohne awareness, unterhalb der Bewusstseinsschwelle, ist für die kognitive Lernpsychologie unbe-stritten. Es wird auch angenommen, dass für implizite bzw. explizite Lern- und Wissensformen verschiedene Speicher- und Abrufmechanismen existieren, wo-bei die früher herrschende Ansicht von einer völligen Trennung der beiden Sys-teme inzwischen nuanciert wird und man heute eher davon ausgeht, dass bei in-tensivem Training explizites Wissen aus implizitem Wissen hervorgehen kann,80 ebenso wie explizites Wissen durch Training automatisiert werden kann. Als Charakteristika impliziten Wissens werden aufgeführt: 1) es ist stark kontextgebunden (transfer specificity): Implizit angeeignetes

Wissen orientiert sich an Oberflächeneigenschaften und lässt sich nur schwierig – wenn überhaupt – auf andere Wissensbereiche übertragen;

2) es wird vorrangig unter den Bedingungen „beiläufigen“ Lernens erwor-ben, bei dem die Aufmerksamkeit nicht auf das Lernen, sondern z. B. auf das Verstehen von Informationen gerichtet ist (associated with incidental learning conditions);

3) es mobilisiert die Intuition (gives rise to a phenomenal sense of intuition); das bedeutet, dass Testpersonen in Experimenten die gestellten Aufgaben „nach dem Gefühl“ zu lösen glauben und dementsprechend ihrer Lösun-gen oft nicht sicher sind (wobei offenbar das Ausmass an Unsicherheit keinesfalls korreliert mit der Fehlerhaftigkeit ihrer Lösungen!);

4) es ist widerstandsfähig gegen Vergessen und äussere Störfaktoren (robust-ness).81

Lernpsychologische Experimente haben erwiesen, dass implizites Lernen zumindest ebenso effektiv sein kann wie explizites:

Many studies have shown that people who approach tasks in a relatively passive or implicite manner perform at least as well (and sometimes better) than people who try to work out the underlying structure of the task explicitly. (Berry/Dienes 1993: 14)

Die für unsere Fragestellung aufschlussreichsten Versuchsanlagen sind diejeni-gen, die Lernvorgänge bei der Organisation bzw. Kontrolle komplexer Systeme testen (wie etwa die Produktion in einer Zuckerfabrik, bei der verschiedene Fak-toren interagieren, oder die Organisation eines öffentlichen Verkehrswesens un-ter Vorgabe wechselnder Konstellationen; andere Versuchsanlagen beinhalten Klassifikationsaufgaben oder das Erlernen einer künstlichen Grammatik). Das erstaunliche Ergebnis ist nun, dass bei den Versuchspersonen umso eher im-plizite Lernmechanismen aktiviert werden, je komplexer die ihnen gestellte Auf-gabe ist, und dass explizites, verbalisierbares Lernen bestenfalls zusätzlich eingesetzt wird: _______________

80 Berry/Dienes (1993: 26). 81 Berry/Dienes (1993: 13f.).

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[...] it seems that, without extensive practice, people learn to control complex sys-tems in a way that they find difficult to articulate, and probably without recourse to an explicit mental model of how the system works.82

Von Trainingsexperimenten wird berichtet, dass bei komplexen Aufgaben verbale Instruktion wenig hilfreich ist:

[...] verbal instruction is going to have little effect on tasks that have a complex or nonobvious underlying structure. (Berry-Dienes 1993: 130)

Dergleichen Ergebnisse verleihen den impliziten Lernvorgängen doch einen anderen Stellenwert, als es manche Spracherwerbstheoretiker (und -didaktiker) wahrhaben wollen. Sie stimmen bedenklich, wenn man sich die Quasi-Ausschliesslichkeit verbaler Instruktion in unseren Bildungssystemen vor Augen stellt.

Ob diese Ergebnisse auch auf den Spracherwerb zu übertragen sind, wird von der jeweiligen theoretischen Position abhängen: Konnektivisten werden nicht zögern, diesen Schritt zu tun; Mentalisten werden sich weigern, Sprachlernprozesse mit allgemein kognitiven Prozessen auf eine Ebene zu stellen. Uns schiene es jedenfalls nicht abwegig, bei unseren Schülerinnen und Schülern einen hohen Anteil von impliziten Lernprozessen anzunehmen – auch wenn sich unsere Untersuchung nicht im entferntesten mit der Präzision lernpsychologischer Testanlagen vergleichen lässt. Aus den Produktionen unserer Probanden glauben wir aber doch schliessen zu dürfen, dass sie zum einen das im Unterricht vermittelte explizite Regelwissen nur in sehr be-schränktem Umfang zu nutzen wissen, dass sie zum anderen aber dennoch Lernfortschritte machen, allerdings in anderem Rhythmus und in anderer Ab-folge, als im Unterrichtsprogramm vorgesehen. Anhaltspunkte für das Rekur-rieren auf implizite Lernprozesse bei unseren Probanden könnten sein: 1) die Variabilität der Lernersprachen: In ihr könnte sich die „Unsicherheit“

niederschlagen, die intuitiven Problemlösungsverfahren anhaftet (siehe S. 50, Punkt 3);

2) die Rigidität der Chunks, deren innere grammatische Struktur oft nicht erkannt wird, so dass sie für das „Systemlernen“ nicht genutzt werden können (dies könnte auf die „Kontextgebundenheit“ impliziter Wissens-bestände zurückgeführt werden, siehe S. 50, Punkt 1);

3) Im Deutschunterricht, den die Genfer Primarschulkinder vermittelt be-kommen, gibt es keinen expliziten Grammatikunterricht. Dennoch sind die Formen und Strukturen, die den Kindern über Spielen und Singen vermittelt werden, die einzigen, die gegen die Regression späterer Jahre in jedem Fall immun sind – was nach den Punkten 2 und 4 (S. 50) ebenfalls ein Indiz für implizite Lernvorgänge sein kann.

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82 Berry/Dienes (1993: 35).

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Und wenn wir die Kasusmarkierungen in den Texten unserer fortgeschritte-nen Schüler betrachten, so könnten wir darin ohne Schwierigkeit Argumente zugunsten der oben erwähnten Annahme sehen, nach der komplexe Systeme über explizites Lernen und verbale Instruktion eben nur sehr lückenhaft kon-trolliert werden können.

Dass auch bei unseren Probanden explizites und implizites Lernen inter-agieren, ist unbestritten; die Selbstkorrekturen sind deutliche Zeichen für die Mobilisierung expliziten Wissens. Allerdings wäre unter gesteuerten Er-werbsbedingungen und im Modus des Schreibens doch ein stärkeres Ausmass an Einsatz expliziten Regelwissens erwartbar gewesen. Dass jedenfalls beide Lern- und Wissensformen grundsätzlich verschieden sind, aber doch je nach Aufgabenstellung in unterschiedlichen Kombinationen interagieren, wird auch aus lernpsychologischer Sicht bestätigt:

In summary, implicit knowledge may lie somewhere on a continuum of exemplar-based to abstract, but implicit knowledge is likely to be quite a distinct type from explicit knowledge. Similarly, implicit and explicit learning are likely to be distinct modes. However, on any given task both processes will probably be operating, perhaps synergistically, so that final performance is a blend of the implicit and the explicit. (Berry/Dienes 1993: 167)

Wir werden an späterer Stelle, wenn die didaktischen Konsequenzen aus dem DiGS-Projekt gezogen werden, auf diese Beobachtungen zurückkommen müssen. Jedenfalls zeichnet sich jetzt schon ab, dass die vielkritisierte Hy-pothese Krashens, nur einfache Regeln könnten explizit gelernt und über den Monitor kontrolliert werden, vielleicht doch nicht vorschnell von der Hand zu weisen ist.

Teil II: Empirische Untersuchung

4 „Wenn sprechen sie, alles gehts besser“ – Erwerb der Satzmodelle

Erika Diehl 4.1 Einleitung Die Wortstellung ist ein besonders dankbarer Bereich für die Beobachtung von Erwerbssequenzen: Zum einen lassen sie sich relativ leicht von anderen linguistischen Ebenen – etwa semantischen oder pragmatischen – isolieren (auch wenn dies nicht ganz unproblematisch ist; wir werden später noch dar-auf eingehen müssen); zum anderen sind Wortstellungen und -umstellungen relativ eindeutig zu ermitteln. So ist es gewiss kein Zufall, dass die ersten Be-schreibungen von Erwerbsfolgen syntaktische Phänomene zum Gegenstand hatten, zum Beispiel den Erwerb der Negation im Englischen und Deutschen als Erst- oder Zweitsprache,1 den Erwerb von Relativsätzen im Englischen und Schwedischen und schliesslich den Erwerb von Wortstellungsregeln im Deutschen.2

Auf den letzteren Bereich, den Erwerb von Wortstellungsregeln – genauer, von Verbstellungsregeln – beschränkt sich auch die folgende Analyse. Den Erwerb der Negation haben wir ausgeklammert; er scheint unseren Probanden keine nennenswerten Schwierigkeiten zu bereiten, und die bekannten Frühphasen des Negationserwerbs waren bei ihnen ohnehin nicht zu beob-achten. Ebenso blieben Imperative (mit Verbspitzenstellung) unberücksich-tigt: die überaus seltenen Vorkommen sind mit ganz wenigen Ausnahmen zielsprachenkonform realisiert. Dasselbe gilt für die Reihenfolge von Objek-ten, da Sätze mit mehr als einem nominalen Objekt in unserem Korpus extrem selten sind und keine verlässlichen Aussagen zulassen würden. Auch die Untersuchung von Infinitivsätzen des Typs um nach Hause zu gehen erwies sich nicht als lohnend; unsere Probanden schienen eher lexikalische als syn-taktische Schwierigkeiten mit diesem Satztyp zu haben (vgl. frz. pour aller à la maison; typischer Fehler: für nach Hause [zu] gehen) – insofern sie über-haupt solche Konstruktionen benutzten. Als einziger sowohl quantitativ wie qualitativ relevanter Untersuchungsgegenstand blieb somit der Erwerb der Verbstellungsregeln und der darauf basierenden Satzmodelle. _______________

1 Vgl. Felix (1977, 1978), Wode (1978), Clahsen (1982). 2 Siehe dazu den Überblick der bis Ende der 80er Jahre vorgelegten Arbeiten bei

Ellis (1994: 99ff.).

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4.2 Der Erwerb der deutschen Satzmodelle in L1 und L2: Forschungsstand

Zum Erwerb von Verbstellungsregeln liegt eine ausführliche Dokumentation über den L1- sowie den ungesteuerten L2-Erwerb, vereinzelt auch über den gesteuerten L2-Erwerb vor. Detailliert auf alle diese Arbeiten einzugehen, würde hier zu weit führen; wir begnügen uns deshalb damit, die Ergebnisse kurz zusammenzufassen, um unsere eigenen Resultate vor diesem Ver-gleichshintergrund diskutieren zu können. 4.2.1 Zum natürlichen L2-Erwerb: Das ZISA-Projekt In der ersten grossangelegten Arbeit zum ungesteuerten Zweitsprachenerwerb des Deutschen, dem vielzitierten ZISA-Projekt von Harald Clahsen, Jürgen Meisel und Manfred Pienemann (1983),3 ist der Erwerb der Wortstellung der zentrale (wenn auch nicht der einzige) Untersuchungsgegenstand. Ausgehend von einem in der Erwerbsforschung ungewöhnlich grossen Korpus von 45 Gastarbeitern verschiedener romanischer Sprachen (von denen allerdings nur 16 in einer Longitudinalstudie erhoben und nur einige wenige langzeitlich untersucht wurden) ermittelten die ZISA-Forscher folgende Erwerbsfolge: 1. SVO die „kanonische“ Reihenfolge 2. ADV-VOR dem Subjekt wird ein Adverbiale (bzw. ein Komplement)

vorangestellt, wodurch das Verb an die dritte Stelle rückt 3. PARTIKEL die infiniten Prädikatsteile treten ans Satzende 4. INVERSION bei Anwendung von 2 tritt das finite Verb vor das Subjekt 5. ADV-VP ein Adverbiale kann zwischen das flektierte Verb und sein

Objekt treten 6. V-ENDE im Nebensatz steht das finite Verb am Ende. Diese sechs Phasen sind implikationell angeordnet, d. h. das Erreichen einer höheren Phase setzt das Durchlaufen aller darunterliegenden Phasen voraus. Die Reihenfolge ist also unumkehrbar.4

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3 Zur Situierung des ZISA-Projektes im Rahmen der theoretischen Diskussion vgl. S. 36.

4 Ausführliche Darstellungen und Erläuterungen des ZISA-Projektes gehören inzwi-schen zum must jeder ernsthaften Untersuchung zum Zweitsprachenerwerb; be-sonders ausführlich und klar sind unserer Ansicht nach die Ausführungen bei Ellis (1994: 103ff., 382ff.) und bei Jeansen (1991: 4ff.).

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Eine Begründung für diese Erwerbsfolge lieferte Clahsen 1984b mit der Formulierung der drei Strategien, die zwingend zu dieser und keiner anderen Erwerbssequenz führen: ein Fortschritt von einem Stadium zum nächsten ist dann möglich, wenn diese Strategien der Reihe nach ausser Kraft gesetzt werden.5

In Stadium I (SVO) gilt die COS, die Canonical Order Strategy, nach der jene Wortfolgen bevorzugt werden, die zusammenhängende Elemente nicht unterbrechen, die also eine direkte Abbildung der zugrundeliegenden Basis-struktur zulassen. Als solchermassen zusammengehörig gelten V und O (dies unter Berufung auf Slobins OPs). Dieselbe Strategie liegt auch Phase 2 zu-grunde, denn durch die Voranstellung eines topikalisierten Elementes wird die VO-Folge nicht unterbrochen. Phase 3 kann erst erreicht werden, wenn die COS aufgegeben und durch die IFS – die Initialization/Finalization-Strategy – ersetzt werden kann. Diese erlaubt „Auslagerungen“ von Satzele-menten an Satzanfang bzw. Satzende, so dass nun ausser Topikalisierungen auch die Endstellung infiniter Verbalteile zulässig ist. Den nächsten Schwie-rigkeitsgrad stellen satzinterne Permutationen dar; aus diesem Grund können die Phasen 4 (INVERSION) und 5 (ADV-VP) erst in Angriff genommen werden, wenn ihrerseits die IFS „überwunden“ ist, denn in beiden Konfigu-rationen wird nunmehr die Einheit V-O unterbrochen. Damit sind alle Stel-lungsregularitäten des einfachen Hauptsatzes erarbeitet; für die V-End-Stel-lung des Nebensatzes braucht Clahsen eine weitere Strategie, die SCS (= Sub-ordinate Clause Strategy). Diese kommt deshalb als letzte zur Anwendung, weil er von der Annahme ausgeht, dass (L2-)Spracherwerber zuerst die Permutationen von Hauptsätzen bearbeiten, bevor sie sich mit komplexen Sätzen befassen.

Gestützt auf die drei Strategien und die von ihnen bewirkten Transforma-tionen schlägt Clahsen eine auf vier Phasen reduzierte Version der ZISA-Se-quenz vor, in der die beiden ADV involvierenden Phasen entfallen: Phase 2 wird in Phase 1 integriert, und Phase 4 verschmilzt mit Phase 3.

Die Ergebnisse der ZISA-Studie sind für die L2-Erwerbsforschung rich-tungsweisend geblieben. Rod Ellis (1989), Manfred Pienemann (1989) und Bettina Boss (1996) bestätigten die ZISA-Wortfolge auch für den gesteuerten Deutscherwerb von englischsprachigen Erwachsenen, und Pienemann (1989) führte den entsprechenden Nachweis für den gemischt natürlich-gesteuerten Deutscherwerb italienischsprachiger Kinder.6 Der Beweis für die universelle Gültigkeit der ZISA-Sequenz schien damit erbracht; blieb nur noch, die er-werbstheoretische Begründung dafür zu liefern.

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5 Vgl. auch die Darstellung S. 36. 6 Weitere Verweise bei Tschirner (1996: 7).

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In diesem Punkt divergieren nun allerdings die Meinungen beträchtlich. Die Vertreter der verschiedensten theoretischen Positionen sehen in den ZISA-Daten die Bestätigung ihrer theoretischen Vorannahmen. Für die ZISA-Forscher selbst liegen der ZISA-Sequenz universelle Gesetze der Sprachverarbeitung im Sinne der Slobinschen Operating Principles (die auch immer wieder zitiert werden) zugrunde;7 ausschlaggebend für die Abfolge der drei Strategien und der entsprechenden Satzmuster ist der jeweils involvierte Verarbeitungsaufwand: je komplexer die zu bearbeitende Struktur, umso verzögerter ihr Erwerb. Mit den Worten Clahsens:

Given the limited capacity of the information processing system [...], it can be concluded that the learner will most easily acquire those structures which are most consistent with his language processing strategies [...]. To put this another way, linguistic structures which require a high degree of processing capacity will be acquired late. (Clahsen 1984b: 221)

Diese Erklärung findet in der wissenschaftlichen Welt keine ungeteilte Zu-stimmung.8 Helmut Zobl (1986) interpretiert die ZISA-Phasen aus sprachty-pologischer Sicht, d. h. als Phasen, die die Sprecher von SVO-Sprachen – also rechtsköpfigen Sprachen – zu durchlaufen haben, wenn sie mit einer so hochambigen SOV-Struktur wie derjenigen des Deutschen konfrontiert sind; Jean du Plessis et al. (1987), Alessandra Tomaselli und Bonnie D. Schwartz (1990) erklären die ZISA-Stadien durch Parametersetzungen, und Peter Jor-dens (1988b) sieht als auslösendes Moment für den Übergang von einer ZISA-Phase zur nächsten Umstrukturierungen innerhalb des Verbalkomple-xes.9 Die Kontroverse darüber, ob sich der (L2-) Erwerb über Parameterset-zungen im Sinne der UG oder über einen schrittweisen Ausbau grammati-schen Wissens im Sinne eines sprachlichen Entwicklungsprozesses handelt, bleibt jedenfalls auch nach der ZISA-Debatte unentschieden.

Möglicherweise wird allerdings die Diskussion der ZISA-Stadien in der bisher geführten Form ohnehin hinfällig, denn in neuesten empirischen Un-tersuchungen melden sich Zweifel an der universalen Gültigkeit der ZISA-Erwerbssequenz. Auch die DiGS-Daten – so viel sei bereits vorausgeschickt – lassen solche Zweifel aufkommen, denn unsere Probanden, obwohl roma-nischer Muttersprache wie die ZISA-Gastarbeiter, weichen in wesentlichen Punkten von der ZISA-Folge ab. Mit rein sprachinternen Faktoren – seien es Sprachverarbeitungsprozesse oder Parametersetzungen – vermögen wir diese

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7 Zu Slobins „Operating Principles“ vgl. S. 34. 8 Ich folge hier der Darstellung von Jeansen (1991). 9 Zu dieser und anderen innerhalb der L1- und L2-Erwerbsforschung vorgeschlage-

nen Korrelationen zwischen morphologischen und syntakischen Regularitäten siehe unten Kapitel 7.2.

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Abweichungen nicht zu erklären; welche weiteren Faktoren dafür verant-wortlich zu machen sein könnten, werden wir am Ende dieses Kapitels dis-kutieren. 4.2.2 Zum L1-Erwerb: Der DFG-Forschungsschwerpunkt

Spracherwerb Einen neuen Anstoss erhielt die Spracherwerbsforschung zur Syntax des Deutschen durch das Forschungsprogramm „Schwerpunkt Spracherwerb“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Gesamtlaufzeit 1987–1994). Die im Rahmen dieses Programms entstandenen Arbeiten beziehen sich prioritär auf den kindlichen Deutscherwerb, daneben aber auch auf den L1-Erwerb anderer Sprachen und auf den bilingualen Erstspracherwerb.10 Somit sind uns nun, neben den Ergebnissen zum ungesteuerten Erwerb durch erwachsene Lerner (ZISA), auch neueste Resultate zum kindlichen Erwerb zugänglich.

Den Vergleichsmöglichkeiten mit den DFG-Projekten sind allerdings Grenzen gesetzt. Dies liegt einmal an den theoretischen Voraussetzungen, in-nerhalb derer sich die Projekte zum Syntaxerwerb bewegen: Da sie sich alle an den Prinzipien und Parametern der generativen Syntax orientieren und somit die Dynamik des kindlichen Spracherwerbs als ein Parametrisieren von UG-Prinzipien verstehen, die vom L1-Input lediglich ausgelöst zu werden brauchen, können sie sich mit der Analyse von nur wenigen Testkindern, teilweise auch mit Fallstudien begnügen und diese als repräsentativ für Spracherwerbsprozesse generell verstehen. Nun erweist es sich allerdings, dass mit zunehmendem Repertoire an Daten auch die Ergebnisse zunehmend variieren, so dass sich beim augenblicklichen Stand der Dinge ein Konsens nur auf sehr allgemeiner Ebene nachzeichnen lässt. Die UG lässt offensicht-lich einen grösseren Spielraum für individuelle Varianten zu als bisher ange-nommen.11

Zum andern werden nicht alle für unsere Fragestellung einschlägigen Spracherwerbsphänomene im Forschungsprogramm der DFG bearbeitet. Wir greifen deshalb im Folgenden auch auf Arbeiten zurück, die ausserhalb des DFG-Schwerpunktes entstanden sind, um einen möglichst lückenlosen Über-blick über den derzeitigen Kenntnisstand des Satzmodellerwerbs in der L1 zu gewinnen.

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10 Siehe hierzu den Abschlussbericht von Henning Wode und Thorsten Piske (1996), dort speziell zu den syntaxorientierten Projekten den Bericht von Rosemarie Tracy (14ff.).

11 Siehe den Titel des von Rosemarie Tracy und Elsa Lattey herausgegebenen Bandes „How tolerant is Universal Grammar?“ (1994).

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In den Frühphasen des kindlichen Spracherwerbs – also bis etwa zum 2. Lebensjahr – beobachten alle Forscher übereinstimmend eine variable Wort-folge. Allerdings setzen sie die Akzente unterschiedlich: Während beispiels-weise Anne E. Mills (1985: 158f.) und Harald Clahsen (1982: 60) eine Präfe-renz für Verb-Endstellung beobachten, sieht Ruth A. Berman (1991: 129) in den verschiedenen Stellungsvarianten lediglich individuelle Unterschiede.

Der nächste Schritt, der Erwerb des Hauptsatzes mit Verbzweitstellung, wird von der neueren Forschung in Zusammenhang mit dem Erwerb der Verbalflexion gebracht: sobald die Subjekt-Verb-Kongruenz bearbeitet wird, kann auch zwischen finiten und infiniten Verbformen unterschieden werden, und damit ist die Vorbedingung erfüllt, um finite Verben in Zweitposition zu bringen und infinite Verbformen in Endposition zu belassen.12 In dieser Phase, die etwa mit dem zweiten Lebensjahr beginnt, erwerben die Kinder offensichtlich in einem Zuge die Verbzweit- und die Verb-Endposition, also die Verbalklammer; und nicht nur dies: der Erwerb der Verbzweitstellung impliziert, dass sie auch bei Nicht-Subjekten in satzinitialer Position das Verb nicht aus der Zweitposition bewegen, mit anderen Worten: der Erwerb der Inversion verläuft parallel zur Etablierung des Verbs in Zweitposition. Nach Mills (1985: 162) wird diese Phase schnell und problemlos durchlaufen; nur in Ausnahmefällen beobachtet sie Verb-Endstellungen in Sätzen mit mehr als vier oder fünf Wörtern. Das von Verrips und Weissenborn untersuchte Kind Simone hat in der Anfangsphase seines Inversionserwerbs die Tendenz, das postverbale Subjekt zu tilgen (Verrips/Weissenorn 1992: 298f.), und Meisel beobachtet Verbdrittstellungen bei topikalisierten Elementen; er bestreitet ohnehin die Problemlosigkeit des L1-Inversionserwerbs:

[...] it has been observed that the placement of verbs in second position represents a major acquisitional difficulty. Even after children have begun to place the finite verb after the subject they frequently fail to invert subject-verb order when some other constituent has been fronted. Thus, in utterances with an initialized interro-gative pronoun, or those with a topicalized complement (object or adverbial), the verb sometimes appears in third position. (Meisel 1986: 134)

Auch Jordens (1988b) meint, dass der Erwerb der Verbzweit-Regel nicht so reibungslos vor sich geht. Seiner Beobachtung nach wird die V2-Position in der Kindersprache zunächst nur von Auxiliaren, Modalverben oder Platzhal-tern (wie tun) eingenommen, und es bedarf einer langen Übergangsphase, in der das Kind zu erkennen lernt, dass auch Vollverben in finiter Form die Zweitposition besetzen können.

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12 So bei Jordens (1988b), Clahsen (1988b), Clahsen/Penke (1992) und – mit einer Variante – bei Weissenborn (1991: 112), für den nicht die Herausbildung der Subjekt-Verb-Kongruenz die Voraussetzung für den Erwerb der Verbzweitstellung bildet, sondern nur die Opposition finit/infinit.

61

Bei all diesen Divergenzen darf immerhin davon ausgegangen werden – und dies ist für unsere eigene Analyse höchst aufschlussreich –, dass deutschsprachige Kinder mit dem Erwerb der Subjekt-Verb-Inversion schon sehr früh beginnen und dass dieser Erwerb zumindest bei einem Teil der Kinder nicht ganz so schnell und fehlerfrei verläuft, wie bislang angenom-men. Die ersten Satzmodelle, die deutschen Kindern zur Verfügung stehen, sind somit SVO und, quasi in einem Zuge, die Verbalklammer und die Inver-sion.

Zum Erwerb von Fragesätzen ist wenig gesagt worden; sie sind selten ein Untersuchungsgegenstand sui generis, weil zumindest die W-Fragen (= Fra-gen mit einem Fragewort) mit unter die V2-Stellungsregeln subsumiert wer-den, was rein syntaktisch ja auch zutrifft, da die erste Stelle vom Fragewort besetzt ist. Dennoch haben wir gute Gründe, Fragesätze nicht nur als Unter-gruppe einer syntaktischen Struktur zu behandeln, sondern auch als Satzmo-dell mit einer spezifischen pragmatischen Funktion.13

Erste Fragen erscheinen bei den Kindern nach Mills in der Form von Into-nationsfragen, teilweise auch als verblose W-Fragen; als nächstes erscheinen W-Fragen mit Subjekt-Verb-Inversion (Mills 1985: 155f.). Denselben prob-lemlosen Verlauf beobachtet Berman (1991: 17f.). Andere Untersuchungen wissen hingegen von ganz anderen Erwerbsverläufen zu berichten: bei Tracys Testkind Valle erscheinen zunächst Fragen ohne Fragewort mit Verbzweitstellung (was sie „Lückenformate“ nennt, z. B. das auto macht an-stelle der Frage: was macht das Auto?), dann optional Fragewörter mit V-End, dann obligatorisch Fragewörter mit dem finiten Verb fakultativ in V2 oder V-End, bevor die zielsprachliche Norm erreicht ist (Tracy 1994: 18f.). Bei Tracy findet sich auch ein Hinweis darauf, dass Entscheidungsfragen (Ja/Nein-Fragen) erst nach den W-Fragen erworben werden (1994: 21); Nä-heres dazu war in der uns bekannten Forschung nicht zu finden.

Im Alter von zweieinhalb bis dreieinhalb Jahren beginnt dann der Erwerb komplexer Sätze. Vereinzelt finden sich Hinweise in der Literatur, dass diese Bearbeitung mit „Vorläuferstrukturen“ beginnt,14 etwa mit koordinierten Hauptsätzen oder mit „intendierten“ Nebensätzen ohne Konjunktion (Meisel/Müller 1992: 120f.; Rothweiler 1993: 34). Über den eigentlichen Nebensatz-Erwerbsverlauf divergieren jedoch die Ansichten erheblich: Mills (1985), Rothweiler (1993), Weissenborn (1990), Meisel/Müller (1992) und Berman (1991) zufolge wird die Verb-Endstellung schnell und weitgehend fehlerlos erworben, sei es, dass die ersten Verwendungen von Komplemen-tierern (= subordinierenden Konjunktionen) zugleich auch die V-Endstellung

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13 Siehe unten S. 84. 14 Tracy in Wode/Piske, Abschlussbericht zum Schwerpunkt Spracherwerb (1996:

18).

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auslösen, sei es, dass die V-Endstellung den Platz für den später einzufügen-den Komplementierer bereitstellt. Zwar finden sich vereinzelt Hinweise auf mögliche Fehlerquellen, so etwa bei Meisel/Müller (1992: 131), wo der Fall von eingeleiteten Nebensätzen mit S-V-Stellung erwähnt wird; oder bei Mills (1985: 158), die noch bis zum sechsten Lebensjahr Stellungsfehler in Neben-sätzen mit mehrgliedrigen Verbalkomplexen feststellt. Doch scheint dies alles peripher im Verhältnis zu den fehlerlos realisierten Nebensätzen mit V-Endstellung. Berman (1991: 19f.) nuanciert ihre Position allerdings dahinge-hend, dass sie zwischen raschen und erfolgreichen NS-Erwerbsverläufen und anderen, langsameren und mühsameren unterscheidet:

There appear to be quite considerable differences between individual children in use of these constructions [sc. subordinate clauses]. Some children manifest an early, rapid, and almost totally error-free Pattern of acquisition, whereas others demonstrate a slower and more gradual developmental progression in this, as in other areas of the grammar. (1991: 19f.)

Diese individuellen Unterschiede werden von der Projektgruppe von R.Tracy15 in den Vordergrund gestellt. Den oben erwähnten reibungslosen Verlauf des NS-Erwerbs stellt sie aufgrund ihrer Daten grundsätzlich in Frage. Sie beobachtet vielmehr eine ganze Reihe von abweichenden Verb-stellungen, die keineswegs durch die Existenz eines Komplementierers ver-hindert werden. Einige – wenige – verfügen tatsächlich gleichzeitig über Komplementierer und V-End; bei anderen finden sich fakultative Komple-mentierer mit folgender S-V- und/oder V-S-Stellung (Gawlitzeck et al. 1992: 144ff.; Fritzenschaft et al. 1990). Natascha Müller (1998) stellt sogar bei ei-nem der Kinder des Tübinger Korpus ein item-by-item-Vorgehen fest: für jede Konjunktion muss V-End erneut gelernt werden; von einer „auslösenden“ Wirkung des Komplementierers kann hier nun wirklich nicht die Rede sein.

Ohnehin ist für Tracy eine klare Phasenabfolge im Erwerb der Verbstel-lungsregularitäten problematisch, und zwar wegen der Koexistenz von norm-gerechten Lösungen und Normverstössen bei ein und demselben Kind in ein und derselben Phase. Während sich ein Kind noch in der ersten Phase (variable Verbstellung mit Präferenz für V-End) befindet, kann es durchaus schon formelhafte Wendungen mit „simulierten“ Verbalklammern produzie-ren; und umgekehrt können in der Phase „Distanzstellung“ neben normge-rechten auch noch abweichende V3-Stellungen vorkommen, was eine ein-deutige Abgrenzung der Phasen erheblich erschwert16 – ein Problem, mit dem

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15 „Der Erwerb der komplexen Syntax des Deutschen im Kindesalter“, Projekt im Rahmen des Schwerpunktes Spracherwerb der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1987–1991.

16 Tracy (1994: 4f.).

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auch wir bei unserer Analyse ständig konfrontiert sind. Zudem ist es für Tracy keineswegs erwiesen, dass die Kinder den Nebensatzerwerb erst in Angriff nehmen, nachdem sie sämtliche Verbstellungsregeln des Hauptsatzes erworben haben. Dass sie bei ihrem Testkind Valle W-Fragen mit konsisten-ter V-Endstellung – teilweise unter Tilgung des Fragewortes – beobachtet, interpretiert sie als Indiz dafür, dass Valle den Erwerb der W-Frage noch nicht abgeschlossen hat, während er bereits mit dem Erwerb von Nebensätzen beginnt.17 Auch diese Feststellung wird für die Analyse des DiGS-Korpus von Bedeutung sein. 4.2.3 Bilanz Dieser kurze Abriss wird der Subtilität gerade der neueren Forschungsarbei-ten zum L1-Erwerb keineswegs gerecht; er erhebt auch keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Es wurde – wie oben angekündigt – nur das herausge-griffen, was die Erwerbsfolge der Verbstellungsregularitäten in der deutschen Kindersprache zu rekonstruieren erlaubt. Auf andere in diesen Arbeiten in-tensiv diskutierte Fragen wie die möglichen Korrelationen zwischen ver-schiedenen Teilbereichen – etwa der Verbalflexion und der Verbstellung – werden wir an anderer Stelle noch einmal zurückkommen.18 Für den Augen-blick mag es genügen, folgende grosse Linien festzuhalten, die sich gewis-sermassen als gemeinsamer Nenner aus den bisher vorgelegten Arbeiten zum L1-Erwerb des Deutschen herauslösen lassen: 1) Der Erwerb der Verbstellungsregeln verläuft bei deutschen Kindern fol-

gendermassen: I. variable Stellung: X-V neben V-X, mit Präferenz für X-V; II. finite Verben in Zweitposition/infinite Verbteile in Endposition (Ver-

balklammer) Verbzweitstellung auch bei Erststellung von Nicht-Subjekten (Inversi-

on); III. Nebensatz (V-Endstellung).

2) Mit zunehmendem Datenmaterial erweist es sich, dass keine dieser Stel-lungsregularitäten – weder V2 noch die Verbalklammer noch Fragesätze noch Nebensätze – von allen Kindern gleichermassen auf Anhieb und fehlerfrei erworben werden. Es bedarf vielmehr einer Reihe von Zwi-schenstufen, auf denen verschiedene Varianten abweichender Verbstel-lungen vorkommen.

_______________

17 Tracy (1994: 20). 18 Vgl. Kapitel 7.2.

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3) Die individuellen sowie die intraindividuellen Unterschiede sind be-trächtlich: die Kinder bedienen sich offensichtlich sehr unterschiedlicher Verfahren, um sich zur zielsprachlichen Norm durchzuarbeiten.

4) Und schliesslich: abgesehen von besonders komplexen Strukturen ist der Erwerb der Wortstellungsregularitäten in der Regel bis zum 4. Lebensjahr abgeschlossen; Fehler im Wortstellungsbereich sind nach diesem Zeit-punkt selten.19

5) Zwischen der ZISA-Erwerbssequenz und der für den L1-Erwerb ermit-telten Phasenabfolge bestehen in den Anfangsstadien deutliche Unter-schiede: Die romanischsprachigen ZISA-Gastarbeiter beginnen mit der SVO-Struktur und erwerben dann in offenbar zwei klar unterscheidbaren Schritten zunächst die Verbalklammer, dann die Subjekt-Verb-Inversion. In beiden Erwerbssituationen bildet – zumindest in der Mehrheit der Fälle20 – der Nebensatz den Abschluss der Satzmodellerwerbs.

4.3 Die involvierten Sprachen: Strukturvergleich Wenn die zehnjährigen Genfer Schüler zum ersten Mal mit deutschen Sätzen konfrontiert werden, verfügen sie bereits über gut ausgebaute Kenntnisse der syntaktischen Strukturen ihrer L1, bei den Schülern unseres Korpus also grundsätzlich des Französischen.21 Dass sich dieses L1-Wissen auf den Auf-bau ihrer L2-Kompetenz auswirkt, wird inzwischen von niemandem mehr ernsthaft bestritten, welche theoretischen Prämissen auch immer an den L2-Erwerb herangetragen werden, sei es in der Form von Parameter-(Um)setzungen, sei es in der Form von Lernerhypothesen über die Struktur der L2. Voraussetzung ist allerdings, dass die Lerner im L2-Input Anhalts-punkte für einen möglichen Transfer von L1-Strukturen zu finden glauben. Dies scheint nun für den Erwerb der Satzmodelle in ausgeprägtem Mass zu-zutreffen; es mag also sinnvoll sein, der eigentlichen Datenanalyse eine Ge-genüberstellung der einschlägigen Strukturen des Französischen und des Deutschen vorauszuschicken. _______________

19 Mills (1985: 158). 20 Es sei an die Ausnahme von Tracys Valle erinnert, siehe S. 63. 21 Zum Korpus siehe Kapitel 1.2. Auch wenn nicht alle unsere Testpersonen franzö-

sischer Muttersprache sind, so darf doch davon ausgegangen werden, dass alle mit dem Französischen hinreichend vertraut sind, um dem Unterricht in einem franzö-sischsprachigen Schulsystem folgen zu können.

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4.3.1 Die Verbstellung im Deutschen Bekanntlich sind im deutschen Satz drei Positionen für die finiten und infi-niten Verbteile vorgesehen. Mit jeder Position sind auch – zumindest proto-typisch – bestimmte Satztypen festgelegt: Die Verbzweitposition ist Deklara-tiva vorbehalten, kommt allerdings auch in W-Fragen vor; infinite Verbal-elemente stehen in beiden Fällen in satzfinaler Position; Verbspitzenstellung charakterisiert E-Fragen und Imperative; Verbletztstellung ist das Merkmal von (eingeleiteten) Nebensätzen.

Nun hat allerdings der Sprachgebrauch zu diesen Standardversionen noch weitere hinzugefügt, die die obengenannten Zuordnungen vielfach durch-kreuzen:

V2-Stellungen können in Nebensätzen verwendet werden:

(Ich glaube), er kommt nicht mehr.

Auch nach einigen Subjunktionen (wie weil und obwohl) sind im heutigen gesprochenen Deutsch V2-Stellungen keine Seltenheit;22 vgl. etwa

(Er wird sicher nicht mehr kommen), weil er hat so viel anderes zu tun.

V1-Stellungen können in gesprochener Sprache Hauptsatz-Funktionen über-nehmen, und zwar bei Tilgung des topikalisierten Elementes als Replik auf eine unmittelbar vorausgegangene Äusserung:23

(Kannst du mir das bis morgen besorgen?) – Nee, kann ich nicht.

Auch Ausrufe können die Form von V1-Strukturen annehmen:

Ist das ein schönes Haus!

Und daneben gibt es – durchaus normgerecht – bestimmte nicht eingeleitete Nebensatztypen mit Verberststellung:

Sollte es regnen, gehen wir ins Kino.

V-End-Stellungen kommen auch als Echofragen vor:

Wie sie das gefunden hat?

und wiederum als Ausruf:

Was für ein Glück sie hatte!

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22 Siehe Müller (1998: 92f.). 23 Vgl. Gawlitzek et alii (1992: 140).

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Und schliesslich wird auch die Verbalklammer keineswegs strikt eingehalten: der Duden nennt sechs verschiedene Bedingungen, unten denen Ausklamme-rungen zulässig oder sogar obligatorisch sind,24 so etwa bei Vergleichsele-menten:

Ich habe noch selten ein so hübsches Haus gesehen wie ihres.

Angesichts dieser breiten Skala von Verbpositionen im deutschen Satz ist es nicht erstaunlich, dass sich in der wissenschaftlichen Diskussion bis heute kein Konsens eingestellt hat, was nun die Basisstruktur des Deutschen sei: SVO oder SOV. Für beide Positionen lassen sich plausible Gründe benennen; eine Mehrheit entscheidet sich allerdings zugunsten der SOV-Struktur.25 Für letztere spricht nicht nur die Tatsache, dass der Nebensatz effektiv V-End verlangt, sondern auch, dass bei allen mehrteiligen Verbalkomplexen auch in V1 und V2-Sätzen das lexikalische Verb – Partizipien in Auxiliar-Konstruk-tionen, Infinitive in Verbindung mit Modalverben – am Satzende steht, ebenso wie Präfixe. Für die Basisstruktur SVO hingegen spricht nach Mills (1985: 159ff.) die Tatsache, dass das flektierte Verb im Hauptsatz (und in W-Fragen) an zweiter Stelle steht. Die häufigen V-End-Stellungen in kindlichen Äusserungen versteht Mills nicht als Evidenz für eine zugrundeliegende SOV-Struktur, sondern als Reproduktion einer in der caretakers’ speech be-sonders häufigen Input-Struktur, nämlich der Verwendung von Modalverben in Sätzen wie: Möchtest du ein Haus bauen? Du sollst nicht weinen, die zu-dem durch das Slobinsche OP „Achte auf das Ende von Wörtern und Sätzen“ favorisiert wird.26

In diesem Disput um die Basisstruktur des Deutschen brauchen wir nicht Stellung zu beziehen. Hingegen ist eine andere Kategorisierung des Deut-schen für uns von höchster Relevanz, und zwar jene, eine V2-Sprache zu sein, d. h. vor dem finiten Verb nur ein Satzglied zuzulassen (ausser in E-Fragen und Aufforderungssätzen, in denen das Verb an die erste Position rückt).27 Um Missverständnisse zu vermeiden, sei noch einmal präzisiert, dass das Satzglied in Spitzenposition zwar das Subjekt sein kann, aber keineswegs muss; im Deutschen steht es sogar „mindestens genau so häufig, wenn nicht sogar häufiger hinter dem Verb als davor.“28 Für diesen letzteren Fall hat sich der Terminus „Inversion“ eingebürgert.29

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24 Duden Band 4: Grammatik (1998: 820f.). 25 So etwa Meisel (1992), Clahsen-Penke (1992), Schmidt (1996), Verrips/Weissen-

born (1992) und Roeper schon (1973). 26 Siehe Mills (1985: 159f.), dort weitere Beispiele. 27 Vgl. dazu Tracy (1994: 2f.) und Schmidts Ausführungen zum Drei-Felder-Modell

Drachs (1996: 115f.). 28 Schmidt (1996: 114). 29 Wir stimmen Schmidts Kritik am Terminus „Inversion“ zu, wenn er sagt: „Der In-

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Mit dieser Eigenschaft unterscheidet sich das Deutsche von vielen anderen Sprachen, denn es integriert textsyntaktische Gesichtspunkte in die Struktur des Satzes selbst. Mit den Worten von Ulrich A. Schmidt:

Die Topic-Comment-Struktur des Textes ist, anders als in Sprachen wie dem Eng-lischen oder Französischen, in den Satzbau integriert [...]. Denn während in diesen Sprachen das Topic als das aus dem Prätext übernommene Thema an der Spitze des Satzes, aber ausserhalb des eigentlichen Satzrahmens, steht, ist das Topic des deutschen Satzes fest in die Satzstruktur integriert, ja, es dominiert sie sogar. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Deutschen und den nicht topic-prominen-ten Sprachen liegt in den Selekt ionspr inzip ien für d ie Besetzung der ersten Stel le im Satz: während diese in den subjekt-prominenten Sprachen ausschliesslich nach Kriterien der morphologisch-kongruentiellen Syntax (Subjekt-Kongruenz mit dem Verb) geregelt ist, erfolgt im Deutschen die Besetzung der ersten Stelle innerhalb des Satzes unter textsyntaktischen Gesichtspunkten: die alte Information (Topic) bildet den Anknüpfungspunkt zum Prätext und steht satzinitial. (1996: 114)

Somit ist zu erwarten, dass die V2-Struktur des Deutschen in der Inversions-Variante einen der markantesten, wenn nicht den markantesten syntaktischen Unterschied zum Französischen bildet, der von frankophonen Deutschlernern nur schwer integriert werden kann. Hingegen dürfte jene andere Eigenschaft des Deutschen, eine typologisch hoch ambige Sprache mit vielen konkurrie-renden Satzmustern für identische Satzfunktionen zu sein, im Deutscherwerb unter gesteuerten Bedingungen weniger Schwierigkeiten bereiten als im Er-werb unter natürlichen Bedingungen: die Schulkinder bekommen die Satz-strukturen in ihrer „prototypischen“ Rolle direkt präsentiert, ohne sie mühsam aus der Vielzahl der konkurrierenden Verwendungsweisen herausbuch-stabieren zu müssen. Die oben erwähnten langen „Suchwege“, die den kind-lichen Verbstellungserwerb charakterisieren, müssten demzufolge im gesteu-erten Erwerb entfallen – vorausgesetzt, die entsprechende Instruktion kann verarbeitet und produktiv umgesetzt werden.

________________ versionsbegriff suggeriert eine ‘Normalstellung’ des Subjekts vor dem Verb. So verbreitet eine solche Annahme im Grammatik- und Sprachbewusstsein deutscher Sprecher auch sein mag, so offensichtlich geht sie an den Gegebenheiten der deut-schen Satzgliedanordnung vorbei.“ (1996: 114) Wenn wir uns dennoch entschlos-sen haben, diesen Terminus zu benützen, dann nur, weil wir keine angemessene terminologische Alternative gefunden haben.

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4.3.2 Die Verbstellung im Französischen Das Französische – auch hierüber besteht Einigkeit – ist eine ausgeprägte SVO-Sprache.30 Diese Konfiguration gilt für den Haupt- wie für den Neben-satz. Dem Subjekt können weitere Elemente vorausgehen, ohne dass die Ba-sisstruktur davon tangiert wird: in Hauptsätzen sind es in der Regel Adver-bialbestimmungen, im Nebensatz Subjunktionen. Eine andere als die SVO-Folge ist nur in Aufforderungssätzen möglich, in denen das Subjekt ohnehin entfällt; das finite Verb tritt dann an die Satzspitze. Zwischen Subjekt und Verb(komplex) können nur klitische Pronomina eingeschoben werden:31

Je les avais avertis, mais ils ne m’écoutaient pas.

Mit diesem Einschub von Klitika schafft sich das Französische eine Mög-lichkeit, Objekte zu topikalisieren, ohne die Basisstruktur SVO zu verändern: Objekte können an den Satzanfang vorgezogen werden, vorausgesetzt, eine „pronominale Kopie“32 tritt als klitisches Pronomen zwischen Subjekt und Verb. Somit bleibt die Subjekt-Verb-Reihenfolge auch hier erhalten:

Cette expérience, ils la font pour la première fois.

Nun kennt auch das Französische Restbestände von Inversion: so z. B. in W- und E-Fragen:

Que faites-vous? Où allez-vous ce soir? Croyez-vous qu’il fera beau?

Harald Weinrich führt in seiner umfangreichen „Textgrammatik der französi-schen Sprache“ (1982) alle Kontexte auf, in denen Inversion üblich oder zu-lässig ist,33 so etwa in Einschüben in direkte Rede (dit-il ), in bestimmten idiomatischen Wendungen wie toujours est-il, nach bestimmten Adverbien wie à peine und peut-être; Beispiele:

Vous voyez, murmura-t-il, je vous l’avais bien dit. Toujours est-il qu’il ne m’a jamais écrit. Peut-être l’a-t-il jamais su. A peine l’ai-je vu que je me suis retourné.

Doch gehören alle diese Varianten eindeutig der Schriftsprache und generell dem gehobenen Stil an (ausser Einschüben wie dit-il, dem einzigen Fall, in dem Inversion obligatorisch ist).34 Für alle anderen Beispiele gibt es eine all-

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30 Siehe dazu z. B. Müller (1990b), Meisel (1992), Verrips-Weissenborn (1992). 31 Müller (1990b), Meisel (1986). 32 Meisel (1986). 33 Harald Weinrich (1982) an verschiedenen Stellen: 427f., 462, 659f., 765ff. (in der

französischen Ausgabe von 1989: 323f., 330, 346, 476 und 535ff.). 34 Siehe dazu Weinrich: „Eine Inversion des Subjekts deutet immer auf einen geho-

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tagssprachliche Alternative: zu Fragen die Intonationsfrage mit S-V-Stellung oder die Fragen-Paraphrase mit est-ce-que:

Vous faites quoi ce soir? Qu’est-ce que vous faites ce soir? Vous croyez qu’il fera beau?35

Auch bei allen anderen Sätzen kann auf lexikalische oder grammatische Al-ternativen zurückgegriffen werden, wenn der Eindruck eines allzu gepflegten, vielleicht sogar preziösen Stils vermieden werden soll:

Quoi qu’il en soit, il ne m’a jamais écrit. Peut-être qu’il ne l’a jamais su. Je l’ai à peine vu que je me suis retourné / Dès que je l’ai vu, je me suis retourné.

Selbst in Fragen, die durch quand eingeleitet sind und „eigentlich“ schon deshalb Inversion verlangen, weil es sonst zu Verwechslungen mit der Kon-junktion quand kommen könnte (so die Erklärung von Weinrich 1982: 769):

Quand pensez-vous venir? vs. Je ne peux pas dire quand je viendrai.

Selbst dort gibt es die Möglichkeit, auf Wendungen wie à quelle heure? quel jour? zu rekurrieren oder gar das Fragewort ans Satzende zu stellen:

Elle est née en quelle année, votre fille? Et votre fils, il est né quand?36

Nur in einigen festen Redensarten sind Fragen mit Inversion auch in der mündlichen Sprache noch lebendig; Weinrich (1982) nennt als die häufigsten:

Comment allez-vous? Comment se fait-il que ...? Comment voulez-vous que je le sache?37

Und der Vollständigkeit halber sei auch noch auf die „Amen“-Formel des Französischen – ainsi soit-il – verwiesen.

________________ benen Stil und findet sich mit grösserer Frequenz nur in der geschriebenen Spra-che.“ (1982: 768)

35 Zur Frage mit Inversion vgl. den Kommentar von Weinrich: „La question avec in-version ne se distingue pas du point de vue de son sens grammatical, de la question par [εskø]. Elle est pourtant beaucoup moins employée et peut être considérée comme variante stylistique de cette dernière. On la rencontre surtout dans le registre soigné le plus soutenu et elle est considérée comme une forme de prestige. On l’utilise de préférence dans le discours formel [...].“ (Weinrich 1989: 535)

36 Weinrich (1982: 769). 37 Weinrich (1982: 771).

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So darf man resümieren, dass das Französische in seinem Satzkonstrukti-ons-Inventar zwar Möglichkeiten für eine Subjekt-Verb-Inversion vorgesehen hat (was Verrips/Weissenborn (1992) zu der Qualifizierung des Franzö-sischen als einer residual verb-second language veranlasst)38, dass aber doch, zumindest für die gesprochene Sprache, von einer recht konsequent durchge-haltenen Anwendung der SVO-Struktur ausgegangen werden darf:39 selbst wo V-S-Stellungen zulässig sind, werden sie von den Sprechern nach Mög-lichkeit umgangen. Abgesehen von einigen lexikalisierten Restbeständen und der Signalfunktion für gepflegten Sprachstil ist die Inversion im heutigen Sprachgebrauch eine Randerscheinung.

Eine entsprechend enge Kohäsion wie zwischen dem Subjekt-Verb-Kom-plex besteht auch innerhalb mehrgliedriger Verbalgruppen. Der finite Be-standteil des Verbalkomplexes geht immer den infiniten Teilen voraus; alle Elemente des Verbalkomplexes stehen grundsätzlich in Kontaktstellung; nur wenige, genau definierte Wörter können zwischen die finiten und infiniten Elemente eingeschoben werden (Pronomina, Negationselemente, bestimmte Adverbien, ausserdem y und en):40

je peux te le dire je ne veux pas le savoir il faut y aller je l’ai toujours dit.

Wenn also französischsprachige Schüler mit deutschen Satzkonstruktionen konfroniert werden, so muss ihnen die V2-Stellung in ihrer SVO-Version vertraut erscheinen, in ihrer Inversions-Variante ist sie ihnen zwar nicht gänzlich unbekannt – zumal in Einschüben wie dit-il und in Fragesätzen –, aber doch ungewohnt; die Verbalklammer kennen sie nur in der Form mini-maler Distanzstellung, und die V-Endstellung ist ihnen völlig fremd.

Wir sind nun von der Hypothese ausgegangen, dass sich diese strukturellen Parallelen und Divergenzen auf den Erwerbsverlauf auswirken müssten. Für unsere Datenerhebung wählten wir deshalb eine Kategorisierung, die den erwarteten Schwierigkeiten Rechnung trägt, auch wenn deswegen Konzes-sionen an die linguistische Stringenz gemacht werden mussten. Den Stel-lungstyp V2 lösten wir auf in die drei Kategorien SVO, XVSO (= Inversion in Deklarativa; der Kürze halber reden wir dann nur von „Inversion“)41 und

_______________

38 Verrips/Weissenborn (1992: 324, Anm. 6). 39 Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch Meisel: „Although [subject-verb inversion]

exists in French grammar as well, especially in interrogative constructions, it has virtually disappeared in spoken language and may only be expected very rarely in the children’s linguistic environment.“ (1986: 131)

40 Siehe Weinrich (1982: 247f.). 41 „X“ steht hier für alle Satzglieder ausser dem Subjekt und ausser Fragewörtern.

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Fragewort-V-S (= W-Frage). Unter V-End gruppierten wir vereinfachend nur Nebensätze, unter V1 nur E-Fragen. Die Verbalklammer behandelten wir als eine einzige Kategorie, ungeachtet ihres Vorkommens in V1-oder V2-Struk-turen; wo finite und infinite Verbteile durch keine anderen Satzglieder ge-trennt sind, blieben sie in den Zählungen unberücksichtigt. 4.4 Analyse der DiGS-Daten: Satzmodellerwerb im Unterricht 4.4.1 Vorüberlegungen Im Unterschied zu Lernern unter natürlichen Bedingungen unterliegen Fremdsprachenschüler bestimmten Zwängen, die bei der Beobachtung von Erwerbsverläufen mitbedacht werden müssen: a) die Schulkinder sind mit einem selektiven Input konfrontiert; es wird ih-

nen also die Mühe abgenommen, die zur Bearbeitung anstehenden Strukturen und Formen selbst aus der Fülle des natürlichen Inputs zu iso-lieren;

b) andererseits haben sie nicht die Freiheit, im Angebot der schulischen Grammatikprogression Umorganisationen nach Massgabe der eigenen Bedürfnisse vorzunehmen; es wird von ihnen erwartet, dass sie einmal unterrichtete und geübte Grammatikstrukturen auch effektiv (und fehler-los) in ihren Sprachproduktionen verwenden. Dieser Erwartung können sie sich höchstens durch Vermeidungsstrategien entziehen – und auch dies nur in beschränktem Umfang.

Das erste Auftreten einer bestimmten Satzstruktur in den DiGS-Schülertexten – ob fehlerhaft oder zielsprachenkonform – ist demnach noch kein schlüssiger Beweis für beginnenden Erwerb. Es kann einfach bedeuten: 1) dass die entsprechende Struktur soeben im Unterricht durchgenommen

wurde oder wird; 2) dass sie als Floskel oder Strukturformel im Gedächtnisspeicher deponiert

ist und gelegentlich abgerufen wird;42 3) dass das entsprechende Aufsatzthema diese Struktur elizidiert (z. B. Fra-

gesätze in einem fiktiven Interview); 4) dass die Lehrkraft ausdrücklich auf der Verwendung dieser Struktur insis-

tiert.

_______________

42 Siehe die S. 62 bereits erwähnten Bemerkungen von Tracy zur Schwierigkeit einer eindeutigen Abgrenzung der Phasen (Tracy 1994: 4f.).

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Nun gibt es freilich auch im gesteuerten Erwerb eine weitere Input-Quelle, die sich dem Input in natürlicher Erwerbssituation zumindest annähert: es sind die in Lesetexten, Liedern und möglicherweise auch in Lehreräusserun-gen enthaltenen grammatischen Strukturen, die (noch) nicht Gegenstand des Grammatikunterrichts sind. Es ist nicht auszuschliessen, dass manche Schüler auch diesen „impliziten“ Input zu nutzen wissen und auf diese Weise die schulische Grammatikprogression unterlaufen; manche Indizien in den Schülertexten gehen durchaus in diese Richtung.43

Ob aus implizitem Input gewonnen, ob in expliziter Grammatikinstruktion gelernt – von einsetzendem Erwerb eines Satzmodells kann erst dann die Rede sein, wenn es über einen längeren Beobachtungszeitraum mehrmals er-scheint.

Aufschlussreicher als das blosse Auftreten des einen oder anderen Satz-modells ist das Verhältnis zwischen richtigen und abweichenden Realisie-rungen. Eine bestimmte Satzstruktur – zum Beispiel die Inversion – kann sehr früh im Grammatikunterricht eingeführt und von den Schülern auch verwendet werden; wenn diese Struktur jedoch über einen langen Zeitraum hinweg in obligatorischen Kontexten nicht realisiert wird, so darf daraus ge-schlossen werden, dass sie sich dem Erwerb stärker widersetzt als eine even-tuell später eingeführte Satzstruktur mit geringerer Fehleranfälligkeit. Das Verhältnis von korrekten und abweichenden Realisierungen dient uns deshalb als eines der Kriterien für die Ermittlung von Erwerbsphasen.

Nun kann freilich auch das rein zahlenmässige Verhältnis von fehlerhaften und korrekten Realisierungen zu Trugschlüssen führen. Denn korrekt reali-sierte Sätze können blosse memorisierte Strukturformeln sein, und abwei-chende Sätze sind oft das Indiz dafür, dass Erwerbsprozesse in Gang ge-kommen sind, dass z. B. eine formelhafte Wendung „aufgeknackt“44 und als Struktur sui generis erkannt wird. Aus der Art der Abweichungen lässt sich deduzieren, mit welchen Hypothesen die Lernenden arbeiten, wo sie in ihrem Erwerbsprozess stehen, wie sie mit dem schulischen Grammatikinput umge-hen.

Und schliesslich müssten sich Erwerbssequenzen auch daraus ableiten las-sen, wieviele Schüler pro Klasse welches Satzmodell auf welcher Klassen-stufe so erfolgreich bearbeiten können, dass sie es weitgehend fehlerfrei pro-duzieren können. Ist dies auf einer bestimmten Klassenstufe die Mehrheit der Schüler, so schliessen wir daraus, dass das entsprechende Satzmodell zu die-sem Zeitpunkt offenbar „erwerbbar“ ist.

_______________

43 So zum Beispiel, wenn ein Kind in der 6. Primarschulklasse schreibt: dass ich dich besser fressen kann – gut zwei Jahre, bevor der Nebensatz unterrichtet wird! (siehe auch unten S. 89).

44 Tracy spricht von „gradual cracking of these formulae“ (Tracy 1994: 5, Anm. 3).

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Dementsprechend wird das Datenmaterial zum Satzmodellerwerb folgen-dermassen präsentiert: − die quantitative Analyse führt (pro Klassenstufe und/oder für jede Paral-

lelklasse) die absolute Zahl der Kontexte vor, in denen das jeweilige Satzmodell verwendet werden müsste, und zwar zuerst die Zahl der ziel-sprachenkonformen Realisierungen, dann die Zahl der Normverstösse;

− in der qualitativen Analyse werden die verschiedenen Fehlertypen und die zugrundeliegenden Erwerbsstrategien untersucht;

− und schliesslich wird für jede Klasse (bzw. Klassenstufe) die Zahl der Schüler genannt, die das entsprechende Satzmodell weitgehend zielspra-chenkonform verwenden können, auch wenn sie es möglicherweise noch nicht auf Dauer erworben haben.

4.4.2 Die frühen Stufen: Satzmodellerwerb in der Primarschule In der Primarschule gibt es, wie bereits erwähnt,45 keinen gezielten Gramma-tikunterricht; die Intention ist vielmehr, die Kinder fürs Deutsche zu „sensibilisieren“, überwiegend durch Spiele, Lieder und Frage-Antwort-Kon-stellationen.46 Dementsprechend sind Fragen – W- und E-Fragen – im schuli-schen Input von Anfang an reichlich vorhanden. In Deklarativsätzen domi-niert die S-V-Stuktur; doch erscheinen auch bereits von Anfang an – ab der 4. Klasse – Inversionskonstruktionen, sei es in Liedern (vgl. [Mein Hut, der hat drei Ecken,] drei Ecken hat mein Hut, und hätt’ er nicht drei Ecken, so wär’ er nicht mein Hut), sei es in Konstruktionsmustern wie jetzt bist du .../ dann hast du ...; am Montag spielen wir .../ am Dienstag machen wir ... / am Mittwoch haben wir ..., also nach dem Modell Adverbialbestimmung – Verb – Personalpronomen. Von der 5. Klasse an und durchgehend bis zum Ende der 6. nehmen diese Strukturen im Input massiv zu; neben vorangestellten Adverbialbestimmungen kommen nun auch topikalisierte Objekte vor (den kennt Max – Die Masken haben sie ... – Die Namen findet man ...).

Die Verbalklammer erscheint erstmals in der 6. Klasse in der Form von Modalverben in Verbindung mit Vollverben. Hier gibt es – wenn auch ohne explizite grammatische Erklärung – erstmals Übungen, in denen die Inversion mit der Verbalklammer kombiniert wird; z. B. sollen die Kinder Sätze wie die folgenden richtigstellen:

_______________

45 Siehe Kapitel 2.2, Deutsch als Schulfach. 46 Alle Angaben zum Unterrichtsstoff in der Primarschule gehen auf Lucrezia Marti

zurück, der wir die genaue Analyse des zum Zeitpunkt der Datenerhebung ver-wendeten Lehrwerks „Cours romand“ verdanken sowie zusätzliche Informationen zur Unterrichtspraxis.

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Auf dem Sportplatz kann man wandern. In der Post kann man schwimmen. In der Bäckerei kann man Fussball spielen.

Nebensätze kommen in der Primarschule nicht vor. Die beiden folgenden Tabellen vermitteln einen Überblick über die Vor-

kommenshäufigkeiten der von den Primarschulkindern verwendeten Satz-modelle und die jeweiligen Korrektheitsrelationen.

Tab. 1 führt für jede Klassenstufe zuerst die Zahl der zielsprachengerech-ten, dann die Zahl der abweichenden Realisierungen auf; Tab. 2 gibt für jedes Satzmodell und jede Klassenstufe die Korrektheitsrela-tionen an. Sie wurde errechnet aus der Zahl der korrekt realisierten Vor-kommen dividiert durch die Gesamtzahl der Kontexte, in denen das entspre-chende Satzmodell hätte realisiert werden müssen (d. h.: alle W-Fragen rich-tig = 1.0; alle W-Fragen abweichend: 0.0, je 2 richtig und abweichend: 0.5).47 Klasse S-V S-V + S-V W-Fragen E-Fragen V-klammer Inversion

4 (18 TP) 366/24 4/0 7/3 1/2 4/0 54/6

5 (26 TP) 415/38 44/4 52/10 42/17 8/30 31/43

6 (16 TP) 319/18 37/2 39/4 29/4 2/6 12/49

Tab. 1: Satzmodelle in der Primarschule: Kontexthäufigkeit (korrekte vs. abweichende Realisierung)

Klasse S-V S-V + S-V W-Fragen E-Fragen V-klammer Inversion

4 (18 TP) 0.94 1.0 0.70 0.33 1.0 0.90

5 (26 TP) 0.92 0.92 0.84 0.71 0.21 0.42

6 (16 TP) 0.95 0.95 0.91 0.87 0.25 0.20

Tab. 2: Satzmodelle in der Primarschule: Korrektheitsquote

4.4.2.1 S-V-Sätze und koordinierte S-V-Sätze

Die Tabelle zeigt, dass das S-V-Modell offensichtlich von den Primarschü-lern mühelos integriert werden kann. Dass die frühesten Texte unseres Korpus – also diejenigen, die vier bis acht Wochen nach den ersten Deutschkontakten geschrieben wurden – stark stereotypisiert sind und nichts anderes sein kön-nen als approximative Reproduktionen der gehörten Sätze, liegt auf der Hand. Immerhin lässt sich bei der Mehrheit der Primarschulkinder auch der höchst phantasievollen, zwangsläufig am Französischen orientierten Verschriftung48 immer noch entnehmen, dass sie eindeutig S-V-Sätze intendieren: _______________

47 Wir übernehmen damit das Berechnungsverfahren, das auch in der ZISA-Untersu-

chung verwendet wurde (vgl. Clahsen/Meisel/Pienemann 1983: 213, 236f.). 48 Siehe die Ausführungen zum Korpus, speziell zur Primarschule Kapitel 1.2, S. 6.

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(1) Ich bine Fanny. Meine mutter heisst Nelly. meine Vater heisst Chr. Ich bine neune jahre alt (Fanny J 4/5, 1)

(2) Ich bin Christine. Ich haben noine iare halt. Meine Muter haisst ... (Christine M 4/5, 1)

(3) Ich bin Myriam. Ich bin 9 iare alte. Manie chfesteur aice Lucille ... (Myriam D 4/5, 1)

Wo es vereinzelt zu abweichenden Sätzen kommt, lassen sich folgende Feh-lertypen beobachten: 1) Doppelbesetzung der Subjektstelle: (4) Mein Fater er macht ein Spageti (Yves D 4/5, 4) (5) Mein teléphone numer das ist ...(Esther P 5/6, 6) 2) Tilgung der Kopula: (6) Ich liks von Laur/Ich recks von Julie/Ich Gegenube von Muter (Julien D 4/5, 4) (7) magnen Shsvester natacha (Nicolas B 4/5, 1) (8) Das Wasser kalt (Caroline C 4/5, 4) 3) Fehlinterpretationen von Wortarten (d. h. falsche Hypothesen über die Funktion von Wörtern): (9) ich tanze geren onte ich spielle geren pumpé / maine phter ich skier grene /

maine muter ich skier gerne / maine bruter ich spielle gerne fusbale (Aline G 4/5, 2)

(10) Miene Muteur hist esse gern (Françoise G 4/5, 2) 4) Vereinzelt finden sich Konstruktionen wie (11) der Mann kauft 2 kg Äpfel kosten 3 Frs (Yves D 4/5, 3) (12) Ich abé ainé brouder isst Polo (Liliane C 5/6, 1) bei denen nicht eindeutig zu entscheiden ist, ob hier eine Satzreihe intendiert ist, bei der das Pronomen getilgt wurde, oder ob hier schon ein erster Versuch vorliegt, Relativsätze zu konstruieren. 5) Zuweilen wird eine Floskel fehlinterpretiert, wie z. B.: (13) Es war einmal dans les montagnes vivait ein bauer et une payssane (Daniel M

5/6, 7) (14) Es war einmal eine hudine [= Hündin] ist dünne (Aline G 4/5, 7)

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Früh beginnen die Kinder auch, S-V-Sätze zu verknüpfen. Vereinzelt finden sich bereits koordinierte Sätze am Ende der 4. Klasse, häufiger dann in der 5. und 6. Klasse. Die Korrektheitsquote ist in diesen Fällen noch höher als bei den einfachen S-V-Sätzen – vermutlich, weil ohnehin nur diejenigen Kinder sich auf Satzkoordinationen einlassen, die sich in der Konstruktion einfacher S-V-Sätze sicher fühlen. Beispiele: (15) Ich spiel Tennis outh ich spiel fussball (Aline P 4/5, 4) (16) Ich bine amesé [= am See] hout ich bade mich (Fanny J 4/5, 4) (17) Ich heisse Esther ound ich bin sen. mein fater heisst Christian ound meine mu-

ter heisst Catherine (Esther P 5/6, 1) (18) ich abbé tsway hunds eins chwar unt ainée wice main hund chwar ist Belhze-

buth unt mainée hund wice ist Danaé (Philippe B 5/6, 1) wobei sich zeigt, dass auch bei sehr approximativer Lexik derartige Satzver-knüpfungen keine besondere Schwierigkeit zu bereiten scheinen und auch gerne verwendet werden.

Die äusserst selten auftretenden Fehler sind dieselben wie bei einfachen S-V-Strukturen, also Tilgungen des Verbs:

(19) [...] Ein tag der Hund begegnen eine Kue. Guten-tag die Kue ich bin ein Hund

unt ich haben Hund [= Hunger]. Das ist doche kann Prolbem esse das gras. Nein, nein, nein. Unt er weg. (Françoise G 4/5, 8)

und Verdoppelung des Subjekts: (20) Sie trinkt und die Tomaten sie ist nocheinmal eine prezing [= und die Tomate

wird wieder zu einer Prinzessin] (Julien D 4/5, 7)

4.4.2.2 W- und E-Fragen

Dass W- und E-Fragen erst in der 5. Klasse in nennenswertem Umfang er-scheinen, ist nicht unbedingt ein Indiz für eine Erwerbsfolge S-V-Sätze – Fragesätze; die Kinder bekamen lediglich nicht früher Gelegenheit, Frage-sätze in einem Aufsatz zu benützen.

Wie die ersten S-V-Sätze sind auch die ersten W-Fragesätze gegen Ende des 4. Schuljahres weitgehend Reproduktionen der im Unterricht gehörten Modelle. Stereotyp – nur in der Orthographie variabel – sind es Fragen wie:

(21) Wie gets es dir? (Caroline C 4/5, 4) (22) Was mas [= machst] du? (Eliane F 4/5, 4) (23) Wieviel kostet das? (Nicolas B 4/5, 3)

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Elaboriertere Fragen mit grösserer Varianz der Fragewörter können erst in der 6. Klasse formuliert werden, vgl. etwa (24) Wie heisst du? wo wohnst du? Was ist ein Téléphone numer? (Esther P 5/6, 6) (25) Wo wont du? Wo ist ta haus? Warum isst der Brot? (Audrey P 5/6, 6) (26) Warum bist du chanteur? (Annick A 4/5, 6) Allerdings zeigen die Zahlen der Tab. 2, dass der W-Fragen-Erwerb nicht ganz so problemlos verläuft wie der des S-V-Modells. Der häufigste Fehler-typ ist die Übernahme des S-V-Modells in die Fragekonstruktion: (27) was du hast gern / wie du heisst? (Annick A 4/5, 6) (28) Warum du machst choisi der patinage? Was du hast gern? Wie hast du?

(Françoise G 4/5, 6) (29) Quand du bist née? (Nicolas B 4/5, 6) Daneben werden verschiedene Satzglieder getilgt, z. B. das Verb: (30) Was du métier? (Aline G 4/5 6) oder das Subjekt: (31) was schpilen gern? (Fanny J 4/5, 6) (32) Wann Fussball spielen? Was lieber spielest? (David P 5/6, 6) oder – aber äusserst selten – das Fragewort: (33) ounh tou spiel? (Aline G 4/5, 4) (34) du machst gern? (Nicolas B 4/5, 6) In der 5. Klasse beginnen die Primarschulkinder auch Entscheidungsfragen zu benützen. Allerdings liegt hier die Korrektheitsquote deutlich unter derje-nigen der anderen Satzmodelle. Bei den ersten Entscheidungsfragen wird durchweg wiederum das S-V-Modell übernommen, so dass Intonationsfragen entstehen: (35) Du badest tich? (Nicolas B 4/5, 4) (36) Du machst die famillie? (Annick A 4/5, 6) (37) du bist Francosïche? du abé houd? du machst sport? (Caroline C 4/5, 6) Es dauert bis in die 6. Klasse hinein, bis E-Fragen weitgehend normkonform realisiert werden können – allerdings auch dann noch mit einem leichten Rückstand hinter den W-Fragen.

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4.4.2.3 Die Subjekt-Verb-Inversion

Die Rubrik „Inversion“ in Tab. 2 zeigt eine merkwürdige Anomalie: Der Korrektheitsgrad scheint hier anfangs sehr hoch zu liegen, um dann gegen Ende der Primarschule drastisch abzufallen. Zählt man jedoch die Inversi-onsvorkommen für die beiden Parallelklassen 4a/4b und 5a/5b getrennt, so kommt man der Lösung dieses Rätsels näher – und gewinnt zugleich einen aufschlussreichen Einblick in das Verhältnis von schulischem Grammatik-training und realem Grammatikerwerb. Die Zählung – in der auch die W- und E-Fragen berücksichtigt werden – ergibt folgendes Bild: Klasse W-Fragen E-Fragen Inversion 4a (9 TP) 7/3 = 0.7 1/1 = 0.5 0/1 = 0.0 5a (9 TP) 11/10 = 0.52 8/15 = 0.35 0/4 = 0.0

Klasse W-Fragen E-Fragen Inversion 4b (9 TP) - 0/1 = 0.5 54/5 = 0.92 5b (9 TP) 47/0 = 1.0 32/0 = 1.0 30/7 = 0.81

Tab. 3: W- und E-Fragen und Inversion in der Primarschule: Klassenver-gleich (korrekte vs. abweichende Lösungen + Korrektheitsquote)

Dergleichen markante Unterschiede legen die Vermutung nahe, dass – unge-achtet der Intention des Lehrwerks – in der b-Klasse wohl doch ein Training im Unterricht vermutet werden muss (jede der beiden Vierer-Klassen behielt dieselbe Lehrerin auch in der fünften Klasse), was sich sowohl an der Häu-figkeit der Verwendung – von Inversionssätzen in der 4. Klasse, von W- und E-Fragen in der 5. – als auch an der Korrektheitsquote ablesen lässt. Als weiteres Indiz für ein steuerndes Eingreifen der Lehrerin dürfen wohl auch die häufigen Selbstkorrekturen der Schüler dieser Klasse interpretiert werden, insbesondere bei inversionsfordernden Kontexten. Tab. 4 zeigt das Verhältnis von spontan normkonform realisierten, korrigierten und abweichenden Inversionskonstruktionen über die beiden Schuljahre hinweg: Klasse 4b/5b (9 TP)

spontan richtig richtig nach Korrektur

falsch

4b (insg. 60 Inv.Kont.) 48 = 80% 7 = 11,6% 5 = 8,3% 5b (insg. 34 Inv.Kont.) 20 = 59% 7 = 20,5% 7 = 20,5%

Tab. 4: Inversion in Klasse 4b/5b: Selbstkorrekturen In der 5. Klasse – in der das Schwergewicht auf der Produktion von W- und E-Fragen lag – geht der prozentuale Anteil spontan richtiger Inversionssätze deutlich zurück, dagegen steigt der Anteil an Selbstkorrekturen und Norm-

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verstössen. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass ein solches gezieltes Trai-ning grammatischer Strukturen nur kurzfristige Erfolge bringt, wenn es „zur Unzeit“ erfolgt.

Aus dieser Vermutung wurde Gewissheit, als es uns gelang, sieben der neun Schülerinnen und Schüler dieser Klasse zwei Jahre nach Abschluss des Beobachtungszeitraums, nunmehr also in der 7. Klasse des Cycle d’orientation, wiederzufinden und sie noch einmal einen Text schreiben zu lassen, mit dem Thema „Freizeit und Hobbys“ (und der expliziten Anweisung der Lehrerin: quand vous faites quoi, um Inversionskontexte zu elizidieren, des Typs Am Mittwoch gehe ich ...). Tab. 5 zeigt das Ergebnis: 4. Klasse 5. Klasse 7. Klasse Christine M 0.85 / 13 0.86 / 7 0.43 / 7 Loic M 0.89 / 9 (1.0) (0.0) Myriam D 1.0 / 2 (0.0) 0.0 / 3 Marion J 1.0 / 7 0.5 / 2 0.17 / 6 Sarah D 1.0 / 2 1.0 / 5 0.5 / 10 Sophie V 1.0 / 6 1.0 / 4 0.0 / 4 Yves D 0.9 / 10 0.88 / 8 0.0 / 6

Tab. 5: Inversion in Klasse 4b/5b: Bilanz nach 2 Jahren Erläuterung zur Tabelle: Die Vorkommen der Inversionskontexte wurden für alle vier Arbeiten der 4. und der 5. Klasse zusammengerechnet und kursiv wiedergegeben; aus der 7. Klasse lag nur die eine „Testarbeit“ vor. An erster Stelle ist die Korrektheitsquote aufgeführt; steht diese in Klammern, so be-deutet dies, dass nur ein Inversionskontext vorlag.

Die Tabelle zeigt deutlich genug, dass das Inversionstraining in der Pri-marschule an der natürlichen Erwerbsfolge auf lange Sicht nichts zu ändern vermochte. Bei vier der Siebtklässler ist der Inversionsverlust radikal; bei den beiden erfolgreichsten Schülerinnen ist immer noch die Hälfte der Inversi-onskontexte abweichend realisiert, und selbst wo sie normgerechte Subjekt-Verb-Inversionen produzieren, lassen sie deutlich erkennen, dass sie die An-wendungsbedingungen dieser Struktur nicht durchschaut haben:

(38) Am Montag ich habe Physik, ich hasse, das ist langweilig. [...] Am Dienstag

habe ich Textilien es ist klasse [...] Am Donnerstag ich habe Biologie ich mag nicht! [...] Aber Deutsch mag ich. (Christine M, 7)

(39) Am Mittwoch habe ich Französisch 2 hour [...] Am Donnerstag habe Mathe, Geschichte und Polyteknik. [...] Am Freitag Math 4 hour. Am Montag ist langweilig. Am Mittwoch finde ich toll. (Sarah D, 7)

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Wenn aber Primarschülern nicht ausdrücklich Inversionskonstruktionen ab-verlangt werden – wie in Klasse 4b/5b –, ignorieren sie diese weitgehend, sei es, dass in ihren Aufsätzen keine inversionsfordernden Kontexte erscheinen, sei es, dass sie konstant Verbdrittstellungen produzieren: (40) Sontague ich bin an bergue (Annick A 4a/5a, 4 – der einzige Inversionskontext

im ganzen Schuljahr dieser 4. Klasse!) (41) Ein tag der Hund begegnen eine Kue (Françoise G 4a/5a, 8) (42) In Chandolin ich machen frutsalade ... Montag aben ich braten cervolas ...

Dinstag, ich male ein papagei (Sandrine M 5/6, 4) Auch in der 6. Primarschulklasse ist offensichtlich die Zeit für den Inversi-onserwerb noch nicht gekommen, wie der Überblick über den Erwerbsstand von 16 Schülerinnen und Schülern aus fünf verschiedenen 6. Klassen bestätigt (die hohe Korrektheitsquote von 0.67 bei den beiden Schülern der Klasse 6a/7a ist dabei in Relation zu den geringen Vorkommen zu sehen: beide Schüler verwenden je eine korrekte Inversionskonstruktion). Um den Unter-schied zum Erwerbsverlauf bei den Fragesätzen zu verdeutlichen, werden auch hier die Zahlen für die W- und E-Fragen mit aufgeführt. Klasse W-Fragen E-Fragen Inversion 5a/6a (3 TP) 8/0 = 1.0 1/0 = 1.0 1/2 = 0.33 5b/6b (5 TP) 13/2 = 0.87 24/3 = 0.89 1/24 = 0.04 6a/7a (2 TP) 4/1 = 0.80 2/0 = 1.0 2/1 = 0.67 6b/7b (2 TP) 4/0 = 1.0 1/1 = 0.5 - 6c/7c (4 TP) 10/1 = 0.91 1/0 = 1.0 8/22 = 0.27 Insgesamt 16 TP 39/4 = 0.91 29/4 = 0.87 12/49 = 0.20 Tab. 6: Fragesätze und Inversion in der 6. Klasse Es darf also davon ausgegangen werden, dass ein dauerhafter Inversionser-werb auf Primarschulebene nicht erzwungen werden kann. Alle anderen in der Primarschule angebotenen Satzmodelle greifen die Schüler auf, entweder mit umittelbarem Erfolg oder mit allmählich zunehmender Erfolgsquote; mit der Inversion wissen sie hingegen nichts anzufangen.

Wenn dennoch Subjekt-Verb-Inversionen in den Schülerarbeiten auftau-chen – also vorrangig in der Klasse 4b/5b –, so sind sie durchweg nach dem Schema Temporalangabe – Verb – Personalpronomen konstruiert:

(43) Am Montag esse ich einen Banane. Am Donnerstag trinke ich einen Café. Am

Samstag mache ich einen Telefon. Am Freitag scheide ich einen Papier. [...] Am Montag mache ich einen Torte Apfel und Zuker. (Yves D 4b/5b, 2)

(44) Eines Tages, seht Calin eine Schlemeling [?= Schmetterling?]. [...] Eines Tages, Nimt eine Kind Caline. [...] Eines Tages, kommt zu mir! (Sophie V 4b/5b, 7)

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Innerhalb dieses Musters können die Kinder auch Selbstkorrekturen vorneh-men: (45) Am Montag trinkt er [K: er trinkt] eine Limonade. Am Sonnstag esse ich [K:

ich esse] die confiture mit Zucker. Im Jeanur esst du eine Fruschat mit kainen Zucker. [...] Am Donnerstag mache ich eine Zitronenzaft (Christine M 4b/5b, 2)

(46) Im Juli, haben wir [K: wir haben] keine Schule (Sophie V 4b/5b, 4) Normkonform sind auch sämtliche Einschübe nach direkter Rede realisiert wie in (47) [...], sprecht mama Papagei / sprecht papa Papagei / sprecht Bruder Papagei

usw. (CM 4b/5b, 7) Kein Schüler, auch nicht der schwächste, produziert Fehler in einem solchen Kontext – übrigens dem einzigen, in dem auch im Französischen die Inver-sion obligatorisch ist (siehe unten 4.3.2).

4.4.2.4 Die Verbalklammer

„Vorformen“ von Verbalklammern mit minimaler Distanz zwischen konju-gierten und nicht konjugierten Verbalteilen werden den Kindern schon zu Beginn der 4. Klasse angeboten und vereinzelt auch von ihnen aufgenommen, sicher in der Weise einer unanalysierten Strukturformel: (48) ich spielle gerne fusbale (Aline G 4/5, 2) (49) Ich faré gern ski (Françoise G 4/5, 2) (50) Hund kann nicht bellen (Françoise G 4/5, 7) In gleicher Weise ist sicher auch die erste sporadische Verwendung von trennbaren Präfixen zu interpretieren: (51) Ich stehe die Bäckerie und ich kaufen ein Brote und ein Nussgipfel mit eine

Banane ein [...] / ich kaufen ein ball ein (BT 5/6, 3) (52) Hör mir gut zu (FG 4/5, 7) Sobald die Kinder jedoch produktiv die Verbalklammer anwenden sollen, geht die Zahl der normgerechten Lösungen zurück; es dominieren eindeutig Kontaktstellungen: (53) Geoffrey liebst spilen im wasser, aund braten Servolas (Paule B 5/6, 8) (54) Dann die Kinder geht machen der Radrennen (Rebecca L 5/6, 8) (55) In die Küche, Lulu macht kochen die Suppe (Emilie S 5/6, 5)

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Andere Kinder schwanken zwischen Distanz- und Kontaktstellung: (56) aber die vatter meuter [= möchte] das nicht essen, der wollen essen ein Ei

(Thierry E 5/6, 5) (57) Ich kann spielen Federball und ich kann nicht machen Judo. Ich kann gut

schwimmen und ich kann nicht gut piano spielen [...] Jetzt ich spiele nicht gern fussball (Catherine E 6/7, 2)

Vereinzelt werden auch Kontakt- und Distanzstellung in demselben Satz kombiniert: (58) Eines Tages die Familie Holzer möchten verbrannt der wald für machen das

Haus. Aber Paul: Nein, ich gehen finden ein aderen Blatz Finden [für] meine Haus (Liliana C 5/6, 7)

Und daneben gibt es durchaus vereinzelt auch korrekte, zum Teil erstaunlich weit gespannte Verbalklammern, die mit Sicherheit nicht als formelhafte Wendungen interpretiert werden können: (59) Ich will wan ich binne grosse Circuse-shule machen (Thierry E 5/6, 8) In Tab. 7 wird zusammengestellt, wieviele Schüler pro Klassenstufe am Ende der 4., 5. und 6. Klasse die verschiedenen Satzmodelle weitgehend zielspra-chengerecht verwenden können (die Zahlen für die Klasse 4b/5b werden in Tab. 8 gesondert aufgeführt, da sie die Gesamtwerte verfälschen würden). In die Tabellen wurden diejenigen Schülerinnen und Schüler aufgenommen, die das entsprechende Satzmodell in mindestens 3/4 der Fälle korrekt realisie-ren49 (Mindestzahl der Kontexte: 4) – wobei noch keineswegs erwiesen ist, dass die Kinder diese Satzmodelle auch tatsächlich „erworben“ haben. Wenn wir die Bezeichnung „erworben“ an dieser Stelle vermeiden, dann einmal deshalb, weil die absolute Zahl der normgerechten Verwendungen noch nichts darüber aussagt, ob das entsprechende Satzmodell tatsächlich produk-tiv verwendet werden kann – es kann sich ebensogut um die blosse Repro-duktion eines unanalysierten Patterns handeln. Zum zweiten sind Aussagen über effektives „Erworbenhaben“ erst über einen längeren Beobachtungszeit-raum hinweg möglich, wenn sich erwiesen hat, dass das neu angeeignete Wissen tatsächlich gegen Verunsicherungen und Vergessen resistent ist.

_______________

49 Auch Ellis geht von einem „level of .75 or above“ als Kriterium für „erworben“ aus (1989: 317).

83

In diesen Tabellen bleiben also alle diejenigen Schülerinnen und Schüler unberücksichtigt, die weniger als vier Versuche mit einer bestimmten Satz-struktur unternommen haben; unberücksichtigt bleiben auch alle diejenigen, bei denen die abweichenden Lösungen mehr als 25% ausmachen.

Diese Restriktion wirkt sich vor allem bei den E-Fragen aus: sie erscheinen vereinzelt bei fast allen Schülern der 6. Klasse, teils als Intonationsfragen, teils mit Inversion – aber nur bei vier Schülern häufig genug (und normgerecht), um in die Tabelle aufgenommen zu werden. Und der Gebrauch der Verbalklammer – obwohl schon in der 5. Klasse zu beobachten, vgl. Tab. 1 und Tab. 2 – bleibt auf wenige Einzelfälle beschränkt, die ausserdem einen stark formelhaften Charakter aufweisen, so dass von keinem Primarschüler mit Sicherheit gesagt werden könnte, er beherrsche sie. Deshalb wird sie in die Tab. 7 und Tab. 8 nicht aufgenommen. Klasse S-V S-V + S-V W-Fragen E-Fragen Inversion 4 (9 TP) 8 = 89% 1 = 11% 1 = 11% - - 5 (17 TP) 16 = 94% 8 = 47% 3 = 18% 1 = 6% - 6 (16 TP) 15 = 94% 9 = 56% 11 = 69% 4 = 25% -

Tab. 7: Stand am Ende der 4., 5. und 6. Klasse (nach Schülern, ohne Klasse 4b/5b)

Klasse S-V S-V + S-V W-Fragen E-Fragen Inversion 4b (9 TP) 9 = 100% - - - 6 = 67% 5b (9 TP) 8 = 89% - 9 = 100% 5 = 56% 4 = 45%

Tab. 8: Stand am Ende der Klasse 4b/5b

4.4.2.5 Zwischenbilanz

Zusammenfassend lässt sich für den Erwerb der Satzmodelle auf der Primar-schulstufe Folgendes festhalten: 1) Die Satzmodelle, die die Primarschulkinder im Verlauf des dreijährigen

Unterrichts angeboten bekommen – und zwar, wie oben ausgeführt, grundsätzlich ohne explizite Grammatikunterweisung –, werden nicht in gleicher Weise integriert:

– Mühelos und weitgehend fehlerfrei werden S-V-Sätze und koordinierte S-V-Sätze übernommen. Bei W-Fragen dauert der Prozess etwas länger, darf jedoch am Ende der Primarschule als abgeschlossen gelten;

– der Erwerb der E-Fragen setzt später ein und bleibt über längere Zeit fehlerträchtig; er ist am Ende der Primarschule bei den meisten Schüler-innen und Schülern noch im Gange;

– die Inversion in Deklarativsätzen wird ignoriert.

84

2) Diese Reihenfolge legt die Vermutung nahe, dass die Kinder zunächst von der Übertragbarkeit der Basisstruktur ihrer L1 auf L2 ausgehen, wozu ihnen ja auch der Input hinreichend Anhaltspunkte liefert. Diese SVO-Hypothese liegt zweifellos den auf Anhieb zielsprachengerechten S-V-Sätzen zugrunde, sie ist auch die häufigste Fehlerquelle in allen anderen Satzmodellen, bei denen die Kinder keine Subjekt-Verb-Inversion vornehmen. Auch bei zusammengesetzten Verbalgruppen (Modalverb + Infinitiv) gehen fehlerhafte Realisierungen auf das Modell der L1 – Kon-taktstellung anstelle Distanzstellung – zurück.

3) Subjekt-Verb-Inversionen werden von den Kindern je nach Kontext un-terschiedlich behandelt. In Fragen hat die Inversion für sie offensichtlich einen anderen Status als in Deklarativa. Ob dies mit der Existenz entspre-chender Konstruktionsmöglichkeiten in ihrer L1 zu erklären ist oder mit der eindeutigen kommunikativen Funktion von Fragesätzen, kann hier nicht entschieden werden. Dass Letzteres durchaus eine plausible Erklä-rung sein könnte, wird von den Resultaten von Hammarberg (1985: 157) bestätigt, der im Schwedischen als L2 eine entsprechende Verzögerung beim Erwerb der Inversion in Deklarativa im Vergleich zur Inversion in Fragesätzen festgestellt hat.50

4) Da sich der Beobachtungszeitraum der DiGS-Studie auf zwei Jahre be-schränkt, können keine sicheren Aussagen über die längerfristige Wirkung von gezieltem Grammatik-Training (in unserem Fall: der Inversion in Deklarativa in der 4. Klasse, der W- und E-Fragen in der 5. Klasse) gemacht werden. Immerhin zeigen Tab. 3 und Tab. 4, dass der Erfolg des Inversionstrainings schon im zweiten Jahr nachlässt, möglicherweise be-dingt durch die Konzentration auf Frage-Konstruktionen; und die Ergeb-nisse der Stichprobe, die in Tab. 5 wiedergegeben sind, lassen starke Zweifel an der Effizienz eines solchen Inversionstrainings aufkommen. Und was die W- und E-Fragen betrifft, so steigt offensichtlich in den Klassen ohne spezielles Fragen-Training der Korrektheitsgrad ebenso wie in trainierten Klassen (siehe Tab. 3, Tab. 6 und Tab. 7), allerdings in mehr oder weniger langsam aufsteigender Linie.

5) Einige der auf der Primarschulstufe beobachteten Fehlertypen finden sich auch im muttersprachlichen Deutscherwerb wieder, so etwa die Tilgungen von Satzgliedern in W-Fragen, oder auch – beim Erwerb der E-Fragen – die Beibehaltung der S-V-Reihenfolge. Hingegen bestehen beim Erwerb von einfachen Deklarativsätzen eklatante Unterschiede: Keines der Kinder unseres Korpus zögert zwischen Verbzweit- und Verb-Endstellung, wie

_______________

50 „In studies of L2 Swedish, there are some indications that learners acquire inver-sion in questions earlier than in statements.“ (Hammarberg 1985: 157) Dort auch weitere Hinweise, etwa auf die Untersuchung von Hyltenstam (1978), dessen Er-gebnisse in dieselbe Richtung gehen.

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dies die deutschsprachigen Kinder tun; und die Inversion wird von den Schülern des DiGS-Korpus in dieser Phase nicht zur Kenntnis genommen, während sie im Muttersprachenerwerb als Variante zum S-V-Modell schon sehr früh bearbeitet wird. Auch das Fehlerverhalten ist somit ein eindeutiges Indiz dafür, dass die frankophonen Kinder von ihrer L1-Basisstruktur ausgehen und diese als erste Hypothese an die L2 herantragen.

4.4.3 Der Ausbau: Satzmodellerwerb im Cycle d’orientation

4.4.3.1 Die Satzmodelle im Lehrplan

Vom 7. Schuljahr an wird den Genfer Schulkindern gezielter Grammatikun-terricht erteilt. Zwar ist in allen vier Bänden des Lehrwerks „Vorwärts“ der Grammatikstoff eher behutsam dosiert; es stammt noch aus Zeiten des audio-visuellen Unterrichts und bringt erst im letzten Band Tabellen und Regeln –, doch hat die Genfer Lehrerschaft begleitende Grammatikbroschüren erstellt, an denen sich die Lehrer zu orientieren hatten, damit ihre Schüler für die schulübergreifenden Quartalsprüfungen den entsprechenden Lernstoff zur Verfügung hatten. Nach den „Vorwärts“-Bänden51 und den dazugehörigen Grammatikbroschüren ist in den drei Cycle-Schuljahren für die Behandlung der Satzmodelle folgende Reihenfolge vorgesehen:52

Zunächst bietet der 1. „Vorwärts“-Band den Absolventen der Primarschule nichts Neues, da er für Deutsch-Anfänger konzipiert ist. Somit dominieren einfache Aussagesätze (S-V-Typ), W- und E-Fragen, aber der Input enthält auch vereinzelt, wenn auch noch nicht explizit behandelt, Sätze mit Inversion.

Dann – etwa drei Monate nach Schuljahresbeginn – beginnt mit der Ver-balklammer der eigentliche Grammatikunterricht, wie in der Primarschule zunächst in der Form Modalverb + Infintiv, ergänzt um Verben mit trennba-ren Präfixen. In den Lesetexten und Übungen sind solche Modalverb-Kon-struktionen während des ganzen 7. Schuljahres sehr häufig; so ist die Dis-tanzstellung von finiten und infiniten verbalen Elementen nichts Befremdli-ches mehr, wenn etwa Mitte der 8. Klasse das Perfekt eingeführt wird. Ge-zieltes Üben des Perfekts begleitet die Schüler bis tief in die 9. Klasse hinein, _______________

51 Wie bereits dargelegt, wurde nach Abschluss der DiGS-Datenerhebung (aber un-

abhängig davon) ein neues Lehrwerk an den Genfer Schulen eingeführt. 52 Das in DiGS mitarbeitende Lehrerteam des Cycle d’orientation hat die Lehrbücher

detailliert auf den impliziten und expliziten grammatischen Input durchgesehen. Auf diese Analysen stützen sich die folgenden Ausführungen. Wir danken an die-ser Stelle A. Fayolle Dietl, S. Buchli, C. Fatsini Márquez, Ch. Largiadèr, D. Rottstock Sordet, I. Unterlerchner.

86

so dass die Verbalklammer während des gesamten Grammatikunterrichts des Cycle präsent bleibt.

Ebenfalls in der 7. Klasse wird die Inversion eingeführt, zunächst wieder – analog der „Sensibilisierungs“-Pädagogik der Primarschule – implizit mit Satzmustern wie hier/da ist ...; jetzt sehen wir ..., am Sonntag gehe ich .... Dann, nach etwa vier Monaten, wird sie explizit behandelt, überwiegend mit Temporal- und Lokalangaben in der ersten Satzposition, vereinzelt auch mit Topikalisierungen von Objekten (Brot verkaufe ich nicht – einen Wasserka-nister habe ich). In der 8. Klasse kommen sowohl in den Lesetexten als auch in den Wiederholungsübungen weiterhin massiv Inversionskonstruktionen vor. In der 9. Klasse wird der Anwendungsbereich der Inversion auf Satzge-füge mit vorangestelltem Nebensatz erweitert, wiederum zuerst implizit in Texten, dann explizit in Übungen. Diese Konstruktion bleibt Bestandteil des grammatischen Übungsprogramms bis zum Ende des Schuljahres.

Der Nebensatz steht auf dem Programm der achten Klasse. Zwar erscheint er in der Form indirekter Fragen bereits im Verlauf der 7. Klasse (hier zeigt sich das Bemühen der Schulbuchautoren, zwischen den Schulkindern Ge-spräche zu initiieren, etwa in der Form: Frag deinen Nachbarn, was er ... , ob er ..., wer ....). Aber erst nach über einem Jahr „Anlaufzeit“, etwa im dritten Monat der 8. Klasse, wird er explizit eingeführt, erläutert und geübt, zuerst mit der Subjunktion weil, dann mit dass; im 9. Schuljahr erweitert sich der Bestand um finale, temporale, konzessive und konditionale Subjunktionen. In der zweiten Schuljahreshälfte kommen Relativsätze (mit kasusneutralem oder nominativischem Anschluss) hinzu (der, die, das, was, wer ...); ausserdem werden nun auch Nebensatzkonstruktionen mit zweiteiligen Prädikaten (überwiegend im Perfekt) geübt.

Wir beschränken uns im weiteren Verlauf der Analyse auf die drei letzt-genannten Modelle: Verbalklammer, Inversion und Nebensatz. Die im Ver-lauf der Primarschulzeit angeeigneten S-V-Strukturen und die W-Fragen können in Anbetracht ihrer hohen Korrektheitsraten als erworben betrachtet werden, und die E-Fragen – obgleich noch nicht generell fehlerfrei realisiert – werden in der 7. Klasse von immerhin knapp 60% der Schülerinnen und Schüler beherrscht; bei 22% weiteren ist der Erwerb im Gange. Bei den ver-bleibenden 18% ist kein Erwerbsfortschritt zu beobachten.

Ein Blick auf Tab. 9, die den Erwerbsstand von insgesamt 32 Siebtkläss-lern aus 6 verschiedenen Klassen verzeichnet, mag die Entscheidung recht-fertigen, von den Cycle-Stufen an diese Modelle nicht mehr in die Analyse einzubeziehen:

87

7. Klasse (32 TP) S-V S-V + S-V W-Fragen E-Fragen Kontexte (richtig/ falsch realisiert)

1078/61

75/14

209/5

143/24

Korrektheitsquote 0.95 0.85 0.98 0.86 Tab. 9: Erwerbsstand in den 7. Klassen (S-V- und Fragesätze)

4.4.3.2 Verbalklammer, Inversion, Nebensatz: Erwerbsfolge

Eingangs zunächst ein globaler Überblick über Vorkommenshäufigkeiten und Korrektheitsverhältnisse für Verbalklammer, Inversion und Nebensatz im Verlauf der drei Cycle-Klassen. Klasse Verbalklammer Nebensatz Inversion KT KQ KT KQ KT KQ 7 (32 TP) 60/31 0.66 0/3 0.0 68/118 0.37 8 (38 TP) 296/54 0.85 86/32 0.73 65/94 0.41 9 (24 TP) 350/20 0.95 132/25 0.84 169/62 0.73

KT: Kontext; KQ: Korrektheitsquote Tab. 10: Verbalklammer, Inversion und Nebensatz im Cycle Bei der Verbalklammer zeigt sich eine kontinuierliche Zunahme, sowohl rein quantitativ in der Vorkommenshäufigkeit als auch qualitativ in der allmählich ansteigenden Korrektheitsquote. Der Nebensatz, obwohl erst in der 2. Hälfte der 8. Klasse eingeführt, wird erstaunlich schnell rezipiert, während die Inversion – obwohl schon seit frühen Primarschultagen bekannt – weiterhin am fehleranfälligsten bleibt.

Die Zahlen zeigen ausserdem, dass die schulische Grammatikinstruktion – zumindest in Genf – den Umweg über langwierige „Suchstrategien“ offen-sichtlich nicht zu ersparen vermag. Von den 32 Testschülern der 7. Klassen ist eine einzige Schülerin in der Lage, von Anfang an zielsprachenkonforme Verbalklammern zu bilden; und nur drei der insgesamt 38 Achtklässler pro-duzieren ausnahmslos fehlerfreie Nebensätze mit Verb-Endstellung. Alle an-deren rekurrieren auf interimsprachliche Suchstrategien, mit deren Hilfe sie sich schrittweise die neuen Satzmodelle erschliessen müssen.

4.4.3.3 Erwerbsstrategien

Transfer aus L1: Für viele Schüler scheint der Zugang zu einer neuen L2-Struktur zunächst über die L1 vermittelt werden zu müssen, und gerade der Bereich der Wortstellung scheint sich besonders dafür anzubieten.

88

Das bedeutet, angewendet auf die Verbalklammer: Kontaktstellung anstelle von Distanzstellung, wie bereits in der Primarschule:

(60) Ich will gehen bei meine Freundin / Wir können spielen Karten. Aber meine

Freundin will spielen Federball ... (Catherine E 6/7, 8) Besonders anfällig für Kontaktstellungen sind Verbalkomplexe, die unter Verwendung von gehen das französische futur proche (aller faire qc) imitie-ren: (61) Um 16 Uhr ich gehe trinken ein Tée und essen eine Kuche (Céline P 7/8, 3) (62) Wir gehen kaufen in der Stadt (Jean K 6/7, 8) Zuweilen koexistieren deutsche Distanz- und französische Kontaktstellung auf engstem Raum, wobei nicht erfindlich ist, welche Faktoren für die jewei-lige Entscheidung ausschlaggebend gewesen sind: (63) Mein Freund muss wohnen in New York. [...] Wir muss schlafen zu er. Wir ge-

hen kaufen in der Stadt. Mein Schwester muss einen Buch lesen. Wir müssen warten ein halb Uhr [= eine halbe Stunde] für Taxi. (Jean K 6/7, 8)

Bei manchen Schülern ist an den Selbstkorrekturen zu erkennen, dass sie die Regel zwar kennen, dass aber die Umsetzung in den schriftlichen Sprachge-brauch noch nicht spontan erfolgen kann: (64) Ulrich und Elsa können in den Wald spazieren gehen [K: können spazieren ge-

hen]. Sie wöllen eine Limonade ins Café trinken [K: wöllen trinken]. Ulrich und Elsa wollen schreiben ein Karte, für seine Eltern [keine K]. (Yves K 6/7, 8)

Beim Nebensatz führt die Transferstrategie zu Kontaktstellungen von Subjekt und Verb: (65) Ich kann nicht weil Ursula ist in die Dousche (Alexandra M 7/8, 7) (66) Und ich muss meine Jacke nehmen weil dass Wetter ist nicht schön (Sophie R

7/8, 8) (67) Läste woche muss ich im Hause bleiben, weil ich habe tanzen (Nathalie F 7/8,

8) (68) [...] weil er ist Top Model / weil sie hat ein schön Stimme (Laura A 8/9, 2) wobei auch hier wieder S-V-Stellungen und V-Endstellungen alternieren können, letztere oft als Resultat von Selbstkorrekturen:

89

(69) Ich gehe in die Kino weil ich Krimi sehen will [K: weil ich will ...] (Michel R 7/8, 7)

(70) Das Auto ist stark, weil es eine Mercedes ist [K: weil es ist ...] (Alexis P 8/9, 4) (71) [...] weil Petra frech mit die Hexe war [K: weil Petra war frech ...] (Audrey A

8/9, 7) Exkurs zum Nebensatz: Bezeichnend für die Rolle der L1 als „Lückenbüsser“ für noch nicht beherrschte, aber im konkreten Kommunikationskontext benötige Redemittel der L253 sind die frühen Versuche einiger Primarschulkinder, Nebensätze zu bilden. Sie übernehmen dabei nicht nur die französische S-V-Struktur, sondern auch französische Subjunktionen (sie verwenden also nie, wie das bei deutschen Kindern im L1-Erwerb vorkommt, „Vorläuferstrukturen“, d. h. Nebensätze ohne Einleiter): (72) Ich isst der Brot parce que ich aime der Brot (Audrey P 5/6, 6) (73) Paule liebt ein autre katze qui heisst Gaspard (Aurélie V 5/6, 8) (74) es gibt der vater qui lesst ein bourt (Rachel F 5/6, 5) Andere behelfen sich, indem sie die ihnen bekannten deutschen Fragewörter „umfunktionieren“ zu Relativanschlüssen bzw. zu Subjunktionen (womit sie die Doppelfunktion des französischen qui und quand auf das deutsche wer und wann projizieren): (75) Es war einmal ein Hund wer haben Hunger (Françoise G 4/5, 8) (76) Ich gehe mit den Bahnhof von der Zug wer komme in um 19.00 Uhr (Céline P

7/8, 3) (77) Wann macht gut Wetter, gehen wir draussen. Wann macht schlecht Wetter, ge-

hen wir drinnen (Martina D 6/7, 7) Nur in einem einzigen dieser „antizipierten“ Nebensätze kommt tatsächlich Verb-Endstellung vor, in dem bereits oben (vgl. Kapitel 4.4.1, Fussnote 43) zitierten: (78) dass ich dich besser fressen kann (Esther P 5/6, 7); ein Indiz, dass offensichtlich in der Primarschule doch schon zielsprachen-konforme Nebensätze zu hören waren ...

_______________

53 Dies ist bekanntlich die einzige Rolle, die Krashen der L1 beim L2-Erwerb zubil-ligt: „We ‘fall back’ on first-language rules when a second-language rule is needed in production but is not available.“ (Krashen 1985: 9f.)

90

Pattern-Lernen: In den Texten anderer Schüler erscheinen – neben abwei-chenden S-V-Konstruktionen – sporadisch auch normkonforme Verb-End-stellungen und Inversionen, und zwar am ehesten dann, wenn sie genaue Re-pliken der ersten Satzexemplare sind, die als Demonstration des neuen Satz-modells dienten. Es handelt sich hierbei mit grosser Wahrscheinlichkeit um memorisierte Patterns, die nicht aus ihrem Kontext gelöst und somit nicht als Struktur sui generis erkannt werden können. Wird von diesem Pattern abge-wichen, so setzt sich wieder die S-V-Struktur durch.

Dieses Pattern-Gedächtnis scheint allerdings keineswegs verlässlich zu funktionieren; nach Kriterien, die einer linguistischen Analyse unzugänglich sind, wird einmal die normkonforme Pattern-Struktur gewählt, einmal die abweichende L1-Stellungsregel.

Bei der Inversion haben jene Sätze Pattern-Status, die schon seit der Pri-marschule im schulischen Input vorkommen: heute abend gehe ich – dann gehen wir – dann kommst du – dort kann sie – jetzt ist es, also mit Temporal- oder Lokalangabe und einem Pronomen in der Subjektrolle. In genau densel-ben strukturellen Kontexten erscheint aber auch und dann wir gehen – dann ich will – am Montag ich fahre:

(79) Im Kino wir sehen „La course au jouet“ das ist ein Film auf Französisch. Dann

gehen wir bei Céline. Dort wir tanzen, wir spielen Blindekuch und wir tanzen etwas. Blindekuch ist eine gute Spiele also ich bin aber müde. Dann wir Fern-sehen. Dann gehen wir in Sortplatz Fussball spielen. Dann die Gaste von Céline seht leur Mütter und dann sie geht off (Catherine E 6/7, 7)

(80) Im Juli und im August macht es 36°. Der Tag, du kannst Buch ... kaufen. [...] Dann du kannst im Schwimmbad gehen (Sévérine B 8/9, 3)

Das sicherste Indiz für erste produktive Verwendungen von Inversionsstruk-turen – die aber keineswegs das Ende des Pattern-Stadiums bedeuten – lie-fern lexikalisch fehlerhafte Adverbialbestimmungen mit folgender Inversion (was selbstverständlich fehlerhafte Konstruktionen keinesfalls verhindert), wie etwa: (81) Mit dem Glück [= glücklicherweise] hältet ein Autofahrer (aber im selben Text,

weiter unten:) Vielleicht mit dem Glück einen Auto haltet. Und noch [= und wieder ] der Autostoppist wartet (Alexis P 8/9, 3)

(82) In den anderen Tagen kannst du einkaufen (aber in demselben Text auch:) Dann ich gehe nach Hause (Sophie N 8/9, 3)

(83) In zehn Minuten später kommt ein fleissiger Polizist (dies., 4; und in demselben Text:) Nach dem Unfall, der armer Mann Werner muss ... / Am nächsten Tag, Werner ist noch müde.

91

Beim Nebensatz haben weil-Sätze, vereinzelt auch dass-Sätze am ehesten den Status eines Patterns; sie wurden als erste Nebensatzmodelle explizit einge-führt. In diesen Sätzen die Modellhaftigkeit der Verb-Endstellung zu erken-nen und entsprechend auf alle mit Subjunktionen eingeleiteten Sätze zu übertragen, ist für viele Schüler offensichtlich eine Überforderung. Insofern sie überhaupt andere als dass- und weil-Sätze produzieren, scheinen sie für jede neue Subjunktion die Verb-Endstellung neu erarbeiten zu müssen – etwa wie Schülerin Mélanie C (8/9), deren weil-Sätze durchgehend normkonform sind, die abweichende dass-Sätze noch korrigieren kann, bei konditionalem oder temporalem wann hingegen bei der S-V-Struktur bleibt: (84) ... weil ihre Mutter gut Klavier spielt / weil seine Freudin dort ist / weil sie ein

klein Hause hat / weil seiner Vatter Fussball spielt (2) (85) ... dass du in den Ferien nach New-York fahren kannst für 496.- Fr. [K:dass in

die Ferien du nach New-York kannst fahren] / weil N.Y. sehr gross ist / weil meine Gross Mutter krank ist [K: ist krank] / weil mein Deutsch schlecht ist (3)

(86) ... weil er viele arbeiten hat / wann er ist durstig (5) (87) ... dass das schön ist / dass du hässlich ist / Wann er geht zur Schule (7) Dieses schrittweise Vorgehen beim Erwerb der Nebensatzstrukur ist offenbar kein Spezifikum des gesteuerten Erwerbs. Müller hat bei ihrem italienisch-sprachigen Probanden Bruno aus dem ZISA-Korpus ebenfalls beobachtet, dass er die Verb-Endstellung im deutschen Nebensatz „lexemspezifisch lernt, d. h. für jeden Nebensatzeinleiter einzeln“.54 Ebenso verfährt das von ihr un-tersuchte bilingual aufwachsende Kind Yvar, und auch bei dem monolin-gualen Kind Benny beobachtet sie dieses item-by-item-Vorgehen. Aus diesen Beobachtungen zieht Müller weitreichende erwerbstheoretische Konsequen-zen, denn entgegen gewissen Positionen innerhalb der Prinzipien-und-Para-menter-Theorie (siehe unten 4.2.2, S. 61) haben bei diesen L1- und L2-Er-werbern die Subjunktionen – in der PP-Terminologie: die Komplementierer – offensichtlich keine auslösende Funktion für die Wortstellung. Sie postuliert demzufolge „mindestens zwei parallel anwendbare Erwerbs- bzw. Lernme-chanismen: Versagt der Erwerbsmechanismus [Parameter], kann er durch den langwierigeren Lernmechanismus [item-by-item] ersetzt werden.“ (1998: 113)

Dass es auch im gesteuerten L2-Erwerb eine Alternative zum item-by-item-Lernen gibt – nenne man es „Erwerb mittels Parametern“ oder Strukturlernen –, beweisen einige unserer Testschüler durch ihren souveränen Umgang mit dem ganzen Subjunktionsinventar, mit dem sie im Verlauf der 9. Klasse konfrontiert werden; einige Beispiele:

(88) Obwohl sie sehr hungrig waren, haben sie nicht gegessen / Sie haben die Vor-

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54 Müller (1998: 98ff.); vgl. auch S. 62.

92

räte zu schicken beschlossen, damit die Leute essen könnten. Während Frau Müller in der Supermarkt gegangen ist ... (Delphine F 9/ESC10, 3)

(89) Am Wochenende tue ich viel, wenn ich keine Aufgaben habe. [...] Aber dieses Wochenende habe ich nicht viel Aufgaben, weil es das Schluss vor dem Semes-ter war. [...] Ihr wisst sicher wie meine Partnerär vor dem Spiel in meine Klasse sind (Nicolas B 9/C10, 2)

(90) Sie wohnt hier, seit sein Mann gestorben ist. Obwohl er ihr viele Deutsch Marks gegeben hätte, hat sie ... / ... dass Sie die älteste Frau der Welt sind (ders., 5)

(91) Ich kannte nicht, warum sie Melanie hiess / als ob wir Vögel wären (ders., 8) Wenn allerdings Nebensätze von einer Subjunktion eingeleitet werden, die mit Fragewörtern homonym sind (wie wer, warum, wo), dann sind auch er-folgreiche Lerner nicht dagegen gefeit, dass die Fragesatz-Inversion ausgelöst wird: (92) ...und er sagt wo will er fahren / ...und er sagt wo sind seine Papiere (Sévérine

B 8/9, 4) Eine weitere „klassische“ Fehlerquelle ist die Kombination von zweigliedri-gen Prädikaten mit Verb-Endstellungen, die hauptsächlich in der 9. Klasse mit der Behandlung des Perfekts in Nebensätzen akut wird. Häufig werden dann die finiten Verbteile durch die infiniten Verbalteile aus ihrer Endstel-lung verdrängt: (93) Sie haben ihr gesagt, dass sie in ihren Zimmer musste gehen (Sophie B 9/C10, 7) Auch guten Schülerinnen und Schülern unterläuft diese Abweichung, auch in den höheren Klassen. Zudem ist derselbe Fehlertyp offenbar auch im Erst-sprachenerwerb bekannt; es ist der einzige, den Mills und Clahsen – die an-sonsten den Nebensatzerwerb in der L1 als problemlos bezeichnen (siehe Kapitel 4.2.2, S. 62) – bei deutschen Kleinkindern beobachten, und zwar – nach Mills – bis zum 6. Lebensjahr (Mills 1985: 158, 166f.; Meisel 1986: 134). Übrigens kommt die Reihenfolge finites Verb – infinite Verbalteile im Nebensatz auch in bestimmten lokalen Varietäten des Deutschen vor. Generalisierungen: Mit dem Ausbau des Satzmodell-Inventars in der 8. und 9. Cycle-Klasse tritt nun auch erstmals ein Fehlertyp auf, der eine Zäsur im Er-werbsverlauf bedeutet: die Generalisierung von Nebensatz und Inversion. Da-mit ist die Emanzipation von der dominierenden Rolle der L1 geschafft; das Experimentierfeld sind jetzt die fremden, L2-spezifischen Satzmodelle, deren Struktur inzwischen bekannt ist, deren Anwendungsbeschränkungen aber noch ausgetestet werden müssen.

93

Bezeichnenderweise ist es in erster Linie die Inversion, die sich für der-gleichen Generalisierungen besonders anzubieten scheint – was vermutlich als Indiz dafür gewertet werden darf, dass den Lernern die Funktion der In-version in Deklarativsätzen effektiv unklar ist. Inversionsstrukturen werden auf fast alle Satzmodelle generalisiert, bevorzugt aber auf koordinierte Hauptsätze (also nach und, aber und oder), d. h. koordinierende Konjunktio-nen werden als einleitende Elemente mit Satzgliedstellenwert behandelt:

(94) Seine Regenmantel ist zu Hause und regnet es. [...] Aber hat er [„K“ aus: aber

er hat] einen Igel überfahren (Jeanne W 8/9, 3) (95) Aber ist Petra nicht nach Hause gekommen (dies., 7) (96) Aber haben sie leider nicht die Vorräte (Delphine F 9/ESC10, 3) Es kommt auch zu Inversionen im einfachen Hauptsatz; Inversionsstellungen werden gewissermassen als freie Variante zu S-V-Stellungen gesehen: (97) Es regnet, ist es um 23 Uhr 30. Der Himmel ist dunkel und schwarz, donnert es

und blitzt es. Auf einer Strasse hat ein Mann ... (Alexis P 8/9, 3) (98) Ist es ein grosse Durcheinander. Gibt es viele packen (Corinnee P 9/ESC10, 3) Und schliesslich kommen Inversionen auch in Nebenätzen vor: (99) When gehe ich zum Roxane hause, nehme ich um elf Uhr frühstücken / Wenn

mache ich mit Céline „babysitting“ kann ich baden die Kinder um acht Uhr (Odette A 9/ESC10, 8)

(100) Obwohl habe ich eine schlechte Note, bin ich mit meine Familie ... / Während sind wir im Hotel, hat es stark geregnet (Rodolfo L 9, 3; derselbe Schüler schreibt in demselben Text:) Während meine Familie und ich in Australia sind, haben wir Lotto gespielt. (Und derselbe Schüler im nächsten Aufsatz:) 3 Uhr später, sie sind sehr schick, jetzt sie gehen ins Kino (4).

Generalisierungen von Verb-Endstellungen sind dagegen eher selten; eines der wenigen Beispiele: (101) Während die Ferien meine Schwester sein Geburstag hatte (Odette A 9/ESC 10, 3) Offensichtlich können die Schüler in ihrer Mehrheit die Verb-Endstellung eindeutig dem Nebensatz zuordnen; sie sind deshalb nicht auf Generalisie-rungsstrategien angewiesen. Sie können diese Zuordnung vornehmen, ohne in ihrer L1 eine syntaktische Entsprechung dafür zu haben – was mit der Eindeutigkeit dieser Zuordnung zu tun haben könnte (wobei diese Eindeutig-keit, wie S. 67 ausgeführt, sicher nur innerhalb des institutionellen Rahmens von gesteuertem Erwerb gilt, von dem die Ambiguität des effektiven Sprach-gebrauchs mit allen seinen Varianten nach Möglichkeit ferngehalten wird).

94

4.4.3.4 Individuelle Unterschiede

Dass sich individuelle Unterschiede im Erwerbserfolg schon sehr früh ab-zeichnen, war schon bei den Primarschulkindern abzulesen. Dennoch kann am Ende der 6. Primarschulklasse von einem relativ homogenen Erwerbs-stand ausgegangen werden, zumindest bei den von uns untersuchten Klassen (siehe Kapitel 4.4.2.5).

Dies ändert sich in signifikanter Weise im Cycle d’orientation. Schüler, deren Erwerbsrhythmus mit der schulischen Grammatikprogression nicht Schritt halten kann, kumulieren in dramatischer Weise Rückstände, die immer weniger aufgeholt werden können. Andere – offensichtlich „good language learners“55 – erarbeiten sich zügig die verschiedenen Satzmodelle und können am Ende der obligatorischen Schulzeit weitgehend fehlerfrei über sie verfügen.

Von der achten Klasse an werden verschiedene Lernbegabungen in ver-schiedenen Klassenzügen kanalisiert. Während die classiques, latines, scien-tifiques und modernes als prägymnasiale Klassen zählen, bilden die Klassen der générales und der pratiques gewissermassen eine Abwarteposition für diejenigen, die nach Abschluss der Schulpflicht eher eine Lehrstelle antreten werden. In diesen Klassen finden sich in der Regel Schüler zusammen, deren bisherige schulische Leistungen keine günstigen Prognosen für ihre künftige Schulkarriere erlauben.

Es ist also unumgänglich, die pauschalen Zahlen von Tab. 10 nach Klassen zu differenzieren. Trifft unsere Ausgangshypothese von der geordneten Sequenz von Erwerbsphasen zu, so müsste sich in allen Klassen die Erwerbs-folge wiederfinden – nur, je nach Erwerbserfolg, an verschiedenen „Abschnitten“ dieser Sequenz.

In Tab. 11, Tab. 12 und Tab. 13 sind für je sechs Parallelklassen des 7., 8. und 9. Schuljahres die Erwerbsstände für Verbalklammer, Inversion und Ne-bensatz zusammengestellt, und zwar, entsprechend den Tabellen für die Pri-marschule,56 in der ersten Spalte („Kontexte“) die absolute Zahl der Vor-kommenskontexte (aufgeteilt in zielsprachenkonforme und abweichende Realisierungen), in der zweiten („korrekt“) der prozentuale Korrektheitsgrad pro Klasse, und in der dritten („+ korr/TP“) die Zahl der Schüler, die am Ende der jeweiligen Klasse die entsprechende Struktur zu 75% korrekt ver-wenden können. Dass es dabei teilweise zu erheblichen Diskrepanzen zwi-schen hohen Korrektheitsquoten pro Klasse und niedrigen Zahlen von erfolg-reichen Schülern kommt, erklärt sich dadurch, dass in die Berechnung der Korrektheitsquote alle, auch die bei vielen Schülern sporadisch auftauchen-_______________

55 Vgl. zum Forschungsbereich der GGL – der Good language learners – den For-

schungsbericht von P. Skehan (1989), insbesondere S. 76ff. Näheres in Kapitel 6. 56 Siehe auch die Erläuterungen und Kommentare zu den Tabellen 6 und 7.

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den Satzmodell-Vorkommen – die zumeist Pattern-Charakter haben und zielsprachenkonform sind – eingehen, während diese Einzelvorkommen in der Spalte „+korr/TP“ nicht zu Buche schlagen.

In den 7. Klassen wurden nur die Werte für die Verbalklammer und die Inversion erhoben, da der Nebensatz auf dieser Stufe noch unbekannt ist. Klasse Verbalklammer Inversion (TP) Kontexte korrekt +korr/TP Kontexte korrekt +korr/TP 6b/7b (2) 7/1 0.88 1 1/4 0.20 - 7b/8b (10) 9/2 0.82 - 11/50 0.18 - 6a/7a (2) 10/5 0.67 1 5/7 0.42 1* 7a/8a (9) 14/7 0.67 - 25/21 0.54 2** 6c/7c (4) 11/11 0.50 1 25/23 0.52 - 7c/8c (5) 9/10 0.47 - 1/13 0.07 - (32 Schüler aus 6 verschiedenen 7. Klassen) Tab. 11: Verbalklammer und Inversion in der 7. Klasse * Es handelt sich hierbei um dieselbe TP, die auch – als einzige – die Verbalklam-

mer zielsprachenkonform realisieren kann. Zudem produziert sie Inversion nach vorangestelltem „Nebensatz“ (mit S-V-Stellung), was im Unterricht auf dieser Stufe noch gar nicht behandelt wurde (Wann macht gut Wetter gehen wir draus-sen) – ein Indiz, dass sie eine ausserschulische Deutsch-Inputquelle haben muss.

** Bei einer der beiden Testpersonen gehen sämtliche Inversionen auf Korrekturen zurück; bei der anderen sind alle Inversionskontexte richtig realisiert, wenn sie dem Pattern Temporal-/Lokalangabe-Verb-Pronomen entsprechen (heute gehe ich – dort kaufen wir ..). Bei nominalem Subjekt fällt sie in Verbdrittstellungen zu-rück.

Verbalklammer Nebensatz Inversion Klasse KT kor +kor/

TP KT kor +kor/

TP KT kor +kor/

TP 8a/9a (4) 51/1 0.98 4 13/1 0.93 1 15/7 0.68 2* 8c/9c (7) 85/6 0.93 6 50/10 0.83 4 7/24 0.23 - 7c/8c (5) 22/5 0.81 2 2/3 0.40 - 4/13 0.24 - 7b/8b (10) 71/19 0.79 7 10/4 0.71 1 15/29 0.34 1** 7a/8a (9) 65/18 0.78 5 11/12 0.48 - 18/26 0.41 1** 8b/9b (3) 2/5 0.29 - 0/2 0.0 - 0/1 0.0 -

KT: Kontext; kor: korrekt; 38 Schüler aus 6 verschiedenen 8. Klassen Tab. 12: Verbalklammer, Nebensatz und Inversion in der 8. Klasse

96

* Eine der beiden TP ist identisch mit derjenigen, die auch zielsprachenkonforme Nebensätze produziert. Bei der anderen handelt es sich um das TA/LA-Verb-Pro-nomen-Pattern, teilweise nach Korrektur.

** Häufiges Auftreten von sagt Petra/ruft Mutter; vereinzelt TA/LA-(Modal-)Verb-Pronomen-Pattern.

Verbalklammer Nebensatz Inversion

Klasse (TP) KT kor +kor/TP

KT kor +kor/TP

KT kor +kor/TP

9b/ESC 10 (4) 84/1 0.99 4 20/4 0.83 4 41/14 0.75 2

8a/9a (4) 68/1 0.99 4 26/9 0.93 4 38/4 0.90 3

9d/C10 (3) 75/4 0.95 3 37/2 0.95 3 43/5 0.90 2

9a/ESC 10 (3) 30/2 0.94 3 7/4 0.64 - 13/10 0.57 -

8c/9c (7) 76/6 0.93 5 42/12 0.78 3 34/27 0.56 2

8b/9b (3) 17/6 0.74 - 0/1 0.0 - 0/2 0.0 -

24 Schüler aus 6 verschiedenen 9. Klassen Tab. 13: Verbalklammer, Nebensatz und Inversion in der 9. Klasse Den Tabellen lassen sich folgende Informationen entnehmen: 1) Bei vertikaler Lektüre zeigen sich überaus deutlich die Niveauunter-

schiede zwischen den 6 Parallelklassen: zum einen in der Anzahl der je-weiligen strukturellen Kontexte, zum andern in der Relation zwischen normgerechten und normabweichenden Realisierungen, und schliesslich in der Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit einer Fehlerquote von unter 25%.

2) Bei horizontaler Lektüre zeigen sie die unterschiedlichen Grade von Er-werbsresistenz gegenüber Verbalklammer, Nebensatz und Inversion: Die Verbalklammer ist am Ende der obligatorischen Schulzeit von der Mehr-heit der Schülerinnen und Schüler mit hoher Wahrscheinlichkeit erworben (in Anbetracht der kontinuierlich ansteigenden Korrektheitsquoten von der 7. bis zur 9. Klasse – und zwar in allen Parallelklassen – ist eine solche Aussage legitim; auch in den höheren Klassen wird es keine nen-nenswerten Rückfälle mehr geben). Entsprechendes gilt für den Neben-satz, wenn auch in den meisten Klassen mit mehr oder weniger Rückstand hinter der Verbalklammer. Die Inversion hingegen liegt deutlich zurück; von den insgesamt 24 Absolventen des Cycle können nur 9 relativ fehlerfrei damit umgehen.

3) Die schwächeren Klassen bestätigen dieses Erwerbsgefälle, nur liegen bei ihnen alle Werte für die drei Satzmodelle entsprechend niedriger. Wo die Verbalklammer noch in Bearbeitung ist, bleibt erwartungsgemäss die Korrektheitsquote beim Nebensatz niedrig (und noch niedriger bei der

97

Inversion, siehe Klasse 8c/9c); und wo noch nicht einmal die Verbal-kammer produktiv geworden ist, steht zu befürchten, dass der Satzmodell-Erwerb zum Stillstand gekommen ist (vgl. Klasse 8b/9b).

4) Einige der Zahlen in Tab. 11 und Tab. 12 scheinen der oben genannten Erwerbsfolge zu widersprechen: Die Anzahl der Inversionskontexte (in den Klassen 7a/8a und 6c/7c, Tab. 11) ist doppelt so hoch wie die der Verbalklammerkontexte, und die Korrektheitsquote für die Inversion kommt in diesen Klassen jener der Verbalklammer sehr nahe. Zudem gibt es Schüler in den Klassen 7a/8a, 7a/8a und 8a/9a, die scheinbar mit der Inversion besser zurechtkommen als mit dem Nebensatz. Bei genauerem Zusehen zeigt sich jedoch, dass die hohe Inversions-Erfolgsrate dieser Schüler entweder durch eine Kumulierung von Einschüben in direkter Rede zustande kommt (sagt Petra / ruft Mutter, also ein Kontext, in dem auch das Französische die Subjekt-Verb-Inversion verlangt), oder dass sie der strikten Reproduktion des Patterns TA/LA-Verb-Pronomen zu verdanken ist. Ändert sich auch nur ein Element des Patterns – tritt z. B. ein nominales Subjekt an die Stelle des pronominalen – so wird die In-version wieder durch Verbdrittstellung verdrängt, vgl. etwa Sandrine S:

(102) Heute, fahre ich [K: ich fahre] mit dem Strassenbahn ... Dort, kaufe ich ...

Dann, gehe ich ... Am abend, gehe ich ... Um 18 Uhr, in 10 minuten meine Mutter und mein Vater kommen ... (7/8, 3)57

oder auch Fanny G:

(103) Am Abend spielen wir ... Morgen, meine Eltern fahren ... In die Februarfe-

rien gehe ich ... Dort mache ich (8/9, 4)

Was die häufigen Inversionskontexte in der Klasse 7a/8a betrifft, so wur-den sie offensichtlich durch das Thema „Ein Tag in der Stadt“ elizidiert, was Strukturen der Art Heute gehen wir – um zehn Uhr trinken wir gera-dezu unausweichlich macht. Und im Fall der Klasse 6c/7c geht die hohe Vorkommenszahl von Inversionskontexten auf eine einzige Schülerin zu-rück: sie produziert allein 31 der insgesamt 48 Inversionskontexte (mit einem Korrektheitsgrad von 0.54).58

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57 Auffallend häufig trennen übrigens die Schülerinnen und Schüler die einleitende AB durch Kommata vom folgenden Verb – mit Sicherheit eine Reminiszenz an die französische Regel, einleitende Adverbialbestimmungen durch ein Komma abzu-setzen. Über lange Jahre des Inversionserwerbs hinweg gebrauchen unsere Pro-banden diese visuelle Stütze aus ihrer L1; auch Germanistikstudierende verzichten oft erst nach intensivem Training darauf.

58 Auf die individuellen Unterschiede wird in Kapitel 6 eingegangen.

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4.4.3.5 Zwischenbilanz

Abschliessend lässt sich zum Satzmodellerwerb unter gesteuerten Bedingun-gen, wie er im Cycle d’orientation stattfindet, Folgendes zusammenfassend sagen: 1) Der Erwerb der Satzmodelle ist offensichtlich nur bedingt steuerbar. Zwar

bearbeiten die Testpersonen des DiGS-Korpus die Verbalklammer und den Nebensatz in der Reihenfolge, in der sie im Grammatikunterricht eingeführt werden; der Inversionserwerb hingegen bleibt über alle drei Jahre des Cycle problematisch. Am Ende der 9. Klasse können nur knapp zwei Fünftel der Schülerinnen und Schüler weitgehend fehlerlose Inver-sionssätze produzieren.

2) Die Erklärungshilfen und Übungsgelegenheiten, die die Schüler in der Unterrichtssituation angeboten bekommen, sind offensichtlich von gerin-gerem Nutzen, als in der Fremdsprachendidaktik gemeinhin angenommen wird. Für die repräsentative Mehrheit unserer Probanden bleibt trotz aller Instruktion der „Umweg“ über eigene Erprobungsverfahren unumgäng-lich. Wenn also von den Schülern erwartet wird, dass sie neu eingeführte, erläuterte und geübte Strukturen fehlerlos produktiv verwenden können, und wenn demzufolge jede Abweichung entsprechend negativ sanktioniert wird, so besteht die akute Gefahr, dass die natürlichen Erwerbsverfahren abgeblockt werden und jede weitere Entwicklung zum Erliegen kommt.

3) Im Vergleich zur Primarschule erweitert sich das Inventar der Hypothe-sen, mit denen die Cycle-Schüler an die deutschen Satzmodelle herange-hen. Zwar ist für viele der erste Schritt immer noch der Transfer von L1-Strukturen; auch das Pattern-Lernen, das als Variante dessen gelten kann, was auch im ZISA-Korpus beobachtet und als „Untergeneralisierung“ be-zeichnet wurde,59 hat seine Wurzeln in den frühen Erwerbsstrategien der Primarschule. Neu hingegen sind die Generalisierungen von spezifischen L2-Satzmodellen auf andere strukturelle Kontexte, die wohl als Versuch gewertet werden können, die Anwendungskontexte der neuen Satzmodelle auszugrenzen – insofern diese nicht einfach als freie Variante der S-V-Strukturen (oder der Verb-Endstellungen) fehlinterpretiert werden.

4) Das muttersprachliche Wissen dient nicht nur vielen Schülerinnen und Schülern als Einstieg in die L2-Strukturen; es ermöglicht auch das Über-springen früher Erwerbsstufen. So können wir bei unseren Testpersonen keine „Vorläuferstrukturen“ bei Nebensätzen beobachten, also Nebensätze

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59 Als „Untergeneralisierung“ bezeichnen Clahsen/Meisel/Pienemann (1983) jene „Simplifizierungsstrategie“, die darin besteht, eine bestimmte Regel nur in einem (oder einem Teil) der strukturellen Kontexte anzuwenden, in denen diese Regel obligatorisch ist (also z. B. Inversion nur bei vorangestellten Adverbialen und/oder Fragen, nicht aber bei Topikalisierungen; 1983: 171ff.).

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ohne Einleiter. Wenn ihnen die lexikalischen Ausdrucksmittel fehlen, so greifen sie notfalls aufs Französische zurück; fast nie lassen sie die Stelle der Subjunktion unbesetzt.

5) Alle anderen Strategien – Generalisierung von S-V-oder V-S-Strukturen auf Nebensätze, item-by-item-Vorgehen beim Erwerb der verschiedenen Subjunktionen mit Verb-Endstellung – haben sie mit den Kindern des deutschen L1-Erwerbs gemeinsam (siehe Kapitel 4.2.2). Der gesteuerte L2-Erwerb der deutschen Satzmodelle vollzieht sich somit über die An-wendung von Erwerbsstrategien, die zunächst von der Annahme der Identität der Basisstrukturen von Französich und Deutsch ausgehen. Wenn sich diese Hypothese nicht mehr aufrechterhalten lässt, bedienen sie sich derselben Suchstrategien wie die Kinder im deutschen L1-Erwerb.60

4.4.4 Die Konsolidierung der Satzmodelle im postobligatorischen

Unterricht Im postobligatorischen Unterricht gibt es keine verbindlichen Lehrwerke und kein verbindliches Grammatikprogramm. Dementsprechend variiert auch die Unterrichtspraxis – nicht nur zwischen den verschiedenen Schultypen, son-dern auch von Schule zu Schule und von Lehrer zu Lehrer.

Für die Satzmodelle kann man jedoch davon ausgehen, dass sie generell nicht mehr explizit geübt werden – höchstens mit Ausnahme des Nebensatzes, der in dem einen oder anderen Lehrbuch für Fortgeschrittene noch einmal aufgenommen wird. Wohl ist es eine weitverbreitete Praxis an den wei-terführenden Schulen, zumindest im ersten Schuljahr (= 10. Klasse) noch einmal einige der „problematischen“ Grammatikkapitel durchzugehen, je nach Kenntnisstand der Klasse. Es ist nicht auszuschliessen, dass in diese Revisionen hie und da auch die Satzmodelle einbezogen werden; generell scheint jedoch die Lehrerschaft der postobligatorischen Schulen eher davon auszugehen, dass die Verbstellungsregeln bei den Schülern als bekannt vor-ausgesetzt werden können.

Somit bieten die postobligatorischen Schulen den dritten Modellfall einer Erwerbssituation, nach der Primarschule und ihrer impliziten Grammatik-vermittlung und dem Cycle mit seiner expliziten Grammatikinstruktion: denjenigen Fall, in dem laut schulischem Curriculum beim Schüler ein Wis-sen vorausgesetzt werden kann, das im Normalfall nicht rekapituliert zu wer-den braucht und auf das der weitere Unterricht aufbaut.61 Insofern verspricht

_______________

60 Siehe den Verweis auf Müller (S. 91), die dasselbe Phänomen in der Terminologie der Prinzipien- und Parameter-Theorie beschreibt.

61 Dass auch in den postobligatorischen Klassen, zumindest im 10. Schuljahr, ein ge-

100

die postobligatorische Erwerbssituation besonders interessante Aufschlüsse darüber, wie sich Schüler verhalten, die den vorausgesetzten Kenntnisstand nicht mitbringen und nun für den weiteren Erwerb der Satzmodelle mehr oder weniger auf sich selbst angewiesen sind. Sie befinden sich damit gewis-sermassen in einer pervertierten Form des ungesteuerten Erwerbs – pervertiert (im Unterschied zur Primarschulsituation) durch die Sanktionen, die sie sich mit ihren Fehlleistungen einhandeln. Es erübrigt sich zu sagen, dass sich diejenigen Schüler am wenigsten in einer solchen Situation zurechtfinden, die im Verlauf des Cycle die grössten Erwerbsrückstände kumuliert haben.

Dem unterschiedlichen Stand am Abschluss des Cycle – der natürlich nicht nur im Deutschen festzustellen ist – trägt die Organisation des Genfer Schulwesens mit einem differenzierten Angebot von weiterführenden Schulen Rechnung. Die Niveauunterschiede, die sich auf der Cycle-Ebene in den verschiedenen Klassenzügen niederschlagen, finden auf der postobligatori-schen Ebene ihre Entsprechung in verschiedenen Schultypen: Für Schülerin-nen und Schüler mit eher praktisch orientierten Begabungen – und auch für solche, deren bisherige Schulkarriere eher mühsam verlaufen ist – ist die Ecole de culture générale (ECG) konzipiert, die mit dem 12. Schuljahr ab-schliesst und üblicherweise in eine Berufsausbildung mündet; die anderen verteilen sich auf die Höhere Handelsschule (Ecole supérieure de commerce, ESC) und das Gymnasium (collège). Selbstverständlich sind auch nach dieser Selektion die Klassen keineswegs homogen; in unserem Korpus gibt es durchaus ECG-Schüler, deren Erwerbsstand dem eines guten Gymnasiasten entspricht, und ebenso Gymnasiasten – auch aus dem lateinischen Zug –, de-ren grammatisches Niveau nicht über dem eines schwachen ECG-Schülers liegt. Aber solche Fälle bleiben Ausnahmen.

In den folgenden Tabellen wird zunächst der durchschnittliche Erwerbs-stand in den 10. Klassen (d. h. in der ersten postobligatorischen Klasse) dieser drei Schultypen aufgeführt. Auch hier wird auf die Erhebung von S-V-Sätzen und Fragesätzen verzichtet, da bei diesen Sätzen nur unter ganz spezifischen kontextuellen Bedingungen noch Fehler unterlaufen.

________________ zieltes Training im Bereich der Satzmodelle stattfinden kann, liess sich in unserem Korpus an den Daten einer Klasse mit auffallend vielen Inversions-Generalisie-rungen in Nebensätzen beobachten. Rückfragen ergaben, dass in dieser Klasse die Struktur „vorangestellter Nebensatz + Inversion im folgenden Hauptsatz“ Gegen-stand intensiven Übens gewesen war.

101

Verbalklammer Nebensatz Inversion

Schule Kontexte korrekt Kontexte korrekt Kontexte korrekt

ECG (19 TP) 103/53 0.66 13/33 0.28 20/45 0.31

ESC (11 TP) 203/17 0.92 113/19 0.86 70/58 0.55

Coll. (10 TP) 190/4 0.98 192/28 0.87 174/24 0.87

Tab. 14: Erwerbsstand in der 10. Klasse in ECG, ESC und Collège Verbalklammer Nebensatz Inversion

Schule I II III I II III I II III

ECG (19)

7 36%

5 26%

7 37%

18 95%

1 5%

- 14 74%

4 21%

1 5%

ESC (11)

- 2 18%

9 81%

- 4 36%

7 64%

1 9%

8 73%

2 18%

Coll. (10)

- - 10 100%

- 1 10%

9=90% - 4 40%

6 60%

Tab. 15: Erwerbsstand am Ende der 10. Klasse (nach Schülern) Erläuterung zur Tabelle: I = Erwerb nicht nachweisbar (keine strukturellen Kontexte oder zu wenige

Vorkommen oder ausschliesslich abweichende Realisierungen) II = Erwerb im Gange mit einer Fehlerquote zwischen 25 und 75% III = fortgeschrittener Erwerb mit einer Fehlerquote von <25% Es zeigt sich erwartungsgemäss, dass sich die Schülerinnen und Schüler mit den höchsten Erfolgsquoten im Gymnasium wiederfinden; der Satzmodell-erwerb kann bei ihnen für Verbalklammer und Nebensatz als abgeschlossen gelten; die Inversion beherrschen immerhin knapp zwei Drittel. Ihnen folgen die Schüler der höheren Handelsschule, von denen zwei Drittel den Neben-satz und ein knappes Fünftel die Inversion quasi fehlerfrei realisieren können. Das Schlusslicht bildet die ECG: bei einem guten Drittel der Schüler ist noch nicht einmal der Beginn des Erwerbs der Verbalklammer nachweisbar, und nur wenig mehr können sie überwiegend korrekt realisieren. Den Nebensatz ignorieren 95%, und die Inversion – die rein quantitativ häufiger als der Nebensatz vorkommt – erscheint nur in Form fester Patterns; die eine Schü-lerin, die in Tab. 15 bei Inversion unter Rubrik III ausgewiesen ist, kann die-sen Stand in der nächsten Klasse nicht halten: sobald sie sich häufiger auf In-versionskontexte einlässt, geht der Korrektheitsgrad auf 0.61 zurück. – Somit bestätigen Tab. 14 und Tab. 15 die Erwerbssequenz, die sich im Cycle ab-zeichnete: Verbalklammer – Nebensatz – Inversion.

102

4.4.4.1 Erwerbsfolge und Erwerbsstrategien

Nicht nur in der Erwerbsfolge, auch in den Erwerbsverfahren halten die Schüler der weiterführenden Schulen an ihren Praktiken aus dem Cycle fest. Nach wie vor sind S-V-Strukturen in Inversions- und Nebensatzkontexten die häufigste Fehlerquelle: (104) Wann er offen die Türr von die Restaurant etwas fällt in sein Kopf

(Emmanuelle C ECG 10/11, 7) (105) When ich war 15 Jahre alt, meine Vater wollte mir sprechen [...] Er sagte immer

dass sein beste moment wäre seine tot weil er konnte träumen da er wollte (Gisèle T C 10/11, 8)

Nach wie vor sind in Sätzen, die mit (al)so eingeleitet sind, mit hoher Wahr-scheinlichkeit S-V-Stellungen zu prognostizieren: (106) Also ich möchte sie in der Schule lernen / So ich möchte viele Sprachen lernen

(Laure S ESC 12/M, 3) – Also sie bauen viele Sachen auf (dies., Matu) (107) So er hat nicht bemerkt, dass dieses Spiel sehr ernst war (Sabine D C 12/M, 1) Fehleranfällig sind ebenso unverändert Nebensätze mit relativisch gebrauch-ten W-Wörtern, die dann die Frage-Inversion auslösen: (108) Mein Lieblingsort ist eine Strand im Meer wo gehe ich in den Ferien. [...] er ge-

fällt mir auch, weil ich habe viele freunde ud freundine dort. Neben die Strand, gibt es auch Restauranten wo kann man sehr gut essen (Manuel C C 10/11, 1)

Und nach wie vor sind Verb-End- und V-S-Stellungen in jenen Kontexten am ehesten fehlerlos, in denen sie erstmals präsentiert wurden: Nebensätze, die mit dass und weil eingeleitet sind (fehleranfällig hingegen bleibt wenn): (109) [...] weil sie am Samstagabend mit Cora zur ein Party gehen sind. Alle Leute

haben grünen Haaren, und when Cora und Petra sind gekommen um 8:00 Uhr, Fredrench, ein Freund, hat Petra genommen bei der Arm [...] When sie ist mit grünen Haaren zum Frühstück gekommen ... (Silvia M ECG 10/11, 7)

und Inversion wird unverändert dann am ehesten normkonform realisiert, wenn Temporal- oder Lokalangaben an der Satzspitze stehen und wenn ein Personalpronomen die Subjektposition innehat.

Auch auf die bereits im Cycle erprobten Generalisierungen wird weiterhin häufig rekurriert, und zwar wird – auch dies wie im Cycle – fast ausschliess-lich die V-S-Stellung, nicht aber die V-End-Stellung auf andere Satzmodelle

103

generalisiert. Die Gebrauchsbedingungen für die Inversion sind also nach wie vor ungeklärt; nach wie vor bleibt sie eine Stellungsvariante zu S-V-Sätzen, koordinierten S-V-Sätzen und Nebensätzen:

(110) Ich glaube, dass P. Handke dieses „Actionslos“ zeigen wollte, aber habe ich

leider nicht gemocht (Antoine K C 12/M, 1) (111) Naher, muss man viel Deutsch hören und viel Deutsch sprechen. Kann man ein

oder zwei Monate in Deutschland fahren (ders., 4) (112) Wenn haben wir fertig zu diskutieren, sind wir wieder herein (Cécile L ECG

10/11, 8) (113) Es ist richtig, weil jeden Morgen kann ich mich nicht aufwachsen (Sabine D C

12/M, 4) Letzteres, die Generalisierung der V-S-Stellung auf Nebensätze, ist übrigens der Grund für die auch im Gymnasium erneut auftauchenden abweichenden Nebensatzkonstruktionen, die – unter rein quantitativen Gesichtspunkten – den Eindruck erwecken könnten, die Inversion werde sicherer als die Verb-Endstellung beherrscht. Wir halten es allerdings für wahrscheinlicher, dass es sich hier um Suchstrategien für die Anwendungsbedingungen der Inversion handelt, die sich auf alle Satzmodelle erstrecken, auf S-V-Sätze – deren Be-herrschung nun gewiss nicht in Frage gestellt werden kann – wie auch auf Nebensätze.

In zwei weiteren Konstellationen kann es zu abweichenden Nebensatzkon-struktionen kommen, und zwar gerade bei den fortgeschrittensten Lernern: bei Einbettung eines Nebensatzes in einen Nebensatz – ein Fehler, gegen den auch Muttersprachler nicht gefeit sind:

(114) ... weil wann es regnet, kann ich lesen zu Hause (Yann K ESC 12/M, 5) (115) Aber ich denke, dass, wenn ich alles mitgemacht hätte, hätte ich nichts mehr zu

entdecken (Ines I C 10/11, 3) – und bei der Verwechslung von homonymen Adverbien und Subjunktionen, in unserem Korpus vorwiegend von deshalb und damit: (116) Wir wird alles machen damit haben sie ein gutes Leben (vgl. im selben Text:

Deshalb müssen wir auf der Umwelt aufpassen) (Laetitia V C 12/M, 5) Wortartenverwechslungen dieser Art sind übrigens auch für die seltenen Fälle von Verb-Endstellungen in S-V-Kontexten verantwortlich zu machen (was offensichtlich nicht als Generalisierung von V-Endstellung interpretiert werden kann): (117) Ein afrikanisches Kind kann nicht in Ihrer Schule bleiben, deshalb ich sehr

schockiert bin (Véronique C ESC 12/D, 5)

104

Nur in einem einzigen Fall konnte im Korpus ein extremer Fall von Generali-sierung der Verb-Endstellung beobachtet werden, die dann allerdings auf sämtliche Satzmodelle übergreift; er sei als Kuriosum angeführt: (118) Jeden Tag in Mainz, ein Mann getöt war. [...] Am Monttag, um 19 Uhr er sin

Arbeit vertig gehabt. Um 19h15 er nach Hause gekommen ist. Er sehr müde war, Helmut auch sehr hungrig war. Wann er gekommen ist, er nimmt die Ha-bendessen und eine Flache Wein getrunken hat. Nach dem drei Stunden, zwei Einbrecher bei Helmut gekommen sind. Was passiert ist [„K“ aus: ist passiert] nach dem 23 Uhr? Die Einbrechern Helmut getötet war und sie weckgegangen sind. Zu Hause ein gross Durcheinander war. Helmut tot war und zwei Einbre-cher gegangen sind. (Suzanne T ECG 10, 3)

Dieselbe Schülerin verwendet übrigens in ihrem ersten Aufsatz ausschliess-lich S-V-Strukturen (konsequent in sämtlichen Inversions- und Nebensatz-kontexten); im vierten Aufsatz – nach ihrem Verb-Endstellungs-Exkurs – kehrt sie wieder zu S-V-Stellungen zurück, in dem nun auch die ersten ziel-sprachenkonformen Inversionsstrukturen auftauchen.

Ein Lernerverhalten dieser Art – wenn auch nicht so extrem ausgeprägt – ist kein Einzelfall in der Schülerpopulation der weiterführenden Schulen. Es könnte als eine Abwehrstrategie gegen grammatische Überforderung inter-pretiert werden: offensichtlich unbeirrt vom schulischen Grammatikpro-gramm bearbeiten diese Schüler schrittweise ein Satzmodell nach dem ande-ren, ihrem eigenen Rhythmus gehorchend. Im Folgenden sei noch ein weite-res Beispiel eines solchen Vorgehens vorgeführt: Schülerin Yasmine K ver-wendet ihre ganze Sorgfalt auf die Verb-Endstellung, in Inversionskontexten hingegen bleibt sie unbedenklich bei S-V-Strukturen: (119) Sie fragen warum sie es gemacht hat. Petra sagte, dass sie es nicht weisst. Sie

sagte, dass heute morgen sie aufgewachten war und, dass sie grünen Haaren hätte. Ihr klein Bruder kam mit ein klein lächeln so sie fragen ihn warum? [...] Und er sagte, dass er es gemacht hat, weil am Schüle die Lehrer sagen haben, dass in Schweiz heute die „Escalade“ war und für dieses Tag die ganze Leuten trägten verückte Kleidern (ECG 11/12, 7)

Aus unseren Texten gewinnt man den Eindruck, dass solche eigenwillig vor-gehenden Probanden langfristig gesehen durchaus Erfolgschancen haben – jedenfalls bessere als jene, die sich bemühen, die als bekannt vorausgesetzten Satzmodelle zu produzieren, auch wenn sie die erforderlichen Vorstufen da-für noch nicht durchlaufen haben. So gibt es beispielsweise in unserem Kor-pus Texte aus 10. Klassen (bezeichnenderweise vorwiegend in der ECG) mit zielsprachengerechten Inversionen, aber ohne Nebensätze. Wenn die ersten Nebensätze erscheinen, kommt es in Inversionskontexten wieder zu Verbdrittstellungen (oder zu Verb-End-Generalisierungen), daneben aber

105

auch zu Verb-Endstellungen in Inversionskontexten, und diese gegenseitige Kontamination von Nebensatz und Inversion bleibt – zumindest bis zum Ende der Beobachtungszeit – bestehen, d. h. bis zum Ende des 11. Jahres.62

Möglicherweise sind dergleichen Phasenverschiebungen zwischen Gram-matikinstruktion einerseits und jeweils realem individuellem Erwerbsstand andererseits dafür verantwortlich, dass es zu Textproduktionen kommt – üb-rigens in allen weiterführenden Schultypen, einschliesslich des Gymnasiums –, in denen keinerlei Erwerbsstrategie und auch keinerlei Erwerbsfortschritt mehr auszumachen ist. Über die Wahl der einen oder anderen Verbstellung scheint der Zufall zu entscheiden; die Autoren solcher Texte haben es offen-sichtlich aufgegeben, jemals die Zusammenhänge zwischen der Verbstellung und ihrer jeweiligen Funktion im Satz zu durchschauen. Je ein Beispiel aus ECG und Collège:

(120) Es war Sonntag und die Familie Bran mit der Grossmutter gegessen haben. Am

Sonntag alle die Familie sind gut anziehen aber dieses Tag, Petra mit grünen Haaren zum Früstück gekommen. [...] Wenn sprechen sie, alles gehts besser und war Petra glücklich. (Sandrine F ECG 11/12, 7)

(121) Die Spezialisten sagen ihr das sie konnen nicht machen für ihr. Er hat ein Freund der nahme ist Alfred der will ihn seine Hilfe bringen, aber Max sagt das er konnt allein machen. Also Max will in eine Insel Fliegen um alle zu verges-sen (Manuel C C 10/11, 8)

_______________

62 Beispiele hierzu aus vier Arbeiten der Schülerin Sandra C (ECG10/11): Im 3. Auf-satz produziert sie 3 zielsprachenkonforme Inversionen, einmal sogar mit Topika-lisierung eines Objekts. Der erste Nebensatz erscheint im 5. Aufsatz, wobei die Verb-Endstellung auch auf den einzigen Inversionskontext generalisiert wird. In der 7. Arbeit sind alle drei weil-Sätze korrekt, einer von zwei dass-Sätzen richtig, eine Inversion korrekt, eine abweichend. Die einzige richtige Inversion in der 8. Arbeit (also am Ende der 11. Klasse) ist das Resultat einer Korrektur, die vier an-deren sind abweichend, und von den beiden weil-Sätzen ist einer konform, der an-dere abweichend. – Entsprechendes findet sich bei Silvia M aus derselben Klasse: nach anfänglich korrekten Inversionen tauchen die ersten Nebensätze (mit weil) in der 5. Arbeit auf – also Anfang der 11. Klasse –, zuerst abweichend, dann korrekt, während nach dass und when S-V-Strukturen gebraucht werden (also offensicht-lich wieder ein Fall von item-by-item-learning). In der 6. Arbeit gibt es keine In-versionskontexte, in der 7. und 8. Arbeit sind 3 bzw. 4 Inversionskontexte abwei-chend; die einzige korrekte Realisierung steht in der 8. Arbeit nach heute. In Sil-vias Erwerbsverlauf setzt sich also offensichtlich im Endeffekt die „natürliche“ Reihenfolge Nebensatz-Inversion doch durch.

106

4.4.4.2 Stand am Ende des postobligatorischen Unterrichts

Abschliessend kann zum Satzmodellerwerb im postobligatorischen Unterricht festgehalten werden, dass sich die Schüler und Schülerinnen der ver-schiedenen Schultypen und Klassenstufen nicht grundsätzlich anders verhal-ten als die Cycle-Schüler. Und wenn auch der im Collège erreichte durch-schnittliche Erwerbsstand eindeutig über dem der ECG liegt, so sind doch bei den Schülern aller Schultypen dieselben Erwerbsverfahren zu beobachten – wenn auch in unterschiedlicher Dosierung. So sind die abweichenden S-V-Strukturen bei ECG-Schülern in dichterer Häufung anzutreffen als bei ESC-Schülern und erst recht bei Gymnasiasten, wo sie eher sporadisch erscheinen und den Eindruck temporärer, meist durch besondere Umstände verursachter „Versehen“ erwecken. Auch konnte ein item-by-item-Erwerb der Nebensatz-struktur für die einzelnen Subjunktionen im Collège nicht beobachtet werden; und die Inversionsgeneralisierungen wirken bei den ECG-Schülern wahlloser als bei den Schülern der anderen beiden Schultypen, wo dergleichen Interferenzen prioritär in Deklarativa auftreten. Und dass diejenigen Verbstellungsfehler, die durch die besondere Komplexität von Satzkonstruk-tionen oder durch andere zusätzliche Verarbeitungsaufgaben bedingt sind, fast nur im Collège vorkommen, versteht sich von selbst – nur hier werden dergleichen anspruchsvolle Formulierungen überhaupt gewagt.63

Tab. 13 und Tab. 14 zeigen, getrennt für jeden Schultyp, den Erwerbs-stand, den die Schüler am Ende ihrer Schulzeit erreicht haben (für ESC und Gymnasium den Stand bei der Maturität, für die ECG den Stand am Ende der 12. Klasse). Für die ECG wird die Verbalklammer in die Tabelle mit einbe-zogen, für ESC und Collège nicht mehr, da sie in diesen beiden Schultypen bereits zu Beginn oder im Verlauf der 10. Klasse als erworben gelten kann. Verbalklammer Nebensatz Inversion

ECG KT kor +kor/TP KT kor +kor/TP KT kor +kor/TP

(12 TP) 158/19 0.89 10= 83% 119/22 0.84 5= 42% 64/46 0.58 2= 17%

KT: Kontexte; kor: korrekt 12. Klasse, 12 TP; es wurden alle 4 Arbeiten des 12. Jahres gezählt Tab. 16: Erwerbsstand bei Schulabschluss der ECG

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63 Den individuellen Unterschieden und dem Strategiengebrauch ist Kapitel 6 ge-widmet.

107

Schule Nebensatz Inversion

Kontexte korrekt +korr/TP Kontexte korrekt +korr/TP

ESC (10 TP) 229/54 0.81 7 = 70% 98/38 0.72 4 = 40%

Collège (10 TP) 312/41 0.88 10 = 100% 169/23 0.88 9 = 90%

Gezählt: im Collège: 12. Klasse + Maturität; in der ESC: Diplom und Maturität Tab. 17: Erwerbsstand bei der Maturität (ESC und Collège) Im Vergleich zu Tab. 14 und Tab. 15, die den Stand zu Beginn des postobli-gatorischen Unterrichts zeigten, bieten Tab. 16 und Tab. 17 keine Überra-schung mehr. Sie führen lediglich vor Augen, dass der Satzmodellerwerb kontinuierlich entlang der Achse Verbalklammer – Nebensatz – Inversion weitergeht: in der ECG wird im Verlauf der drei Jahre bis zum Ende der 12. Klasse der Umgang mit der Verbalklammer konsolidiert, der Nebensatz be-findet sich in der Phase intensiver Bearbeitung, und bis zur Inversion stösst nur eine Minderheit von Schülern vor. In der höheren Handelsschule wird der Nebensatz von einer deutlichen Mehrheit quasi fehlerfrei produziert, im-merhin zwei Fünftel schaffen es bis zur Inversion. Im Collège kann die ganze Skala der Satzmodelle als beherrscht angenommen werden; nur die Schwächsten müssen sich noch mit der Inversion auseinandersetzen.

Zum Abschluss des Analyse-Teils sei noch Tab. 18 gezeigt, die an fünf Testpersonen exemplarisch vorführt, wie bei der quantitativen Ermittlung der Satzmodelle vorgegangen wurde.

In der Horizontalen sind die verschiedenen untersuchten Satzmodelle auf-geführt: Hauptsatz mit S-V-Stellung, koordinierte Hauptsätze, W- und E-Fragen, Distanzstellung, Nebensatz und Inversion. Für jeden der acht Auf-sätze wurde für jedes Satzmodell die Korrektheitsquote erhoben (sie gibt, wie bereits oben ausgeführt, das Verhältnis zwischen den Kontextvorkommen und den normgerechten Realisierungen des jeweiligen Satzmodells an; 1.0 bedeutet: alle Kontexte des entsprechenden Saztmodells sind normkonform realisiert). Kommt nur ein Kontext vor, so steht die Korrektheitsquote in Klammern; sind es mehr als drei, steht die Korrektheitsquote im Fettdruck. Kursiv hinter dem Schrägstrich ist die absolute Zahl der Kontexte pro Satz-modell aufgeführt. TP Aufs.N

r. S-V S-V +

S-V W-Fragen

E-Fragen Distanz- stellung

Neben- satz

Inver-sion

TE, 5b 1 1.0/9 (1.0) 2 1.0/10 (1.0)

3 1.0/3 (1.0) (0.0)

4 1.0 /3 0.5/ 2

6b 5 1.0/3 (1.0) (1.0) 0.5/2

108

TP Aufs.Nr.

S-V S-V + S-V

W-Fragen

E-Fragen Distanz- stellung

Neben- satz

Inver-sion

6 1.0/3 1.0 /3

7 1.0/7 (1.0) (0.0) (0.0)

8 1.0 /10 1.0/3 (0.0) (0.0)

SR, 7b 1 1.0/9 2 1.0/8 1.0/6 1.0/6 1.0/2 3 1.0/5 (1.0) 0.0/13 4 1.0/7 8b 5 1.0/15 6 1.0/11 1.0/7 1.0/4 1.0/3 7 1.0/11 0.67/3 1.0/2 (1.0) 1.0/2 (1.0) 0.0/2

8 1.0/8 1.0/3 1.0/2 1.0/10 (0.0) (0.0)

MC, 8c 1 0.93 /14

2 1.0/18 (1.0) 1.0/5 1.0/5

3 1.0/7 1.0/3 (1.0) 0.8/5 1.0/6 (0.0)

4 1.0/13 1.0/3 (1.0) 1.0/2 1.0/6 (0.0)

9c 5 1.0/14 (1.0) (1.0) 0.75/4 0.0/3

6 1.0/4 1.0/7 1.0/4 (1.0)

7 1.0/8 1.0/2 0.71/7 0.25/4

8 1.0/6 (1.0) 0.75/4 1.0/7

SP, 1 1.0/10 1.0/4 (0.0) (0.0) ECG 2 1.0/7 1.0/2 0.92 /13 0.0/5 0.0/4 10a 3 1.0/16 (1.0) 0.8/5 0.67/3 1.0/3 (0.0) 4 1.0/19 1.0/3 1.0/4 11a 5 1.0/4 1.0/3 1.0/2 (1.0) 0.0/4 6 1.0/10 1.0/8 1.0/3 1.0/7 1.0/2 7 1.0/6 (1.0) 0.75/4 0.0/4 0.25/4 8 1.0/2 0.43/7 0.8/5

SN, 1 1.0/8 1.0/3 (1.0) 1.0/2 1.0/5 C 10b 2 1.0/13 1.0/4 (1.0) 1.0/2 1.0/2 3 1.0/5 (0.0) (1.0) (1.0) 1.0/7 1.0/4 4 1.0/3 0.0/4 1.0/5 1.0/6 1.0/3 11b 5 1.0/6 (1.0) 1.0/5 1.0/4 1.0/4 6 1.0/5 1.0/6 (1.0) 1.0/6 1.0/4 0.75/4 0.75/4 7 1.0/4 1.0/2 1.0/4 1.0/7 0.5/2 8 1.0/4 1.0/6 1.0/4 0.8/5 1.0/4 Tab. 18: Beispiel eines Analysebogens mit 5 Testpersonen

109

Die in Tab. 18 aufgenommenen Testpersonen wurden so ausgewählt, dass sie den Erwerbsverlauf vom einfachen Hauptsatz bis zur Inversion noch einmal im Überblick veranschaulichen. Das Primarschulkind TE beginnt schon in der 6. Klasse, die Distanzstellung zu bearbeiten; S-V-Stellungen in Hauptsätzen – auch koordinierten – und Fragen scheint es zu beherrschen. Bei der Cycle-Schülerin SR darf wohl davon ausgegangen werden, dass sie die Ver-balklammer beherrscht, mit Sicherheit spätestens am Ende der 8. Klasse. Cyc-le-Schülerin MC ist bis zur Nebensatz-Phase vorgestossen, wobei sie die Inversion bis in die Mitte der 9. Klasse völlig ignoriert. Die ECG-Schülerin SP ist weniger weit: sie kämpft noch in der 10. Klasse mit dem Nebensatz, und die gegen Ende der 11. Klasse beginnende Bearbeitung der Inversion scheint den sich soeben konsolidierenden Nebensatzerwerb wieder zu verun-sichern. Die Gymnasiastin SN zeigt schliesslich das Erwerbsbild einer erfolg-reichen Lernerin, die auch die Inversion – von wenigen Ausnahmen abgese-hen – sicher beherrscht.

Für alle im Rahmen des Satzmodellerwerbs untersuchten Schülerinnen und Schüler wurden entsprechende Zählungen durchgeführt; diese insgesamt 198 Einzelanalysen bildeten die Grundlage für die oben vorgeführten Ergebnisse und den Ausgangspunkt für die qualitativen Analysen. 4.5 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse Wie autonom sind nun die Erwerbsverläufe im Bereich der Satzmodelle unter den Bedingungen gesteuerten Erwerbs? Wie „lernbar“ sind die Verbstel-lungsregeln des Deutschen, wenn sie in der Reihenfolge unterrichtet werden, die die zur Zeit der Datenerhebung in Genf verwendeten Lehrwerke „Cours romand“ und „Vorwärts“ anbieten? 1) Auf den ersten Blick können unsere Ergebnisse durchaus Argumente zu-gunsten der „Lehrbarkeit“64 bzw.“Lernbarkeit“ der Satzmodelle liefern: De-klarativa mit der S-V-Struktur, koordinierte Deklarativa dieser Struktur, W- und E-Fragen können von den Primarschulkindern durchaus integriert und produktiv gebraucht werden – alles Strukturen, die in der Primarschule ef-fektiv vermittelt werden, wenn auch implizit. Im Cycle d’orientation gehorcht die Erwerbsfolge Verbalklammer-Nebensatz ebenfalls der Einführungsfolge

_______________

64 In Übernahme des von Pienemann in die erwerbstheoretische Debatte eingeführten Terminus „teachability“ (Pienemann 1984). Näheres dazu im Schlusskapitel unter 7.4.

110

des Grammatikprogramms. Ob allerdings die letztere Folge wirklich als Beweis für ihre „Lehrbarkeit“ gelten kann, ist seit Ellis’ Untersuchung zum gesteuerten Deutscherwerb doch zweifelhaft: seine Probanden waren, anders als unsere „Vorwärts“-Schüler, in der Reihenfolge INVERSION – PARTIKEL (= die ZISA-Bezeichnung für Verbalklammer) – VERB-END instruiert worden und erwarben dennoch PARTIKEL vor den beiden anderen Satzmodellen.65 Die Vermutung kann also nicht von der Hand gewiesen werden, dass weniger die Cycle-Schüler die „Lehr- und Lernbarkeit“ der Reihenfolge Verbalklammer-Nebensatz demonstrieren, sondern dass sich vielmehr die „Vorwärts“-Autoren von richtigen Intuitionen leiten liessen...

Eindeutig nicht lehr- und lernbar ist die Inversion in Deklarativa, wenn sie entgegengesetzt zur natürlichen Erwerbsfolge instruiert wird. Weder die Prä-senz von Inversionssätzen im impliziten Input seit der Primarschule noch das explizite Training im Cycle vermögen die Inversion aus ihrer Endposition im Satzmodellerwerb wegzubewegen.

2) Für die Frage der Lehr- und Lernbarkeit sind auch die Erwerbsverfahren der Schulkinder aufschlussreich. Es zeigt sich, dass sich die Lernenden das im Unterricht vermittelte Regelwissen wenn überhaupt, dann nur in be-schränktem Ausmass zunutze machen können. Auf keinen Fall erlaubt es ih-nen, neue Strukturen zielsprachenkonform anzuwenden, ohne zuvor eine ganze Abfolge von Suchstrategien zu durchlaufen, durch die sie sich der neuen Strukturen und ihrer Anwendungsbedingungen selbst vergewissern müssen. Individuelle Unterschiede im Erwerbserfolg zeigen sich in erster Li-nie darin, wie schnell die Lernenden fündig werden. 3) Über alle individuellen Unterschiede hinweg sind die verschiedenen Satzmodelle des Deutschen für frankophone Lerner in unterschiedlichem Masse integrierbar. Dies zeigt sich in der Erwerbsreihenfolge, aber auch in der Erwerbsdauer der jeweiligen Strukturen. Für den Erwerb der deutschen Satzmodelle durch frankophone Lerner ermittelten wir folgende Erwerbsse-quenz: I. Einfacher Hauptsatz mit S-V-Struktur

Koordinierte Hauptsätze mit S-V-Struktur II. W-Fragen

E-Fragen III. Distanzstellung IV. Nebensatz V. Inversion

_______________

65 Ellis (1989: 313ff.).

111

Keine dieser Phasen kann übersprungen werden; kurzfristige Trainingserfolge im entgegengesetzten Sinn erweisen sich auf die Dauer als wirkungslos und werden früher oder später von dieser natürlichen Reihenfolge eingeholt. 4) Diese Erwerbssequenz weist Parallelen zum L1- und zum natürlichen L2-Erwerb des Deutschen auf, allerdings auch aufschlussreiche Unterschiede. − Der entscheidende Unterschied zum L1-Erwerb des Deutschen besteht in

dem verzögerten Erwerb der Inversion, die von deutschen Kindern sehr früh, fast parallel zur S-V-Stellung erworben wird, wenn auch, wie S. 60 ausgeführt, nicht ganz so zügig und fehlerlos wie in früheren Untersu-chungen angenommen.

− Vom natürlichen Erwerb des Deutschen als L2, wie er von den ZISA-For-schern beschrieben wird, unterscheidet sich unsere Sequenz einmal durch das frühe Erscheinen von Inversion in Fragesätzen (also noch vor der Verbalklammer, „PARTIKEL“), zum andern in der Umstellung der Er-werbsfolge INVERSION – V-END.

Dass diese Reihenfolge vielleicht doch weniger unumstösslich – oder zumin-dest weniger eindeutig – ist, geht inzwischen auch aus anderen Forschungs-ergebnissen hervor. Ein mehr oder weniger gleichzeitiges Bearbeiten von In-version und Nebensatz im gesteuerten Erwerb beobachten sowohl Tschirner (1996) als auch Jeansen (1997)66 bei ihren anglophonen Probanden; und von den fünf Testgruppen in Ellis’ Untersuchung von 1989 reproduziert immerhin eine die DiGS-Sequenz (Korrektheitsquoten: Inversion 0.0, Nebensatz 0.67); bei den anderen vier liegt die Differenz zwischen den beiden Satzmodellen zwischen 0.22 und 0.07. Ellis bringt die Ergebnisse dieser „Ausnahme“-Gruppe in Zusammenhang mit der deutlich niedrigen Motivation dieser Gruppe und ihrer grösseren Lernresistenz – was auch für einige unserer DiGS-Probanden durchaus zutreffen mag; aber für die Gesamtheit unserer untersuchten Genfer Schülerpopulation wollen wir diese Erklärungshypothese doch nicht gelten lassen ... Jedenfalls tendiert der Konsensus aus diesen neueren Untersuchungen für den gesteuerten Erwerb eher dahin, dass – eindeutig in allen empirischen Untersuchungen – die Verbalklammer relativ schnell und leicht erworben wird und dass in deutlichem Abstand Inversion und Nebensatz mehr oder weniger gleichzeitig folgen. Und wenn innerhalb der Inversionsvorkommen noch differenziert würde zwischen wirklich produktiver Inversionsverwendung einerseits und Fragesätzen und blossen Inversions-Pattern andererseits („simulierten“ Inversionen, wäre man ver-

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66 Vortrag anlässlich der IDT in Amsterdam 1997; das in Canberra laufende For-schungsprojekt ist noch nicht abgeschlossen.

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sucht, in Anlehnung an Tracy67 zu sagen), dann würde aus dieser ungefähren Gleichzeitigkeit vielleicht doch auch ein deutlicheres Nacheinander von Ne-bensatz und Inversion. Dass sich auch aus sprachtheoretischen Überlegungen heraus ein solches Nacheinander begründen liesse, hat Jordens (1988b) in seiner Uminterpretation der ZISA-Daten vorgeführt: nach Jordens muss den Lernern zuerst der Zusammenhang zwischen Verb-Endstellung in Verbindung mit der Existenz eines „Komplementierers“ (einer Subjunktion) klargeworden sein, bevor sie das Verb in Zweitposition bringen können:

We claim that ... the acquisition of the positioning of the finite verb in embedded sentences is a prerequisite for the acquisition of Verb Second. (1988b: 156)

5) Viele der bei unseren Probanden beobachteten Erwerbsverfahren sind die-selben wie die im deutschen L1-Erwerb: Intonationsfragen als erste Form von Entscheidungsfragen; allmähliches Erarbeiten der Verb-Endstellung im Nebensatz über verschiedene Generalisierungsstrategien; item-by-item-Er-werb bei den einzelnen Subjunktionen. Andere L1-Strategien hingegen kommen bei unseren Testpersonen nicht vor: In den Frühphasen des Erwerbs zögert keiner unserer Probanden zwischen Verbzweit- und Verb-Endstellung; Nebensatz-“Vorläuferstrukturen“ ohne Subjunktion gibt es im DiGS-Korpus quasi nicht, ebensowenig Fragen ohne Fragewort (die Tracyschen „Leerformate“), und äussert selten – sicher nicht repräsentativ – sind Tilgun-gen von Verben oder Subjekten in einfachen Deklarativa. Mit anderen Wor-ten: aufgrund ihres L1-Wissens können unsere Probanden Frühphasen des Erwerbs überspringen; beim differenzierten Ausbau der verschiedenen Satz-konstruktionen sind sie hingegen auf durchaus ähnliche Suchstrategien wie die deutschen Kinder angewiesen. 6) Die erste Hypothese, mit der die Schülerinnen und Schüler an die deut-schen Satzstrukturen herangehen, ist die der Identität der Basisstruktur beider Sprachen. Im Input der Primarschule finden sie auch hinreichend Evidenz für die Richtigkeit dieser Annahme; sie bleiben aber zunächst auch dann bei den S-V-Strukturen ihrer L1, wenn sie auf Cycle-Ebene mit der Verbalklammer, der Verb-Endstellung und der Subjekt-Verb-Inversion konfrontiert werden. Sich mehr oder weniger früh von der französischen Basisstruktur lösen zu können, ist ein sicheres Indiz für mehr oder weniger erfolgreichen Spracher-werb.68 _______________

67 Tracy (1994: 64) berichtet von Kindern in frühen Stadien des Deutsch-L1-Er-

werbs: „[...] they also produce expressions of more or less formulaic and idiomatic character which already simulate the V1/V2 pattern“ (Hervorhebung im Text).

68 So stellt auch Stefanie Haberzettl in ihrer Untersuchung zum Verbstellungserwerb durch Kinder mit L1 Türkisch bzw. Russisch fest: „Die Lerner nutzen ihr L1-Wis-sen, nicht indem sie ‘blind’ Oberflächenstrukturen transferieren, sondern indem sie

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7) Die starke Präsenz der muttersprachlichen S-V-Struktur könnte auch für die oben dargestellte Erwerbssequenz verantwortlich sein. Unsere Probanden scheinen die deutschen Satzmodelle in der Reihenfolge ihrer zunehmenden Differenz von der L1-Basisstruktur zu erwerben: − Die S-V-Deklarativa können direkt aus dem Französischen übernommen

werden; − dasselbe gilt für koordinierte S-V-Deklarativa; − bei W-Fragen sind auch im Französischen S-V-Inversionen häufig; − E-Fragen mit Inversion gelten im Französischen zwar als schriftsprachlich,

sind aber in bestimmten Kontexten durchaus üblich; − Verbalklammern wie im Deutschen gibt es im Französischen nicht; doch

kann das konjugierte Verb von den infiniten verbalen Elementen des Ver-balkomplexes zumindest durch Klitika und durch Adverbien getrennt werden. Zudem bleibt auch bei der deutschen Verbalklammer die Reihen-folge S-V erhalten, auch wenn der Verbalkomplex aufgespalten wird und die infiniten Verbalteile ans Satzende treten;

− Verb-Endstellungen sind im Französischen unbekannt, doch folgt auch hier noch das Verb dem Subjekt, wenn auch in maximalem Abstand;

− Inversionen verstossen gegen die Basisstruktur S-V des Französischen; sie sind in ihrem Gebrauch in Deklarativa stark ritualisiert und bleiben gene-rell dem gehobenen Stil vorbehalten.

Diese Hypothese von der bestimmenden Rolle der Basisstruktur der L1 für den Satzmodellerwerb in der L2 wird inzwischen von den Ergebnissen ver-schiedener Arbeiten zum L2-Erwerb des Deutschen gestützt. So konnte etwa Laure Klein-Gunnewiek bei niederländischen Deutschlernern keinerlei Er-werbsphasen für die Satzmodelle beobachten; alle Modelle wurden mehr oder weniger parallel erworben69 – was nicht erstaunlich ist, da das Nieder-ländische dieselben Verbstellungsregeln kennt wie das Deutsche. – Stefanie Haberzettl beobachtete bei türkischen Kindern, dass ihnen die Rechtsköpfig-keit ihrer L1 für den Erwerb der deutschen Verbstellungsregeln die besseren Ausgangshypothesen liefert als ihrem russischen Testkind seine linksköpfige Muttersprache, so dass die türkischen Kinder sowohl in der Sequenzierung als auch im Tempo des Verbstellungserwerbs dem russischen Kind überlegen sind.70 ________________

versuchen, den L2-Input zu L1-Regeln in Bezug zu setzen. Wo dies gelingt, weil entsprechende Positionen in der L1-Satzstruktur vorhanden sind, produzieren sie sehr schnell die entsprechenden Zielstrukturen. Wo solche Positionen neu einge-richtet werden müssen, sind längere Phasen der Unsicherheit zu beobachten“ (1999: 159).

69 Klein-Gunnewiek (1997: 439ff.). 70 Haberzettl (1999: 163ff.).

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8) Nun steht allerdings die Hypothese von der Erwerbssequenz der L2-Satz-modelle nach Massgabe ihrer Ferne zur L1-Struktur für die letzten beiden Phasen, die Reihenfolge Nebensatz-Inversion, auf schwankendem Boden. Denn wenn es auch zutrifft, dass Inversionsstrukturen im Französischen aus-serhalb präzise definierter Kontexte nicht mehr produktiv sind, so sind sie doch innerhalb des Systems vorgesehen, was für die Verb-Endstellung unter keinen noch so streng definierten Bedingungen gilt.

Wenn man sich jedoch die Leichtigkeit vergegenwärtigt, mit der bereits die Primarschulkinder Inversionen in W- und E-Fragen anwenden, so könnte dies auch ein Licht auf die Reihenfolge Nebensatz-Inversion (in Deklarativa) werfen. Hier geht es offensichtlich nicht um rein sprachinterne Strukturprin-zipien, sondern um die deutliche, univoke Signalisierung einer kommunika-tiven Funktion: Inversion als Signal von Frage ist in ihrer Funktion ohne weiteres identifizierbar (auf Hammarberg, der dasselbe für Schwedisch L2 feststellte, wurde oben bereits hingewiesen, vgl. S. 84), und möglicherweise gilt Entsprechendes für Verb-Endstellung als Signal für Unterordnung in komplexen Sätzen. Die Funktion von Inversion in Deklarativa als Instrument der Textstrukturierung hingegen (im Sinne von Schmidt, vgl. S. 67) ist den frankophonen Lernern völlig fremd. Der kategoriale Unterschied dieser bei-den Vorkommensmöglichkeiten von Inversion zeigt sich auch darin, dass die frühen Frage-Inversionen der Primarschule bis zum Ende der Schulzeit resis-tent gegen Erwerbsverluste bleiben, nicht jedoch Inversionen in Deklarativa, die zwar als Ergebnis von Training vorübergehend auch in Primarschulklas-sen auftreten können, jedoch bei nachlassendem Trainingsdruck wieder ver-schwinden. Sie werden erst dann bearbeitet, wenn alle anderen, in ihrer Funktion klarer erkennbaren Satzmodelle integriert sind, so dass nun Erwerbsenergie auch für dieses so fremde Satzmodell freigestellt werden kann.

Beobachtungen dieser Art lassen Zweifel daran aufkommen, ob L2-Erwerb – sei er gesteuert, sei er ungesteuert – tatsächlich ausschliesslich dem Gesetz zunehmender Verarbeitungskomplexität gehorcht, wie Clahsen (1984b) argumentiert (siehe S. 58). Dass wir zu teilweise anderen Ergebnissen gelangen als die ZISA-Forschergruppe, hat möglicherweise auch mit den Unterschieden der beiden Korpora zu tun: Gastarbeiter, die von Deutschen interviewt werden, formulieren wahrscheinlich selten Fragen, und in Anbe-tracht ihres eher wenig elaborierten Codes werden sie vermutlich auch selte-ner auf Nebensätze rekurrieren als Schüler, die durch entsprechende Auf-satzthemen zur schriftlichen Produktion eben solcher Strukturen angehalten werden.

Dergleichen Unterschiede – im Design der Forschungsanlage, in den Er-gebnissen und in den Erklärungshypothesen – demonstrieren einmal mehr, dass erst dann konsistente Aussagen über Erwerbssequenzen gemacht werden

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können, wenn Ergebnisse aus möglichst vielen unterschiedlichen Erwerbs- und Produktionssituationen und von möglichst vielen Sprachenpaaren vorlie-gen – sei es, dass diese dann zu einem allgemeingültigen Erklärungsmodell integriert werden können, sei es, dass für jede Erwerbssituation unterschied-liche Varianten von Erwerbsequenzen formuliert werden müssten. Die Er-gebnisse zum Satzmodellerwerb unserer frankophonen Schülerinnen und Schüler legen für uns den Schluss nahe, dass beim Zweitsprachenerwerb alle Register gezogen werden, die menschlichem Lernen zur Verfügung stehen: der Einsatz von bereits vorhandenem Wissen, die Reduktion komplexer Sachverhalte auf zunächst möglichst einfache Modelle, die Konzentration auf kommunikativ relevante Strukturen, die Memorisierung „handlicher“ Wis-sensbestände, die Generalisierung von erkannten Regularitäten auf Unbe-kanntes – und gewiss noch vieles andere mehr. Wir halten es für wenig wahr-scheinlich, dass ein einziges Erklärungsmodell all diesen Faktoren gerecht zu werden vermöchte.71 _______________

71 Damit kommen wir der oben (siehe S. 43) skizzierten theoretischen Position von

Wode und Ellis nahe.

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XXX

5 Erwerb der Morphologie Helen Christen 5.1 Einleitung Die linguistische Morphologie beschäftigt sich mit sprachlichen Zeichen und deren Aufbau zu Wörtern. Je nach linguistischen Forschungsinteressen stehen dabei unterschiedliche Gesichtspunkte im Vordergrund.

Die traditionelle Morphologie ging der Frage nach, welche Inhalte und Funktionen mit welcher Art von sprachlichen Zeichen enkodiert werden. Diese Fragestellungen konnten sowohl sprachenübergreifend als auch hin-sichtlich von Einzelsprachen gestellt werden und dann zu deren morphologi-scher Strukturbeschreibungen führen. Aufgrund von morphologischen Ver-gleichen verschiedener Varietäten sind Sprachkategorisierungen etabliert worden, die bis heute gängig geblieben sind: − nach der Art der Enkodierung von Inhalten: agglutinierende (= Sprachen

mit monofunktionalen Flexiven), flektierende (= Sprachen mit polyfunk-tionalen Flexiven, in denen mehrere Bedeutungen amalgamiert sind), iso-lierende Sprachen (= „flexionslose“ Sprachen mit „grammatischen Wör-tern“). Die zwei ersten können als synthetische, die dritte als analytische Sprachtypen zusammengefasst werden.

− nach der Funktion der Flexive: Derivation und Flexion (die erstere dient dazu, neue Lexeme zu schaffen, die zweite, verschiedene Formen des gleichen Lexems herauszubilden).

Von aktuellem psycholinguistischem Interesse sind die Fragen danach, wie die morphologischen Kodierungen, die Regularitäten und Irregularitäten, die sich in verschiedenen Einzelsprachen unterschiedlich an der sprachlichen Oberfläche zeigen und von der Linguistik beschrieben werden können, kog-nitiv organisiert sind. Das Problem der psychischen Repräsentation sprachli-cher Zeichen und die Frage nach der Natur des Sprachproduktionsmechanis-mus, die bis heute nicht endgültig und in keiner Weise theorieunabhängig geklärt sind, versprechen Aufschluss zu geben über die Eigenheiten der menschlichen Sprachfähigkeit.

Die verschiedenen morphologischen Schulen, die sich in den letzten Jahren innerhalb konnektionistischer und symbolistischer Ansätze (vgl. Kapitel 3) herausgebildet haben, skizziert Fabri, ohne zu verschweigen, dass die je-weiligen Anhängerschaften „tend to be mutually intolerant and arrogant“ (Fabri 1998: 4). Die grundsätzliche Frage, die sich schulenunabhängig in der

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Morphologie stellt, ist jene nach dem Status der Morphologie rsp. verschie-dener morphologischer Komponenten: Gibt es überhaupt eine „eigenständi-ge“ morphologische Komponente und wie verlaufen die „Demarkationen“ (Booij 1998) hinsichtlich der Syntax, hinsichtlich des Lexikons, innerhalb verschiedener morphologischer Prozesse?

Während wir mit der vorliegenden Arbeit – wie schon an mehreren Stellen erwähnt – keinen Beitrag leisten wollen zur Zementierung eines ganz be-stimmten sprachtheoretischen Modells, interessiert uns zweifellos, wie die einzelnen Schulen ihre Modelle der menschlichen Sprachrepräsentation und -produktion insbesondere mit Daten aus dem L1-Erwerb überprüfen. Die ler-nersprachlichen L2-Produktionen, die wir in unserem Material vorliegen ha-ben, können nun daraufhin angesehen werden, inwiefern sie sich mit Aussa-gen über den L1-Erwerb decken. Die Antwort auf die Frage, ob interindivi-duelle Übereinstimmungen, die sich beim L2-Erwerb der deutschen Verbal- und Nominalmorphologie zeigen, einem modular konzipierten Sprachpro-duktionsmechanismus zugeschrieben werden können, bleibt aber nach wie vor theorieabhängig, wie für den vorliegenden Bereich der Morphologie be-reits in der Einleitung (Kapitel 3) skizziert worden ist.1

An dieser Stelle soll noch kurz auf zwei theoretische Ansätze eingegangen werden, die für morphologische Fragestellungen im Bereich des L2-Erwerbs von Interesse sind. Zum einen handelt es sich um eine qualitative Unterschei-dung von zwei Flexionstypen, die Geert Booij (vgl. unten) macht. Von den lernersprachlichen Produktionen ausgehend kommt uns diese Kategorisierung gelegen, da die Flexionen sowohl konzeptuell als auch formal so Heterogenes wie beispielsweise Tempus und Numeruskongruenz enkodieren, die vielleicht auch für L2-Lernende tatsächlich unterschiedlich zugänglich sind.

Zum anderen wird der Ansatz der sogenannten Natürlichen Morphologie erläutert, zu dem wir besonders deshalb eine gewisse Affinität entwickelt ha-ben, weil er einen funktionalistischen Zugriff zur menschlichen Sprache fa-vorisiert und damit gerade auch bestimmten abweichenden Lernerproduktio-nen einen tieferliegenden, ja sogar sprachuniversellen „Sinn“ zuschreibt, und das im Unterschied zu gewissen Ansätzen der Spracherwerbsforschung, die oftmals ausschliesslich innerhalb von Interimssprachen und mit individuellen Lernerstrategien argumentieren.

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1 Es muss immer bedacht werden, dass auch andere Erklärungen angeführt werden können: Regelmässigkeiten im L2-Erwerb können von der allgemeinen intellektu-ellen Reife der Lernenden abhängen (und dann etwas über den unterschiedlichen Komplexitätsgrad von sprachlichen Strukturen aussagen, der nicht gleichzusetzen ist mit dem Komplexitätsgrad von „Linguistenregeln“) oder in der unterschiedli-chen Zugänglichkeit zum zielsprachlichen Material begründet sein, was gerade beim gesteuerten Erwerb mit sehr limitiertem Input ja nicht ganz ausgeschlossen werden darf.

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Unterschiedliche syntaktische Relevanz von Flexion: Inhärente vs. kontextuelle Flexion In der Morphologie wird traditionellerweise davon ausgegangen, dass sich die Morphologie in zwei funktionale Bereiche aufgliedert: die Flexion und die Wortbildung (vgl. die „klassische“ Unterscheidung in Bezug auf das Deutsche in Fleischer/Barz 1994: 3ff.). Neuere Vertreterinnen und Vertreter, die dieser „split morphology hypothesis“ anhängen, modellieren dabei die Derivation (mit Hilfe von symbolischen Regeln) als präsyntaktisch und damit als der lexikalischen Komponente zugehörig, die Flexion dagegen als post-syntaktisch. Dieses Modell wird von Booij (1994; 1996) in Frage gestellt, der die Trennung in zwei morphologische Bereiche für unangemessen hält und diese in einer einzigen grammatischen Komponente lokalisieren will. Booij unterscheidet nach dem Kriterium der syntaktischen Relevanz innerhalb der traditionellen Flexion zwei Typen, nämlich inhärente und kontextuelle Fle-xion, die er wie folgt definiert (1996: 2):

Inherent inflection is the kind of inflection that is not required by the syntactic context, although it may have syntactic relevance. Examples are the category number for nouns, comparative and superlative degree of the adjective, and tense and aspects for verbs. Other examples of inherent verbal inflection are infinitives and participles. Contextual inflection, on the other hand, is that kind of inflection that is dictated by syntax, such as person and number markers on verbs that agree with subjects and/or objects, agreement markers for adjectives, and structural case markers on nouns.

Wichtig für Booijs Nachweis einer einzigen morphologischen Komponente ist nun, dass inhärente Flexion der Derivation (die selbst der inhärenten Fle-xion in vielen Zügen ähnlich ist) und der Komposition in gewissen Fällen vorangehen kann, was bei getrennten morphologischen Komponenten nicht eintreten dürfte.

Für die vorliegende Untersuchung ist zentral, dass Booij seiner Unter-scheidung von Flexionstypen psychologische Relevanz zuschreibt, die sich folglich auch beim (hier wohl den die Erstsprache betreffenden) Spracher-werb manifestiert:

Although it is not true that the acquisition of all inherent inflection precedes that of all contextual inflection, there is evidence that inherent inflection has a certain priority over contextual inflection in language acquisition. For instance, in the acquisition of the inflectional morphology of Dutch, the acquisition of plural nouns takes place much earlier than that of the finite forms of verbs. (Booij 1996: 11)

Die Ergebnisse aus Untersuchungen zum L1-Erwerb des Deutschen, die aus den Arbeiten von Clahsen (1989) und Clahsen/Rothweiler (1992) hervorge-gangen sind, wertet Booij (1996) als Indiz dafür, dass die inhärente Flexion,

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die in der Regel semantische Funktionen enkodiert, zeitlich vor kontextueller Flexion, die syntaktische Kongruenzen ausdrückt, erworben wird. Inwiefern nun diese beiden Flexionstypen auch beim L2-Erwerb noch eine Rolle spie-len, scheint uns überprüfenswert: Bei den Lernenden ist von einer Bewälti-gung der gesamten Flexion in der L1 auszugehen, ob sie nun in der L2 wie-derum mehr Leichtigkeit zeigen, inhärent als kontextuell zu flektieren, bleibt zu überprüfen. Im Bereich der Verbalmorphologie müsste dann der Ausdruck der Temporalität „leichter“ erworben werden als die Subjektkongruenz, im Bereich der Nominalmorphologie der Ausdruck des Plurals „leichter“ als je-ner des Kasus (wobei beim L2-Erwerb die L1 als Einflussfaktor nicht ausge-schlossen werden kann und gerade im vorliegenden Fall von frankophonen Deutschlernenden Plural vor Kasus einfach deshalb früher erscheinen könnte, weil beim Plural im Unterschied zum Kasus Transfers aus der L1 möglich sind).

Der Erwerb der kontextuellen Flexion ist nun bei frankophonen Deutsch-lernenden in zweierlei Hinsicht besonders interessant: das Deutsche und Französische ist nicht deckungsgleich was den Umfang der Kategorien be-trifft, die kontextuell flektieren: während im Französischen die Partizipien in einigen Fällen kontextuelle Flexion in Abhängigkeit vom Genus des Subjekts (bei der Perfektbildung mit dem Verb être: elle est partie) oder vom Genus vorangehender Akkusativobjekte (les femmes que j’ai vues) verlangen, sind diese im Deutschen beim Gebrauch als Tempusformen immer nur inhärent flektiert; im Deutschen flektieren die komplexen Nominalgruppen nach dem Kasus, während dies im Französischen nur bei den Pronomen der Fall ist. Natürliche Morphologie Die Natürliche Morphologie, eine Übertragung des Konzepts der bereits frü-her etablierten Natürlichen Phonologie auf die Morphologie, geht davon aus, dass es in den natürlichen Sprachen Eigenschaften gibt, die der Kapazität des menschlichen Gehirns und den Bedingungen der menschlichen Kommunika-tion mehr oder weniger gut entsprechen. Der Zugriff zur Sprache ist damit ein funktionalistischer und steht in einem gewissen Gegensatz zu generativis-tischen Modellen, die „tend to focus on very specific areas of language and come up with primarly system-internal structural explanantions based on ab-stract notions.“ (Fabri 1998: 3)

Die Natürlichkeitstheorie postuliert Hierarchien von sprachlichen Merk-malen, die durch die Bedingungen der biologischen und kommunikativen Gegebenheiten des Menschen etabliert werden. Die Natürlichkeitstheorie geht zudem von einer Teleologie sprachlicher Veränderungen aus, die darin besteht, dass die Sprecherinnen und Sprecher aufgrund ihrer Natur zu einer

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Sprache neigen, die – im Falle der Morphologie – den menschlichen Kodie-rungskapazitäten und den Bedingungen der Kommunikation möglichst opti-mal entsprechen.

In der Konzeption der Natürlichen Morphologie wird davon ausgegangen, dass die optimalen, biologisch und kommunikativ angemessensten Kodie-rungen sich empirisch nachweisen lassen müssen rsp. erst über die Empirie überhaupt greifbar werden: zum Beispiel wird angenommen, dass die „besten“ Kodierungen, d. h. damit die natürlichsten,2 auch jene sind, die in den Einzelsprachen die grösste Verbreitung haben, die bei einem Sprachwandel „automatisch“ angestrebt werden, die von den Kindern zuerst erworben werden (rsp. bereits vorausgesetzt werden können) und umgekehrt bei Aphatikern zuletzt aufgegeben werden. Die Zirkularität von definitori-scher Festlegung von Natürlichkeitshierarchien und empirischen Auffin-dungsprozeduren ist leider nicht zu umgehen.

Wurzel (1984; 1994), einer der massgeblichsten Vertreter der Natürlichen Morphologie, geht davon aus, dass eine optimale Symbolisierung drei An-forderungen genügt, dass sie nämlich konstruktionell ikonisch ist (was se-mantisch „mehr“ ist, ist auch formal „mehr“; Plural hat mehr formalen Um-fang als Singular), dass sie transparent ist (eine Form hat eine Bedeutung) und uniform ist (eine Bedeutung hat eine Form).

In der Konzeption der Natürlichen Morphologie sind die Daten aus dem Spracherwerb – wie bereits dargelegt – unabdingbar für die Etablierung von Natürlichkeitshierarchien. Da nun Einzelsprachen in ihrer spezifischen Aus-prägung mehr oder weniger weit von einer morphologisch idealen Symboli-sierung entfernt sind, ist anzunehmen, dass Lernende mit diesen Eigenheiten – in Abhängigkeit von ihrem „Natürlichkeitsgrad“ – unterschiedlich zu Rande kommen, dass sie im L1-Erwerb „Natürliches“ vor „weniger Natürlichem“ lernen. Nicht ausgeschlossen ist, dass derartige „natürlichkeitsbedingte“ Erwerbsreihenfolgen auch beim L2-Erwerb eine Rolle spielen, was beispiels-weise Pishwa (1985) annimmt und anhand von schwedischsprachigen Deutschlernenden nachzuweisen versucht. Interimssprachen könnten sich überdies dadurch auszeichnen, dass die Lernenden derart von der Zielsprache abweichen, dass sie anstelle der dort geforderten Symbolisierungen Alternati-ven realisieren, die eher den Prinzipien der Natürlichen Morphologie entspre-chen, also optimalere Kodierungen sind. Es wäre also anhand der DiGS-Da-ten die Frage zu stellen, ob die besondere Leichtigkeit, mit der bestimmte _______________

2 Häufig werden die Begriffe „unmarkiert“ und „markiert“ statt „natürlich“ und

„weniger natürlich“ verwendet. Für Keller (1994: 164) handelt es sich dabei um „eine unselige terminologische Doublette“, die keinerlei Erklärungskraft hat. Sein Vorschlag zu einer sinnvollen begrifflichen Differenzierung besteht darin, dass er „Natürlichkeit“ für die Ebene des menschlichen Verhaltens und „Markiertheit“ für die Ebene der Sprache verwendet haben möchte.

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morphologische Phänomene erworben werden, allenfalls damit erklärt werden könnte, dass diese die Bedingungen an eine optimale Kodierung erfüllen. Zu-dem wären die interimssprachlichen Phänomene, d. h. die Abweichungen da-raufhin zu überprüfen, ob die Lernenden sich in einem gewissen Lernerstadi-um mit Kodierungen behelfen, die im Unterschied zu den Zielformen struk-turell ikonisch, uniformer und transparenter sind.

Bevor die Daten aus dem DiGS-Korpus auf die lernersprachliche Mor-phologie hin überprüft werden, soll an dieser Stelle kurz darauf eingegangen werden, worin für Anderssprachige die grundsätzlichen Besonderheiten der deutschen Verbal- und Nominalmorphologie – auch unter dem Gesichtspunkt der beiden oben erläuterten Aspekte – bestehen könnten. Die Schwierigkeiten des Deutschen als Zielsprache L2-Lernender sind bei Wegener (1995b) in bezug auf die Nominalflexion eindrücklich herausgearbeitet – obwohl natür-lich immer bedacht werden muss, dass das, was dem Linguistenauge als schwierig erscheint, dies für die Lernenden noch lange nicht zu sein braucht.

Deutsch ist eine flektierende Sprache und hat als solche den entschiedenen „Nachteil“ weder transparent noch uniform zu sein: Polyfunktionale und be-deutungsamalgamierte Flexive gibt es sowohl was die Deklination als auch die Konjugation betrifft (vgl. die „Bedeutungsinflation“ von -e im verbalen und nominalen Bereich). Betrachtet man etwa die starken Präteritumsformen, so ist auch die Bedingung der konstruktionellen Ikonizität nicht gegeben (vgl. ich gebe vs. ich gab [unter der Voraussetzung, dass Präsens die „natürlichste“ Tempusform ist]. Dass eine derart organisierte Sprache insbesondere die lernersprachliche Analyse des Inputs erschwert, ist unmittelbar einleuchtend.

Als Besonderheit darf auch gesehen werden, dass für bestimmte Funktio-nen nicht ein einziges Symbolisierungsverfahren zum Zuge kommt, sondern verschiedene. So kann der Plural von Nomen infigierend durch Umlaut mar-kiert werden (Mutter vs. Mütter), aber auch suffigierend (Auto vs. Autos), ebenso gibt es beim Präteritum suffigierende und (pseudo-)infigierende Ver-fahren (machte vs. ging). Eine Wortart kann zudem Trägerin verschiedener Enkodierungen sein: Verben beispielsweise drücken „obligatorisch“ Subjekt-kongruenz und gleichzeitig Tempus aus – in synthetischen Verbformen (wie beim Präsens und beim Präteritum) werden die verschiedenen Funktionen an einer einzigen Form ausgedrückt, bei analytischen Formen dagegen (wie beim Perfekt, wie bei den Prädikaten mit Modalverben) sind die Symbolisierungen auf verschiedene verbale Komponenten aufgeteilt.

Das blosse Wissen um verschiedene Verfahren muss bei Lernenden er-gänzt werden um das Wissen, wo welches Verfahren in welcher konkreten Realisierungsform zielsprachlich gefordert ist, d. h. es müssen Regularitäten, Subregularitäten und Suppletionen bewältigt werden (z. B. muss zwischen starken und schwachen Verben unterschieden, es müssen mögliche Ablaute in Erwägung gezogen werden können, die Verbformen von ‘sein’ müssen als

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„verschiedene Lexeme“ integriert werden; oder man muss wissen, dass der Plural von „Lehrer“ Lehrer, jener von „Schwester“ aber Schwestern ist). Für uns als analysierende Linguistinnen, die wir den Lernprozess anhand der Lernerprodukte nachzeichnen wollen, erwächst natürlich umgekehrt gerade aus den Besonderheiten einer Zielsprache mit polyfunktionalen Flexiven die Schwierigkeit, dass man sowohl bei zielsprachlichen wie bei abweichenden Äusserungen oft kaum entscheiden kann, welche der relevanten Kategorien die Lernenden überhaupt erworben rsp. nicht erworben haben (sie trägt eine blaue Bluse: ist die formale Richtigkeit ein Indiz für den Erwerb des Akku-sativs? Ist er hat einen Katze tatsächlich ein Indiz dafür, dass der Akkusativ bekannt ist, aber das Genus nicht?)

Nachfolgend werden die DiGS-Daten im Hinblick auf den Erwerb der Verbal- und Nominalmorphologie analysiert und zwar werden folgende Aspekte berücksichtigt: Verbalmorphologie − Erwerb der kontextuellen Flexion: Konjugation (Flexionsparadigmen der

regelmässigen und unregelmässigen Verben, Suppletive) − Erwerb der inhärenten Flexion: (Infinitive, Partizipien, Präterita und ihre

Formenbildungen) − Erwerb der Regeln des Anwendungsbereichs bestimmter kontextueller /

inhärenter Flexion bei analytischen Verbkomplexen. Nominalmorphologie − Genuserwerb − Erwerb der substantivischen Pluralmarkierungen − Kasuserwerb in Nominal- und Präpositionalgruppen

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5.2 „Die Leute weissen nicht mehr sehen die positive Punkt des Leben“ – Der Erwerb der Verbalflexion

Sandra Leuenberger/Isabelle Pelvat 5.2.1 Deutsche und französische Verbalflexion: ein Vergleich In der deutschen Verbalflexion sind, wie im Französischen, die Kategorien Person, Numerus, Tempus und Modus kodiert.

In beiden Sprachen ist Subjekt-Verb-Kongruenz gefordert. Für drei Perso-nen sind unterschiedliche Singular – und Pluralmarkierungen vorgesehen; dabei kommen in beiden Sprachen – wenn auch unterschiedlich distribuiert – polyfunktionale Flexive vor (z. B. im deutschen Präsensparadigma -en für die erste und dritte Person Plural, im französischen Präsensparadigma der Verben auf -er das Flexiv -e für erste und dritte Person Singular in der geschriebenen Sprache).

In beiden Sprachen gibt es auch inhärente Flexionsformen,3 wobei sie sich nur beim Partizip unterscheiden, das im Französischen kontextuellen Zwän-gen unterworfen ist (vgl. deutsch gebrochen vs. französisch cassé / cassée / cassés / cassées).

Auch in der morphologischen Realisierung von Tempora und Modi sind die Parallelen zwischen Deutsch und Französisch zahlreicher als die Unter-schiede: Im Französischen wie im Deutschen gibt es analytische und synthe-tische Formen (vgl. im Deutschen etwa Präteritum vs. Perfekt; im Französi-schen imparfait vs. passé composé). Im Französischen sind allerdings Futur und Konditional synthetisch gebildet, im Deutschen analytisch (vgl. je vien-drai vs. ich werde kommen / je viendrais vs. ich würde kommen). Entspre-chendes gilt auch für die Koexistenz regulärer und irregulärer Verbalflexion: In beiden Sprachen verlangen bestimmte Verbkategorien spezifische Perso-nalendungen (im Deutschen z. B. die Modalverben, im Französischen Verben auf -ir und -re); beide Sprachen kennen auch Stammveränderungen, sowohl nicht-funktionale (innerhalb des Paradigmas der Personalendungen, vgl. deutsch ich laufe / er läuft; französisch je viens / nous venons) als auch funk-tionale (zwischen den verschiedenen Paradigmen für Tempora und Modi, vgl. deutsch z. B. singen – sang – gesungen; französisch z. B. je viens – je vins). Im Französischen ist das System allerdings insofern komplexer, als es mit dem passé simple ein weiteres Vergangenheitstempus und mit dem con-ditionnel einen weiteren Modus bereitstellt.

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3 Zur Definition siehe S. 119.

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Da die L1 unserer frankophonen Schülerinnen und Schüler differenzierter ausgebaut ist als die zu erwerbende L2, könnte davon ausgegangen werden, dass ihnen das einfachere Tempus- und Modussystem des Deutschen keine allzu grossen konzeptuellen Schwierigkeiten entgegensetzen dürfte. Auch die Koexistenz von kontextueller und inhärenter Flexion sowie die von syntheti-schen und analytischen Verbformen müsste ihnen vertraut erscheinen, ebenso wie das Phänomen unregelmässiger Flexionsformen. Allerdings ist dieses (intuitive) Wissen um die Existenz dieser grammatischen Formen und ihrer Funktionen auf einer kognitiv anderen Ebene anzusiedeln als die jeweilige morphologische Realisierung. Unser Korpus zeigt, wie mühsam und langwie-rig der Erwerb dieser Verbalmorphologie sein kann, trotz aller konzeptuellen Parallelen zur L1 und trotz aller Hilfen, die der Grammatikunterricht bereit-stellt. 5.2.2 Die Verbalflexion im Genfer Deutschunterricht Wie oben bereits ausgeführt (vgl. S. 16), wird in den Genfer Primarschulen kein expliziter Grammatikunterricht erteilt. Das Gewicht liegt zuerst haupt-sächlich auf der mündlichen Reproduktion gehörter Äusserungen wie ich heisse, ich wohne, ich bin ..., ohne dass die Verbflexion explizit vorgeführt und erläutert würde. Es sind erwartungsgemäss genau diese Verbformen, die stereotyp in den frühen Produktionen unserer Primarschulkinder erscheinen.

Zu den schon auftretendenVerbformen im Präsens kommt in der 6. Klasse das Verb können im Singular hinzu, kombiniert mit Vollverben (ich kann spielen) in festen Wendungen.

Mit diesem Inventar an Verbformeln versehen kommen die Schülerinnen und Schüler in den Cycle d’orientation, wo sie von der 7. Klasse an mit ex-plizitem Grammatikunterricht konfrontiert werden. Als Erstes haben sie das Präsensparadigma der regelmässigen Verben und der Auxiliare sein und ha-ben zu lernen, im Anschluss daran die Flexion unregelmässiger Verben im Präsens (schlafen – schläft, essen – isst, lesen – liest). Zusätzlich zum Lehr-werk werden den Schülern Vokabellisten4 verteilt, die auch die Verben ein-schliesslich 3. Person Singular enthalten, die zum Auswendiglernen bestimmt sind. Ebenfalls zum Lernstoff der 7. Klasse gehören die Flexion der Modal-verben und ihre Kombination mit dem Infinitiv.

Im Verlauf der 8. Klasse wird das Perfekt eingeführt, zuerst anhand einiger weniger Formen auf -en (gegessen, getrunken ...), dann mit expliziter

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4 Diese Listen wurden als Zusatzmaterial zum Lehrbuch „Vorwärts“ von den Leh-rern entwickelt.

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Erläuterung der Partizipbildung der regelmässigen und unregelmässigen Verben.5 Auch diese Formen werden aufgelistet (sehen – er sieht – er hat ge-sehen), wobei die unregelmässigen Verben eindeutig dominieren.

Gegen Ende der 9. Klasse, der letzten Cycle-Klasse, beginnt der Unterricht der Präteritumsformen der Auxiliare und Modalverben; in den weiterführen-den Schulen wird in der zehnten Klasse das ganze Spektrum der regelmässi-gen und unregelmässigen Präteritumsmorphologie vorgestellt und geübt, auch hier wieder unter Zuhilfenahme von Listen mit vorwiegend unregelmässigen Verben.

Die noch verbleibenden Tempora und Modi – Futur, Konjunktiv I und II und das Passiv – gehören zum Unterrichtsstoff der 10. und 11. Klasse. Am Ende der 11. Klasse wird von der Annahme ausgegangen, dass die Schüler das gesamte deutsche Verbalsystem aktiv beherrschen. Unsere Analysen werden zeigen, inwiefern diese Annahme als realistisch einzuschätzen ist.

Unseren eigenen Analysen sei jedoch ein kurzer Überblick über For-schungsarbeiten zum Erstsprachenerwerb sowie zum natürlichen und gesteu-erten Zweitsprachenerwerb vorausgeschickt, die sich mit der Verbalflexion befassen. Aus einem Vergleich zwischen den Ergebnissen dieser Arbeiten und unserer eigenen Analyse versprechen wir uns interessante Aufschlüsse über die Erwerbsverfahren im gesteuerten Erwerb, die wiederum weitreichende fremdsprachendidaktische Konsequenzen nach sich ziehen könnten. 5.2.3 Untersuchungen zum Erwerb der Verbalmorphologie

5.2.3.1 Untersuchungen zum Erstsprachenerwerb des Deutschen

Anne E. Mills (1985) hat frühere Arbeiten zum Erstsprachenerwerb des Deutschen kompiliert6 und durch eigene Daten ergänzt. Sie übernimmt dabei die Konvention, die kindlichen Äusserungen nach der Anzahl der Wörter zu hierarchisieren, von der „Ein-Wort-Phase“ bis zur „Drei-und-mehr-Wörter-Phase“, die die Kinder in der Regel zu Beginn des vierten Lebensjahres errei-chen. Spätere Phasen subsumiert sie unter „later development“, die bis über das sechste Lebensjahr hinausreichen können.

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5 Wir halten uns hier an die Terminologie der Duden-Grammatik, in der anstelle der früher üblichen Unterscheidung von „starken“, „schwachen“ und „gemischten“ Verben nur noch von „regelmässigen“ und „unregelmässigen“ Verben gesprochen wird. Die Begründung hierfür ist in der Duden-Auflage von 1998 auf S. 114, Fuss-note 1 nachzulesen.

6 Darunter auch die Tagebuchaufzeichnungen, die um die Jahrhundertwende von Scupin, später von den Sterns angefertigt wurden, vgl. Mills (1985: 151f.).

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Nach dieser Kategorisierung verwenden die deutschen Kinder in der Ein-Wort-Phase überwiegend Nomen; anstelle von Verben erscheinen oft nur Präfixe (rauf, runter); wenn überhaupt Verben verwendet werden, so stehen sie im Infinitiv – oder es sind Fragmente aus formelhaften Wendungen (z. B. schmeckt als Reduktion von das schmeckt gut). Auch in der Zwei-Wort-Phase steht das Verb häufig noch im Infinitiv; es erscheint aber auch in dieser Phase als erstes Indiz für den Beginn der Subjekt-Verb-Kongruenz das -t der dritten Person Singular. Zudem treten in dieser Phase die ersten Partizipien auf, allerdings häufig ohne das Präfix ge- (nommen statt genommen). Erst in der „Drei-und-mehr-Wörter-Phase“ findet nach Mills im Verbalbereich eine sprunghafte Weiterentwicklung statt: Die Subjekt-Verb-Kongruenz wird für alle Personen und überwiegend normkonform realisiert, Auxiliare und Modalverben tauchen auf, letztere in Verbindung mit Vollverben, auch erste Futur-Formen erscheinen. An Partizipien wird das Präfix ge- nun weitgehend – wenn auch nicht immer – realisiert. Nur die unregelmässigen Fle-xionsformen können noch nicht bearbeitet werden; reguläre Formen werden auf irreguläre Verben generalisiert. Das gilt auch für das Präteritum, das ebenfalls in dieser Phase erstmals erscheint (also stehlten statt stahlen), wobei eine Präsensform offensichtlich als Basis fungiert. Beim Partizip wird umgekehrt verfahren: hier wird die Endung der regelmässig flektierten Ver-ben auch für die unregelmässigen übernommen (gegeht statt gegangen). Es dauert nach Mills allerdings noch weit über das vierte Lebensjahr hinaus, bis die irregulären Verbformen – insbesondere beim Präteritum und beim Parti-zip – erworben sind; die grössten Schwierigkeiten bereiten den Kindern hier-bei offenbar die Stammveränderungen.7

Es ist schwierig, diese Beobachtungen von Mills mit den Ergebnissen von Harald Clahsen (1988) zu vergleichen. Das liegt zum einen daran, dass Clah-sen ein anderes Kriterium für die Definition von Entwicklungsphasen wählt (es sind die fünf Stufen, die Brown/Cadzen/Bellugi auf Grund der MLU-Werte8 ermittelt haben), zum anderen daran, dass das zentrale Interesse der beiden Untersuchungen unterschiedlichen Phänomenen gilt. Während Mills einen Gesamtüberblick über den kindlichen Erwerbsverlauf – also auch den gesamten Erwerb der Verbalflexion – vermittelt, steht für Clahsen die Sub-jekt-Verb-Kongruenz im Vordergrund. Übereinstimmend beobachten beide das häufige Auftreten von Infinitivformen in der Frühphase, und beide iden-tifizieren das t-Flexiv als erstes Suffix im kindlichen Spracherwerb. Aller-dings interpretiert Clahsen dieses Flexiv nicht als Personalendung, wie Mills _______________

7 Mills (1985: 153ff.) 8 Bei den MLU (= mean length of utterance) -Werten „wird nach genau festgelegten

Konventionen für jeden Beobachtungszeitpunkt die Anzahl der grammatischen Morpheme ausgezählt, die durchschnittlich in jeder sprachlichen Äusserung des Kindes vorkommen.“ Clahsen (1988: 29f.).

128

dies tut, sondern als Markierung von Transitivität. Seinen Daten zufolge ist der Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz ohnehin ein viel langwierigerer Prozess, der über die Zwischenstufe einer -e-Generalisierung (ich kanne) mit vielen abweichenden Formen verläuft und erst dann als abgeschlossen gelten kann, wenn die 2. Person Singular, das -st-Flexiv, normkonform verwendet wird.

Ein Blick auf Forschungsarbeiten zum Erstsprachenerwerb anderer Spra-chen (Portugiesisch, Lettisch, Finnisch)9 zeigt übrigens, dass auch dort das Flexiv der 3. Person Singular als erstes auftritt (was die These von Clahsen in Frage stellt); auch dort folgt als nächstes das Flexiv der 1. Person Singular. Im weiteren Erwerbsverlauf lassen sich dann allerdings keine Übereinstim-mungen mehr feststellen, schon auch deswegen, weil bei diesen Untersu-chungen unterschiedliche Flexionsphänomene in den Blick genommen wer-den.

5.2.3.2 Untersuchungen zum ungesteuerten Zweitsprachenerwerb

Hier ist die Arbeit von Bert-Olaf Rieck (1989) zu nennen, der den natürlichen L2-Erwerb von neun erwachsenen spanischen Emigranten in Deutschland beobachtet.10 Unter den elf Variabeln, die er untersucht, sind hier drei relevant: Verbtilgung, Gebrauch der Kopula und mehrteilige Verbformen (d. h. Modalverb + Infinitiv bzw. Auxiliar + Partizip).

Ohne den Erwerbsverlauf in Phasen zu unterteilen, nennt Rieck als Merk-mal eines frühen Erwerbsstandes verblose Sätze, ein Charakteristikum, das er speziell den ungesteuerten Erwerbsbedingungen zuschreibt. Dass hingegen bereits in den frühen Äusserungen der spanischen Erwachsenen Formen wie ich bin, du bist erscheinen, wäre nach Rieck ein deutlicher Unterschied im Vergleich zum Erstsprachenerwerb, wo anstelle von Pronomen Nomen ver-wendet und das Verb entsprechend die Endung der 3. Person Singular auf-weist (anstelle von du trinkst: Mami trinkt). Allerdings hält Rieck diese frü-hen flektierten Kopulaformen für feste Wendungen, nicht für einen Beweis, dass das Paradigma der Kopula beherrscht wird. Bei den mehrteiligen Verb-formen sieht er eine Erwerbsreihenfolge „Modalverb + Infinitiv“, dann „Auxiliar + Partizip“. Mit dem Perfekt verfügen die Gastarbeiter erstmals über ein Vergangenheitstempus; Präteritum sowie alle anderen Tempora und Modi werden deutlich später erworben, wenn überhaupt.

Auch Carol Aisha Blackshire-Belay (1995) befasst sich mit dem natürli-chen Deutscherwerb von Gastarbeitern, allerdings mit verschiedenen Mutter-

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9 Simoes, M./Stoel-Gammon C. (1979); Ruke-Dravina, V. (1973); Toivainen, J. (1980).

10 Seine Daten stammen aus dem Heidelberger-Projekt und sind mündliche Daten.

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sprachen. Im Frühstadium ihres Erwerbs verwenden auch ihre Probanden – ganz ähnlich wie die von Mills und Clahsen beobachteten Kinder – eine un-veränderte Verbform, oft den Infinitiv, oft aber auch die erste Person Singu-lar.

Als Fallstudie untersucht Blackshire-Belay die Produktionen einer Test-person aus ihrem Korpus, Vladimir, um die Rolle der Frequenz beim Zweitsprachenerwerb zu überprüfen. Sie stellt bei Vladimir fest, dass er tat-sächlich nur diejenigen Partizipformen zielsprachengerecht verwenden kann, die im Input hochfrequent sind (gestorben, vergessen, gewesen, gehabt und gewusst). Bei allen anderen, seien sie von regelmässigen oder unregelmässi-gen Verben abgeleitet, kommt es zu Generalisierungen (des -en-Flexivs bei regelmässigen Verben ich habe gearbeiten; des Stammvokals bei unregelmäs-sigen Verben oder auch zu Tilgungen des Auxiliars: wir nur so geguckt). Modalverben verbindet Vladimir vorzugsweise mit Partizipien (ich wollte gekommen).

In diesen Ergebnissen sieht Blackshire-Belay ihre Hypothese bestätigt, dass die Chance für eine zielsprachengerechte Realisierung umso grösser ist, je häufiger eine Form im Input (und Output) erscheint.

5.2.3.3 Untersuchungen zum gesteuerten Zweitsprachenerwerb

Eine Mischform aus gesteuertem und natürlichem L2-Erwerb untersucht Hanna Pishwa (1985) in Schweden. Als Korpus dienen ihr die mündlichen Äusserungen von sechzehn schwedischen Kindern, die innerhalb einer deut-schen Schule einem Immersionsprogramm folgen. Der Beobachtungszeitraum umfasst drei Schulhalbjahre.

Pishwa stellt beim Verbalflexionserwerb ihrer Testpersonen eine durchaus ähnliche Reihenfolge fest wie Mills und Clahsen im Erstsprachenerwerb und Blackshire im ungesteuerten L2-Erwerb: Auch die schwedischen Schulkinder verwenden im Frühstadium ihres Erwerbs Infinitive,11 auch bei ihnen folgt als nächstes das -t-Flexiv als generalisierte Personalform und in einem dritten Schritt erscheinen die beiden anderen Personalformen des Singulars. Dann folgt das -en-Flexiv zur Markierung der 1. Person Plural, und zuletzt werden Singular und Plural der 3. Person differenziert.

Beim Erwerb der Tempora beobachtet Pishwa eine häufige Generalisie-rung von Präsensformen auf Vergangenheitskontexte. Im Gegensatz zu Mills und Blackshire stellt sie bei den schwedischen Kindern einen raschen und problemlosen Erwerb der Partizipformen fest, daneben allerdings erhebliche _______________

11 Für die Kopula kommt Pishwa fast zur gleichen Erwerbsreihenfolge wie für die

Hauptverben. Der einzige Unterschied betrifft den Anfang des Erwerbs, der bei den Kopula nicht mit dem Infinitiv, sondern direkt mit der dritten Person Singular beginnt.

130

Schwierigkeiten bei der Wahl des Auxiliars im Perfekt. Dies könnte – ähnlich wie bei niederländischen Deutschlernern – seinen Grund in der L1 haben.

In diesen Beobachtungen sieht Pishwa die Voraussagen der Markiert-heitstheorie bestätigt, die den theoretischen Rahmen ihrer Untersuchung bil-det. Nach dieser Theorie werden unmarkierte Kategorien zuerst erworben; sie sind Basiskategorien,12 von denen die Spracherwerber ausgehen und auf die sie zurückgreifen, während sie ihr interimssprachliches System ausdiffe-renzieren. Als Basiskategorien gelten unter den Modi der Indikativ, unter den Tempora das Präsens, unter den Numeri der Singular und unter den Personal-formen die dritte Person Singular – was genau der von Pishwa beobachteten L2-Erwerbsreihenfolge entspricht.

Ausgehend von Pienemanns teachability hypothesis und gestützt auf seine Untersuchung von 198713 untersucht Bettina Boss (1997) den Deutscherwerb von acht anglophonen Studierenden der Universität New South Wales in Sydney. Es geht ihr dabei um die Überprüfung des Verhältnisses von Gram-matikinstruktion und Erwerbserfolg, m.a.W. um die „Lernbarkeit“ der im Unterricht vermittelten Strukturen, wenn sich dieser Unterricht nicht an den natürlichen Erwerbssequenzen orientiert. Das Forschungsinteresse von Boss deckt sich somit weitgehend mit dem unseren, wobei sie mit mündlichen Daten arbeitet, wir hingegen mit schriftlichen.

Wir gehen hier nur auf denjenigen Teil ihrer Analyse ein, der sich mit der Verbalmorphologie befasst: das Perfekt und die Konjugation im Präsens.

Boss’ australische Studenten verhalten sich sehr ähnlich wie Pishwas schwedische Kinder: drei der acht Testpersonen weichen auf Präsensformen aus, wo Perfekt gefordert gewesen wäre; auch werden Singularformen auf Pluralkontexte generalisiert (zwei manne spiele fussball; in dem schiff sitz zwei personen) – beides Indizien dafür, dass Präsens und Singular im Sinne der Markiertheitstheorie tatsächlich Basiskategorien zu sein scheinen, im natürlichen wie im gesteuerten Erwerb.

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12 „Die Basiskategorien basieren auf den prototypischen Sprechereigenschaften: biologischer Ausstattung, Erfahrung und Kulturkreis und sprachspezifischen Ei-genschaften. Was nun markierter, i.e. keine Basiskategorie, für diesen Sprecher darstellt, definiert Mayertaler (1981) als ‘relativ komplexer für das menschliche Gehirn’.“ Pishwa (1985: 7f.).

13 In dieser Untersuchung zum gesteuerten Zweitspracherwerb hat Manfred Piene-mann (1987) den anglophonen Studenten Guy an der Universität Sydney bei sei-nem mündlichen Deutscherwerb untersucht. Er stellte in Guys Erwerb des Verbal-systems zwei Stufen fest. In der ersten Stufe findet der Erwerb der Flexionsmor-pheme des schwach gebildeten Partizips (ge-V-t) statt, in der zweiten setzt sich Guy mit dem Erwerb der Konjugation des finiten Verbs und damit der Subjekt-Verb-Konkordanz auseinander.

131

Weniger eindeutig sind die Ergebnisse bei den Personalformen des Prä-sensparadigmas, denn bei Boss’ Studenten wird nicht nur die 3. Person gene-ralisiert, wie nach der Markiertheitstheorie zu erwarten wäre (ich studierst ingenieurwissenschaften; daneben aber auch: ich liest gern und hört gern musik). Dies erklärt sich vermutlich durch Boss’ Testanlage, bei der je zwei Testpersonen interaktive Aufgaben zu erfüllen hatten. Insofern die australi-schen Studenten Perfekt gebrauchen, ist die häufigste Fehlerquelle die Ver-wendung des Infinitivs anstelle des Partizips und nicht, wie bei Blackshires Vladimir, die Generalisierung starker oder schwacher Formen. Daneben bil-den sie auch Formen wie der mann ist jogging, die wohl als Transfer aus dem Englischen interpretiert werden dürfen.

Dass in den verschiedenen Arbeiten zum Zweitsprachenerwerb neben übereinstimmenden Ergebnissen doch auch dergleichen Divergenzen auftre-ten, mag verschiedene Gründe haben: das unterschiedliche Alter der Lernen-den, die Korpusanlage, die unterschiedlichen Erstsprachen, unterschiedliche Gewichtung im Unterricht. Sie könnten auch den Freiraum bezeichnen, in-nerhalb dessen die Unterschiede zwischen einzelnen Lernerindividuen zum Zuge kommen. Daneben wäre allerdings denkbar, dass sich die verschiedenen Generalisierungsstrategien doch auch bestimmten Entwicklungsphasen zuordnen lassen – vorausgesetzt, es steht ein hinreichend breit angelegtes Korpus zur Verfügung, das individuelle Unterschiede und überindividuelle Gemeinsamkeiten zu trennen erlaubt. Wir hoffen, mit unseren Analysen eini-ges zur Klärung beitragen zu können. 5.2.4 Der Erwerb der Verbalflexion im Genfer Deutschunterricht

5.2.4.1 Korpus und Analyseverfahren

Die Analyse des Verbalphrasenerwerbs stützt sich auf ein Korpus von 1053 Schülerarbeiten, die von 132 Schülerinnen und Schülern verfasst wurden. Sie verteilen sich folgendermassen auf die neun Schulstufen:

132

Klasse Anzahl der Schüler 4/5 15 5/6 6 6/7 27 7/8 20 8/9 14 9/10 8 10/11 23 11/12 12 12/M 7 132

Tab. 19: Korpus für die Analyse des Verbalbereichs Bei der Analyse des Konjugationserwerbs wurde ebenso verfahren wie bei den Satzmodellen und den Nominal- und Präpositionalphrasen: erhoben wurden sowohl die normkonformen als auch die abweichenden Formen.14 Den Beginn einer neuen Erwerbsphase setzen wir dort an, wo neue Formen erkennbar bearbeitet werden, wobei gerade von der Norm abweichende Bil-dungen das verlässlichste Indiz für eigenständiges Experimentieren liefern. Eine Phase gilt für uns dann als abgeschlossen, wenn die entsprechende Form in 75–80% der Vorkommensfälle normgerecht realisiert wird und nicht nur sporadisch auftaucht.

Auf Grund des letztgenannten Kriteriums musste eine Reihe von Verb-formen aus der Analyse ausgeklammert werden; sie kamen zu selten im Kor-pus vor, um allgemeingültige Aussagen zuzulassen. Dies gilt für den Impera-tiv und für die Subjekt-Verb-Kongruenz der 2. und 3. Person Plural (letztere in ihrer Funktion als Höflichskeitsform). Auch das Phänomen der trennbaren Verben wurde nicht bearbeitet.

Aus demselben Grund blieben individuelle „Kuriositäten“ unberücksich-tigt, ebenso wie die vereinzelt vorkommenden schwer bzw. nicht interpre-tierbaren Formen und – natürlich – die französischen Verbformen. Zudem gilt auch für den Verbalbereich die generelle Vorgabe, dass lexikalische Aspekte (z. B. ich bin catzé statt ich habe eine Katze oder ich habe 10 Jahre alt) ausser Betracht bleiben.

Wenn wir nun im Folgenden die Erwerbssequenz für den Bereich der Verbalphrase beschreiben, wie sie sich den Schülerarbeiten entnehmen lässt, so darf doch dabei nicht vergessen werden, dass es sich um eine idealtypische Rekonstruktion handelt, deren Konturen in der Realität der Schülerpro-duktionen vielfach verwischt sind.

_______________

14 Erhebungsbögen siehe Anhang.

133

− Zum einen sind Anfang und Ende einer Phase in den meisten Fällen nicht eindeutig zu bestimmen. Die morphologische Realisierung eines be-stimmten Formenparadigmas kann auch dann noch Schwierigkeiten be-reiten, wenn bereits die Erwerbsaufgabe der folgenden Phase in Angriff genommen wird.

− Zum anderen werden manche Formen – wie etwa die von unregelmässigen Verben – so selten verwendet, dass sie für die Analyse nur einen be-grenzten Aussagewert haben. Hierfür könnte der Erwerb unter gesteuerten Bedingungen verantwortlich sein: um der Fehlersanktion zu entgehen, wenden die Schüler Vermeidungsstrategien an und gebrauchen zum Bei-spiel nur eine geringe Anzahl von verschiedenen Verben.

− Andererseits sind bei einem bestimmten Schülertyp auch Konstellationen von Verbformen – korrekten sowie abweichenden – zu beobachten, die nach Massgabe der Erwerbssequenz gar nicht vorkommen dürften. Wir interpretieren dies so, dass bei diesen Schülern der Erwerb schon relativ früh zum Erliegen gekommen ist, so dass sie sich mit memorisierten Ver-satzstücken behelfen, die je nach Kontext zufällig zielsprachenkonform oder abweichend sind. Wir bezeichnen mit Selinker dieses Phänomen als Fossilisierung.15

− Auch die Wahl der Aufsatzthemen erschwert teilweise die Ermittlung von Erwerbsständen, weil bestimmte Themen zwar bestimmte Formen elizi-dieren können, andere aber weitgehend ausschliessen. So ermöglicht das Thema „Interview“ beispielsweise die Analyse des Erwerbs von Fragesät-zen, überlässt aber die Wahl der Tempora den Schülern, so dass auch fort-geschrittene Schüler hier das naheliegende Präsens verwenden und bei-spielsweise keinerlei Auskunft über ihren Präteritumserwerb zu erhalten ist.

5.2.4.2 Die sechs Phasen im Erwerb der Verbalmorphologie

5.2.4.2.1 Phase I: Die präkonjugale Phase

Dem eigentlichen Erwerb der Verbalflexion geht eine „Vorphase“ voraus, in der sich keine Indizien dafür ausmachen lassen, dass die Kinder ein Bewusst-sein für Flexion besitzen. Verben werden entweder nicht flektiert oder eli-diert; und wo flektierte Verben verwendet werden, geschieht dies in so ste-reotyper Weise, dass es sich um memorisierte floskelhafte Wendungen (sog. Chunks, siehe unten Seite 136) handeln dürfte.

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15 Zur Definition bei Selinker (1972) siehe unten Kapitel 6.4, Fussnote 35.

134

Die folgende Tabelle zeigt den jeweiligen Anteil dieser verschiedenen Vorgehensweisen, bezogen auf die Gesamtzahl der verwendeten Verben bzw. der Sätze mit obligatorischem Verb. floskelhafte

Wendungen Nicht-flektierte Formen

Sätze ohne Verben

Sonstige16 Total

Anzahl der Formen

265 91 62 133 551

Prozente 48,1% 16,5% 11,3% 24,1% 100% Anzahl der Schüler

16 16 15 16 16

Tab. 20: Verwendete Verbalformen in Phase I Flektierte Verben in stereotypen Wendungen: In den frühen Produktionen unserer Testschüler ist immerhin knapp die Hälfte aller Sätze mit einem ziel-sprachengerecht eingesetzten flektierten Verb gebildet, siehe etwa das fol-gende Beispiel: (1) Ich mache Flöte. Ich zinge gern. Ich spile fussball mit mein brouder. Ich fahre

ski. Ich esse gern frurtsalat und schokolade und brot. Ich gern musik Klassik. Ich habe kein Hund. (Evelyne L 6/7, 2)

Es wäre allerdings ein Trugschluss, auf Grund dieses hohen Korrektheitsgra-des auf eine frühe Beherrschung der Verbalflexion zu schliessen. Ein genaue-rer Blick auf die verwendeten Verbformen und insbesondere auf das Ver-hältnis von Types und Tokens zeigt unmissverständlich, dass diese korrekten Verwendungen sich auf wenige, hochfrequente Verben konzentrieren. In der folgenden Tabelle sind die Vorkommenshäufigkeiten der verschiedenen Per-sonalformen (Tokens) eines jeden Verbs (Type) zusammengestellt.

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16 Unter „Sonstige“ wurden all jene Fälle rubriziert, die wegen ihrer stark abwei-chenden Schreibung (zur Erinnerung: in der 4. Klasse werden die Kinder nur mit Hörtexten konfrontiert) nicht eindeutig interpretiert werden konnten, wie zum Bei-spiel sie sähalt (Annick A 4/5, 2), wivil tend das (Annick A 4/5, 3), sie marcoren (Annick A 4/5, 5), facer bade (Eliane F, 4/5, 4).

135

Rang Type Tokens Rang Type Tokens 1. sein bin (41)17

bist (13) ist (22) sind (1) war (7)

5. kosten kostet (9)

insgesamt 84

2. machen mache (13) machst (10) macht (4) machen (2)

6. gehen gehe (5) geht (2) gehen (1)

insgesamt 29 insgesamt 8

3. haben habe (16) hast (5) hat (1) haben (2)

mögen möchte (5) möchtest (2) möchtet (1)

insgesamt 24 insgesamt 8

heissen heisse (3) heisst (21)

7. wohnen wohne (3) wohnst (2)

insgesamt 24 insgesamt 5

4. lieben spielen

liebe (12) spiele (12)

8. fahren fahre (4)

Tab. 21: Häufigste vorkommende Verbalformen Es zeigt sich also, dass der weitaus grösste Anteil dieser korrekten Verbfor-men auf die Auxiliare sein und haben sowie auf die Verben machen und heis-sen entfällt, und zwar mit deutlicher Dominanz der ersten Person Singular bei den drei erstgenannten und ebenso deutlicher Dominanz der dritten Person Singular beim vierten. Diese Verben und ihre jeweilige Personalform – ebenso wie die fünf nächsthäufigen lieben, spielen, kosten, gehen und mögen – spiegeln recht genau die Hör- und Sprechtexte wider, mit denen die Primarschüler ins Deutsche eingeführt werden (ich stelle mich vor – meine Hobbys – meine Familie – Verkaufsgespräche). Ergänzt man diese Liste noch um wohnen und fahren, so sind mit diesen elf Verben 82% aller korrekten Verbformen erfasst. Die verbleibenden der insgesamt 265 Formen verteilen sich auf 20 Verben, von denen 10 nur einmal, 6 zweimal und 4 dreimal verwendet werden.

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17 In Klammern steht die Anzahl der Formen, die in den Texten vorkommen.

136

Diese geringe Verbvarianz sowie das Fehlen jeglicher Abweichungen dür-fen wohl als Indizien dafür interpretiert werden, dass die Schulkinder gehörte Sätze aus dem Gedächtnis reproduzieren, ohne die Verbalflexion eigenständig zu bearbeiten. Es handelt sich also um nichtanalysierte formelhafte Wen-dungen, die wir im folgenden als Chunks bezeichnen.

Das Chunk-learning ist in der Erwerbsforschung ein längst bekanntes Phänomen, das für Frühphasen des Spracherwerbs typisch ist. Unsere Pri-marschulkinder verhalten sich in dieser Hinsicht nicht anders als Kinder im Erstsprachenerwerb und generell alle Lerner in Frühphasen des natürlichen Zweitsprachenerwerbs.18 Nichtflektierte Formen: Das zweithäufigste Phänomen in dieser frühen Phase ist die Verwendung von Verben im Infinitiv: (2) Laura machen ein Kuchen oud Vater lesen das Repzet oud klein Bruder coupen

der Salami. (Caroline C 4/5, 5) Diese infiniten Formen machen 16,5% aller Verbformen dieser frühen Phase aus. Dass nun gerade die infinite Form auf -en generalisiert wird, ist wohl in erster Linie darauf zurückzuführen, dass neue Verben im Unterricht übli-cherweise in der Infinitivform eingeführt und erklärt (und abgefragt) werden. Es kann aber ebenso als Nachweis dafür gelten, dass sich der Infintiv auch unter gesteuerten Erwerbsbedingungen in seiner Rolle als Basiskategorie durchsetzt.

Diese unflektierten Formen sind ein weiteres Indiz dafür, dass die kon-textuelle Flexion in dieser Frühphase noch nicht realisiert werden kann – vielleicht auch, dass sie noch gar nicht als grammatische Regel der Fremd-sprache Deutsch erkannt worden ist. Entprechendes ist übrigens auch aus dem Erstsprachenerwerb19 bekannt; und Blackshire20 beobachtet dasselbe Phänomen im natürlichen Zweitsprachenerwerb:

It is most interesting to note that during the early phases of L2 acquisition, adult second language learners do not make systematic use of the inflectional system of the target language, the infinitive-like form or the verbal stem predominates the system.

Nur die Kopula sein wird niemals im Infinitiv gebraucht,21 was gewiss damit in Zusammenhang steht, dass sie in der Häufigkeit so eindeutig an der Spitze

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18 Zum Erstsprachenerwerb Mills (1985), zum ungesteuerten Zweitsprachenwerb Rieck (1989), Blackshire (1991) und (1995).

19 Vgl. Mills (1985: 234f.) und Clahsen (1988). 20 Blackshire-Belay (1995: 232). 21 Siehe dazu S. 129, Fussnote 11.

137

steht (siehe Tab. 21) und in allen Personalformen zwangsläufig als Chunk memorisiert werden muss, weil es sich ja um ein Verb mit suppletiven For-men handelt. Tilgung von Verben: In 62 Sätzen des Korpus aus dieser Frühphase (= 11,2%) fehlt ein Verb; siehe etwa folgendes Beispiel: (3) Schoole, Genf Champ fréchets…Gebürtstag, 27 novembre; Ich jahre alte, 13

ans (Alexandre S 6/7, 1) Auch wenn diese verblosen Sätze zweifellos nicht das markanteste Merkmal der präkonjugalen Phase sind, so ist ihr Vorkommen unter den Bedingungen gesteuerten Erwerbs doch erstaunlich. Als Charakteristikum des Erstspra-chenerwerbs und des ungesteuerten L2-Erwerbs sind sie oft beschrieben worden,22 bei frankophonen Fremdsprachenschülern ist das Phänomen jedoch umso erstaunlicher, als diese aus ihrer L1 das Verb als obligatorischen Bestandteil von Sätzen kennen und zudem vom Lehrer zur Produktion „vollständiger Sätze“ permanent angehalten werden. Die Elision des Verbs ist also wohl als Lernerstrategie aufzufassen, die darin besteht, eine formale Schwierigkeit dadurch zu umgehen, dass das kritische Wort weggelassen wird – eine Strategie, auf die bereits im ZISA-Projekt hingewiesen wurde.23 Jedoch werden in unserem Korpus meistens nicht beliebige Verben elidiert, sondern entweder Auxiliare oder semantisch vage Verben, also solche, die vom Rezipienten auch leicht erschlossen werden können.

5.2.4.2.2 Phase II: Bearbeitung der regelmässigen Konjugation

Das Kriterium für den Beginn der Phase II sind die nun erstmals auftauchen-den abweichenden Verbalflexionen: An ihnen wird deutlich, dass die Primar-schüler nunmehr versuchen, die Subjekt-Verb-Kongruenz am Verb zu mar-kieren. Der Unterricht stellt ihnen hierfür ein Inventar von Flexionsmorphe-men zur Verfügung, das sie in individuell verschiedener Weise einsetzen. Denn die jeweilige funktionale Zuordnung der einzelnen Flexionsmorpheme zu Person und Numerus müssen sie offensichtlich selbst „erkunden“; die vom Unterricht gelieferten Modelle können sie nicht unmittelbar in ihre eigenen Produktionen integrieren. Der Unterricht liefert ihnen gewissermassen das

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22 Zum Erstprachenerwerb vgl. Wode (1995: l221) und auch Mills; zum natürlichen Zweitsprachenwerb vgl. Rieck (1989). Riecks Annahme, Verbtilgungen seien cha-rakteristisch für den natürlichen Zweitsprachenerwerb, muss also entsprechend re-vidiert werden (siehe S. 128).

23 Clahsen/Meisel/Pienemann (1983: 194ff.).

138

morphologische „Rohmaterial“, das sie unter Einsatz verschiedener Erwerbs-strategien bearbeiten. Generalisierung einzelner Personalformen: Allen in dieser Erwerbsphase be-obachteten Erwerbsstrategien der Schulkinder ist gemeinsam, dass sie das Morpheminventar auf wenige Personalformen, im Extremfall auf eine einzige, reduzieren und diese auf alle Kontexte generalisieren. Individuelle Un-terschiede treten in der Zahl der verwendeten Verbalmorpheme und in der Wahl der jeweiligen generalisierten Personalform zutage. Manche Lerner verwenden über den ganzen Beobachtungszeitraum hinweg nur eine einzige Personalform neben einigen Chunks, im folgenden Beispiel die 3. Person Singular: (4) Du trinkt cafée. Ich trinkt die orangensaft mit sucker (Arbeit 2). Malika unt

Laurent kauft Kilo Birnen. Die Birnen kostet 3 Fr. Sophie und Loïc kauft einen liter milch (Arbeit 3). Die Eier ist kaputt (Arbeit 5). Wo wohnt du ? (Arbeit 7). (Sophie V 4/5)

Andere wechseln die Personalform von einer Arbeit zur nächsten: (5) Gutend Tag, ich mochtet das (Arbeit 3). Napoléon tricke Flasch. Camille mache

der Kurone. (Arbeit 5). Wo woht du ? (Arbeit 6). (Rebecca L 5/6) Und andere scheinen die verschiedenen Personalformen nach dem Zu-fallsprinzip einzusetzen: (6) Wie halt ist du? Kent du Lausanne? Eisse du Hamburgeurs? (Arbeit 6). Sie

wohnt alle im klienen pilz. Der idiotisch wildfanginer ast holz. Alle Wildfangi-ner essen ount sie trinkt. (Arbeit 7). Sie trinkt wasser ount sie esse Pedigree-Pal. (Arbeit 8). (Bernard T 5/6)

Tab. 22 zeigt den Anteil der Generalisierungen der verschiedenen Personal-formen:

139

generalisierte 3. Sg. generalisierte 1. Sg. generalisierte 2. Sg. Anzahl der Formen

82 61 20

Prozente24

48,8% 36,3% 11,9%

Anzahl der Schüler25

19 17 10

Tab. 22: Generalisierungen einer Personalform26 Der Tabelle ist zu entnehmen, dass knapp die Hälfte aller Generalisierungen auf die 3. Person Singular entfällt. Eine solche Präferenz für das -t-Flexiv wird auch aus dem Erst- und dem natürlichem Zweitsprachenerwerb berich-tet.27 Als Erklärung wurden verschiedene Hypothesen angeboten, so etwa im Rahmen der Markiertheitstheorie, die die 3. Person Singular als Basiskatego-rie auffasst.28 Andererseits könnte auch die Frequenz der 3. Person Singular in der Kommunikation eine Rolle spielen. Welches auch immer die Gründe sein mögen – für uns ist aufschlussreich, dass die Schulkinder sich bei der Erarbeitung der Verbalflexion ganz ähnlich verhalten wie Lerner in natürli-cher Erwerbssituation, trotz aller unterrichtlicher Steuerung. Generalisierung der regelmässigen Flexion: Bezeichnend ist es nun, dass von diesen Generalisierungen auch jene Formen betroffen sein können, die in der vorangegangenen Phase als Chunks fest im Gedächtnis verankert zu sein schienen, zum Beispiel er lese, du esst, er nehmt.

An diesen Formen wird besonders deutlich, dass nunmehr die blossen Memorisierungen der ersten Phase durch qualitativ andere Strategien abgelöst werden. Sie demonstrieren geradezu exemplarisch die oft beschriebene „U-Kurve“, nach der die anfänglich korrekten – da „nur“ memorisierten – Formen durch immer mehr fehlerhafte Formen abgelöst werden, bis schliess-lich die Regel „erkannt“ und zielsprachenkonform angewendet werden kann. Dass sich dieser qualitative Sprung gerade in einer Zunahme der abweichen-

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24 Die Prozente wurden in Bezug auf die gesamte Anzahl der Generalisierungen einer Personalform, das heisst auf 168 Formen, gerechnet.

25 Das sind die Schüler unseres Korpus, bei denen solche Generalisierungen vor-kommen, insgesamt 26 Testpersonen. Manche Schüler generalisieren mehrere Per-sonalformen.

26 Folgende Generalisierungen die Familie essen; die Familie kochen; alles schlafen können entweder Pluralformen oder Infinitive sein und wurden deshalb nicht mit-gezählt.

27 Siehe die Ausführungen in Kapitel 5.2.3.1 und 5.2.3.2. 28 Pishwa (1985: 8f.).

140

den Formen zeigt, ist für Schulkinder ein ausgesprochen bedauerlicher Um-stand, solange in der Fremdsprachendidaktik am Kriterium der Fehlerzahl für die Evaluierung von Fremdsprachenkenntnissen festgehalten wird.

Da sich offenbar die ganze Verarbeitungsenergie in dieser Phase auf die reguläre Verbalmorphologie der Personalformen im Präsens konzentriert, liegt es auf der Hand, dass auch ablautende Stammlautvokale regulär flektiert werden. Regularisierungen dieser Art haben wir bei 14 der insgesamt 26 Schüler der Phase II beobachtet. Dazu einige Beispiele:

(7) Da, dem idiotisch Wildfanginerer nehmt alle Wildfanginer in dem pilz.

(Bernard T 5/6, 7) (8) Doggy nehmt das poulet. (Stéphane D 5/6, 5) (9) Herr Frank lesst de buch. (Marion B 5/6, 5) Andere – allerdings nur wenige – unserer Probanden generalisieren das -et-Suffix, das bei den Verben mit Stammauslaut -t obligatorisch ist, auf andere Verben: (10) Vater spilet tenis (Arbeit 2). Er rennet chnu Schnell (Arbeit 5). (Nicolas B 4/5) Umgekehrt wird manchmal das auslautende -t von Verbstämmen als Perso-nalendung der dritten Person Singular missinterpretiert (ein Fehlertyp, der übrigens auch noch bei sehr fortgeschrittenen Lernern vorkommen kann): es kost, du arbeit, sie antwort, er schneit.

Gerade durch die Abweichungen zeigen alle diese Formen, dass nunmehr die reguläre Verbalflexion bearbeitet wird, und zwar nicht in blosser Über-nahme und Memorisierung von Paradigmen aus dem schulischen Input, son-dern deutlich über die kreative „Dekomposition von Zielstrukturen“, wie sie Wode (1993) beschrieben hat, über die Reduktion des Morpheminventars, die Generalisierung ausgewählter Flexive und die Regularisierung irregulärer Formen.

Diese entscheidende Phase II erreicht zu haben, bedeutet allerdings kei-neswegs, dass damit sämtliche Erwerbsphänomene der Phase I definitiv „überwunden“ wären. Dieselben Schülerinnen und Schüler, die intensiv mit den neuen Verbalflexiven experimentieren, verwenden gleichzeitig weiterhin Verbalformen, die als Chunks zu interpretieren sind. Ebenso kommen wei-terhin infinite anstelle flektierter Formen vor, wenn auch deutlich weniger häufig als in Phase I (nur noch 5% aller Verbformen, gegenüber 16,5% in Phase I), und zwar bezeichnenderweise vorwiegend bei neu eingeführten Verben oder auch dann, wenn die Aufmerksamkeit durch irgendwelche zu-sätzlichen Produktionsschwierigkeiten von der Verbalflexion abgelenkt zu sein scheint, siehe das folgende Beispiel:

141

(11) Ihr ist die Famillie Schaudi. Sie sind in Küche. Sie küchen das essen für Mutter. Der vater liest der Buch der Küche. Die Tochter macht ein Kuchen, und sein Bruder schneidet die Wurst [...] die Mutter zuruck kommen. (Alexandra M 7/8, 5)

Entsprechendes hat auch Pishwa (1985: 17) im gemischt natürlichen und ge-steuerten L2-Erwerb beobachtet: Bei unbekannten Verben oder bei der Ver-lagerung der Konzentration auf andere Phänomene vernachlässigen auch ihre Testpersonen die Verbflektion und greifen auf Infinitivformen zurück.

5.2.4.2.3 Phase III: Bearbeitung der irregulären Verbalflexion

Charakteristikum dieser Phase ist, dass nunmehr Irregularitäten im Verbalsys-tem zur Kenntnis genommen und bearbeitet werden können. Identifizierbar ist der Beginn dieser Phase wiederum durch den Anstieg der normabweichenden Formen in den bearbeiteten Bereichen, d. h. in der Flexion der Modalverben und der unregelmässigen Verben. Flexion der Modalverben: Irregulär ist die Flexion der Modalverben einmal in den Personalendungen (Nullsuffigierung in der 1. und 3. Person Singular), zum zweiten in der Veränderung des Stammvokals. Dass die Schulkinder beide Irregularitäten erkannt haben, zeigen ihre fehlgeschlagenen Versuche bei der Anwendung dieser neuen Formen, insbesondere führt der Stamm-wechsel des Stammvokals zu abweichenden Bildungen (Generalisierung des Umlauts im Infinitiv auf die Personalformen des Singulars und Generalisie-rung des nicht-umgelauteten Vokals auf Pluralformen), und zwar bei 60% aller Testpersonen: (12) Am Abend, er müss nach Hause kommen, weil er sein Hausaufgaben machen

müss. (Michaël R 7/8, 8) (13) Sie könnt ein Coka trinken. [...] Sie will ein Kind machen. (Fabrice M 7/8, 8) (14) Um 14 Uhr sie mussen mit dem Zug fahren. (Alice S 7/8, 8) Selbst wo die Infinitivform keinen Umlaut aufweist, wird die Pluralform zu-weilen umgelautet: (15) Meine Eltern wöllen nicht que ich nehme der Bus mit die Harren grün. (Alice S

7/8, 7) Flexion der unregelmässigen Verben: Auch hier liefern wieder die abwei-chenden Bildungen die Indizien für den beginnenden Erwerb der unregelmäs-sigen Konjugation, insbesondere dort, wo regelmässige Verben unregelmässig flektiert werden:

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(16) Herr Kötti käuft Spagetti (Ekaterina E 6/7, 5) (17) Das Kotelett köcht ( Fiona D 7/8, 5) In einzelnen – allerdings seltenen – Fällen kann von einer Schülerarbeit zur nächsten der „Durchbruch“ zur irregulären Flexion beobachtet werden: (18) Das Hund esst eine Kotrelett. (Arbeit 5) Wo esst du? Ich esse in Café. (Arbeit

6) Sein Bruder esst immer. Er esst die Banane, die Wursten, etc. [...] Sein Bruder

schlaft. (Arbeit 7) Die Mutter von Paul schläft um 11 Uhr. Er isst die Banane und die Tomate. Der Vater von Paul isst für stark sein. (Arbeit 8) (Nicolas C 6/7)

Ob allerdings die Schulkinder bei ihrer Bearbeitung der Stammvokal-Verän-derungen überhaupt einen Unterschied zwischen Modalverben und Vollver-ben machen, ist mehr als fraglich. Beispiele wie das folgende scheinen eher die Annahme zu bestätigen, dass sie in dieser Phase ihr Augenmerk prioritär auf die irreguläre Personalflexion der Modalverben richten und die Stamm-veränderungen eher der Intuition überlassen: (19) Für heiratet die Königin, er müss töten ein gross sehr gross Mann, und ein Tag

er siht zwei grösser Männer gegen ein Baum. (Sonia M ECG10/11, 8) Das Definiens von Phase III ist also keineswegs der vollständige Erwerb der unregelmässigen Flexion, sondern die Kenntnisnahme ihrer Existenz und ers-te Versuche, ihre Gebrauchsbedingungen zu erkunden. Dabei geben die Schüler den Personalendungen offensichtlich den Vorzug vor den Änderun-gen des Stammvokals. Der Erwerb der irregulären Verbflexion erstreckt sich über den gesamten Beobachtungszeitraum; er ist von diesem entscheidenden Anfangsstadium an eher dem Lexikonerwerb gleichzusetzen, da jedes neue unregelmässige Verb mit seinen Stammvokaländerungen gelernt werden muss. Ohnehin sind Erwerbsfortschritte in diesem Bereich schwierig zu er-mitteln, da die Schüler unregelmässige Verben äusserst sparsam gebrauchen – und wenn, dann vorzugsweise in der 1. Person, die keine Stammvokalände-rungen verlangt. Die ersten zweigliedrigen Prädikate: Modalverb + Infinitiv: Da in dieser Phase – durch den schulischen Input bedingt – die Skala der Modalverben erheblich erweitert wird, können nun auch neue Inhalte mit Hilfe der Verbin-dung von Modalverben und Infinitiven vermittelt werden. Die Schulkinder tun dies auch ausgiebig, so dass sie zusammen mit der Modalverbflexion nun auch systematisch zweiteilige Prädikate, also analytische Verbformen zu verwenden beginnen.

143

Dieser Erwerb geht relativ zügig vor sich, möglicherweise, weil die L1 das entsprechende Modell zur Verfügung stellt. Dennoch kommt es bei immerhin einem knappen Drittel der Testpersonen vor, dass bei den ersten Versuchen die Distribution von flektierten und nicht flektierten Formen noch unklar ist:

(20) Kannst du spielst instrument? Ja ich spiele die Flöte. Kannst du spielst Tennis?

[...] Kannst du tanzen? Willst du spielen Tehater? (Noélie F 7/8, 2) Nach kurzer Zeit wird jedoch der infinitive Prädikatsteil normgerecht reali-siert; erst durch die Konkurrenz mit dem Perfekt wird diese Struktur vor-übergehend wieder verunsichert werden.

Der Erwerb dieser analytischen Verbformen ist zweifellos auf einer ande-ren kategorialen Ebene anzusiedeln als der Erwerb der Flexion. Dennoch zö-gern wir, hierfür eine neue Erwerbsphase anzusetzen, und zwar weil die Zweigliedrigkeit von Prädikaten als solche offensichtlich nicht erworben werden muss, sondern bei den Schülerinnen und Schülern bereits vorausge-setzt werden kann. Das mag auf die Existenz entsprechender Strukturen im Französischen zurückzuführen sein, die schon die Primarschulkinder aufs Deutsche übertragen; möglicherweise sind aber auch freie Formen (zum Bei-spiel Perfekt) natürlicher als gebundene Formen (zum Beispiel Präteritum) und von daher leichter zugänglich, vgl. etwa zweigliedrige Prädikate in den folgenden Anfängertexten:

(21) Geoffrey liebst spilen im Wasser, aund braten Servolas (Paule B 5/6, 8) (frz.

aime jouer) (22) Dann die Kinder geht machen der Radrennen (Rebecca L 5/6, 8) (frz. vont

faire) (23) In die Küche, Lulu Macht kochen die Suppe ( Emilie S 5/6, 5) (frz. fait cuire) (24) [...] aber die vatter meuter [= möchte] das nicht essen, der wollen essen ein Ei

(Thierry E 5/6, 5) (frz. [ne] veut [pas] manger) Allerdings sind nun innerhalb der Beherrschung zweigliedriger Prädikate durchaus Phasen auszumachen. Die unterschiedlichen morphologischen Ver-fahren, die bei unterschiedlichen mehrgliedrigen Prädikaten gefordert sind, stellen für die Lernenden Erwerbsaufgaben von unterschiedlichem Komple-xitätsgrad, wie die Beschreibung der nächsten Erwerbsphase zeigen wird.

5.2.4.2.4 Phase IV: Der Erwerb des Perfekts

In dieser Phase erwerben die Schüler mit dem Perfekt ihr erstes Vergangen-heitstempus. Die Erwerbsaufgabe in dieser Phase besteht in der Aneignung einer analytischen Tempusform, wobei mehrere Regeln zu befolgen sind:

144

a) das richtige Auxiliar – sein oder haben – muss gewählt werden (in Ab-hängigkeit von bestimmten Eigenschaften des Vollverbs);

b) dieses Auxiliar – und nur dieses – muss kontextuell flektiert werden; c) es ist mit der Partizipform eines Vollverbs zu kombinieren; d) bei der Bildung des Partizips muss zwischen regulären und irregulären

Formen unterschieden werden. Die Wahl des richtigen Auxiliars bereitet unseren Probanden keine allzu gros-sen Schwierigkeiten, auch wenn immer wieder haben-Generalisierungen vorkommen.29 Auch sind Personalflexionen am zweiten Prädikatsteil die Ausnahme;30

sie sind deutlich seltener als die konjugierten Vollverbformen bei Modalverben, die in Phase III beobachtet wurden (vgl. oben, kannst du spielst, Beispiel 20 auf S. 143). Es sieht so aus, als bestehe für die überwie-gende Mehrheit unserer Probanden kein Zweifel mehr daran, dass die Sub-jekt-Verb-Kongruenz nur einmal im Satz markiert werden darf, im Falle des Perfekts also nur am Auxiliar.

Den Schülern bereitet hingegen der zweite Prädikatsteil Schwierigkeiten; in einem ersten Schritt die Wahl zwischen Infinitiv und Partizip, dann die ei-gentliche Bildung des Partizips. Bei einem Drittel unserer Testpersonen hat die Auseinandersetzung mit der Partizipbildung zur Folge, dass sie nun auch Modalverben mit Partizipien verbinden: Sie behandeln die beiden infiniten Verbformen als freie Varianten, die mit Auxiliaren und Modalverben beliebig kombinierbar sind; den kategorialen Unterschied zwischen Modalverb und Auxiliar vermögen sie offensichtlich nicht nachzuvollziehen.31

Das intendierte Tempus ist jeweils dem konjugierten Prädikatsteil zu entnehmen: Modalverb (im Präsens) + Infinitiv/Partizip signalisiert Präsens; Auxiliar + Infinitiv/Partizip signalisiert Vergangenheit:

(25) Es sieht sehr schön ich will gehen weil, ich will in Canada gegangen. (Sophie P

ECG10/11, 3) _______________

29 Bei 16 von 28 Testpersonen gibt es dergleichen haben-Generalisierungen, erwar-

tungsgemäss bei Bewegungsverben wie fahren und gehen und ihren Komposita; vgl. hat gefahren (Aisha A 8/9, 3), hat gegangen (Corinnee P 9/ESC10, 3), habe skigefahren (Odette A 9/ESC10, 2), habe spazierengegangen (Odette A 9/ESC10, 8). Bei Verben wie gehen, bleiben und kommen sind diese Generalisierungen ein Indiz dafür, dass sich die Schüler bei der Wahl des Auxiliars offensichtlich nicht grundsätzlich von ihrer Muttersprache leiten lassen, da im Französischen diese Verben ebenfalls die Verwendung von sein verlangen. Abweichende Verwendung von sein konnten wir nur bei einer einzigen Testperson feststellen: sind bekommen, ist geschlafen, sind gesitzen (Sandrine N ECG11/12, 4).

30 Bildungen wie hast machst sind in unserem Korpus Einzelfälle. 31 Vereinzelt werden sogar Vollverben mit Partizipien verbunden: gehen geschwim-

men, gehen geschlafen.

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(26) Ich habe viel essen und ich habe sehr lachen [...]. Ich habe den Besser Ferien verbracht. (Sandra M ECG11/12, 3)

Es kommt vereinzelt auch vor, dass die Vergangenheitsbedeutung nur dem Partizip zu entnehmen ist: (27) Die Eltern haben viel zusammen gesprochen, und sie wollen ihn in eine Frisor

geschikt. (Natacha R ECG11/12, 7) (28) Die Savoyer wollen Genf angegriffen. (David G ESC10/11, 1) Unter den 28 Testpersonen, deren Perfekterwerb wir beobachtet haben, ver-wenden nur zwei von Anfang an normkonforme Partizipien. Alle anderen sind auf Erwerbsstrategien angewiesen, mit deren Hilfe sie sich schrittweise an die zielsprachliche Norm heranarbeiten müssen – und dies, obwohl im Unterricht ein intensives Training, insbesondere der unregelmässigen Partizipien, stattfindet.

Das bedeutet keineswegs, dass normkonforme Partizipien vereinzelt nicht schon sehr viel früher in den Schülertexten erscheinen, zum Teil sogar bereits in der Primarschule, so etwa gestohlen. Sie haben aber mit Sicherheit Chunk-Status und können für den Spracherwerb noch nicht produktiv werden. Den Beginn der Partizip-Bearbeitung setzen wir also erst dort an, wo Partizipien in hinreichender Zahl und Varianz auftreten und Abweichungen der Art auf-weisen, dass sie als Ergebnisse interimssprachlicher Verfahren interpretiert werden können. Infinitiv statt Partizip: Eine deutliche Mehrheit unserer Schülerinnen und Schüler (24 von 28) kombiniert häufig in ihren Perfekt-Versuchen ein konju-giertes Auxiliar mit einem Infinitiv. Konstruktionen dieser Art machen 42% aller abweichenden Perfektkonstruktionen aus. Einige Beispiele: (29) Wieviel haben sie Films machen? 20 Films habe ich machen. (Laura A 8/9, 6) (30) Aber er hat keine Stelle besuchen. [...] Aber die Freundinnen haben keine Geld

bringen. Also sie hat in einen Bank kommen für Geld nehmen. (Vincent C ESC10/11, 5)

(31) Ich habe viel essen und ich habe sehr lachen. (Sandra M ECG11/12, 3) Mit Transfer aus der L1 lassen sich diese Abweichungen nicht erklären, da auch das französische Perfekt ein Partizip als infiniten Bestandteil fordert. Es muss also eine interimssprachliche Vereinfachungsstrategie vorliegen, die übrigens nicht nur unsere frankophonen Lerner anwenden. Auch bei den anglophonen Studierenden von B. Boss sind Infinitive anstelle von Partizi-

146

pien die häufigste Fehlerquelle bei der Perfektbildung;32 Rieck (1989) beob-

achtet im natürlichen L2-Erwerb Deutsch dieselbe Konstruktion, wenn auch nur als „seltene Zwischenform“,33

und Castell und Seebold (1996) stellen sie auch im L1-Erwerb fest. Interessanterweise sind es genau solche Bildungen, die wir vereinzelt auch bei denjenigen unserer Primarschulkinder beobachten, die eigenständig Perfektformen „erfinden“, um Vergangenheit auszudrücken – vier Jahre, bevor sie im Unterricht eingeführt werden: ich habe malen und essen, ich habe zeichen (Fanny J 4/5, 8).

Bei einigen unserer Testpersonen kommt der Erwerb an dieser Stelle zum Stillstand; sie verwenden innerhalb des Beobachtungszeitraums keine anderen Partizipformen ausser den wenigen, die schon sehr früh im Input aufgetaucht sind und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Chunks gespeichert sind. In fast allen anderen Perfektkontexten kombinieren sie das Auxiliar mit einer Infinitivform.

(32) Aber die Genfer habt gewinnen. (Arbeit 1) An Weihnachten und an Neujahr ich

bin in Fribourg gegangen. [...] Ich habe nicht skifahren. [...] Ich habe auch ein Weihnachtsbaum kaufen. (Arbeit 2) Aber er hat keine Stelle besuchen. Sie hat bei ihre Freundin Geld kommen für Geld haben. Aber die Freundinnen haben keine Geld bringen. (Arbeit 5) (Vincent C ESC10/11)

ge-+ Infinitiv-ähnliche Formen: Einen entscheidenden Schritt beim Erwerb der Partizip-Morphologie bedeutet die Aufnahme des ge-Flexivs in die Ler-nersprache. Damit hat das Partizip sein eindeutiges morphologisches Merk-mal erhalten, das es gegenüber dem Infinitiv abgrenzt. Dieser Schritt scheint relevant zu sein; Partizipien ohne das ge-Flexiv gibt es von diesem Zeitpunkt an nur selten.34

Die einleuchtendste Repräsentation von Partizipien scheint für eine Mehr-heit unserer Probanden die Kombination von ge-Präfix, Präsensstamm und -en-Suffix zu sein, gleichermassen für regelmässige und unregelmässige Ver-ben. In ihren Texten präsentiert sich das Ergebnis dieser Strategie folgen-dermassen:

_______________

32 Boss (1997: 5f.). 33 Rieck (1989: 103f.). 34 Ausser natürlich bei Partizipien von präfigierten Verben, die nicht auf der ersten

Silbe betont sind, wie bekommt, begannt oder verlort. In einigen Fällen kommt es sogar zu einer „Übermarkierung“ mit dem ge-Suffix: Er hat ein Igel übergefahren und er ist tot. (Alexis P 8/9, 3) Früher, ein (autre) Freund hat der Mann getele-phoniert (Sarah P ECG10/11, 2).

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(33) Seine Eltern war gar nicht glücklich und hatten Peter gesagen warum er mit grünen Haaren gekommen ist.

– „Ich war am Freitag in Diskotek gegangen. Es gab meinen Freund mit Fär-bung grün“. Hat Peter gesagen.

– „Ja, aber warum hast du seinen Haaren gefärben?“ (Yvan B 8/9, 7) (34) Eines schönes Tages, die kleine Hexe hat eine Witz gemacht. Sie hat die Haaren

von Petra grün gemalen. (Anne A 8/9, 7) Dabei lassen sie sich durch das Nebeneinander von Präsensstämmen (in ihren eigenständigen Partizipbildungen, vgl. gesagen) und abgelauteten Stämmen (in den Partizipien unregelmässiger Verben, die sie mit hoher Wahrschein-lichkeit aus dem Gedächtnis abrufen; vgl. gegangen) offensichtlich nicht ir-ritieren, auch nicht, wenn sie einander im selben Satz unmittelbar folgen: (35) Er ist in die Hause gegehen und er hat einen Brot, Reiz gegessen und hat fier

glasses Wein getrunken. (Patricia D ECG10/11, 2) (36) Sie hat mit der Lehrer gesprechen und er hat gut genommen. (Sandra M ECG

11/12, 7) 26% aller abweichenden Partizipformen gehen auf diese Interimsregel zu-rück; bei 17 von 28 Schülern lässt sie sich nachweisen. Es liegt nahe, diese Regel zu beschreiben als „Infinitiv + ge-Präfix“, was eine konsequente Wei-terentwicklung der Infinitiv-Generalisierung wäre. Andererseits ist denkbar, dass sich durch die früh gespeicherten irregulären Formen gegessen, getrun-ken, geboren schon eine Präferenz für Partizipbildungen auf -en herausgebil-det hat, die dann durch intensives Training der Partizipbildung unregelmässi-ger Verben im Unterricht noch verstärkt wurde.35 Welche der beiden Erklä-rungshypothesen zutrifft, lässt sich nicht entscheiden; auch lassen sich für beide in der Literatur zum natürlichen L2-Erwerb Argumente finden: Bil-dungen wie gearbeiten weisen auch Rieck (1989) und Blackshire-Belay (1995) in ihren Korpora nach, was die erste Hypothese stützen könnte. Ande-rerseits ist das Übergewicht der Zirkumfigierung ge-...-en offenbar eine Spe-zifizität unseres Korpus: bei Blackshire-Belays Testpersonen überwiegt das -t-Suffix, und die anglophonen Studierenden von Boss lassen keine Präferenz für -en- oder -t-Endungen erkennen, was für die zweite Hypothese plädieren könnte. Vielleicht sind diese verschiedenen Ergebnisse in der Weise zu ver-binden, dass zwar den Lernern beide Generalisierungsstrategien zur Verfü-gung stehen, dass aber ein entsprechend massiver Input – im Fall unserer Genfer Schülerpopulation das Übungstraining mit unregelmässigen Verben – zur Bevorzugung des -en-Suffixes führen kann.

_______________

35 Siehe Kapitel 5.2.2, S. 125 (zum Unterricht des Perfekts in der 8. Klasse).

148

ge- + t-Generalisierung: Die Generalisierung des regelmässigen -t-Suffixes macht in unserem Korpus nur 11% aller Abweichungen aus. Wir beobachten sie vorwiegend an Partizipien, die den Schülern aus dem Input weniger ver-traut sein dürften: (37) Der Sohn ist auf dem Schrank, wenn die Männer angekommt sind. (Corinnee P

9/ESC10, 4) (38) Peter hat um den Tisch gesitzt. (Laura A 8/9, 7) Selbstverständlich treten diese Partizipbildungen auch neben (korrekten und abweichenden) -en-Bildungen auf: (39) Am Tag eine Freundin hat angeruft [...] Am Samstag bin ich zum Kino gegan-

gen und ich habe einen Freundin gesehen. (Corinnee P 9/ESC10, 2) Die Beispiele zeigen, dass auch bei der t-Generalisierung der Stamm als Basis dient. Es übersteigt offensichtlich die Verarbeitungskapazität unserer Pro-banden in diesem Stadium, zwischen regelmässiger und unregelmässiger Konjugation einerseits und -t- bzw. -en-Suffix andererseits eine Beziehung zu erkennen.

Bei Verbalstämmen mit auslautendem -t kann es geschehen – ähnlich wie bei der Konjugation der 3. Person Singular (siehe S. 140) –, dass dieses -t als Partizipendung missverstanden wird: gearbeit, getöt. Änderungen im Stammvokal: Die überaus häufigen Generalisierungen des Infinitivstamms bei Partizipien sowohl auf -en als auch auf -t zeigten bereits, dass eine deutliche Mehrheit unserer Schülerinnen und Schüler eine klare Markierung der Partizipien vornimmt, die eigentlich redundante Veränderung des Stammvokals bei ihrer Partizipbildung aber noch nicht durchgehend berücksichtigt. Das ist keineswegs erstaunlich, da ja die Markierung von ‘Vergangenheit’ sicher gestellt ist und zudem der Erwerb der unregelmässi-gen Verben erst in der vorigen Phase begonnen hat und während des gesam-ten schulischen Curriculums weitergehen wird; den Schülern fehlt demnach die Grundlage, um Partizipien von starken Verben ableiten zu können.

Dennoch zeigen die Produktionen von 12 der insgesamt 28 Schüler, dass sie die Stammveränderungen bereits zur Kenntnis nehmen. Dass dem so ist, lässt sich wieder an den abweichenden Formen ablesen (sie machen insgesamt 6% aller Abweichungen aus). Einigen dieser Lerner könnte dabei der Zusammenhang zwischen unregelmässigen Verben und -en-Suffix schon klar geworden sein, vgl. die Beispiele gesprachen, gewurden, geschläfen.

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Andere hingegen suffigieren ihre ablautenden Partizipien unbeirrt mit -t, wobei sie sich teils von den Ablauten aus Präteritumsformen,36 teils von den unregelmässigen Präsensformen der 2. bzw. 3. Person Singular sowie von anderen Analogien leiten lassen: begannt, verlort, geschriet, gefährt, gemagt. Zusammenfassung: In der folgenden Tabelle ist der zahlenmässige Anteil von korrekten und abweichenden Formen, gruppiert nach den verschiedenen Generalisierungsstrategien, zusammengestellt: Total % Fehler 218 Formen 675 Infinitiv 91 41,7 ge- + Infinitiv-ähnliche Formen 56 25,7 ge-... -t Generalisierung 25 11,5 Änderungen im Stammvokal 7 3,2 Null-Suffix 6 2,8 überflüssiges ge- 4 1,8 Sonstige37 29 13,3 Tab. 23: Bildung des Partizips

Die Belege zum Partizip-Erwerb bestätigen, dass bei einer derart komplexen Erwerbsaufgabe wie dem Partizip das Lernen von Listen und das Üben in ge-steuerter Erwerbssituation von begrenztem Nutzen ist. Hilfreich ist der schu-lische Input in erster Linie als Lieferant eines Morphemangebots; mögli-cherweise übt er eine gewisse Steuerungsfunktion darauf aus, welches Flexiv die Schüler für ihre Generalisierungen bevorzugen (in unserem Fall die ge-...-en-Partizipien als Folge des intensiven Trainings von unregelmässigen Verben).

In jedem Fall kann der Unterricht nicht verhindern, dass die Schüler ihre eigenen Suchstrategien anwenden: Auxiliar + Infinitiv; Auxiliar + Infinitiv-

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36 Oft sind die Schüler noch mit der Partizipbildung beschäftigt, während im Gram-matikunterricht bereits das Präteritum behandelt wird, so dass Verwechslungen dieser Art fast unvermeidlich sind.

37 In dieser Rubrik wurde alles zusammengefasst, was sich den übrigen Rubriken nicht zuordnen liess: fehlerhafte Schreibungen, die vermutlich auf lautliche Ver-wechslungen zurückgehen (wie gehat, gebroken, gefuden); „erfundene“ Partizipien (wie geneben, gedieben) oder auch defiziente Formen (wie verheitet statt ver-heiratet). Zudem enthält diese Rubrik nicht entscheidbare Fälle wie das nicht si-cher als Partizip intendierte antwortet.

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stamm mit ge-Präfix und mehrheitlich -en-Suffix, seltener -t-Suffix,38 erst dann Berücksichtigung der Stammvokal-Veränderungen. Partizipien mit ab-lautendem Stammvokal können in der Regel nur dann normkonform produ-ziert werden, wenn sie als Chunk gespeichert sind.

Von den beiden Generalisierungsstrategien ge-...-en und ge-...-t wird zwar die erste sehr viel häufiger in Anspruch genommen – sie ist für etwa 26% aller Abweichungen verantwortlich; die zweite hingegen nur für 11% –, doch lässt sich keine definierbare Erwerbsabfolge zwischen beiden ausmachen. Beide kommen bei den meisten Schülern vor, manchmal in demselben Text wie im folgenden Beispiel:

(40) Peter ist mit grünen Haaren in die Küche gekommen. Er hat ein schwarz Klei-

der angezogen. Er hat Kleider gewechseln. Die Familie hat Frühstück gegessen. Peter hat um den Tisch gesitzt. Sein Vater hat gerstaunt. Seine Mutter hat viel aufgeregt. Und sie hat laut geschriet. Sie hat gesagt: „Du bist verrückt! Seine Mutter hat auch gesagt: „Warum?“ Seine Schwester hat nich gesagt. Sie hat sein Bruder geschauen. (Laura A 8/9, 7)

Das Nebeneinander von abweichenden Partizipien – als Ergebnis beider Ge-neralisierungsstrategien – und normgerechten Partizipien innerhalb derselben Texte (und zum Teil innerhalb derselben Sätze) vermittelt somit den Eindruck eines ziemlich ratlosen Probierens, ein Paradebeispiel dessen, was in der Erwerbsliteratur als „freie Variation in der Lernersprache“ bezeichnet wird.39 Ein Rückgang der abweichenden Formen setzt ja auch ein komplexes Wissen voraus: einmal die Zuordnung der Verben zum regelmässigen oder unregelmässigen Konjugationsparadigma, dann das Erkennen des Zusam-menhangs zwischen regelmässigen Verben und -t-Suffigierung einerseits und unregelmässigen Verben und -en-Suffigierung andererseits, und schliesslich die Stammlautveränderungen der unregelmässigen Verben. Es liegt auf der Hand, dass unsere Genfer Schülerinnen und Schüler das Stadium fehlerloser Partizipbildung innerhalb des Beobachtungszeitraumes nur in Ausnahmefäl-len annähernd erreichen können. Das Ende der Phase IV ist für uns dann er-reicht, wenn ein Schüler die beiden Partizipbildungsregeln produktiv (wenn auch mit fehlerhaften Generalisierungen) einsetzen und wenn er (korrekte

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38 In seltenen Fällen kommen auch -e-Suffixe vor, und zwar nur bei besonders schwachen Schülern, deren Erwerb vermutlich bereits fossilisiert ist.

39 Siehe dazu etwa Ellis: „[...] free variation can be considered to occur when two or more forms occur randomly in (1) the same situational context, (2) the same lin-guistic context, (3) the same discourse context, (4) perform the same language function, and (5) are performed in tasks with the same processing constraints“ (Ellis 1994: 136).

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und abweichende) Stammveränderungen vornehmen kann, m.a.W.: wenn sich in seinen Texten zeigt, dass er sich das Systemwissen angeeignet hat, auch wenn die Kenntnis der unregelmässigen Formen noch lückenhaft ist.

Ein Blick auf die Literatur zum Perfekterwerb im L1- und natürlichen L2-Erwerb zeigt sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Gemeinsam ist den Lernern unter allen Erwerbsbedingungen das Vorhandensein und die Art der Generalisierungsstrategien: Alle einschlägigen Arbeiten berichten von einer anfänglichen Verwendung von Infinitiven anstelle von Partizipien und/oder von Generalisierungen von ge- + Infinitiv-ähnlichen Formen und ge- + -t.40 Allerdings beobachten Rieck und Clahsen/Rothweiler eine weitere Zwischenstufe: das Fehlen von -n (gewohne) und -t, letzteres auch nach Ver-ben, deren Stamm nicht auf Dental auslautet (abgemach), ein Phänomen, das Clahsen/Rothweiler unter der Bezeichnung „Nullsuffigierung“ zusammenfas-sen und das in ihrem Korpus offenbar häufig vorkommt, im Unterschied zu unseren Probanden, bei denen dergleichen Formen äusserst selten sind. Ein weiterer Unterschied liegt offensichtlich in der Gewichtung der jeweiligen Generalisierungsstrategien: Insofern in den vorliegenden Arbeiten überhaupt Angaben über die Vorkommenshäufigkeit der einzelnen Generalisierungen gemacht werden, wie etwa bei Clahsen/Rothweiler, sind im L1-Erwerb die Infinitiv-Formen in Perfektkontexten offenbar selten; zudem konnte in ande-ren Arbeiten zum natürlichen oder gesteuerten Erwerb keine Dominanz der ge-...-en-Strategie nachgewiesen werden.41 Diese Unterschiede könnten mit den verschiedenen Erwerbsbedingungen zu tun haben, in dem Sinne, dass schulisches Grammatiktraining den Erwerb doch in gewisser Weise zu steu-ern vermag – zwar nicht in Richtung einer grösseren Normkonformität, wohl aber hinsichtlich der Wahl des Flexivs, das bevorzugt für Generalisierungen eingesetzt wird.42

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40 Rieck (1989) und Blackshire-Belay (1995) für den natürlichen L2-Erwerb; Mills (1985), Clahsen/Rothweiler (1993), Clahsen (1996), Clahsen/Weyerts (1994) und Castell/Seebold (1996) für den L1-Erwerb.

41 Siehe die Ausführungen oben ge- + Infinitiv-ähnliche Formen, S. 147. 42 Zur Diskussion der Rolle der Frequenz beim Erwerb vgl. Blackshire-Belay (1995),

oben S. 129; und die Gegenposition von Clahsen/Rothweiler (1993: 31f.): „We found that the observed regular-irregular distinctions cannot be derived from fre-quency differences. Instead, we proposed a linguistic analysis according to which the child has two suffixation rules for participles, the irregular -n rule which is re-stricted to marked participle stems/roots and the default -t suffixation rule which applies ‘elsewhere’.“ (S. 31f.).

152

5.2.4.2.5 Phase V: Der Erwerb des Präteritums

Am Ende der Phase IV verfügen die Lerner über ein beträchtliches Wissen im Bereich der Verbalmorphologie: sie durchschauen die Subjekt-Verb-Kon-gruenz, sind mit synthetischen sowie analytischen Formen vertraut und sind in der Lage, die Konstruktionen Modalverb + Infinitiv einerseits und Auxiliar + Partizip andererseits auseinanderzuhalten. Zudem wissen sie von der Dichotomie regelmässige/unregelmässige Verben und haben eine Anzahl von irregulären Formen gespeichert. In der folgenden Phase V geht es um den Erwerb einer Form, in der Personalform und Tempusmarkierung gewisser-massen agglutinierend sind: das Präteritum, also um eine – im Gegensatz zum Perfekt – synthetische Vergangenheitsform. Und beides, sowohl Tem-pusmarkierung als auch Personalform, ist an regelmässigen Verben anders zu realisieren als an unregelmässigen: bei ersteren wird die Tempusmarkierung t zusammen mit der Personalendung an den Verbstamm angehängt; bei letzte-ren muss ausser der Ablautung des Stammvokals auch die Nullsuffigierung der 1. und 3. Person Singular bedacht werden.

Auch auf den Präteritumserwerb trifft zu, was in den vorausgegangenen Phasen beobachtet wurde: die ersten Formen sind überwiegend zielsprachen-gerecht, sind aber auf so wenige Verben begrenzt – überwiegend auf Auxi-liare, vereinzelt Modalverben –, dass es sich hierbei wieder um lexikalische, im Gedächtnis gespeicherte Einheiten handeln dürfte, die noch keineswegs als Indiz einer Sensibilität für Präteritumsflexion gewertet werden können. Die äusserst seltenen Präteriumsformen anderer Verben sind entweder ab-weichend oder ebenfalls Chunks (wie etwa sah und gab). Die folgende Ta-belle veranschaulicht diesen Sachverhalt:

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Schüler Nummer der Arbeit

sein haben Modal- verben

unregelm. Verben

regelm. Verben

1. Philippe M 9/ESC10

2 3

8 (7/1)43 2 (2/0)

- -

- 2 (0/2)

- -

2. Sonia S ESC10/11

1 2 4 5

2 (2/0) 8 (8/0) 6 (6/0) 1 (1/0)

- - - -

- - - -

1 (0/1) - 1 (0/1) -

3. Céline B 9/C10

2 3 6

2 (2/0) 5 (4/1) 1 (1/0)

1 (1/0) 1 (1/0) -

- - -

- 1 (0/1) -

4. Christine V ESC10/11

1 2 4 6

2 (2/0) 1 (1/0) 3 (3/0) -

- 1 (1/0) 2 (2/0) 1 (1/0)

1 (0/1) 1 (1/0) - -

- - - -

Tab. 24: Verben, die als feste Wendungen im Präteritum benutzt werden Hierzu ein Textbeispiel: (41) Ich bin bei meiner Kusine geblieben. Wir wollten skifahren, aber es gab kein

Schnee…Ich habe das gemacht. Es war sehr gross und sehr schön. (Christine V ESC10/11, 2)

Den eigentlichen Beginn des Präteritumserwerbs markieren wieder – auch dies analog zu den vorangegangenen Phasen – die deutlich zunehmenden Normverstösse, kombiniert mit einer deutlichen Zunahme der Verbvarianz: sie sind das Indiz dafür, dass die Probanden sich in den produktiven Umgang mit der Präteritumsmorphologie einüben. Sie tun dies – wie bisher bei jeder neuen Phase beobachtet – über den Weg von Vereinfachungen und Generali-sierungen. Stamm + -t-Flexiv: Bei ihren ersten eigenständigen Präteritumsbildungen verfahren die Schülerinnen und Schüler analog wie bei ihren ersten Partizi-pien: sie verbinden das neue Flexiv -t mit dem Verbstamm (gleichermassen bei regulären oder irregulären Verben) und versehen es mit den entsprechen-den Personalendungen: (42) Gestern Abend, ein Mann trinkte ein Bier in einen Bar. Während drei Uhr,

bleibte der Mann und denken nach seiner Leben. (Sophie B 9/C10, 8) _______________

43 Die erste Zahl umfasst die gesamte Anzahl der Präteritaformen, die bei den Schü-

lern vorkommen. Dann stehen in Klammern zuerst die richtigen, dann die falschen Formen.

154

(43) Sie war reich weil sie mit einem Millionar lebte. Er heisste Peter. Der Mann ar-beitete in eine Bank und Petra bleibte zu Hause [...] Eines Tages fuhrt Petra weit nach ihren Eltern [...] (Fanny D ESC11/12, 5)

(44) Sie kennte seine richtige Name und sie wollte ihn töten. (Sabrina C ECG11/12, 2)

(45) Sie denkte an seinen Chef, der wirklich ihr warten sollte. (Sonia S ESC10/11, 7)

Vereinzelt wählen sie auch die Formen der 3. Person Singular als Basis: (46) Während einige Tage, schläfte sie bei Freunden und später auf der Strasse mit

ihren Sachen. (Fanny D ESC11/12, 5) (47) Aber sie weissten nicht, dass sie zusammen gingen. (Sabrina C ECG11/12, 4) 12 von 20 unserer Testpersonen bedienen sich dieses Verfahrens; womit sie offensichtlich demselben „Erwerbsgesetz“ folgen wie beim Erwerb der Prä-senskonjugation und dem der Partizipien: sie konzentrieren sich zunächst auf diejenigen Merkmale, die systematisch variieren (die Personalendungen) und/oder die neue Funktion eindeutig markieren (das ge-Flexiv beim Partizip, das -t-Flexiv beim Präteritum), also auf jene neuen Wissensbestände, die über Systemlernen von morphologisch relativ uniformen Elementen zugänglich sind. Die Ökonomie der Erwerbsenergie verlangt offensichtlich, dass die Bearbeitung der irregulären Phänomene zunächst zurückgestellt werden muss – abgesehen von jenen Formen, die „gebrauchsfertig“ im Gedächtnis gespei-chert sind. Auch für die sehr fortgeschrittenen Lerner der Phase V scheint dieses Gesetz zu gelten; und auch bei ihnen zeigt sich, dass noch so intensives Übungstraining im Unterricht dem nicht gegensteuern kann,44 und dies, obwohl sich die Schüler in der vorangegangenen Phase mit dem Phänomen ablautender Stammvokale bereits auseinandergesetzt haben. Stammveränderung + Personalendungen: Generalisierungen gibt es nicht nur im Bereich der inhärenten Flexion (vgl. Strategie „Stamm + -t“), sondern auch in jenem der kontextuellen Flexion: So werden beispielsweise die regel-mässigen Personalendungen „natürlicherweise“ auf Kontexte übertragen, bei denen diese nicht vorgesehen sind. Bei immerhin 11 von 20 Schülern sind Formen wie die folgenden anzutreffen: ich ginge, ich kame, ich gabe.

Das heisst, sie verwenden durchaus zielsprachengerecht die abgelautete Verbalform, suffigieren sie jedoch mit den Personalendungen des Präsens (oder des regelmässigen Präteritums). Beide Irregularitäten – die des Stamms und die der Personalflexion – sind offensichtlich nicht in einem Zuge zu be-_______________

44 Auf die unregelmässigen Verben wurde im Unterricht während des Beobachtungs-

zeitraums sehr viel mehr Zeit verwendet als auf die regelmässigen; die Schüler wurden immer wieder aufgefordert, Listen von unregelmässigen Verben zu lernen.

155

wältigen. Sogar Modalverben, deren Präteritumsformen in den Frühstadien ja als Chunk weitgehend fehlersicher abgespeichert waren, können von dieser Generalisierung erfasst werden: er wollt, sie mochtet.

In Anbetracht all dieser Schwierigkeiten greifen die Schüler zum Teil ver-einzelt, zum Teil massiv auf eine in der Erwerbsforschung oft belegte Aus-weichstrategie zurück: bei Formen, deren sie sich nicht sicher sind, weichen sie auf andere, ihnen vertrautere aus, im Fall des Präteritums also auf die Ba-siskategorie Präsens. Sie tun das ohne Rücksicht auf die zeitliche Kohärenz ihrer Texte:45

(48) Ich kam an ihr und spricht mit ihr. (Nathalie F ESC10/11, 7) Zuweilen wirken Texte dieser Art dermassen inkohärent, dass sich die Frage aufdrängt, ob hier tatsächlich nur eine morphologisch begründete Vermei-dungsstrategie vorliegt oder ob es sich um ein Unvermögen handelt, die zeit-liche Perspektive der Vergangenheit konsequent durchzuhalten. Entspre-chende Vergleiche zur muttersprachlichen Kompetenz fehlen uns, so dass beide Erklärungshypothesen offen bleiben müssen. Sicher ist jedoch, dass ein systematisches Ausweichen auf Präsensformen in Präteritumskontexten ein deutliches Indiz dafür ist, dass die Phase V noch nicht bearbeitet werden kann. Zusammenfassung: Tab. 25 zeigt den zahlenmässigen Anteil an abweichen-den Formen, die auf die verschiedenen Generalisierungsstrategien zurückzu-führen sind. richtige Formen

Generalisierungen Total

Generalisierung des -t-Flexivs

Generalisierung des regelmässigen Stammes

Generalisierung der Personmarkierung

81546

26 Formen 11 Formen 28 Formen 880

12 Schüler 8 Schüler 11 Schüler

92,6% 3% 1,3% 3,1% 100%

Tab. 25: Vorkommende Präteritaformen in der Phase V

_______________

45 Boss (1997) beobachtet dasselbe Phänomen bei ihren australischen Studenten: mein wochenende begann am donnerstag und donnerstag abend gehe ich; ich ass mein frühstück und liest die Zeitung und fahrt nach die university.

46 An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass ein grosser Teil der richtigen Formen Chunks sind.

156

Nach den bisher festgestellten zahlreichen Parallelen zwischen dem gesteu-erten Erwerb unserer Genfer Schüler und dem natürlichen Erwerb von Kin-dern oder Gastarbeitern ist zu erwarten, dass für den Präteritumserwerb Ent-sprechendes gilt. Für den L1-Erwerb liefert Clahsen (1988) die Bestätigung; sowohl die Verwendung des -t Flexivs bei unregelmässigen Verben als auch die Verbindung umgelauteter Formen mit Präsensendungen konnte er nach-weisen. Weitere Auskünfte sind aus der Literatur zum deutschen Erst- oder Zweitsprachenerwerb nicht zu erhalten; das Präteritum gehört zu den bislang vernachlässigten Untersuchungsgegenständen der Spracherwerbsforschung im deutschen Sprachraum.47 Wohl bestätigen Forschungsergebnisse aus dem englischen Erstsprachenerwerb, dass englische Kinder das ed des simple past auch auf unregelmässige Verben übertragen (bringed, goed, doed),48 und Jordens (1988c) nennt aus dem niederländischen Erst- und Zweitsprachener-werb entsprechende Beispiele für Generalisierungen mit -te bzw. -de.49

Irreguläre Formen erweisen sich somit auch im Bereich des Präteritums für den Erwerb unter jedweden Bedingungen als äusserst erwerbsresistent; auch durch unterrichtliche Steuerung ist dem nicht abzuhelfen. Am ehesten scheinen sie den Weg in die Sprachproduktion über die Memorisierung flos-kelhafter Wendungen zu finden, die in der realen Kommunikation nützliche Dienste leisten können (wie etwa die Präteritumsformen der Auxiliare und Modalverben). Mit der Memorisierung von Listen hingegen ist dem Problem nicht beizukommen, wie sich aufgrund der Texte unserer Probanden nach-weisen lässt – wenn es eines solchen Nachweises je noch bedürfen sollte.

5.2.4.2.6 Phase VI: Ausbau und Konsolidierung

Die wenigen Schülerinnen und Schüler, die bis zu dieser Phase vorgestossen sind, verfügen nun über das nötige morphologische Instrumentarium, um sich die noch verbleibenden Tempora (Plusquamperfekt und Futur) und Modi (Konjunktiv I und II) und auch das Genus Verbi Passiv anzueignen. Mit der Beherrschung der Auxiliare haben und werden sind Plusquamper-

_______________

47 Das dürfte mehrere Gründe haben. Einerseits befassen sich die meisten Untersu-chungen des L2-Erwerbs mit mündlichen Daten, in denen die Vergangenheit mit dem Perfekt ausgedrückt wird, während das Präteritum eher für schriftliche Texte verwendet wird. Anderseits wird in L1-Erwerbsuntersuchungen mit Kindersprache gearbeitet und oft liegt dann der Schwerpunkt der Analyse auf den ersten Lebens-jahren, in denen noch keine Spur von Präteritum zu finden ist.

48 Victoria Fromkin/Peter Rodman (1988: 379). 49 Jordens (1988c: 65) nennt folgende Beispiele: de man zwijgde (zweeg) over ziin

verleden; in dienst verzuipte (verzoop) hij al zijn geld.

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fekt, Futur und Passiv morphologisch problemlos zu bilden; mit zweiteiligen Prädikaten sind sie vertraut, und für die Ableitung von Konjunktiv I und II stehen ihnen die Infinitive und die Präteritumsformen zur Verfügung.

Die Texte von Schülerinnen und Schülern der Phase VI unterscheiden sich dementsprechend qualitativ eindeutig von denen der vorangegangenen Pha-sen: Die Varianz sowohl der verwendeten Verben als auch der Tempora und Modi hat sich beträchtlich erweitert; zudem geht der Anteil an abweichenden Formen in spektakulärer Weise zurück (von den insgesamt 1264 Verbformen, die bei den Schülern dieser Phase gezählt wurden, sind nur 132 abweichend, d. h. nur 9%). In den Texten präsentiert sich dieser Erwerbsstand so:

(49) Wenn ein Mädchen nicht zum Schwimmbad wegen ihrer Religion geht, könnte

man es blöd finden. Meiner Ansicht nach hat das Mädchen keine Wahl. Ihre Eltern haben sie so erzogen und wenn sie sich weigert, den Traditionen zu fol-gen, geschieht es manchmal, dass das Mädchen von ihrem selbsten Bruder ge-tötet wird. (Brigitte A C11/12, 1)

In diesen wenigen Zeilen werden zwei Tempora, zwei Modi und zwei Genera verbi verwendet, während in Texten der vorausgegangenen Phasen in der Regel maximal zwei Tempora, und diese mit einer hohen Abweichungsquote, erschienen. Man könnte sich legitimerweise fragen, ob einem solchen Erwerbsstand überhaupt noch eine Phase zugeordnet werden soll, ob er nicht vielmehr als Endzustand der Phase V zu sehen ist.

Wenn wir dennoch eine sechste Phase ansetzen, so aus zwei Gründen. Zum einen geht der Erwerb der noch fehlenden Tempora und Modi sowie des Passivs nicht ganz problemlos vonstatten, obwohl die „Bausteine“ für alle in früheren Phasen erarbeitet wurden. Die Schwierigkeit liegt dabei nicht prioritär in der Formenbildung, sondern in der funktionalen Zuordnung der Formen, einer Schwierigkeit, die erstmals in dieser letzten Phase zutage tritt (sieht man von den Präsensgeneralisierungen auf Vergangenheitskontexte ab, siehe S. 155). Nicht zufällig ist vorwiegend der Modusgebrauch davon be-troffen, ein Bereich, in dem die Normen des Deutschen und des Französi-schen nicht deckungsgleich sind. Zudem dürfte für frankophone Lerner die lautliche Nähe von Präteritum und Konjunktiv II verwirrend sein; oft fällt es ihnen schwer, den Umlaut als vollgültiges grammatisches Morphem anzuer-kennen (wie etwa in hätte vs. hatte, müsste vs. musste, kamen vs. kämen). So kommt es bei immerhin 13 von 20 Schülern zu Verwechslungen wie:

(50) Gestern hätte ich einen Traum/ Ihre Augen waren geschlossen, aber sie könnte

sehen, wie wenn sie offnen waren. (Ines I C10/11, 7)

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Ebenso gilt für das Passiv, dass Formenbeherrschung noch keineswegs den normgerechten Gebrauch des Passivs garantiert. Passivsätze kamen in unse-rem Korpus ohnehin so selten vor, dass sie für eine Analyse untauglich wa-ren; aber selbst wo Passivformen richtig gebildet werden, sind sie nur in den seltensten Fällen auch zielsprachengerecht angewendet. (51) Wenn Leute sich zu eine andere Kultur angepasst werden, dann ist es Zeit, um

sie zurückzuschicken [...] Es ist doch schwer für uns zu wissen, ob sie in ihrer Heimat noch gedroht werden. (Brigitte A C11/12, 6)

Die Frage der zielsprachengerechten Verwendung von Tempora und Modi liegt jedoch jenseits unseres Untersuchungsbereichs; wir beschränken uns – auch bei dieser letzten Phase – auf den morphologischen Aspekt des Konju-gationserwerbs.

Einen zweiten Grund für die Annahme einer sechsten Erwerbsphase sehen wir in den missglückten Versuchen, besonders elaborierte Texte zu schreiben. In solchen Fällen zeigt sich, dass das Formeninventar noch der Konsoli-dierung bedarf – so zum Beispiel, wenn wegen zu grosser Distanzstellung der Überblick über den Satz und somit die Subjekt-Verb-Kongruenz verloren geht:

(52) Meine „cousins“, die ein Instrument zu spielen angehalten haben, hatten be-

gonnen, als sie ungafähr 14–15 Jahre alt war. (Silvia A C11/12, 1) Ohnehin müssen in dieser Phase weiterhin die unregelmässigen Verben bear-beitet werden, nach wie vor über ein eher lexikalisches Lernen jedes einzel-nen Verbs und seines Ablauts. Auch wenn inzwischen der kategoriale Unter-schied zwischen regelmässigen und unregelmässigen Verben erkannt wird, ist dies noch keine Garantie für fehlerlose Bildungen: (53) Ihre Röcke waren so kurz, dass ihre ganze Beine am Luft hungen. (Frédéric H

C11/12, 4) Und schliesslich kommt es wiederholt zur Verwechslung lautlich ähnlicher Verben: (54) Er musste 40 Grad Fieber haben und sie kennte [= konnte] nichts machen.

(Arbeit 7) [...] eines Tages war ich zu meiner Grossmutter, die auf seiner Sofa im Wohnzimmer legte [= lag], um zu überlegen. (Arbeit 8) (Delphine G C10/11)

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Doch sind alle diese verbleibenden Lernaufgaben eher auf lexikalischer Ebene anzusiedeln; es darf davon ausgegangen werden, dass bei hinreichen-dem Kontakt zur L2 diese grammatischen Probleme in dem Masse zurückge-hen, wie die Lexik ausgebaut wird. Von einem gewissen Niveau an ist ohne-hin nicht mehr eindeutig zu entscheiden, inwieweit abweichende Formen überhaupt noch Indizien für nicht abgeschlossenen Erwerb oder nicht einfach Performanzfehler sind, wie sie bei jedem L1-Sprecher vorkommen können. Somit ist also Phase VI für uns nach oben offen; sie endet mit Erreichung ei-ner quasi muttersprachlichen Kompetenz.

5.2.4.3 Verteilung der Schülerpopulation auf die sechs Erwerbsphasen

Die folgende Tabelle zeigt, wie sich die einzelnen Schülerinnen und Schüler auf die sechs Erwerbsphasen verteilen. Ausschlaggebend für die Einstufung war der Erwerbsstand, der am Ende des zweiten Beobachtungsjahres erreicht war. Die Zuordnung zu den einzelnen Phasen bedeutet nicht, dass der Erwerb der entsprechenden Form bereits abgeschlossen ist; sie besagt lediglich, dass der betreffende Schüler sich am Ende des zweijährigen Beobachtungszeit-raums mit der entsprechenden Form mehr oder weniger erfolgreich ausein-andersetzt. Die Reihenfolge der Schüler innerhalb der Phasen besagt nichts darüber, wer am Anfang bzw. Ende dieser Phase angelangt ist; sie folgt nur der Nummerierung der Klassen.

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Phasen Klassen Anzahl der Schüler

Total Phasen Klassen Anzahl der Schüler

Total

Phase I EP 5a EP 5b EP 6a EP 6b CO 7a CO 7b CO 7c

8 1 1 1 1 3 1

16

Phase IV CO 9a CO 9c ECG 11 ECG 12 ESC 10 ESC 11 C 11

5 4 6 4 4 4 1

28

Phase II EP 5a EP 5b EP 6a EP 6b CO 7a CO 7b CO 7c CO 8a CO 8c CO 9b ECG 11

1 5 2 2 3 3 2 1 3 2 2

26

Phase V ECG 12 ESC 10 ESC 11 ESC 12 C 10 C 11 C 12

4 2 3 3 2 3 3

20

Phase III CO7a CO7b CO7c CO8a CO8b CO8c CO9a CO9c ECG11 ESC M

4 5 5 7 8 1 2 1 2 1

36

Phase VI C11 C12

3 3

6

Total 62 54

132

Tab. 26: Einstufung der Testpersonen in die Phasen des Verbalerwerbs Die Tabelle veranschaulicht in eindrücklicher Weise, wie breit die jeweiligen Erwerbsstände über die Klassen gestreut sind und wie sich diese Streuung mit steigender Klassenstufe immer breiter auffächert. So sind beispielsweise in Phase I Kinder aus 5., 6. und 7. Klassen vertreten; in Phase III hingegen Schüler aus fünf verschiedenen Klassenstufen, von der 7. Cycle-Klasse an aufwärts bis zur Maturität – eine deutliche Demonstration der Kluft, die sich zwischen Klassenstufe und Erwerbsniveau öffnen kann. In den Phasen V und

161

VI verengt sich das Spektrum wieder; vor allem in der letzten Phase sind nur noch Gymnasialschüler der höheren Klassen anzutreffen. Umgekehrt lässt sich der Tabelle auch entnehmen, wieviele verschiedene Erwerbsstände in ein und derselben Klasse koexistieren: die Schüler der Klasse 7a beispielsweise verteilen sich auf die Phasen I, II und III, was ein recht realistisches Bild des Schulalltags vermitteln dürfte.

Auf die Probleme, die sich beim Unterricht in dermassen heterogenen Klassen zwangsläufig ergeben, werden wir im Schlussteil dieses Buches noch eingehen. 5.2.5 Zusammenfassung: Erwerb der Verbalmorphologie unter

gesteuerten Bedingungen Welche Aussagen können nun auf Grund unserer Beobachtungen im Bereich der Verbalflexion über die Einflussfaktoren des Erwerbs unter gesteuerten Bedingungen gemacht werden? Genauer: Inwieweit determiniert der Gram-matikunterricht den Erwerb des deutschen Verbalsystems; welche weiteren Einflussfaktoren sind in Rechnung zu stellen?

5.2.5.1 Einflussfaktor Grammatikunterricht

Betrachtet man nur die Reihenfolge, in der unsere Probanden die verschiede-nen Verbalbereiche erwerben – Konjugation im Präsens, Modalverbkon-struktionen, Perfekt, Präteritum, Plusquamperfekt und die Konjunktive – so scheint die Frage müssig: Genau in dieser Reihenfolge wird die Verbalflexion im Lehrbuch „Vorwärts“ angeboten. Auf den ersten Blick scheinen die Schülerinnen und Schüler tatsächlich zu erwerben, was unterrichtet wird. Mit dieser Beobachtung könnten – zumindest für den Verbalbereich – alle weite-ren Problematisierungen des Verhältnisses bzw. Missverhältnisses zwischen unterrichtlicher Steuerung und autonomem Erwerbsprozess hinfällig werden. Oder – und diese Interpretation scheint uns plausibler – die Autoren des Lehr-werks „Vorwärts“ liessen sich von Intuitionen leiten, die mit der natürlichen Er-werbssequenz übereinstimmen. Diese Reihenfolge dürfte in vielen Lehrwerken in gleicher Weise erscheinen50 und ist sicher auch dem Laien einleuchtend.

_______________

50 Das seit Abschluss unserer Datenerhebung eingeführte neue Lehrwerk „Sowieso“ weicht allerdings von dieser Reihenfolge ab: die Autoren führen zuerst das Perfekt, dann erst Modalverbkonstruktionen ein. Erste Stichproben zeigten, dass dies tatsächlich den Erwerb beider Strukturen zu verzögern scheint, was die „Natürlichkeit“ der umgekehrten Reihenfolge bestätigen würde.

162

Ein genauerer Blick auf die Art und Weise, wie die Schüler zur Beherr-schung der Verbalflexion gelangen, zeigt jedoch, wie weit sie sich in ihren Aneignungsprozeduren von der schulischen Vorgabe entfernen. Es sind also für den Verbalbereich eher die Erwerbsverfahren als die Erwerbsfolgen, die die These von der Autonomie des L2-Erwerbs, auch unter gesteuerten Be-dingungen, untermauern.

Die Genfer Deutschschüler sind offensichtlich genau wie die Kinder beim Erstsprachenerwerb und Gastarbeiter beim natürlichen Zweitsprachenerwerb darauf angewiesen, sich über Vereinfachungs- und Generalisierungsstrategien allmählich an die zielsprachliche Norm heranzuarbeiten, obwohl sie diese Norm im Unterricht explizit erläutert bekommen und ihre abweichenden Produktionen reichlich mit negativem Feed-back bedacht werden. Dies hindert sie nicht daran, für ihre ersten Konjugationsmarkierungen ein redu-ziertes Inventar von Flexiven zu wählen, regelmässige Flexive zu generalisie-ren (z. B. das Präsensparadigma auf Modalverben und auf unregelmässige Verben im Präteritum) und unregelmässige Formen zu regularisieren (z. B. den Verbalstamm bei der Bildung von Partizip und Präteritum der unregel-mässigen Verben); dabei bevorzugen sie eindeutige und morphologisch uni-forme Markierungen (das Präfix ge- in Kombination mit Suffix -en oder -t bei Partizipien, das Suffix -t + Personalendung beim Präteritum). Sowohl diese Verfahren als auch die entsprechenden lernersprachlichen Produkte sind aus natürlichen Erwerbsformen bekannt, wie wir bei der Beschreibung der einzelnen Phasen nachgewiesen haben.

Bei der Durchsicht der Literatur zum Verbalflexionserwerb unter natürli-chen Bedingungen fielen uns nur drei Punkte auf, in denen sich unsere Pro-banden anders verhalten als die deutschen Kinder oder die Gastarbeiter. Ge-messen an den Parallelen sind diese Unterschiede wenig relevant; sie sind ohnehin eher quantitativer als qualitativer Natur. 1) Die für den Erstsprachenerwerb charakteristischen verblosen Sätze kom-

men in unserem Korpus seltener vor (aber erstaunlicherweise eben doch mit einem Anteil von 11% an der Gesamtheit der Abweichungen);

2) umgekehrt wurde in natürlichen Erwerbssituationen die von unseren Testpersonen bevorzugte Generalisierung des -en-Flexivs an Partizipien nicht beobachtet (ebensowenig bei den australischen Deutschstudenten von Boss);

3) die „Nullsuffigierungen“ von Partizipien, die im deutschen Erstspra-chenerwerb häufig zu sein scheinen (abgemach), sind in unserem Korpus sehr selten.

Für alle drei Unterschiede könnte die Unterrichtssituation verantwortlich sein, für (1) und (3) allerdings auch das Alter der Schulkinder, die auf Grund ihrer L1-Kenntnisse die frühen Spracherwerbsphasen längst überwunden haben.

163

Dass der Erwerb der Verbalflexion durch Unterricht nur sehr bedingt zu steuern ist, zeigt sich auch bei denjenigen Schülern, deren Erwerbsrhythmus hinter der schulischen Grammatikprogression zurückbleibt. Das „Übersprin-gen“ einer Erwerbsphase, um den Anschluss an den Unterricht wieder zu fin-den, ist offensichtlich nicht möglich. Mit zunehmendem Rückstand wächst die Gefahr, dass der gesamte Erwerb blockiert wird. In jeder Phase kann es zu dergleichen Fossilisierungen kommen; im Verbalbereich erweist sich der Übergang zwischen den Phasen III (Modalverb + Infinitiv) und IV (Perfekt) als besonders fossilisierungsanfällig. Generell scheint der schulische Rhyth-mus eine deutlich überwiegende Mehrheit unserer Probanden zu überfordern; Schüler, deren Verbalflexionserwerb parallel zum Unterrichtsprogramm ver-läuft, sind extrem selten.51 Es ist sogar zu befürchten, dass der Unterricht sich geradezu kontraproduktiv auswirken kann, wenn neue – und zudem formal ähnliche – Formen und Strukturen eingeführt werden, solange die Bearbei-tung der vorangegangenen Phase noch nicht abgeschlossen ist (besonders augenfällig auch hier wieder an dem oben bereits erwähnten Phasenübergang III–IV oder bei der Einführung des Konjunktiv II im Anschluss an das Präte-ritum). 5.2.5.2 Einflussfaktor L1-Transfer

Die Rolle der L1 ist nicht leicht einzuschätzen; das deutsche Tempus- und Modussystem ist dem französischen konzeptuell relativ nahe, so dass ver-mutlich viel „positiver Transfer“ stattfindet, der wegen seiner Normkonfor-mität unauffällig ist. Insofern sich der Einfluss der L1 durch Abweichungen überhaupt bemerkbar macht, lassen sich drei Arten von Transfer unterschei-den: (1) Übernahme von Wörtern aus der L1: Dieses Verfahren praktizieren hauptsächlich die Primarschulkinder. Sie gebrauchen französische Verben, wenn ihnen das deutsche Äquivalent fehlt, ein Verfahren, das schon Krashen als Notlösung bei mangelnder L2-Kompetenz erwähnt hat: (55) des Mädchen der donne (Arbeit 5) du chante (Arbeit 6) (Tamina B 4/5) (56) veux du spilen (Eliane F 4/5, 6) (57) mouter rentre (Arbeit 5) ich s’ait aboyer (Arbeit 7) (Françoise G 4/5) (58) der Hund prend (Evelyne L 6/7, 5)

_______________

51 Ein Beispiel: Bei der Einführung des Präteritums im 10. Schuljahr ist bei vielen Schülern der Perfekterwerb noch nicht abgeschlossen; manche haben ihn noch nicht einmal in Angriff genommen.

164

Ganz vereinzelt finden sich sogar Kombinationen von französischem Stamm und deutschem Flexiv: sie disen (Annick A 4/5, 5).

In den späteren Klassen verschwindet dieses Vorgehen weitgehend; es würde ja auch in der schulischen Unterrichtssituation gar nicht zugelassen. Im übrigen ist offensichtlich schon den Primarschulkindern klar, dass sich das französische Morpheminventar nicht auf das Deutsche übertragen lässt. In ihren Generalisierungsstrategien halten sie sich an die deutschen Flexive, bei den Personalendungen wie beim Infinitiv.

(2) Übertragung von L1-Regeln auf die L2: Wie oben erwähnt, sind solche Übertragungen vermutlich sehr häufig und sicher auch hilfreich, weil die zahlreichen Parallelen zwischen den Tempussystemen der beiden Sprachen dergleichen Übernahmen nahelegen.52 Nur im Modusgebrauch, der im Deut-schen anders organisiert ist als im Französischen,53 kommt es erwartungsge-mäss zu „negativem“ Transfer (Beispiel: wenn ich nur reich war), was übri-gens auch Sprechern mit einer sehr weit entwickelten L2-Kompetenz unter-läuft.

Nach dem französischen Modell aller + Infinitiv bilden die Schüler Futur-formen unter Verwendung von gehen, und dies nicht nur antizipierend, so-lange ihnen die Bildungsregeln des deutschen Futurs noch unbekannt sind (59), sondern auch in den Gymnasialklassen (60):

(59) Ich gehe zucker nehmen (Sophie V 4/5, 8) (60) Gehen sie ein CD sortir? (Sandra M ECG11/12, 6) Der Einflussfaktor L1 ist also, zumindest insofern er sich in Fehlleistungen niederschlägt, von sehr eingeschränkter Bedeutung. Die Schüler begreifen die Verbalflexionen offenbar als Spezifikum der Fremdsprache, so dass Trans-ferprozesse aus dem Französischen abgeblockt sind.54 Das geht so weit, dass sie sich in höheren Klassen auch dann nicht an ihrer L1 orientieren, wenn sie ihnen „Umwege“ über zeitraubende Genereralisierungen ersparen könnten, so z. B. bei der Unterscheidung der beiden analytischen Verbalformen Modalverb + Infinitiv vs. Auxiliar + Partizip. Und auch bei der Entscheidung

_______________

52 „[...] this insistence on early production is a cause of ‘first language influence’. We ‘fall back’ on first-language rules when a second-language rule is needed in pro-duction but is not available“ (Krashen 1985: 9f.).

53 Siehe Kapitel 5.2.1, Deutsche und französische Verbalflexion: ein Vergleich. 54 „Learners form ‘projections’ about what can be transferred on the basis of their

beliefs as to whether the native and the target languages are the ‘same’ – either in terms of ‘linguistic detail’ or ‘in very general terms’. On the basis of these pro-jections, learning decisions, or ‘conversions’, are made.“ (Ellis über Kellerman (1977), 1994: 328).

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zwischen den Auxiliaren haben und sein bei der Perfektbildung ist der Sog der haben-Generalisierung bei vielen unserer Schüler stärker als die Tendenz zum L1-Transfer.

5.2.5.3 Fazit

Das Fazit unserer Analyse liesse sich demnach in folgenden Thesen zusam-menfassen:

Der Verbalflexionserwerb vollzieht sich in sechs Phasen, und zwar in Richtung einer zunehmenden Komplexität: I. in der präkonjugalen „Vorphase“ erscheinen nur memorisierte Chunks und

Infinitive; II. den ersten Erwerbsschritt bildet die Subjekt-Verb-Kongruenz; III. als erste analytische Form, bestehend aus einem flektierbaren und einem

nicht-flektierbaren Bestandteil, wird Modalverb+Infinitiv bearbeitet; IV. es folgt als zweite analytische Form das Perfekt, bestehend aus zwei flek-

tierbaren Teilen; V. als synthetische Vergangenheitsform folgt das Präteritum, in dessen Mor-

phologie Personalendung und Tempusmarkierung miteinander verknüpft sind;

VI. Plusquamperfekt, Konjunktiv I und II sowie Passiv können nun aus den „Bausteinen“ der Phasen I–V konstruiert werden.

Ab Phase III kann das Phänomen der unregelmässigen Konjugation zur Kenntnis genommen werden; der Erwerb der unregelmässigen Verbformen begleitet von da an, wenn auch stark verzögert, den Erwerb der regelmässigen Paradigmen.

Ob die Frequenz der wesentliche Faktor für den L2-Erwerb ist, wie Blackshire-Belay annimmt, können wir auf Grund unserer Befunde weder bestätigen noch widerlegen. Für die Bildung von Chunks ist Frequenz im In-put sicher förderlich, für die Memorisierung unregelmässiger Formen gewiss ebenfalls; wo Frequenz jedoch in Konkurrenz steht zu möglicherweise weni-ger frequenten, aber eindeutigen und morphologisch uniformen Formen, werden letztere bevorzugt (Beispiel: Erwerb der im Input selteneren, aber re-gelmässigen Präteritumsformen vor den unregelmässigen).

Was die Frage der Reihenfolge von inhärenter und kontextueller Flexion betrifft, so scheinen beim (gesteuerten) Erwerb der frankophonen Probanden beide Flexionstypen keine grösseren Probleme zu bereiten. Dass Verben konjugiert werden müssen und also mit dem Subjekt des Satzes formal abge-stimmt werden müssen, scheint schon ganz am Anfang des Erwerbs für die meisten klar zu sein – was sich am deutlichsten an jenen Belegen festmachen lässt, bei denen die Lernenden ein französisches Lexem in den deutschen Text

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transferieren und mit deutschen Konjugationsendungen versehen. Gewisse Schwierigkeiten im Zusammenhang mit kontextueller und inhärenter Flexion stellen sich erst bei den zweigliedrigen Prädikaten ein. Einerseits scheint nicht bei allen Lernenden von Beginn weg das Wissen vorausgesetzt werden zu können, welche Verbteile kontextuell flektiert werden müssen, was sich in normwidrigen Personalendungen an beiden Verbalteilen manifestiert. Andererseits besteht ein ersichtliches Problem darin, die Art der inhärenten Flexion, die der zweite Verbteil erfordert, zu erkennen – und das trotz Übereinstimmung mit der Erstsprache.

Viele Daten aus dem Verbalerwerb lassen sich problemlos aus der Per-spektive der Natürlichen Morphologie interpretieren: die Generalisierungen und Regularisierungen der Lernenden sind nichts anderes als lernersprachli-che Bestrebungen zur Erhöhung der Uniformität, die besonders schön zu se-hen sind beim Gebrauch gleicher Flexive für gleiche Funktionen (Bsp. die Generalisierung der regelmässigen Personalendungen ich mage, ich ginge; die Generalisierungen des relativ eindeutigen und validen Partizipmarkers ge-...- en), was sich dann wie das lernersprachliche „Übersehen“ zielsprachlicher Unregelmässigkeiten ausnimmt. Dass regelmässige Formen generell vor den unregelmässigen gelernt werden, kann als Bestätigung von deren geringerer kognitiver Komplexität und deren grösserer Zugänglichkeit für Lerner gelten.

Die Selbstverständlichkeit, mit der Lernende analytische Verbformen wie das Perfekt bilden und die Schwierigkeiten, die sich bei synthetischen Formen wie dem Präteritum zeigen, bestätigt, dass freie vor – markierteren – ge-bundenen Formen erworben werden und kann mit dem Gesichtspunkt der konstruktionellen Ikonizität in Zusammenhang gebracht werden: Analytische Formen können als konstruktionell ikonischere Ausdrücke für ein „Mehr an verbspezifischer Information“ gesehen werden als synthetische Formen und sind offenbar „leichter“ zu lernen, wobei die besondere Unzugänglichkeit etwa der Präteritumsformen für Lernende darin besteht, dass das Paradigma selbst der regelmässigen Verben die morphologische Transparenz der Ver-balflexive deutlich vermindert: -t ist beispielsweise nicht nur – wie bereits erworben – eine (kontextuelle) Personalmarkierung, sondern auch eine (inhärente) Tempusmarkierung.

Bei unseren Genfer Schülerinnen und Schülern kommt als entscheidender Einflussfaktor weder L1-Transfer noch der Grammatikunterricht in Betracht. Der Einfluss des Französischen ist zwar hinsichtlich der konzeptuellen „Vorarbeit“ schwer abzuschätzen; hinsichtlich der morphologischen Markie-rung ist er – erwartungsgemäss – quasi inexistent. Der schulische Deutschunterricht ist zweifellos der Motor des Erwerbs, da er den Schülern das Morpheminventar des deutschen Flexionssystems und seine Anwen-dungsbedingungen vorführt. Er erspart ihnen hingegen nicht die eigenständige Bearbeitung über den Weg von interimsprachlichen Erwerbsstrategien. Somit

167

erscheint uns der natürliche Spracherwerb als das angemessenste Analogon für den Erwerb der Verbalflexion unter gesteuerten Bedingungen. 5.3 „Der Brot, die Mädchen, das Führerschein“55 –

Der Erwerb der deutschen Genera Helen Christen 5.3.1 Ausgangslage Das Deutsche ist eine Genussprache. Wer Deutsch lernt, sei es als Erstprache, sei es als Zweitsprache, muss lernen, dass es die drei Nominalkategorien der Maskulina, Feminina und Neutra gibt. Die Zugehörigkeit jedes einzelnen Nomens zu einer der Genusklassen, die sog. Genusselektion oder gender at-tribution, ist eine lexeminhärente Eigenschaft, die am Nomen selbst nicht ausgedrückt wird, sondern an den Determinantien, Adjektiven und Pronomen einer Nominalgruppe markiert und als gender agreement bezeichnet wird.56

Kategorische Genuszuweisungsregeln, die die Selektion eines bestimmten Genus eindeutig festlegen würden, existieren nicht. Man kann jedoch von stochastischen Regeln ausgehen, die das Genus nach phonologischen, mor-phologischen und semantischen Gesichtspunkten zuweisen (vgl. Wegener 1995b; Köpcke 1982; Köpcke/Zubin 1984; Eisenberg 1989). Diese Regeln sind aber relativ komplex, sodass Bussmann (1995: 122) resignierend zu be-denken gibt, „daß für Fremdsprachige letzten Endes das Erlernen des Regel-apparates aufwendiger ist als das Mitlernen beim einzelnen Wort“.

Genus ist im Deutschen nicht nur eine Angelegenheit des Syntagmas, in-sofern als Elemente – also hier die Elemente der Nominalgruppe – mit einer lexikalischen Eigenschaft des Nomens kongruieren müssten, sondern das Genus hat gleichzeitig eine paradigmatische Dimension. Es ist nämlich nicht so, dass sich ein bestimmtes Genus morphologisch uniform in genau einer und immer gleichen Ausdrucksform innerhalb der Nominalgruppe äussern würde, sondern zu einem Genus gehört ein ganzes Formenparadigma, das zugleich die unterschiedlichen syntaktischen Funktionen der Nominalgruppe mit ausdrückt (z. B. Dativ: einem kleinen Kind) (vgl. Kapitel 5.5).

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55 Belege aus Schülerarbeiten. 56 Zur Unterscheidung von gender attribution und gender agreement vgl. Müller

(1994: 71).

168

Die (frankophonen) Lernenden werden durch die genannten Besonder-heiten im Bereich deutscher Nominalgruppen mit komplexen Erwerbsprob-lemen konfrontiert: 1) Es muss zu jedem deutschen Nomen gelernt werden, welches von drei

Genera zugewiesen werden muss. 2) Es muss gelernt werden, welche Elemente des Syntagmas überhaupt

„genussensitiv“ sind und entsprechend markiert werden müssen, nämlich die Determinantien, die Adjektive und die Pronomen.

3) Es muss gelernt werden, welche Ausdrucksstrukturen an den relevanten Stellen unter Berücksichtigung weiterer nominaler Kategorien zu realisie-ren sind (z. B. dass der Definitartikel eines maskulinen Nomens, das in der Funktion eines direkten Objekts im Akkusativ auftritt, die Ausdrucks-form den hat).

Aus der Perspektive Frankophoner ist die Existenz eines nominalen Katego-riensystems keine grundlegend neue „Spracherfahrung“. Auch das Französi-sche kennt wie das Deutsche ein Genussystem, das sich durch das „Fehlen eines zugrundeliegenden Konzepts, einer Funktion der Kategorie Genus“ (Wegener 1995b: 3) auszeichnet. Allerdings sind einige Unterschiede zwi-schen den beiden Sprachen nicht zu übersehen: Das Französische spezifiziert in die zwei nominalen Kategorien Feminina und Maskulina, beim Deutschen kommt zusätzlich die Kategorie der Neutra hinzu. Allein schon diese Tatsa-che macht klar, dass hinsichtlich der Genusselektion eine 1:1-Entsprechung zwischen den beiden Sprachen ausgeschlossen ist und die Genuszuweisung beim einzelnen deutschen Nomen nicht über Transfer aus der französischen L1 erfolgen kann.57

Was die Genussensitivität der nominalen Teile betrifft, so decken sich das Deutsche und Französische in weiten Teilen. Die Unterschiede sind jedoch einschneidend: Die Possessiva kongruieren im Deutschen mit der Bezeich-nung der Besitzenden, im Französischen mit jener des Besitzes; im Französi-schen werden zudem die Genusunterschiede im Gegensatz zum Deutschen im Plural nicht neutralisiert.

Als eine der Lernschwierigkeiten dürfte sich die deutsche Besonderheit des paradigmatischen Genus herausstellen. Das Genus besteht aus einem ganzen Flexionsparadigma, dessen einzelne Formen sich zusätzlich nach Kasus und Numerus ausrichten. Die einzelnen Flexive sind aber nicht eineindeutig, sondern mit bloss 8 verschiedenen Suffixen (nämlich -Ø, -e, -er, -en, -em, -es, -as, -ie) werden alle möglichen Genus-Kasus-Numerus-Kombinationen ausgedrückt (vgl. Werner 1975). Diese Formenökonomie ist wohl bei der

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57 Vgl. zur einzelsprachlich unterschiedlichen Genusselektion die in diesem Zusam-menhang vielzitierten die Sonne / le soleil; der Mond / la lune.

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Vielfalt an möglichen Kombinationen (3 Genera x 4 Kasus x 2 Numerus = 24 Möglichkeiten) für eine erfolgreiche kognitive Verarbeitung unabdingbar. Für Lernende ergibt sich aber aus der deutschen Formenökonomie rsp. der deraus resultierenden Polysemie einerseits ein erhebliches Analyseproblem beim Input (nur wenn das Genus von Schule bekannt ist, kann der Schule als Dativ interpretiert werden!), andererseits ein Syntheseproblem beim Output (an welcher syntaktischen Stelle muss welche Endung realisiert werden?) (vgl. Kapitel 5.7).

Das Lernproblem des Genus ist also weit komplexer, als dies Wegera (1997: 99) in seiner „Konzeption einer Grammatikeinheit zum Genus“ schil-dert, der davon ausgeht, dass das Genus ein Merkmal sei, „das nicht am Sub-stantiv markiert wird, sondern durch den bestimmten Artikel der, die, das (bzw. den unbestimmten Artikel ein, eine) ausgedrückt wird. Das Genus muss deshalb jeweils zusammen mit dem Substantiv erlernt werden.“58 Die richtige Genusselektion ist bloss ein erster „Teilerfolg“, der noch keineswegs die zielsprachlichen Flexive aller genussensitiven Elemente und damit formale Korrektheit impliziert! 5.3.2 Forschungsstand Der Genuserwerb wird gerne als ein Lernbereich charakterisiert, bei dem ErstsprachlerInnen mühelos zu den richtigen Genusselektionen kommen, bei dem ZweitsprachlerInnen dagegen kaum je die Fähigkeit erlangen, beliebigen deutschen Nomen mit hundertprozentiger Sicherheit das zielsprachlich vorgesehene Genus zuzuweisen. Die aktuellen Forschungen zum L1- und L2-Genuserwerb relativieren und spezifizieren nun diese gängigen Vorstel-lungen.59

Was die Ergebnisse zum L1-Genuserwerb betrifft, so sei darauf hingewie-sen, dass der Genuserwerb in der Erstsprache keineswegs so mühelos und rasch erfolgt, wie das oft behauptet wird. Selbst Kinder im Einschulungsalter haben bei der Genuszuweisung in bestimmten Bereichen noch Unsicherheiten (vgl. Mills 1986).60 Die Arbeiten von Müller (1990, 1994) und Koehn (1994)

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58 Zweifellos muss das Genus zusammen mit dem Nomen gelernt werden. Allerdings dürfte es ein Irrtum sein zu glauben, wenn die Lernenden den „richtigen Artikel“ zu einem Nomen wüssten, seien damit die Genusprobleme gelöst.

59 Zum L1-Genuserwerb bei Sprachen mit verschiedenartigen Genussystemen vgl. Corbett (1991: 82ff.).

60 Die Daten von Mills (1986) werden von MacWhinney u.a. (1989) zur Konzeptio-nierung eines konnektionistischen Modells bezüglich der Regelhaftigkeit des Ge-nus verwendet, ohne dass letztere aber den Kenntnisstand mit eigenen empirischen Untersuchungen ergänzen würden.

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zum bilingualen L1-Erwerb haben zudem erhellen können, dass der Genuserwerb von bestimmten Konzeptbildungen und von einzelsprachlichen Strukturen abhängt.

Was nun den Genuserwerb in der L2 betrifft, so liegen zum Deutschen als Zweitsprache die Untersuchungen zum gesteuerten Erwerb von Rogers (1986) und zum ungesteuerten Erwerb von Wegener (1993, 1995a, 1995b) vor. Rogers (1986) kann bei anglophonen Lernenden eine hohe Fehlerquote bei den femininen Nomen feststellen und eine Fehlerabhängigkeit von der syntaktischen Umgebung der genusmarkierten Grösse, was Rogers in einen Erklärungszusammenhang bringt mit Schwierigkeiten der gleichzeitigen Ka-susmarkierung, des paradigmatischen Genus also.

Im ungesteuerten Deutscherwerb bei Kindern mit den flektierenden Erst-sprachen Polnisch und Russisch und dem agglutinierenden Türkisch als L1 kann Wegener (1993) hinsichtlich des Gebrauchs der Determinantien die fünf folgenden Erwerbsphasen ausmachen: 1. Phase: Fehlen jeglicher Mar-kierungen; 2. Phase: Semantische Unterscheidung zwischen bestimmten und unbestimmten Determinantien zur Kennzeichnung bestimmter und unbe-stimmter Referenz; 3. Phase: Reduktion der Formenvielfalt und 1:1-Zuwei-sung von bestimmten Formen zu bestimmten Inhalten; 4. Phase: Festlegung von Funktionswerten und Uminterpretation von Genusmarkern zu anderen grammatischen Markern; 5. Phase: Ausbildung von eigentlichen Genusregeln. In einer abschliessenden Beurteilung geht Wegener (unveröff.)61 in bezug auf das gender agreement von Entwicklungsschritten aus, wobei zuerst das genusabhängige Pronomen, dann der bestimmte und zuletzt der unbestimmte Artikel erworben wird.

Die vorliegende Untersuchungsanordnung ist am ehesten mit jener von Rogers vergleichbar, die gesteuerten Erwerb ebenfalls anhand schriftlicher Texte untersucht. Allerdings erlaubt die ausgeprägte Längs- und Quer-schnittsanordnung des Genfer Projektes Aussagen über allfällige Erwerbs-verläufe rsp. dokumentiert den Stand des Genuserwerbs in verschiedenen Stadien des Spracherwerbs, was bei der eher punktuellen Auswertung von Texten einer schmalen studentischen Testgruppe, wie sie bei der erwähnten Untersuchung von Rogers vorliegt, weniger möglich ist.

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61 Referiert nach Henning Bolte: Zweitsprachenerwerb. Theorie und Unterrichtskon-zepte. Unveröff. Gesamtbericht der Sektion 14. Internationale Deutschlehrerta-gung. Amsterdam 1997.

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5.3.3 Genus im gesteuerten Unterricht Wie kommen die L1- und L2-Lernenden zu ihrem Genuswissen? Die all-tagsweltliche Vorstellung, wonach man einfach den Definitartikel zu einem Nomen „mit dazu bekommt“ (vgl. auch Wegera 1997), ist insbesondere beim L1-Erwerb eine irrige Vorstellung. Kinder werden bei ihrem Spracherwerb kaum mit Input konfrontiert, bei dem sie den Definitartikel systematisch he-rausdestillieren könnten. Wenn man sich typische Konversationen mit Klein-kindern vor Augen führt, kommen neben dem Definitartikel insbesondere auch „mehrdeutige“ Indefinitartikel (das ist ein Hund, das ist ein Pferd) und nicht nur Nominative sondern auch andere Kasus vor (siehst du den Hund, das Pferd). Im L1-Erwerb dürfte sich vom Input her – in unterschiedlicher Auftretenshäufigkeit – sowohl das syntagmatische als auch das paradigmati-sche Genus zeigen. Kinder werden demzufolge – wie Rogers (1987) wohl zutreffend vermutet – Paradigmen lernen und nicht den definiten Artikel. Würden nämlich die Kinder das Nomen tatsächlich zusammen mit dem Defi-nitartikel lernen, so wäre mit Fehlleistungen in dem Sinne zu rechnen, dass die Definitartikel als eine Art obligatorischer Nominal-Präfixe in einer be-stimmten Erwerbsphase auftauchten (z. B. *ein der Hund), was jedoch nicht der Fall ist.62

Was nun den Erwerb des deutschen Genus im L2-Unterricht betrifft, so kann von einigen grundsätzlichen Unterschieden zum L1-Erwerb ausgegan-gen werden. Das betrifft zum einen das implizite Sprachwissen der Kinder, die in ihrer französischen Erstsprache bereits Erfahrungen mit einer Genus-sprache gemacht haben und dort um die morphologischen Konsequenzen von nominalen Kategorien „wissen“.

Anders als im L1-Erwerb ist der Input für die (eventuell vermeintlichen) Bedürfnisse der Lernenden aufbereitet. Was den Anfängerunterricht in der Primarschule betrifft, so erscheinen bereits von Beginn weg Nomen mit ver-schiedenen Genera und verschiedenen nominalen Begleitern (definiter und indefiniter Artikel, Possessiva), als auch Nominativ- und Akkusativformen (ich habe einen Hund, mein Hund heisst X, der Hund usw.). Die Lexeme werden immer in einen Satzkontext eingebettet, folglich wird das Genus an verschiedenen syntaktischen Stellen manifest.

Typisch für den Anfängerunterricht scheint allerdings auch zu sein, dass den Lernenden syntaktische Kontexte präsentiert werden, die nicht nach ei-nem nominalen Determinans verlangen (im Kühlschrank hat /gibt es Eier, Milch, Schinken...). Die Schüler und Schülerinnen werden durch solche Kon-struktionen vor Genus- und Kasusfehlern bewahrt: Sie können (hier sogar:

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62 Im Genfer Korpus findet sich ein Beleg für den Definitartikel als eine Art von „Nominalpräfix“: Der Hund stelen eines der Schinken. (6/7)

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müssen) – wie es auch typisch ist für frühe Phasen des L1-Erwerbs (vgl. Mills 1986) und für ungesteuerten L2-Erwerb – das Determinans weglassen, mit dem Unterschied allerdings, dass sie in solchen Fällen immer grammatisch korrekte Sätze bilden. Die Lehrmittel scheinen also durchaus auf die natürliche erste Phase des Fehlens jeglicher Genusmarkierung (vgl. Wegener 1993) Rücksicht zu nehmen, allerdings lassen sie diese nur dort zu, wo sie auch der zielsprachlichen Norm entsprechen.63

Erst dann, wenn die Lernenden mit dem Lese- und Schreibunterricht be-ginnen, in der Regel also ab der 5. oder 6. Klasse, sind sie nicht bloss mit „syntaktisch eingebetteten“ Lexemen konfrontiert, sondern sie lernen die Nomen auch über Wörterverzeichnisse. Dort sind sie mit dem definiten Arti-kel im Nominativ Singular verzeichnet, in Einzelfällen werden auch noch spezielle Syntagmen, die das aktuelle grammatische Wissen übersteigen, er-gänzend aufgeführt (z. B. der Sommer, im Sommer). Die Schülerinnen und Schüler im „alphabetisierten“ Stadium des Deutscherwerbs begegnen also über den Input bei vielen Nomen mindestens zwei Formen: der Zitierform im Nominativ Singular mit bestimmtem Artikel (der Korb) und einer im Lern-buch /-text realisierten Form (einen Korb), die nicht unbedingt mit der Zitier-form übereinzustimmen braucht.64 Weder die Zitierform noch die „eingebettete Form“ garantieren nun, dass die Lernenden zur richtigen Ge-nuszuweisung kommen (Bsp. Schülertext: *der clavier; Wortliste: das Kla-vier) oder dass sie zu richtigen paradigmatischen Flexivzuweisungen fähig sind (*in der Korb).

Beim gesteuerten Erwerb ist also davon auszugehen, dass von einem be-stimmten Zeitpunkt des Erwerbs an das Genus explizit in der eindeutigsten Form des definiten Artikels „mitgeliefert“ wird, aus dem dann die weiteren Paradigmenstellen eventuell deduziert werden können, während die „Genus-Information“ beim ungesteuerten Erwerb anhand verschiedener Paradigmen-stellen induziert werden muss.

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63 Es dürfte dem formorientierten gesteuerten Unterricht zuzuschreiben sein, dass in schulischen Produktionen die grammatisch abweichenden DET-losen Nominal-gruppen, die ja geradezu als prototypisches Merkmal des ungesteuerten kommuni-kationsorientierten Erwerbs gelten können, im Vergleich zum ungesteuerten Er-werb doch selten sind (vgl. Texte aus ungesteuertem Erwerb und authentischen mündlichen Kommunikationssituationen bei Frischherz 1997).

64 Für die Schülerinnen und Schüler des postobligatorischen Unterrichts existieren zudem Lernmaterialien, die von den Lehrpersonen in Eigeninitiative entwickelt worden sind. Dort sind auch eigentliche Genusregeln formuliert; im speziellen handelt es sich um das Prinzip des natürlichen Geschlechts, sowie morphologische Regeln in Abhängigkeit von einem Wortbildungssuffix.

173

5.3.4 Die Genuszuweisung in den DiGS-Texten Die Genuszuweisung wird im folgenden an einem Teilkorpus untersucht, und zwar werden pro Jahrgangsstufe 2 Schülerinnen und Schüler ausgewählt. Im Idealfall liegen damit pro Lernerindividuum 8 Texte vor, allerdings gibt es vereinzelte Schülerinnen und Schüler, für die ein Text weniger vorhanden ist. Bei jenen, die im zweiten Erhebungsjahr die Matura abgelegt haben, reprä-sentieren 4 Texte das zweitletzte und der Matura-Aufsatz (= M) das letzte Schuljahr. Insgesamt sind 135 Einzeltexte ausgewertet worden, die 1287 Nomen65 mit einem identifizierbaren Genus enthalten.66

Wie einleitend ausgeführt, wird das Genus im Deutschen an allen Ele-menten der Nominalgruppe, ausgenommen am Nomen selbst, ausgedrückt. Ein unlösbares Problem für die linguistische Analyse der Genusselektion be-steht nun ersichtlich darin, dass diese nur über das gender agreement an ver-schiedenen syntaktischen Stellen erschlossen werden kann, wir aber gleich-zeitig damit rechnen müssen, dass das Genus an unterschiedlichen Stellen unterschiedlich „sicher“ markiert wird. Bei Abweichungen vom zielsprachli-chen Genus kommt es zur Schwierigkeit, überhaupt bestimmen zu können, ob das „richtige“ Genus bekannt ist, aber „nur“ noch Schwierigkeiten bestehen bei der richtigen Flexivzuweisung. Andererseits kann selbst bei mor-phologisch korrekten Formen, die in den lernersprachlichen Texten erschei-nen, nicht mit Sicherheit entschieden werden, ob tatsächlich das richige Ge-nus im lernersprachlichen Wissen verankert ist. Wissen Lernende, dass sich am – wahrscheinlich auswendig gelernten – Syntagma am Morgen maskulines Genus manifestiert? Kann man davon ausgehen, dass der (definite) Artikel am ehesten diesen Wissensstand anzeigt, einfach deshalb, weil das Genus meistens auf diese Weise im gesteuerten Unterricht und den entsprechenden Materialien präsentiert wird? Welche Schlüsse über den Genuserwerb lässt ein Syntagma der Art eine blaues kariertes Hemd zu?

In den folgenden Tabellen und Zählungen ist (vorläufig) so verfahren worden, dass einzig das Determinans (Artikel, Possessivum, Demonstrati-vum) als (gleichberechtigt) genusbestimmend herangezogen worden ist, das Adjektiv dagegen nur bei (den sehr seltenen) Nominalgruppen ohne Deter-minantien. Was einerseits Abweichungen beim maskulinen Indefinitartikel im Akkusativ betrifft (ein statt einen), so werden diese vorläufig aus der Ge-_______________

65 Es werden im folgenden die Tokens gezählt. 66 Die Samples, mit denen Rogers arbeitet, enthalten Daten von 26 rsp. 30 Studie-

renden, sind also vom Umfang her durchaus mit den vorliegenden vergleichbar. Rogers untersucht ebenfalls schriftliche Textproduktionen, jedoch bloss einen Text pro Testperson. Die Textlänge ist bei den Studierenden deutlich länger als bei Schülerinnen und Schülern. Insgesamt basieren ihre Aussagen auf 429 Genuszu-weisungen.

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nusperspektive betrachtet und damit als falsche Genuszuweisung (und nicht als falsche Kasus) klassifiziert; andererseits werden Nomen mit homonymen neutralen und maskulinen Indefinitartikeln (ein Tisch, ein Haus) als richtige Genuszuweisungen betrachtet. In beiden Fällen ist allein der formale Bezug zur Zielsprache das entscheidende Kriterium, was natürlich bei der Interpre-tation der Daten problematisiert werden muss.67

5.3.4.1 Quantitative und qualitative Tendenzen der Genuszuweisung

Was die absoluten Quantitäten von richtiger und falscher Genuszuweisung im oben definierten Sinne betrifft, so zeigen sich in den (maximal) acht Arbeiten der Schülerinnen und Schüler die folgenden Werte: Arbeit SchülerIn

1 2 3 4 5 6 7 8

Nicolas B 4/5 2/1 2/0 1/0 2/0 4/1 0 7/0 1/0

Christine M 4/5 6/3 11/3 5/0 7/1 3/3 4/5 5/0 7/2

Sandrine M 5/6 3/1 2/1 1/2 1/0 6/3 1/0 1/1 4/1

Audrey P 5/6 4/2 0/2 2/0 - 1/0 0/6 2/0 8/1

Alexandre S 6/7 0 0 2/0 4/0 7/1 3/2 1/0 8/2

Ekaterina E 6/7 14/3 0/1 5/1 6/0 3/1 13/0 10/2 10/3

Noélie F 7/8 5/1 2/3 0 13/1 16/3 0/2 5/2 8/1

Sophie R 7/8 13/3 10/4 15/3 7/4 12/2 6/3 9/6 13/2

Cédric M 8/9 2/1 5/7 8/0 9/1 5/4 4/0 3/2 0

Sophie N 8/9 5/0 14/0 11/0 14/0 20/3 11/0 10/1 14/1

Délphine F 9/ESC10

8/0 7/3 7/0 3/5 10/1 5/3 7/0 3/3

Corinnee P 9/ESC10

8/2 16/7 8/6 24/2 8/9 1/4 5/4 12/4

Liliane N ECG10/11

4/1 5/1 7/5 6/4 5/3 2/2 3/0 0

Jeannette C ECG10/11

2/4 5/2 5/4 9/6 11/10 4/1 10/3 15/11

Fanny D ESC11/12

15/1 7/1 10/0 10/1 15/0 15/5 9/1 7/1

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67 Dieses Vorgehen ist arbeitspraktisch begründet, das die lernersprachlichen Pro-dukte von der (bekannten) zielsprachlichen Form und nicht von einer (unbekannten) potentiellen lernersprachlichen Grammatik aus angeht. Dieses Vor-gehen hat keinen Zusammenhang mit einer vermuteten zeitlichen Aufeinanderfolge von Genus- und Kasuserwerb.

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Arbeit SchülerIn

1 2 3 4 5 6 7 8

Frédéric B C11/12

15/3 6/2 7/1 8/1 10/1 11/1 9/6 12/0

Nicolas M ESC12/13

14/7 4/3 1/1 4/0 M 10/3

Muriel G C12/13

12/5 9/9 5/0 5/4 M 29/6

Tab. 27: Zusammenfassung richtiges/falsches Genus pro Arbeit Die aufgeführten Werte machen deutlich, dass bei der Genuszuweisung nicht mit einer kontinuierlichen Zunahme richtiger Genera gerechnet werden kann, weder auf individueller Ebene, noch über die Schulstufen hinweg. Dieser Sachverhalt erstaunt kaum, weil mit der kontinuierlichen Zunahme des Wort-schatzes gleichzeitig bei immer wieder neuen Nomen auch das zugehörige Genus selektioniert werden muss. Es handelt sich ja nicht um die lerner-sprachliche Fähigkeit, bei einem ganz bestimmten Nomen „immer besser“ zu wissen, welches das jeweilige Genus ist.68 Bei unterschiedlichen Nomen aber haben auch allenfalls erworbene Genuszuweisungsregeln eine unterschiedli-che Gültigkeit. Während bei den Anfängerinnen und Anfängern der Wort-schatz äusserst limitiert ist und das Genus rsp. seine morphologischen Folgen quasi für Einzelfälle noch relativ problemlos auswendig gelernt werden könnten (vgl. die „guten“ Werte der 4., 5. und 6. Klasse), ist dies bei Fortge-schrittenen kaum mehr möglich.

Die obigen Werte dokumentieren einen beträchtlichen Anteil von richtigen Genuszuweisungen: In den meisten Arbeiten ist die Zahl der richtigen Genusanzeiger grösser als jene der falschen; in 32 Arbeiten sind sogar alle Genera richtig, dagegen sind in bloss 18 Arbeiten mehr als die Hälfte der Genera falsch. Viele richtige und viele falsche Zuweisungen finden sich (erwartungsgemäss) sowohl bei AnfängerInnen als auch bei Fortgeschritte-nen.

In den nachfolgenden Abschnitten 5.3.4.2 und 5.3.4.3 werden die „Trefferquoten“ vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Rogers (1986) in bezug auf das zielsprachliche Genus und in bezug auf die morphosyntaktische Umgebung, die den Genusmarker trägt, diskutiert.

_______________

68 Einen schulstufenabhängigen Zuwachs an richtigen Genuszuweisungen nachwei-sen zu wollen – „Phasen“ sind bei dieser Art von Phänomenen ohnehin ausge-schlossen – ist problematisch: Da sich die Lexeminventare von Text zu Text und von Schülerin zu Schüler unterscheiden, ist ein direkter Vergleich hinsichtlich der „Sicherheit“ der Genuszuweisung erschwert.

176

5.3.4.2 Genusregeln?

In unserem Korpus lässt sich für alle Schülerinnen und Schüler die deutsche Spezifikation in drei Genera nachweisen. Dass sie bloss ein Genus generali-sieren würden, kommt äusserst selten bei Anfängerinnen und Anfängern vor, dieses Verfahren ist dann aber auf einen einzigen Text beschränkt (z. B. Ge-neralisierung des Neutrum bei Philipp B 5/6, 2; vgl. Fussnote 72). Was die Genusselektion betrifft, so herrscht heute weitgehend Konsens darüber, dass Regeln der Genuszuweisung existieren, die Genuszuweisung also nicht ein-fach arbiträr ist und für jedes Nomen – im L1- und L2-Erwerb – auswendig gelernt werden muss.69 Welche Art der postulierten Genusregeln allerdings psychisch real sind, darüber herrscht weniger Einigkeit.70 Was den Spracher-werb betrifft, so ist man sich zudem nicht einig, ob semantische oder formale Regeltypen Priorität haben: Während Mills (1986: 115) davon ausgeht, dass „children first learn the rules which affect the largest part of the vocabulary, have the fewest exceptions and are clearly represented in child’s lexicon“, sieht Müller (1990) eine simultane Entwicklung von semantischen und for-malen Regeln. Wegener (1995b) dagegen interpretiert ihre Daten dahinge-hend, dass eine Vorrangstellung semantischer Regeln (hier insbesondere das „Natürliche-Geschlecht-Prinzip“ NGP) angenommen werden kann.

Nachfolgend soll anhand von Gesamt- und Einzeldaten überlegt werden, ob es Indizien für lernersprachlich vorhandene semantisch und formal be-dingte Genusregeln gibt.

_______________

69 Häufig wird keine explizite Unterscheidung gemacht zwischen Regularitäten (des Genus), die die Linguistik der (deutschen) Sprache zuschreiben kann und Regeln, die psycholinguistische Grössen sind und über eine Existenz in der Kognition der Sprecherinnen und Sprecher verfügen: „Does a rule of grammar literally corre-spond to a data structure or comutional procedure implemented in neural hard-ware?“ (Pinker/Prince 1991: 230). Die ungenügende Unterscheidung hat mit der „systematischen Ambiguität“ des Ausdrucks „Grammatik“ zu tun, der einerseits die in Grammatiken von Linguisten formulierten Regeln meint und andererseits die eigentlichen Sprachregeln: „In Wirklichkeit aber sind die Regeln in den Grammatiken (man könnte sie Linguistenregeln nennen) natürlich ihrerseits sprachliche Aussagen, nicht die Sprachregeln selber“ (Haas 1998: 295).

70 Vgl. Wegener (1995b), die nicht Genusregeln an sich in Abrede stellt, sondern jene, die Köpcke/Zubin (1984) aufgestellt haben.

177

Anzahl Nomen insgesamt: 1287 (= 100%)

Maskulina 499 (= 38%)

Feminina 478 (= 37%)

Neutra 310 (= 25%)

richtige Zuweisungen (78%) 374 (74%) 408 (85%) 216 (69%)

falsche Zuweisungen (22%)

n/m: 59 (12%) f/m: 66 (14%)

m/f: 24 (5%) n/f: 20 (4%) m,n/f: 26 (6%)

m/n: 33 (11%) f/n: 61 (20%)

/: statt (n/m = neutrum statt maskulinum) Tab. 28: Die Genuszuweisung nach zielsprachlichem Genus Die Tab. 28 zeigt eine unterschiedliche Sicherheit in der Genuszuweisung in Abhängigkeit vom erforderten Genus des jeweiligen Nomens. Die Vorrang-stellung der Feminina mit der höchsten Trefferquote wird etwas relativiert, wenn man bei der Kategorie der Maskulina mitberücksichtigt, dass es sich dort bei 37 der 59 „falschen Neutra“ jeweils um den Fall handelt, dass der Indefinitartikel im Akkusativ keine -en-Markierung hat und damit formal mit einem Neutrum Akkusativ zusammenfällt und damit in Tab. 28 entsprechend verzeichnet ist. Selbst wenn wir aber vom „Maximalfall“ ausgehen, dass bei sämtlichen dieser Indefinitpronomen eine richtige maskuline Genuszuwei-sung, aber eine falsche (nämlich keine) Kasusmarkierung vorliegt, so lägen die richtigen Maskulina mit 82% noch immer leicht hinter den sichereren Feminina zurück.71 Da überdies bei den homonymen maskulinen und neu-tralen Indefinitartikeln (im Nominativ und Dativ) die Genuszuweisung nicht eindeutig ist, können hier durchaus auch eine Reihe von irrtümlichen, sich aber nicht durch formale Abweichungen manifestierenden Genuszuweisungen vorliegen. Das hebt die Feminina noch einmal als besonders „sichere“ Genusklasse heraus, weil hier falsche Zuordnungen formal immer manifest werden.

Wie sind nun diese Unterschiede in der Sicherheit der Genuszuweisung plausibel zu erklären? (a) Neutra: Was die lernersprachlich „richtigen“ Neutra betrifft, so sind viele Belege – wie oben erwähnt – nicht-eindeutig in bezug auf die Genuszuwei-sung, da zahlreiche Paradigmenstellen für das Maskulinum und das Neutrum identisch sind (ein/em Schiff, ein/em Mann); weil der Akkusativ in bestimm-ten Lernerstadien nicht zwingend markiert wird (vgl. 5.5.3.5), ist damit auch der formal richtige Akkusativ bei Indefinita und Possessiva neutraler Nomen (ein Haus, Akk.) kein sicheres Indiz, dass die Lernenden tatsächlich nicht

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71 Leider wird der Indefinitartikel in bezug auf das Genus selten so eindeutig „entschlüsselt“ wie in den folgenden Belegen: Ich habe auch ein „P.C.“. Ich ar-beite mit dieses. (ESC9/10); Hast du ein Weihnachtsbaum gemacht? Ich habe das gemacht. Es war sehr gross und sehr schön. (ESC10/11).

178

doch von einem Maskulinum ausgehen rsp. dass die Lernenden einfach die zwei Kategorien „+ Feminin“ und „- Feminin“ unterscheiden (dieser Fall wird hier – wie oben erläutert – als richtig registriert, da ja tatsächlich eine kor-rekte Form vorliegt).

Mit einiger Sicherheit kann aber in bezug auf das vorliegende Material ausgesagt werden, dass das Neutrum von frankophonen Lernenden nicht ein-fach generalisiert wird.72 Ob die vergleichsweise grosse Unsicherheit bei den Nomen mit neutralem Genus damit zusammenhängt, dass in der L1 diese Spezifikation fehlt, kann als Erklärung insbesondere deshalb erwogen wer-den, weil sich sogar beim bilingualen deutsch-französischen L1-Erwerb vor allem bei den Neutra Abweichungen zeigen (Müller 1994: 71), so dass Koehn (1994: 47) in Erwägung zieht, dass „the discribed behavior could reflect the tendency to transfer the French two-class-system to the German language.“ Allerdings kann Wegener (unveröff.73) beim L2-Erwerb von Türkisch, Polnisch und Russisch sprechenden Kindern – jene mit den slawischen Erstsprachen „kennen“ bereits eine Genusspezifikation in Maskulina, Femi-nina, Neutra – ebenfalls am meisten Fehler bei den Neutrum-Markierungen feststellen. (b) Feminina: Die Feminina erreichen einerseits die grösste „Trefferquote“74, und Abweichungen bei den Neutra und Maskulina sind andererseits gleich-zeitig meistens Feminina, ein Ergebnis, das sich auch bei Mills (1986) zum L1-Erwerb in gleicher Weise zeigt. Dieser „oberflächliche“ Sachverhalt kann einerseits damit zusammenhängen, dass Verwechslungen zwischen maskuli-ner und neutraler Genuszuweisung ausdrucksseitig nicht unbedingt manifest werden, weil die Indefinitartikel und Possessiva im Nominativ und Dativ dort formgleich sind (ein/mein/einem/meinem/diesemVater; ein/mein/einem/mei-nem/diesem Kind). Nicht-zielsprachliche Genuszuweisungen bei Maskulina und Neutra, denen irrtümlicherweise feminines Genus zugewiesen wird, haben also die grössere Chance, sich überhaupt formal zu manifestieren. _______________

72 Nur in zwei Fällen zeigen sich entsprechende Tendenzen zu generalisierender

neutraler Genuszuweisung; vgl. ich heisse Philippe ich mache das Sport das Ten-nis der Montag, Dienstag, Mitwort das Freitag. Ich mache das Basket-Ball, das Ski, das patin und das hockey ich liebe das spiele, das monopoly das Taboo. Ich liebe viele das hunds. (Philippe B 5/6, 2)

73 Vgl. Fussnote 61. 74 Dieses Resultat unterscheidet sich deutlich von den Ergebnissen Rogers’ (1987),

die bei deutschlernenden Englischsprachigen bei den Feminina gerade am meisten Abweichungen feststellen konnte. Über die Gründe für diesen offensichtlichen Unterschied kann hier nur spekuliert werden: Könnte die lautliche Form des engli-schen Artikels the, der dem deutschen Artikel die am nächsten ist, gerade wegen des interlingualen Kontrastmangels die Selektion von die erschweren? Wird eine begünstigt, weil es formal deutlicher ist als ein?

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Bei der Tendenz femininer Genuszuweisung bei Maskulina und Neutra, die sich beim vorliegenden Korpus zeigt, könnten auch Aspekte der quanti-tativen rsp. qualitativen Beschaffenheit des Inputs als mögliche Erklärungen erwogen werden: Da eine der Manifestationsformen des femininen Genus, nämlich der Artikel die nicht nur feminines Genus (im Nominativ und Akku-sativ), sondern auch den Plural Nominativ und Akkusativ für alle Genera (praktisch jedes Nomen kann ja dadurch zusammen mit die auftreten!) mar-kiert, ist die der am häufigsten auftretende Definitartikel. Bei einer Generali-sierung drängt sich das Femininum von seiner Frequenz her quasi auf.

Die sichere feminine Zuweisung, die hohe Trefferquote also, könnte darin begründet liegen, dass es gerade im Bereich der Feminina relativ valide Ge-nuszuweisungsregeln gibt:75 So sind 90% aller Nomen, die auf unbetontes -e enden, Feminina (sog. Schwa-Regel). Verstärkend kommt hier noch dazu, dass die Plurale ebenfalls mit -e markiert werden können und dann von einer Artikelform begleitet sein können, die mit dem femininen Artikel die homo-nym sind. Bei Personenbezeichnungen kommt zudem das Prinzip des natürli-chen Geschlechts zum Tragen.

Von den hier belegten 408 richtigen Feminina könnten maximal 28% durch die Einhaltung des NGP und 38% durch die Einhaltung der Schwa-Re-gel erreicht werden, sodass ein Rest von „nur“ 34% der richtigen Zuordnun-gen entweder auf anderen Zuweisungsregeln oder auf Ausnahmen beruhen müssten. Das ist tatsächlich relativ wenig: Im Grundwortschatz haben die Feminina auf -e und die NGP-Feminina zusammen bloss eine Reichweite oder „Skopus“ von 17%, d. h. 83% der femininen Genusselektionen müssen über andere Verfahren erfolgen.

Der schulische Input, der das Lexikon der Schülerinnen und Schüler „füllt“, scheint also in bezug auf den Erwerb einiger Genusregeln (zufällig?) günstig angelegt zu sein: die „unnatürliche“ Häufung von Personenbezeich-nungen und von femininen e-Nomen, die zusammengenommen rund 60% der vorkommenden Feminina in den Lernertexten ausmachen, können mög-licherweise der Aneignung der beiden validen Genusregeln förderlich sein. (c) Maskulina: Was die ebenfalls hohe Zuweisungssicherheit bei den Masku-lina betrifft, kann hier ebenfalls die Validität von bestimmten formalen und semantischen Genusregeln erwogen werden: Einsilber sind zu 52% masku-lin;76 den überaus häufigen männlichen Personenbezeichnungen, die in den _______________

75 Alle nachfolgenden Angaben zu Frequenz, Valididät und Skopus beziehen sich auf

Wegener (1995b). 76 Der Skopus der Einsilberregel liegt im Grundwortschatz bei 26%. Es gibt bei den

Maskulina Genuszuweisungsregeln mit einer bedeutend höheren Validität, aller-dings ist der Skopus dieser Regel derart gering, dass sie hier nicht in Betracht ge-zogen werden (vgl. Wegener 1995b: 91).

180

Texten vorkommen, könnte das Genus nach dem NGP zugewiesen werden. Durch Anwendung der semantischen und der phonologischen Regel könnten maximal 37% resp. 35%, insgesamt also über drei Viertel der 374 richtigen Maskulina zustande kommen.

Wenn die Lernenden tatsächlich über die oben ausgeführten Regeln ver-fügen und diese bei der Genuszuweisung anwenden, dann müsste sich das daran zeigen, dass das entsprechende Genus vorzugsweise dann zugewiesen wird, wenn die formalen und semantischen Bedingungen für eine bestimmte Regel erfüllt sind, also auch dann, wenn in der Zielsprache die Genuszuwei-sung ausnahmsweise nicht nach diesen Regeln erfolgt (bei Lernenden, die das NGP anwenden, wäre also *die Mädchen zu erwarten, bei jenen, welche die Einsilberregel anwenden *der Bett). Allerdings ist bei der Interpretation der Belege Zurückhaltung am Platz, weil keineswegs damit zu rechnen ist, dass Lernende kategorisch nach einigen wenigen Regeln agieren, sondern dass sie konkurrierende Verfahren der Genuszuweisung anwenden: Einerseits könnten sie tatsächlich Regeln ausbilden, andererseits aber auch eine Reihe von singulären Zuweisungen einfach auswendig lernen.

Die Datenlage präsentiert sich bezüglich von ausgewählten semantischen und formalen Regeln nun wie folgt: (a) Potentielle Anwendung der semantischen Regel nach dem „Prinzip des natürlichen Geschlechts“ in den Lernertexten: − Sexus maskulin: Genus maskulin 154 / Genus nicht-maskulin 14 (8%) − Sexus feminin: Genus feminin 116 / Genus nicht-feminin 9 (7%) Die Übereinstimmung von Genus und Sexus wird ganz offensichtlich zu ei-nem hohen Grad hergestellt; sie wird bezeichnenderweise oft auch dann her-gestellt, wenn das grammatische Geschlecht im Deutschen nicht mit dem Se-xus übereinstimmt (vgl. die Mädchen, eine Mädchen, die Fräulein; ich abbé tsway hunds eins chwar unt eine wice main hund chwar ist Belzebuth unt mainée hund wice ist Danaé [Philippe B 5/6, 1]; offensichtlich werden hier die Possessiva, möglicherweise aber sogar auch die Adjektive chwar ‘schwarz’ und wice ‘weiss’ auch nach dem natürlichen Geschlecht ausge-richtet]).

Die Abweichungen vom Prinzip des natürlichen Geschlechts kommen als Ausnahmen in den ersten Klassen des Deutschunterrichts vor und betreffen Determinantien, deren Genusmarkierungen möglicherweise nicht als solche erkannt werden, was sich auch im variablen Gebrauch dieser Determinantien zeigt (vgl. mein Bruder / meine Bruder77) (vgl. Kapitel 5.3.4.3). _______________

77 Die Variation bei diesen Determinanten könnte wohl teilweise auch der (gelegent-

lichen) Anwendung der französischen Orthographie zugeschrieben werden.

181

(b) Potentielle Anwendung formaler Regeln in den Lernertexten − Schwa-Regel Validität der femininen e-Regel (Schwa-Regel) in der deutschen Sprache:

90% belegte e-Nomen: 191, davon feminine Genuszuweisung: 167 (87%)

(davon 157 zielsprachlich feminin; richtige Genuszuweisung 94%) (nicht-feminine Genuszuweisung 13%, davon richtig 27%, falsch 73%)

− Einsilber-Regel Validität der maskulinen Einsilberregel: 52% belegte Einsilber: 279, davon maskuline Genuszuweisung 163 (58%) (davon

140 zielsprachlich maskulin; richtige Genuszuweisung 86%) (nicht-maskuline Genuszuweisung 42%, davon richtig 70%, falsch 30%)

Die Validitätswerte der phonologischen Regeln stimmen mit dem tatsächli-chen Grad der Anwendung in den Lernertexten ungefähr überein, was als solches aber nicht vorschnell als eindeutiges Indiz für die fraglichen Genus-regeln genommen werden kann, da die für die Regelanwendung optimale Ausgangslage ja eine Generalisierung begünstigen und damit zu Werten füh-ren müsste, die die Validitätsrate tendenziell übersteigen. Allerdings sprechen die richtigen Genuszuweisungen bei den Feminina auf -e und den einsilbigen Maskulina, die die durchschnittliche Korrektheitsrate von 78% (vgl. Tab. 28) übersteigen, dafür, dass hier auf Regelwissen zurückgegriffen worden sein könnte. Aber gerade die richtigen Genuszuweisungen bei den nicht-maskulinen Einsilbern zeigen nun auch, dass die Lernerinnen und Lerner nicht einfach maskulines Genus selegieren, sondern – sehr häufig erfolgreich – konkurrierende Kriterien der Genuszuweisung zur Anwendung kommen, zu denen natürlich auch das Auswendigwissen gehören kann. Allerdings gibt es nun aber auch 33 Belege für die „richtige“ Anwendung der Regel, in Fällen, in welchen die Zielsprache ein anderes Genus zuweist. Aufschlussreich sind diesbezüglich auch Genuszuweisungen bei „Lernernomen“, die in der vorliegenden Form in der Zielsprache Deutsch nicht existieren. Tatsächlich scheinen einige „Individual-Lexeme“, deren Ausdrucksstrukturen vom Deut-schen abweichen, insbesondere die „Schwa-Regel“ nahezulegen (Bsp. eine gute Spiele, eine Tiere, eine schwarze Rocke, eine Schneide, die Musike, die Antworte, eine positive Gefühle, die Hause78).

_______________

78 Bei der Wortform Hause ist damit zu rechnen, dass die Lernenden Hause als Chunk aus den (dativischen) Syntagmen zuhause, nach Hause extrahieren (vgl. Kapitel 5.6.6.3).

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Der Einfluss der L1, der z. B. von Wokusch (1994) bei der Genusselektion in Erwägung gezogen wird, ist – wie die Anwendung potentieller Genusregeln – schwer auszumachen. Teils könnten die Abweichungen tatsächlich damit erklärt werden, dass das französische Genus transferiert wird (vgl. eine Fruchtsalade hier mit zusätzlichem Lexemtransfer; ta haus bei einer Fünft-klässlerin, die das deutsche Possessivum nicht kennt und jene feminine Form transferiert, die mit der französischen Lexementsprechung la maison kon-gruiert), ein systematischer Transfer des französischen Genus auf das Genus der deutschen Lexementsprechung ist aber in keinem der Lernertexte nach-weisbar, wahrscheinlich ist, dass der L1-Transfer eines von sich konkurren-zierenden Verfahren der Genuszuweisung ist, dessen Ausmass dann von in-dividuellen Präferenzen für bestimmte Strategien abhängt.

Die lernersprachliche Genuszuweisung, wie sie sich im analysierten Mate-rial zeigt, ist in über drei Vierteln aller Vorkommensfälle richtig (vgl. Tab. 28). Obwohl der nominale Wortschatz der Lernenden eingeschränkt ist, scheint mir das Urteil, die Frankophonen könnten sämtliche richtigen Zuwei-sungen einfach auswendig gelernt haben, etwas vorschnell zu sein, weil doch einige Phänomene, die sich vor allem bei falschen Zuweisungen zeigen, für die lernersprachliche Ausbildung von semantischen und formalen Zuwei-sungsregeln sprechen.

Wie bereits Wegener (1995b) argumentiert, kann jedoch beispielsweise aus einer femininen Genuszuweisung bei einem Nomen mit e-Pseudosuffix solange nicht zwingend auf eine lautliche Genuszuweisung geschlossen wer-den, bis sicher ist, dass den Nomen mit anderer Lautstruktur nicht ebenso „leicht“ feminines Genus zugewiesen wird. Die Beschreibungen einzelner auffälliger Besonderheiten und die Überlegungen zu den quantitativen Wer-ten, die sich im Gesamtmaterial in bezug auf die Zuweisung der Nomen zu Genusklassen zeigen, können deshalb bloss den Anspruch haben, gewisse Indizien für die Art des Genuserwerbs erfasst zu haben.

5.3.4.3 Das Genus und die morphosyntaktische Stelle der Genusmarkierung

Betrachten wir die Genuszuweisung nach der grammatischen Kategorie des nominalen Trägers der Genusmarkierung innerhalb der Nominalgruppe, also nach jener Stelle, an der das Genus formal ausgedrückt wird, so zeigen sich die folgenden Werte:

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definiter Artikel Kasus rectus

definiter Artikel Kasus obliquus

indefiniter Artikel Kasus rectus

indefiniter Artikel Kasus obliquus

übriges Kasus rectus

übriges Kasus obliquus

253/56 = 309 18%

125/30 = 155 19%

188/64 = 252 25%

62/70 = 132 53%

183/44 = 227 19%

175/41 = 216 18%

Notation: richtige/falsche Genuszuweisung = Anzahl der Nomen der Kategorie; %-Anteil der falschen Genuszuweisungen Tab. 29: Genuszuweisung nach der morphosyntaktischen Stelle der

Genusmarkierung Die Zusammenstellung der Genusabweichung nach der morphosyntaktischen Umgebung des Nomens zeigt sehr deutlich, dass sich beim Indefinitartikel hö-here Abweichungswerte zeigen als beim Definitartikel und den übrigen Um-gebungen. Bei den hohen Abweichungswerten bei den obliquen Formen des Indefinitartikels muss nun wiederum in Betracht gezogen werden, dass hier maximal 37 Abweichungen auf das Konto von Kasusverstössen bei Masku-lina gehen könnten, deren Akkusative nicht markiert werden und damit die Form von zielsprachlichen Neutra erhalten. Wenn bei sämtlichen dieser 37 Abweichungen von „eigentlich“ richtigem Genus aber falschem Kasus ausge-gangen werden könnte, so würde sich die Abweichungsquote von 53% auf minimal 25% reduzieren. Diese Minimalquote aber ist immer noch höher als jene der definiten Umgebungen, sodass nicht allein das paradigmatische Ge-nus als Grund in Erwägung gezogen werden muss, sondern Eigenschaften der Indefinita selbst.

Als Erklärung für den erhöhten Abweichungsgrad bei Indefinita können Aspekte der Ausdrucksstruktur in Frage kommen. Es handelt sich bei diesen Indefinitartikeln um wenig saliente Formen, die sich phonetisch nur geringfü-gig voneinander unterscheiden (vgl. hier besonders die hochfrequenten Formen ein, eine, einen).79 Die auditive Perzipierbarkeit und die kognitive Merkfähigkeit dürften aufgrund dieses Kontrastmangels erschwert sein.

Im Erwerbsprozess scheinen Genus- und Kasusunterscheidungen beim In-definitartikel über lange Zeit Schwierigkeiten zu bereiten (vgl. Kapitel 5.5.3.5.6), und das sowohl beim L1- als auch beim L2-Erwerb (vgl. Müller 1990, 1994; Wegener 1997). Zudem zeigt sich bei einigen Lernenden das Bedürfnis, die wenig markierten Indefinitformen zu verdeutlichen (eines Kind, in eines Café80), wobei diese Eigenheit erst bei Lernenden höherer

_______________

79 Zu überlegen wäre allenfalls, ob ein/eine zu Beginn des L2-Erwerbs nicht als gram-matische Determinante, sondern als genusunabhängiges Zahlwort benutzt wird.

80 Natürlicher morphologischer Wandel führt in einigen dialektalen Varietäten des

184

Klassenstufen aufzutreten scheint, die die starke Adjektivflexion zur Kenntnis genommen haben und diese eindeutigen Flexive an „zu schwach“ markierten Stellen generalisieren.

5.3.5 Statt einer Zusammenfassung: Individuelle Pseudo-Variabilität

der Genuszuweisung als Indikator für die Regularitäten des Genuserwerbs

Dass das Deutsche drei nominale Genuskategorien zeigt, scheint bei den ein-zelnen Schülerinnen und Schülern keine grösseren Schwierigkeiten zu berei-ten – bei sämtlichen Lernenden kommen Formen vor, die diese Spezifikation in drei Genera belegen. Allerdings gibt es nun hinsichtlich der richtigen Ge-nus-Selektion unübersehbare Schwierigkeiten, wobei sich die Schülerinnen und Schüler schon früh mit gewissen Genusregeln zu behelfen scheinen. Probleme ergeben sich nun zusätzlich hinsichtlich der Markierung der ver-schiedenen genussensitiven Elemente, die ja dann nicht nur das Genus, son-dern auch den Kasus „ausbuchstabieren“.

Wenn der Gesamtbefund der Genuszuweisung, wie er sich in der Tabelle Tab. 29 manifestiert, tatsächlich auf eine unterschiedliche Sicherheit des Ge-nus (und Kasus) in Abhängigkeit von der morphosyntaktischen Stelle der Genusmarkierung schliessen lässt, so müsste sich dieser Befund auf indivi-dueller Ebene durch „oberflächliche Genusvarianz“ beim gleichen Nomen (zur „gleichen Zeit“, d. h. hier im gleichen Text) in unterschiedlicher mor-phosyntaktischer Umgebung zeigen. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf solche intraindividuelle Genusvariabilität bei einfachen Nominalgruppen, die erwartungsgemäss relativ selten vorkommt. Die wenigen Belege können aber trotzdem als Unterstützung der obigen Aussagen zum Gesamtbefund herangezogen werden.

Es lassen sich insgesamt die folgenden Erscheinungsformen beobachten: (a) Variabilität in identischer Nominalgruppe im gleichen Text (1) Goudentag! Ich bin Christine. Ich haben noine iare halt. Meine Muter haisst M.

Mein Fater heisst O. Mein Bruder haisst A. Meine Muter hat 30 iare halt. Meine Fater aur 38 iare halt. Meine Bruder hat 6 iare halt. Meine telefonumer ist 348..... Ich haben kainen cats out kainen onts. Aufidersen! (Christine M 4/5, 1)

________________ Deutschen zum gleichen morphologischen „Ergebnis“: In hochalemannischen Dialekten heisst es es Chind (‘ein Kind’).

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Die Variabilität der Determinantien bei völlig übereinstimmenden Nominal-phrasen kann m. E. wie folgt interpretiert werden: Es besteht ein offensicht-lich wenig gefestigtes Wissen darüber, wie die Endungen bestimmter Deter-minantien auszusehen haben. Die Varianz kann dann als individuelles Ver-fahren interpretiert werden, dieser generellen Unsicherheit mit einer Auswahl an Formen zu begegnen, die man für mögliche hält. Denkbar ist aber wohl auch, dass für die Lernenden die fraglichen Flexive ausserhalb ihrer sprachli-chen Aufmerksamkeit liegen und sie ihre Genusrelevanz gar nicht erkennen. Es wäre dann mehr oder weniger eine Frage des Zufalls, welche Endung pro-duziert würde.

In diesen Zusammenhang gehört auch das „umgekehrte Verfahren“ von „stabilen“ Determinantien bei Nomen mit unterschiedlichem Genus (man brodeur ‘mein Bruder’, man hund ‘mein Hund’, man fater ‘mein Vater’, man noumer téléphone ‘meine Telefonnummer’, man moteur ‘meine Mutter’, man auto ‘mein Auto’ (Belege aus Audrey P 5/6, 1), die ebenfalls ein Indiz dafür sind, dass die Genusrelevanz bestimmter Determinantien noch nicht erkannt ist.

Beide erläuterten Phänomene begegnen im Material ausschliesslich bei Primarschüler/innen, scheinen also eindeutig mit dem frühen Stadium des Fremdsprachenerwerbs zu tun zu haben. (b) Variabilität bei unterschiedlichen morphosyntaktischen Stellen der Ge-nusmarkierungen (2) Petra hatte eine Fest von seine Freundin Eva am Samstagabend. Das Fest war

für Evas Geburtstag. Petra war sehr schön. Sie hat grünen Haaren, eine grüne Rock und grünen Schuhen angetrage. In das Fest alle Leute war in grün anha-ben. Das ist der Thema von das Fest. [...]. (Jeannette C ECG10/11, 7)

(3) Ich bemerke jetzt, dass mein Geschichte als den Jungen Geschichte in Sansibar aussieht. [...] Es ist diese Geschichte in Fernsehen, die mich beeinflusst hat. (Muriel G C12/13, 2)

Bei einer Genus-Varianz, wie sie sich im Beleg (2) zeigt, scheint die syntag-matische Genuszuweisung beim Definitartikel sicher zu sein, während der Indefinitartikel unsicher ist und die Kasusrelevanz der Präpositionen unbe-achtet bleibt.

Der Beleg (3) zeigt, dass das formal mit dem Indefinitartikel sehr ähnliche Possessivum auch ähnlich behandelt zu werden scheint wie dieser, ebenso wird mit dem Demonstrativum wie mit dem Definitartikel verfahren.

Dieser Befund deckt sich völlig mit jenem aus dem L1-Erwerb, bei dem sich die morphosyntaktische Umgebung des genusmarkierten Elementes in gleicher Weise auf die Sicherheit in der Zuweisung der geforderten Genusan-zeiger auswirkt. Was sich hier auf der Ebene individueller Werte zeigt, sum-

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miert sich bei den Gesamtdaten zu den vergleichsweise massiven Abwei-chungsraten bei den Genuszuweisungen der hochfrequenten Indefinitartikel. (c) Variabilität durch „Pseudostabilität“ des Genus (4) Petra fährt besuchen sein Freund Albert. [...] Sein Freund ist dick. (Liliane N

ECG 10/11, 4) (5) Mein Bruder hat sein Arm gebrochen, ins Krankenhaus zu gehen [...] Ich habe

ein CD gekauft für mein Bruder, weil er diese CD mag. Ich gehe bei mein On-kel, weil meine Eltern ins Krankenhaus wären. (Corinnee P ESC9/10, 8)

(6) Der Kühlschrank ist offen. [...] Das Milch ist im der Kühlschrank. (Sophie R 7/8, 5)

(7) Sie hat in einem Haus gewohnen mit seinen Mann und seine Kinder. Einen Tag ist sie zum Haus angekommen und seinen Mann und seine Kindet waren parti. (Délphine F 9/ESC10, 5)

Hier werden bestimmte nominale Begleiter als feste und unveränderliche Grössen aufgefasst. Man darf davon ausgehen, dass die Lernenden durchaus über ein syntagmatisches Genuskonzept verfügen können (vgl. die Differen-zierung von Neutrum und Maskulinum das Milch vs. der Kühlschrank). Was das paradigmatische Genus betrifft, so lässt sich zwar eine Singular-/ Pluralopposition ausmachen (vgl. die Differenzierung von Singular seinen Mann vs. Plural seine Kinder), es ist jedoch von folgenden lernersprachlichen Unsicherheiten auszugehen: entweder existiert kein Kasuskonzept (sein Freund Nominativ und Akkusativ) oder die betreffende syntaktische Umgebung (in den obigen Belegen die Präpositionen) wird nicht als kasusrelevant analysiert.

Das Vorhandensein eines Kasuskonzepts bildet die unabdingbare Voraus-setzung für die Ausformung des paradigmatischen Genus. Auf der formalen Seite heisst das nun nicht, dass bei Anfängerinnen und Anfängern nur Strukturen der Kasus recti vorkämen. Wie sich im Material zeigt, sind es nicht ausschliesslich Nominativformen, die als unveränderliche Formen ver-schiedene Paradigmenstellen einnehmen, sondern es kann sich auch um obli-que Formen handeln, die nicht als solche analysiert werden: mit seinen Mann (Präpositionalphrase im Dativ) / seinen Mann (Nominativ). Entgegen den Annahmen von Wegener, wonach die Lernenden zuerst Numerus, dann Kasus und zuletzt Genus erwerben, wird beim obigen Beispiel auffälligerweise der Kasus- zu einem Genusmarker umfunktionalisiert (vgl. Kapitel 5.7). Dieser Sachverhalt zeigt klar, dass bei den Lernenden der vorliegenden Untersu-chung das Genus zeitlich vor dem Kasus erworben wird. Nicht auszuschlies-sen ist, dass sich hier die (weitgehend) kasusunmarkierte L1 interferierend auswirkt, was im übrigen auch Wegener (1995b) erwägt.

Die zielsprachlichen Abweichungen, die durch fehlendes paradigmatisches Genus entstehen, führen nur in Einzelfällen zu einem falschen oberflächlichen

187

Genus (vgl. in der Kühlschrank: formal richtig für feminine Nomen) und wirken sich damit nur marginal auf die tabellierten Gesamtwerte aus. (d) Variabilität beim gleichen Determinans bei unterschiedlichen syntakti-schen Bedingungen (8) Er ist gut weil er der Moral des Soldaten aussteigt. [...] Alle Soldaten kennt ihm

und er ist eine sehr wischtige Mann für die Moral des Soldaten. (Nicolas M ESC12/13, 1)

Hier deutet sich durch die Verschiedenheit des definiten Artikels beim glei-chen Nomen unter syntaktisch verschiedenen Bedingungen das Vorhanden-sein eines – wie auch immer gearteten – Kasuskonzepts und damit paradig-matisches Genus an; allerdings sind die zielsprachlichen Formensets nicht vorhanden und können gelegentlich zu „oberflächlicher“ Genusvarianz füh-ren, ein Phänomen, dass allerdings auf Lernende aus den höheren Schulklas-sen beschränkt ist.

Die direkte Vergleichsmöglichkeit von individuellen Genuszuweisungen beim gleichen Nomen „zum gleichen Zeitpunkt“, d. h. hier in der gleichen Arbeit, ist erwartungsgemäss selten belegt. Die Daten, die vorliegen, können jedoch individuelles „Genus-Verhalten“ dokumentieren, dessen Reflex sich in den vorher erläuterten quantitativen Gesamtdaten manifestiert: Indefinitartikel und Possessiva sind zu Beginn des Deutscherwerbs weitestgehend ausserhalb der Aufmerksamkeit der Lernenden. Auch später lässt sich beim Indefinitartikel eher abweichendes Genus feststellen als beim Definitartikel. Die Kasusrelevanz der Präpositionen wird lange nicht berücksichtigt und führt dann zu Abweichungen in bezug auf das paradigmatische Genus, was formal in einigen wenigen Fällen wegen der Homonymien wie ein „Überspringen“ auf ein anderes Genusparadigma aussieht. Die Formüberein-stimmung nach den nominalen Kategorien, ein kommunikativ eigentlich zweitrangiges Phänomen, ist ein Stolperstein, der die L2-Lerndenden wäh-rend überaus langer Zeit ihres Erwerbsprozesses in Anspruch nimmt. Diese formalen Abweichungen lassen die L2-Erwerbenden „ungebührlich lange“ als Lernende erscheinen, weil diese Verstösse, selbst wenn sie selten sind, für Muttersprachler/innen so auffällig sind, dass sie gerne übersehen lassen, was in vielen anderen Bereiche erfolgreich gemeistert wird.

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5.3.6 „Eine unermessliche Erfolg“81 – Der Erwerb des syntagmatischen und paradigmatischen Genus am Beispiel der attributiven Adjektivflexion

Wie bereits einführend dargestellt, kann bei den L2-Lernenden trotz schuli-scher Instruktion weder vorausgesetzt werden, dass sie auf Anhieb alle syn-taktisch relevanten Stellen für die Genusmarkierung kennen, noch dass sie damit vertraut sind, dass sich die Ausdrucksformen je nach syntaktischer Funktion der Nominalphrase ändern können. Das Wissen um die grammati-sche Komplexität gerade mehrgliedriger Nominalgruppen scheint sich bei den L2-Lernenden erst allmählich und prozessartig herauszubilden.

Die komplexen Nominalgruppen, d. h. solche, die mindestens durch ein Adjektiv erweitert sind, stellen höchste Anforderungen an die Lernenden. Während bei den Determinantien die Kategorien Genus, Numerus und Kasus ausdrucksrelevant sind, kommt bei der Adjektivflexion zusätzlich das Krite-rium der syntaktischen Umgebung zum Tragen: je nach Art der Determinan-tien wird das Adjektiv – unter Berücksichtigung der nominalen Kategorien Numerus, Genus und Kasus – stark oder schwach flektiert.

Komplexe Nominalgruppen erscheinen relativ selten in den lernersprach-lichen Texten. Von den 1287 Nomen, die oben im limitierten „Genus-Kor-pus“ belegt sind, sind gerade 134 in eine komplexe Nominalgruppe einge-bettet. Das mag einerseits darin begründet liegen, dass die Schülerinnen und Schüler primär alltagssprachliches Deutsch lernen, wo attributive Adjektive auf jeden Fall relativ selten sind. Plausibler ist aber wohl die Erklärung, dass die Schülerinnen und Schüler erst in der achten Klasse überhaupt mit der deutschen Adjektivflexion konfrontiert werden und wahrscheinlich die Er-fahrung machen rsp. gemacht haben, dass komplexe Nominalgruppen poten-tielle Fehlerquellen sind.82 Individuelle Vermeidungsstrategien sind als Ursa-che für die niedrige Frequenz sicher nicht ganz auszuschliessen, was aller-dings nur nachgewiesen werden kann, wenn in vergleichbaren schriftlichen L1-Texten ein höherer Adjektivgebrauch festgestellt werden könnte.

_______________

81 Beleg aus ESC 11/12, 6. 82 E. Kwakernaak (1996: 416f.) sieht die masssiven Schwierigkeiten, die bei der

Adjektivflexion auftreten auch in einem Zusammenhang damit, dass die Adjektiv-flexion isoliert von den nominalen Teilen „behandelt“ wird, und zwar meist erst nachdem die Flexion der Determinantien instruiert worden ist. Er plädiert dafür, dass jene Schülerinnen und Schülern, „denen ein längeres Curriculum in dieser Sprache bevorsteht“ und bei denen eine gewisse formale Korrektheit im Deutschen abverlangt wird, die nominale Flexion ausschliesslich anhand komplexer Nomi-nalgruppen lernen.

189

Im folgenden werden in einem ersten Schritt die erwähnten 134 komplexen Nominalgruppen auf ihre formale Korrektheit insgesamt und hinsichtlich von Genus und/oder Kasus überprüft. In einem zweiten Schritt wird das Korpus um Arbeiten erweitert, die aus höheren Schulklassen stammen und damit mehr Belege für komplexe Nominalgruppen beibringen können. Beim er-weiterten Korpus steht nicht die Frage nach formaler Richtigkeit im Vorder-grund, sondern jene, ob es bezüglich der Adjektivflexion eine Art von Lern-progression gibt, die darin bestehen würde, dass die Schülerinnen und Schüler immer besser „durchschauen“, nach welchen Prinzipien die nominale Flexion funktioniert.

5.3.6.1 Komplexe Nominalgruppen und ihre morphologische Ausprägung: Gesamtüberblick

Bei komplexen Nominalgruppen müssen die Lernenden den verschiedenen varianten Elementen der Nominalgruppen das richtige Flexiv zuordnen. Die-ses ist nur in wenigen Fällen für das Determinans (DET) und das Adjektiv (ADJ) identisch (vgl. die „Parallelbeugungen“ bei Feminina auf -e [die/eine/diese/meine grosse Frau] und bei Maskulina im Akkusativ auf -en [einen/den/diesen/meinen grossen Mann]). In den übrigen Fällen sind die Flexive an den verschiedenen Trägern nominaler Markierungen formal un-terschiedlich.

Es zeigen sich bei den Schülerinnen und Schülern dabei die folgenden zielsprachlich konformen und nicht-konformen Realisierungen: Adjektive Determinantien richtig falsch definiter Artikel richtig 21 4 falsch 3 3 indefiniter Artikel richtig 31 7 falsch 13 30 Possessivum richtig 7 1 falsch 3 2 Demonstrativum richtig 2 1 falsch 0 0 kein Determinans 3 3 Tab. 30: Formale Richtigkeit der Flexive in DET und ADJ in derselben

Nominalgruppe

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TOTAL Nomen maskulin richtig falsch DEF + ADJ 6 5 INDEF + ADJ 3 15 POSS + ADJ 3 6 DEM + ADJ 1 1 0 + ADJ 0 2 Total 13 29 (= 69%) Nomen feminin DEF + ADJ 11 INDEF + ADJ 19 17 POSS + ADJ 4 DEM + ADJ 1 0 + ADJ 2 1 Total 37 18 (= 33%) Nomen neutrum DEF + ADJ 4 5 INDEF + ADJ 9 18 POSS + ADJ DEM + ADJ 0 + ADJ 1 Total 14 23 (= 62%) 64 70 (= 52%)

Tab. 31: Formale Richtigkeit der komplexen Nominalgruppen nach dem Genus des Nomens und nach morphosyntaktischer Umgebung

Weniger als die Hälfte aller vorkommenden komplexen Nominalgruppen, nämlich 64, sind formal vollständig richtig realisiert. Bei allen anderen No-minalgruppen ist entweder das DET oder das ADJ oder beide zusammen nicht mit der Zielsprache konform.

Die Beleglage erlaubt Aussagen über die morphologischen Realisierungen bei den frequentesten komplexen Nominalgruppen mit definitem und indefi-nitem Artikel.83 Die sicherste Zuweisung zeigt sich bei der Kombination „Definitartikel + Adjektiv“, wo die richtigen Zuweisungen die falschen überwiegen, was durch die „guten“ Werte bei den Feminina (vgl. Tab. 31) zustande kommt. Die Abweichungen bei den komplexen Nominalgruppen mit Indefinitartikel sind im Vergleich dazu beträchtlich. Obwohl sich vollständig _______________

83 Müller (1994: 73) kann in ihrer Studie ebenfalls wenige Demonstrativa nachwei-

sen. Sie geht aber davon aus, dass diese von den Lernenden wie die definiten Arti-kel – also rascher und erfolgreicher als die Indefinitartikel – erworben werden.

191

richtige und vollständig falsche Nominalgruppen in etwa die Waage halten, fallen noch eine Reihe weiterer Nominalgruppen an, bei denen entweder das Adjektiv oder das Determinans von der Zielsprache abweicht, wobei der Indefinitartikel leicht fehleranfälliger scheint als das Adjektiv (vgl. Tab. 30).

Die schwache Adjektivflexion ist erwartungsgemäss sicherer als die starke (von 34 Nominalgruppen mit schwacher Flexion wird das Adjektiv bei 26 [= 76%] richtig flektiert; von 100 Nominalgruppen mit starker Adjektivflexion dagegen nur deren 57 [= 57%]). Das mag mit der relativen „Einfachheit“ der deutschen Sprache zusammenhängen, die bei der schwachen Adjektivflexion im Singular nicht nach dem Genus unterscheidet, sondern durchgehende e-Endung vorsieht (vgl. die neue Gabel, das neue Messer, der neue Löffel). Bei der starken Flexion sind genusabhängig drei verschiedene Endungen zu un-terscheiden, die mehr Schwierigkeiten verursachen können (vgl. der Mann / *ein grosses Mann, ECG10/11, 4).

Die Aufschlüsselung, die in der Tab. 31 zusätzlich nach dem zielsprachlich geforderten Genus der komplexen Nominalgruppen vorgenommen worden ist, zeigt deutlich, dass bei den Feminina die mit Abstand besten Werte erzielt werden, was sicher der strukturell einfachen Parallelbeugung in den Kasus recti zugeschrieben werden kann. Diese Parallelbeugung ist offensichtlich ein kognitiv derart einfaches und morphologisch uniformes Deklinationsmuster, das zudem auch durch die L1 gestützt wird, dass sie nicht nur zu einer hohen formalen Korrektheit bei femininen Nominalgruppen mit starker und schwacher Flexion führt, sondern – weil sie generalisiert wird – zu den häufigsten Genusverstössen bei komplexen Nominalgruppen überhaupt führt: Wenn nämlich sowohl für DET als auch für ADJ abweichendes Genus belegt ist, handelt es sich in den meisten Fällen um zielsprachlich maskuline oder neutrale Nominalgruppen mit einem Indefinitartikel, die durch abweichende Parallelbeugung auf -e „zu Feminina werden“ (vgl. der letzte Film / *eine americane Film; ESC12/13, 1).84

Die Durchsicht der Werte nach den Realisierungen der einzelnen Schüle-rinnen und Schülern macht deutlich, dass komplexe Nominalgruppen bis in die achte Klasse als Einzelerscheinungen zu betrachten sind, die (zufällig?) richtig oder falsch realisiert sein können. Die trotz fehlender expliziter In-struktion aber selbst schon bei Anfängerinnen und Anfängern vereinzelt auf-tretenden richtigen Flexionen und Stellungen können durchaus auswendig gelernt worden sein. Diesen zielsprachlich korrekten Formen als auch den

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84 Parallelbeugungen mit anderen Flexiven sind marginale Erscheinungen, d. h. die Lernenden orientieren sich tatsächlich an einem authentischen Muster, das sie im Input finden und dann generalisieren können.

192

abweichenden Flexiven kann aber wegen ihrer Zufälligkeit in diesem frühen Lernerstadium wohl bloss der Status von „präsyntaktischen Proformen“ (Müller 1990) zukommen.

5.3.6.2 Individuelle Verfahren zur Markierung der komplexen Nominalgruppen

Während in den obigen Ausführungen die formale Richtigkeit der Aus-drucksstrukturen komplexer Nominalgruppen und ihre quantitative Dimen-sion im Mittelpunkt stehen, soll es in diesem Kapitel um die Annäherung an das lernersprachliche Können gehen, das mit der Aneignung komplexer Nominalgruppen verbunden ist. Das Korpus der Schülerarbeiten ist zu diesem Zweck ausgeweitet worden. Dabei habe ich mich bei der Auswahl der Arbeiten auf jene Schuljahre konzentriert, in denen die ADJ-Flexion bereits im Unterricht instruiert worden ist und gleichzeitig auch die Auftretenshäufig-keit komplexer Nominalgruppen grösser ist.85

Aus den Daten können auf heuristischem Wege Kategorien von Lerner-verfahren gewonnen werden, die die Annahme erlauben, dass es in bezug auf Adjektivflexion Erwerbsstadien geben könnte: Stadium 0-FLEXION:

Die Adjektive werden in ihrer unflektierten Form verwendet und können dem Nomen vor- oder nachgestellt sein. Beispiel: ein schwarz pullover, ein blau t-shirt, ein blau Hose (9/ESC10, 2)

Stadium BELIEBIG: nur Einzelbelege (allenfalls richtige); verschiedenste Abweichungstypen, die keine Regelmässigkeiten erkennen lassen. Beispiel: Text 3: eine gute Ausland, eine schönes Ausland (ESC10/11, 3)

Stadium FORMALer Ausgleich: Die Flexion erfolgt (weitgehend) nach einem ganz bestimmten, wieder-kehrenden formalen Muster oder nach einer formalen Anpassung an die anderen Elemente der Nominalgruppe und ist damit syntagmatisch orien-tiert, was dann auch zu Abweichungen führt rsp. führen kann. Das Stadium FORMAL lässt keine „grammatische Senisitivität“ in bezug auf Genus, Numerus, Kasus erkennen, sondern eine Ausrichtung nach ausdruckssei-tigen Eigenschaften der Nominalgruppen (z. B. formale Anpassung an die Form des Determinans oder wie im nachfolgenden Beispiel: Generalisie-rung eines bestimmten Markers für die attributive Adjektivflexion).

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85 Die Bedürfnisse der Genfer Lehrerschaft haben zudem zu einer Ausweitung der Beleglage in den schulrelevanten Übergangsphasen des 9. rsp. 13. Schuljahres (Ende der obligatorischen Schulzeit rsp. Hochschulreife) geführt.

193

Beispiel: ein grosses Mann, ein schwarzes Rock, ein oranges Krawatte, ein schwarzes Hose, ein oranges Jacke, ein grunes Handtasche, eine schones Pizza, braunes Haar, ein blaues Hemd, blondes Haar, ein rotes Hemd (ECG10/11, 4)

Stadium FUNKTIONALer Ausgleich: Es sind verschiedene Flexionen nachweisbar, die erkennbar „grammatisch sensitiv“ sind, d. h. ausdrucksseitige Abhängigkeit von den relevanten nominalen Kategorien Genus, Numerus, Kasus und damit eine paradig-matische Orientierung zeigen. Formale Richtigkeit kann dabei erreicht sein, muss aber nicht. Beispiel: eine kleine Stadt, eine teure grüne Natur, das ganzen Tag (Akkusativ), ein tolles Erlebnis, der beste Ort, die ganze grosse Natur, meine ungeheure Freude. (C10/11, 1)

Die verschiedenen Flexionsverfahren lassen sich wie folgt charakterisieren: Flexionsverfahren Flexive „Deklinations-

regel(n)“ Grammatische Kategorien

0-Flexion nein nein nein beliebig ja nein nein formaler Ausgleich ja ja nein funktionaler Ausgleich

ja ja ja

(Flexive: Vorhandensein von Adjektivendungen ja/nein; Deklinationsregeln: Indiz für das Vorhandensein eines „formalen Ausgleichs“ für die formale Ausformung kom-plexer Nominalgruppen ja/nein; Grammatische Kategorien: Indiz für die Varianz der Deklinationsregeln in Abhängigkeit von grammatischen Kategorien ja/nein) Tab. 32: Komplexität verschiedener Flexionsverfahren Die erläuterten Verfahren können in einem Zusammenhang gesehen werden mit den Fähigkeiten der Lernenden, 1) das ADJ als flexionsrelevante Kategorie zu durchschauen (Stadien BE-

LIEBIG, FORMAL, FUNKTIONAL) oder nicht (Stadium 0-FLEXION) 2) Regelmässigkeiten in der Flexion zu entdecken (Stadien FORMAL,

FUNKTIONAL) 3) diese Regelmässigkeiten in Abhängigkeit von Genus/Kasus/Numerus zu

erkennen (Stadium FUNKTIONAL).

194

5.3.6.2.1 Das Adjektiv als flexionsrelevante Kategorie

Tatsächlich erweist sich das attributive ADJ als eine grammatische Kategorie, bei der die Schülerinnen und Schüler lange Zeit und immer wieder unsicher sind, ob überhaupt flektiert werden muss oder nicht. Während in den Schülerarbeiten im Anfängerstadium der EP und der ersten CO-Klassen die (wenigen überhaupt vorkommenden) ADJ weitgehend unflektiert bleiben, sind bei Schüler/innen, bei denen bereits Instruktionen zu diesem Phänonem vorausgesetzt werden können, ADJ mit Flexiven in der Überzahl. Nicht zu übersehen ist aber, dass unflektierte ADJ auch noch in Texten der letzten Schulklassen und auch bei Collège-Absolventen und -Absolventinnen vor-kommen. Besonders „resistent“ gegen Flexionen erweisen sich dabei modifi-zierte ADJ (vgl. die jungen Leute vs. *ein sehr gross Sall).

Hinsichtlich der 0-Flexion des Adjektivs müsste in einzelnen Fällen auch der Einfluss des Englischen in Erwägung gezogen werden. Bei deutschen ADJ, die dem Englischen formal sehr ähnlich sind, scheint die Tendenz zu Endungslosigkeit besonders ausgeprägt (*der best Freund).

Was die syntaktische Stellung des ADJ betrifft, so ist Nachstellung des ADJ am Anfang sehr häufig.86 In fast allen Fällen ist Nachstellung verbunden mit Endungslosigkeit. Kommt Nachstellung noch bei Fortgeschritteneren vor, ist das ADJ immer modifiziert (eine grosse Steppe vs. *ein Wald sehr gross).

5.3.6.2.2 Das Adjektiv als genus-, numerus-, kasusrelevante Kategorie

Dass es eine Progression im Zusammenhang mit der ADJ-Flexion tatsächlich gibt, legen die Daten in der untenstehenden Tab. 33 nahe: Die Schülerinnen und Schüler, die ADJ gar nicht oder beliebig flektieren, scheinen gegen Ende der Schulzeit abzunehmen. Allerdings macht die Tabelle ebenfalls deutlich, dass zum Zeitpunkt des Beginns der ADJ-Instruktion im achten Schuljahr sich grosse individuelle Unterschiede abzeichnen. Die einen scheinen auf diesen Schulstoff „instruktionsresistent“ zu reagieren und weiterhin 0-Formen und weitgehend beliebige, nicht „durchschaute“ Flexive zu produzieren: (9) Familie Bauer wollen umziehen, weil seine Wohnung so klein ist. Sie wolle in

eine grosse Haus wohnen, damit jeden Kinder seine Wohnzimmer hat. Die Fa-milie hat eine Grosses Durcheinander, weil die Kinder sehr blöd sin sind. Der Grossvater wohnt mit die Familie, weil die Grossmutter gestorben ist. Der Lastwagen für der Umzug ist voll. Jeden Packen ist für eine Zimmer ein für die Küche, ein für das Badzimmer ...uzw. Das grosses Kind heisst Juliana und sie ist auf das Dach vor der Lastwagen. Und das klein Kind heisst David, und er ist

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86 Zur Stellung des Adjektivs aus der Perspektive des Prinzipien- und Parameter-Modells vgl. Parodi (1998).

195

auf der Schrank. Auf die Schtüle sitzt die Mutter, sie ist nicht glücklich, weil die Kinder nicht zu hören sind. Aber der Grossvater ist sehr glücklich, weil er zieht mit Familie um. In der Lasstwagen legt ein Vögel er heisst „Bouba“. Er sprecht und er singt. Auf der Schreck (?), neben David ist ein rotes fisch, er heisst „Roma“, weil er nach Italien geht. (Odette A 9/ESC10, 4)

Es gibt aber auch „Ausnahmeerscheinungen“, die schon in der achten Klassen die „Natur“ der ADJ-Flexion zu durchschauen beginnen. Einige Schülerinnen und Schüler scheinen die Flexion komplexer Nominalgruppen eher nach syntagmatisch-formalen Kriterien (FORMAL), andere eher nach para-digmatisch-funktionalen Kriterien (FUNKTIONAL) zu organisieren: (10) In den Ferien will Werner mit Autostop in Italien fahren. Er muss noch neun

hundert km machen. Ein Mann mit ein blaues Auto und ein schnelles hält an. Er steigt in diesem ein. Karl, der Autofahrer, trinkt eine Flasche Rotwein und gibt ihm. Aber wenn er ist vernünftig und will keinen Wein trinken. Das blaues Auto und die zwei Männer haben einen Unfall. In zehn Minuten kommt ein fleissiger Polizist mit ein Rad. Nach der Unfall, der armer Mann Werner muss in der Jugendherberge schlafen. Er ist müde und will jetzt gut schlafen. Am nächsten Tag, Werner ist noch aber er muss aufstehen. Er steht an der Strasse und wartet ein neues Auto.87 (Sophie N 8/9, 4)

Allerdings kann nicht nachgewiesen werden, dass die individuellen Lernen-den die Stadien 0-FLEXION > BELIEBIG > FORMAL > FUNKTIONAL der Reihe nach durchlaufen. Auf das Stadium BELIEBIG, das wahrscheinlich bei allen vorkommt, folgen bei verschiedenen Individuen unterschiedliche Stadien, die offenbar vom „Analysegesichtspunkt“ der Lernenden abhängen: Alle scheinen von einem bestimmten Zeitpunkt weg (der in Einzelfällen auch erst im 11. oder 12. Schuljahr sein kann) die ADJ-Flexion zu systematisieren. Während die einen einen formalen Ausgleich anstreben, differenzieren andere eher funktional nach einer oder mehrerer der grammatischen Kategorien. Die Progression ist aber in beiden Fällen gleichartig: auf Stadien der Beliebigkeit folgen „Stadien der Ordnung“, die eine – unterschiedlich – geartete Regelmässigkeit in der Flexion zeigen. Von einem bestimmten Stadium weg scheint bei den meisten Schülerinnen und Schülern das Bedürfnis zu erwachen, die Fülle an Nominalflexiven nach bestimmten Gesichtspunkten zu regularisieren. Regularisierung und damit Regelmässigkeit ist auch im „funktionalen Stadium“ nicht gleichzusetzen mit zielsprachlicher Richtigkeit. Nach wie vor können Unsicherheiten bestehen in der (starken und schwachen)

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87 Funktionale Organisation nach dem Genus, aber wohl (noch) nicht nach dem Ka-sus des Bezugsnomens: vgl. ein blaues Auto vs. ein fleissiger Polizist. Am nächs-ten Tag dürfte – weil die übrigen Präpositionalgruppen nicht kasusmarkiert sind – wohl ein Chunk sein.

196

Flexion von DET und ADJ, an POSS oder INDEF können Übermarkierungen auftreten, und nicht zuletzt kann sich die offenbar zu diesem Zeitpunkt wahrgenommene nominale Formenvielfalt bei Fortgeschrittenen in einer Verunsicherung des „längst Gelernten“ niederschlagen: (11) Ich denke dass, eine Schulreise ausserhalb Europa eine sehr gute Idee ist. Wenn

wir in einem wecken88 Land fahren, sehen wir neue Dinge, verschiedene Perso-nen, seltsame Sitten für uns, gute Essen usw....

Wenn wir ausserhalb Europa fahren oder fliegen, sind wir weck von seine El-tern und werden wir wahrlich indipendent. Wir denken weniger zu unserem Land in Genf und wir amusieren uns mehr.

Wenn der Lehrer oder die Lehrerin uns wählen lassen wurde, müssten wir zwi-schen einem reichem Land und einem armem Land, wo wir ihm besser kom-men, wählen. Wir können in USA fliegen, um uns zu amusieren und in India, um die Sitten besser zu kennen.

Aber diesere Reise (!) ist nicht möglich, weil er zu teuer ist und Herr X, unserer Lehrer (!) nicht will. (ESC12/13, 3)

Was den formalen Ausgleich betrifft, so sind hier verschiedene Möglichkeiten belegt:

Bei einigen wenigen ist eine Parallelbeugung festzustellen, die sich formal nach dem DET oder nach formalen Eigenschaften des Nomens ausrichtet (Bsp. der elfster tennisspieler, der dreiundzwanzigster, deine beste Service, meine beste Service, der zweiter Bester, Stéphane M 9/ESC10, 6). Das ver-breitetste Verfahren ist allerdings die Parallelbeugung auf -e, die sich dann auch rückwirkend auf die formale Ausprägung des DET auswirkt (ein Mann vs. *eine wischtige Mann) Die „Beliebtheit“ dieser Generalisierung ist weiter nicht erstaunlich, handelt es sich doch bei diesem Verfahren um ein in ver-schiedener Hinsicht optimales: − Die „feminine Parallelbeugung“ ist kognitiv einfach, weil jedes adnomi-

nale Element die gleiche Endung bekommt und sie ist insofern morpholo-gisch uniform, als sie die Kongruenz der verschiedenen nominalen Teile mit ihrem Bezugssubstantiv gleich symbolisiert.

− Die „feminine Parallelbeugung“ hat einen gewissen Gültigkeitsbereich, weil sie für ganz verschiedene Paradigmenstellen tatsächlich stimmt (feminine Nomen mit INDEF, DEF, POSS, DEM + ADJ, Nominativ und Akkusativ).

− Im Französischen ist hinsichtlich der nominalen Flexion die im Vergleich zum Deutschen morphologisch weniger markierte Parallelbeugung üblich, so dass nicht ganz auszuschliessen ist, dass dieses verhältnismässig ideale

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88 An dieser lernersprachlichen (aber „leider“ nicht-zielsprachlichen) Adjektivbil-dung aus dem deutschen Adverb weg zeigt sich der eigenständige Zugriff zum Formeninventar der Nominalflexion besonders schön.

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Flexionsprinzip von den Lernenden dann auch in der L2 bevorzugt, d. h. generalisiert wird.

5.3.6.3 Bilanz: Wer kann die Adjektive richtig flektieren?

Wenn man davon ausgeht, dass formaler und systematischer Ausgleich im oben beschriebenen Sinne bereits einen fortgeschritteneren Umgang mit der ADJ-Flexion voraussetzt, so müssten sich in den höheren Schulklassen mehr Schülerinnen und Schüler mit derartigen Ausgleichstendenzen zeigen. Bei einer (eingeschränkten Anzahl) Testpersonen zeichnet sich die folgende Ten-denz ab: Schuljahr Anzahl

Testpersonen 0-Flexion beliebig formal funktional

4/5 3 [2 kein ADJ] (1) 1

5/6 3 (2) 1 2

6/7 2 [1 kein ADJ] 1

7/8 3 (3) 1 2

8/9 10 (8) 1 4 1 4

Ende obligatorische Schulzeit89

45 (17) 3 31 3 10

9/10 9 (5) 2 2 5

10/11 22 (4) 5 5 12

11/12 8 (4) 2 2 4

12/13 4 (2) 1 1 2

Maturitätsstufe 12 (2) 5 4 3

(Für 98 Schüler/innen ist der fortgeschrittenste Erwerbsstand verzeichnet. Falls in einer der Arbeiten mindestens eine 0-Flexion belegt ist, ist das zusätzlich in Klam-mern in der entsprechenden Spalte verzeichnet.) Tab. 33: Die Stadien der Adjektiv-Flexion nach Schuljahren In der obigen Tabelle zeigen sich tatsächlich schulstufenabhängige Unter-schiede in den Flexionsverfahren hinsichtlich der komplexen Nominalgruppe. Die Zusammenstellung nach Schuljahren zeigt, dass bis ins achte Schuljahr keine komplexen Nominalgruppen vorkommen, bei denen es Indizien für eine regelhafte Flexion gäbe. Weder der unterrichtsseitige Input, den die Schülerinnen und Schüler bis zu dieser Alterstufe bekommen, noch die

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89 Belege von Schülern aus 8/9 (Stand Ende 9. Klasse, 8 Arbeiten) und 9/10 (Ende 9. Klasse; 4 Arbeiten).

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schülerseitigen Intake-Fähigkeiten sind also bis zu diesem Zeitpunkt ausrei-chend, um zu einer Ausbildung der komplexen Nominalgruppen zu kommen, die mit den Gesetzmässigkeiten der Zielsprache konform ist. Erst zum Zeit-punkt des achten Schuljahres gibt es „erste“ Schülerinnen und Schüler, die ihre Flexive offensichtlich nicht mehr zufällig wählen, sondern sie nach for-malen oder funktionalen Kriterien zu regularisieren beginnen. Dabei sollte erstens nicht übersehen werden, dass bei vereinzelten Schülerinnen und Schülern bis zur Maturität Beliebigkeit in der Flexion vorkommen kann und dass Lernende, die die komplexe Nominalgruppe grammatisch im hier defi-nierten Sinne ausrichten, durchaus formale Abweichungen in komplexen Nominalgruppen zeigen.

Im grammatischen Teilbereich der Adjektivflexion zeigt sich überdeutlich das Auseinanderklaffen der schulischen Bemühungen um formale Richtigkeit und den tatsächlichen lernersprachlichen Realisierungen, die diesem An-spruch in keiner Weise genügen (können). Der Nutzen der (überaus aufwen-digen) Instruktion von Flexionsparadigmen – oder zumindest der Art dieser Instruktion – muss doch erheblich in Frage gestellt werden, wenn selbst die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler der Maturitätsstufe dem Ideal der formalen Beherrschung der deutschen Nominalflexion nicht genügen können.

Wer also kann die Adjektive tatsächlich richtig flektieren? Die Mutter-sprachlerinnen und Muttersprachler – und wenige sehr fortgeschrittene L2-Erwerbende, in der Regel aber offensichtlich erst nach der Schulzeit, und zwar dann, wenn sie sich weiter um die deutsche Sprache bemühen. Die Be-herrschung der Flexion komplexer Nominalgruppen – tatsächlich ein uner-messlicher Erfolg.

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5.4 „Hünde und Kätze“90 – Der Erwerb der substantivischen Pluralmarkierungen

Helen Christen 5.4.1 Einleitung Der nominale Plural wird im Deutschen mit unterschiedlichen Mitteln ausge-drückt: Erstens wird der Plural einiger Nomen mit Hilfe formal verschiedener Suffixe am Nomen selbst markiert; zweitens fungiert bei einigen Nomen der Umlaut gleichsam als nicht-redundantes morphologisches Infix zur Plural-markierung; drittens wird der Plural durch die Form der Determinantien markiert. Bei einigen Nomen kommt nur die letzterwähnte „nomen-externe“ Markierung zum Tragen (vgl. der Lehrer / ein Lehrer Sg. vs. die Lehrer / Lehrer Pl.), bei den übrigen Nomen ist der Plural sowohl am Nomen als auch an den übrigen nominalen Stellen redundant markiert.91

Im folgenden wird ausschliesslich der Erwerb der Pluralmarkierung beim Nomen betrachtet, die externen Pluralmarkierungen, die sich an den Flexio-nen der Determinantien und der attributiven Adjektive – im Zusammenspiel mit der Kategorie Kasus – zeigt, werden dagegen ausser Acht gelassen.

Was die nominalen Pluralflexive betrifft, so können 9 formale Möglich-keiten unterschieden werden: 0-Suffix (Lehrer), Umlaut (Mütter), e-Suffix (Tage), e-Suffix + Umlaut (Hände), n-Suffix (Sachen), en-Suffix (Hemden), er-Suffix (Kinder), er-Suffix + Umlaut (Hühner), s-Suffix (Muttis). Je nach linguistischer Theoriebildung werden nun diese neun formalen Möglichkeiten der Pluralbildung nicht einfach als neun Pluralallomorphe betrachtet, sondern wegen unterschiedlicher Berücksichtigung von Lautregeln (Umlautprozesse, Schwa-Epenthese) kommt es zu verschiedenen morphologischen Modellen, die eine unterschiedlichen Zahl von Flexionsprozessen ansetzen. Für die Daten der vorliegenden Arbeit wird in Anlehnung an Wiese (1987) ein – äusserst ökonomisches – Beschreibungsmodell gewählt, das von bloss 5 Pluralallomorphen ausgeht. Umlautung und Schwa-Epenthese werden dabei als regelmässige Verknüpfungen von morphologischen und phonologischen Prozessen betrachtet, sodass die folgenden fünf Pluralallomorphe verbleiben: 0 (+ Umlaut), -e (+ Umlaut), -er (+ Umlaut), -(e)n und -s (vgl. Wiese 1987).

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90 Nicolas B 9/C10, 1 (zusätzliche Pluralbelege im gleichen Text: Jahre, Meter, Brü-der, Jahre, Fische, Freunde).

91 Eine weitere redundante Pluralmarkierung ist bei Subjektsnomen durch die eben-falls numerussensitive Verbalflexion gegeben.

200

Nicht nur über die Zahl der Pluralallomorphe besteht nun Uneinigkeit, sondern auch über die Art, wie einem Nomen ein bestimmter Pluralmarker zugewiesen wird. Die Annahme einer psychischen Realität von (wie im ein-zelnen auch immer gearteten) Regularitäten, die bestimmen, welches Nomen mit welchem Allomorph den Plural markiert, ist durchaus plausibel (und auch unbestritten) angesichts der Fähigkeiten der L1-Sprechenden, einem beliebigen Nomen – und in entsprechenden Tests auch einem „Kunstwort“92 – interindividuell konsistent einen Plural zuzuweisen.

Die Regularitäten und Irregularitäten werden nun mithilfe verschiedener Modelle erfasst, die entweder von einer unitären oder einer dualistischen Morphologiekonzeption ausgehen (Bartke 1998). Während erstere morpho-logische Prozesse ausschliesslich mit einer einzigen Art von Regeltyp be-schreiben, gehen letztere davon aus, dass zwei qualitativ unterschiedliche Prozesse wirksam sind. Zur unitären Schule gehören zum einen Linguistinnen und Linguisten, die die gesamte Pluralzuweisung anhand von symbolischen Regeln modellieren (Mugdan 1977, Wegener 1995b, Neef 1998). Solche Annahmen können zu einer grossen Anzahl von Regeln und ergänzenden Ausnahmelisten führen, ein Ergebnis, das sich in einzelnen Fällen wie jenem von Mugdan (1977) kaum mit dem Anspruch verträgt, die mentale Reprä-sentation des Phänomens tatsächlich nachzubilden.93 Von symbolischen Re-geln in einem unitaristischen Modell gehen auch Konzeptionen aus, die dem Ebenenmodell Kiparskys (1982) verpflichtet sind und ein hierarchisch ge-ordnetes Regelsystem annehmen. Zu den unitären Ansätzen gehören zum an-deren auch konnektionistische Modelle (vgl. Kapitel 3.2.3), die von netz-werkartigen Verbindungen zwischen sprachlichen Einträgen ausgehen und eine Erscheinung wie die Pluralbildung anhand von Lautanalogien, überein-stimmender Lautstrukturen und Erscheinungsfrequenzen erklären (Köpcke 1987; 1994). Zudem wird bei konnektionistischen Konzeptionen auch die semantische Motiviertheit (gewisser) Pluralmarker in Erwägung gezogen: So deckt etwa Köpcke (1994) bei der als arbiträr geltenden Umlautsetzung bei den einsilbigen Maskulina eine auffällige Korrelation des Umlauts mit einer anthropozentrischen Weltsicht auf.

Dualistische Modelle wie jenes von Pinker/Prince (1984) konzipieren die Pluralzuweisung wie Kiparsky als hierarchisch ablaufenden Prozess, der – was die Irregularitäten betrifft – jedoch konnektionistisch über lautliche Analogien modelliert ist, während die Regularitäten über symbolische Regeln verlaufen. _______________

92 Vgl. entsprechende Tests bei Berko (1958), Mugdan (1977), Köpcke (1987), We-

gener (1995b). 93 Mugdan (1977), der den Nominalplural des Deutschen in Abhängigkeit von Genus

und morphonematischen Eigenschaften der Lexeme formuliert, entwirft ein Regel-system mit 15 Pluralregeln und 21 Lexemlisten mit den Ausnahmenfällen.

201

Verkomplizierend kommt hinzu, dass Phänomene, die in der einen theo-retischen Konzeption den Status von Regularitäten, Subregularitäten oder Ir-regularitäten haben, in einer anderen Konzeption wieder anders bewertet werden. Während beispielsweise Bartke (1998) von nur einer regelmässigen Pluralbildung, nämlich jener auf -s, ausgeht, konzipieren andere mehrere re-gelmässige Pluralbildungen, deren Regelmässigkeiten aber eine vorgeordnete Gruppierung der Nomen in Genusklassen voraussetzen (z. B. Köpcke 1994; Wegener 1995b, Neef 1998). Neef (1998: 261) nimmt die fünf deutschen Pluralmarker als regelmässig an, unregelmässig sind bei ihm nur singuläre Bildungen von der Art Lexikon vs. Lexika. Aus unterschiedlichen Konzeptio-nen resultiert eine entsprechend unterschiedliche Zahl von Defaultformen. 5.4.2 Plural aus der Lernerperspektive Geht man von symbolischen oder konnektionistischen Regeln aus, die die Selegierung eines Pluralmarkers für ein bestimmtes Nomen bestimmen, so können diese in einem Zusammenhang mit dem Genus und/oder der phono-logischen Struktur, genauer dem Auslaut des Nomens oder der Silbenstruktur des Nomens, formuliert werden. Allerdings kann es sich – vergleichbar mit der Genusselektion – bloss um statistische Regeln handeln, was beispiels-weise Konsequenzen für die Wörterbuchschreibung hat: die Abweichungen machen wegen der relativen Unsicherheit der Pluralzuweisung bei den Wör-terbucheinträgen aller Nomen die Angabe der jeweiligen Pluralform notwen-dig. Abweichungen von Regeln können sich natürliche Sprachen nur bei den hochfrequenten Phänomenen „leisten“: Ihr häufiges Auftreten garantiert, dass die Sprecherinnen und Sprecher die Sonderfälle überhaupt lernen können. Erwartungsgemäss sind nun auch die Abweichungen von den regelmässigen Pluralbildungen gerade im hochfrequenten Grundwortschatz zu finden. Augst (1979: 223) geht hier beispielsweise von einem Fünftel des Lexembestandes aus. Gerade dieser Grundwortschatz mit seinen Ausnahmen bildet aber den Input für die Lernenden, der dann seiner Unregelmässigkeiten wegen zwangsläufig die Deduktion von Regeln erschweren muss.

Regeln, die in Abhängigkeit von lexeminhärenten Eigenschaften wie dem Genus,94 in Abhängigkeit von „phonologisch irgendwie auffällig[en]“ (Wegener 1995b: 22) Ausdrucksstrukturen, in Abhängigkeit von der Zugehö-rigkeit des Nomens zum „core lexicon“ oder zum „peripheral lexicon“ (Neef 1998: 262) formuliert werden, sind Regeln, die mit Bestimmheit Regularitä-

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94 Wegener (1995b: 39) nimmt beispielsweise „mehrere reguläre und teil- bzw. mar-kiert-reguläre Flexionsklassen an, die für dieselben Genusklassen gelten und diese weiter differenzieren.“

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ten des Deutschen zu beschreiben vermögen, jedoch nicht das lernersprachli-che Wissen abbilden. Aus der Lernerperspektive sind derartige Regeln mehr als problematisch, weil die Lernenden die dafür nötige Ausgangsinformation gar nicht haben können, da diese ja selbst Teil des Lernprozesses sind: weder das Genus ist gegeben, noch das für die Pluralbildung entscheidende Wissen darüber, ob eine deutsche Struktur lautlich „normal“ ist oder nicht. Dass es nun trotz dieser Defizite möglich ist, die zielsprachlichen Pluralbildungen zu lernen, zeigt, dass dies über andere Wege erfolgreich sein kann. Bei einem geringen Lexembestand ist natürlich Auswendiglernen der Formen – also im Prinzip die Memorisierung von zwei lautlich sehr ähnlichen Lexikoneinträgen – das Naheliegendste. Es ist jenes Prinzip, das ja auch bei den nicht-regelhaften Pluralbildungen in den verschiedenen in Kapitel 5.4.1 erläuterten Modellen vorgesehen ist.

Im Anfangsstadium des Plural-Lernens ist es m.E. relativ plausibel, von „Regeln“ auszugehen, die sich ausschliesslich an „externen“ Struktureigen-schaften der Lexeme orientieren, wie etwa die äusserst validen – und nicht von lexeminhärenten Eigenschaften abhängigen – Regeln, dass Substantive auf -e ihren Plural auf -en bilden (und zwar unabhängig von ihrem Genus) oder dass Substantive, die auf einen Vollvokal auslauten, einen s-Plural ha-ben. Zudem können auch Analogiebildungen vorkommen, die Lernende auf-grund von bereits bekannten Pluralen lautlich ähnlicher Lexeme machen. Entscheidend könnten sich auch perzeptive Aspekte des Inputs auswirken, wie jene der Frequenz oder der Salienz. Allerdings setzen selbst diese Ver-fahren ein minimales Mass an Lernerwissen über die deutsche Sprache vor-aus.

Bei L2-Lernenden im Schulalter kann davon ausgegangen werden, dass das Konzept „Plural“ keinerlei Schwierigkeit verursacht, sondern bei der Schulreife die begriffliche Unterscheidung zwischen einer Einzahl und einer Vielzahl von Entitäten vorausgesetzt werden kann. Konzeptuell dürfte die nominale Kategorie „Plural“ um einiges einfacher sein als die Kategorien „Genus“ und „Kasus“.

Das lernersprachliche Problem liegt also auf der formalen Seite: Während im (gesprochenen!) Französischen die ausschliesslich externe und im Ver-gleich zum Deutschen weniger ikonisch konstruierte Pluralmarkierung am Artikel den Normalfall darstellt ([la fam] vs. [le fam] ‘die Frau’ vs. ‘die Frauen’), und die wenigen Ausnahmen mit Markierung am Nomen selbst lautlich motiviert sind (auslautendes singularisches [al] hat einen lautlich so-gar weniger umfangreichen und damit der konstruktionellen Ikonizität zuwi-derlaufenden Plural auf [o]!), besteht im Deutschen das ersichtliche Problem, aus einer Reihe von Möglichkeiten den „richtigen“ Pluralmarker zu wählen.

Nicht zu unterschätzen ist für Deutschlerndende das Analyseproblem, das darin besteht, herauszufinden, welche der vorkommenden Input-Formen denn

203

nun als Plurale und welche als Singulare zu betrachten seien, was einmal mehr mit nicht-eindeutigen Plural-Allomorphen in Zusammenhang steht (vgl. Genus, Kasus). Es gilt nämlich folgendes zu beachten: − jedes Pluralallomorph kann auch als „Pseudosuffix“ in Singularformen

vorkommen (Kinder Pl. vs. Lehrer Sg.; Tage Pl. vs Sache Sg.; Birnen Pl. vs. Graben Sg.; Zirkus Sg. vs. Uhus Pl. usw.)

− das Pluralallomorph -n ist homonym mit dem Dativ-Plural-Allomorph (den Freunden).

Es besteht für die Lernenden also ein beträchtliches Analyseproblem gegen-über deutschem Input: Ist die Sache als ‘feminin Singular’ oder als ‘Plural’, Freunden als einfacher ‘Plural’ oder als ‘Plural+Dativ’ zu interpretieren? Dass tatsächlich Analyseschwierigkeiten dieser Art bestehen, bestätigen die folgenden Befunde von „falschen“ Rückschlüssen der Schülerinnen und Schüler, die vor einem bestimmten lernersprachlichen Hintergrundwissen zur Singular-/Pluralopposition durchaus „richtig“ sind: Im gleichen Text finden sich – durchaus der Logik des deutschen Plurals gehorchend – *Grupp (Sg.) und Gruppe (Pl.), aber auch *Gesprach (Sg.) und Gespräche (Pl.). Umge-kehrt werden e-Plurale als singularische Pseudosuffixe interpretiert (*Jahre Sg., *Monate Sg.) und der er-Plural wird wohl dem Wortbildungssuffix gleichgesetzt (*Kinder Sg.)

Genauso wenig wie das Analyseproblem ist das Syntheseproblem zu un-terschätzen, das bei der Sprachproduktion darin besteht, alle relevanten Ka-tegorien „auszubuchstabieren“ (Wegener 1995b). Der Kasus scheint insofern Probleme zu verursachen, als bei den Lernenden höherer Schulklassen Unsi-cherheiten darüber bestehen, welche Stellen im Paradigma überhaupt kasus-markiert sind (vgl. S. 229). Bei einigen -n-Suffixen, die bei Pluralen erschei-nen, könnte es sich um irrtümlich aus dem Singular generalisierte Akkusa-tivmarkierungen handeln. Das wird zumindest in vereinzelten Texten deut-lich, bei denen das gleiche Lexem durch -n im Akkusativ Plural (*Freunden) vom Nominativ Plural (Freunde) unterschieden wird; -n in Akkusativumge-bung ist bei etwas fortgeschritteneren Lernenden also u.U. nicht Plural- son-dern Kasusmarkierung. Bei nicht-zielsprachlichen n-Suffixen im Plural muss zudem damit gerechnet werden, dass der Ausgangspunkt für die Pluralbildung auch korrekte Dativformen sein könnten, die aber aus dem Input nicht als solche analysiert werden (Freunden „extrahiert“ aus häufigen Syntagmen wie mit meinen Freunden). Das bedeutet, dass formal korrekte Dativformen ohne gleichzeitige Belege anderer Pluralstellen keineswegs auf die richtige Pluralbildung schliessen lassen.

Im gesteuerten Unterricht wird die richtige Pluralselektion dadurch in-struiert, dass den Schülerinnen und Schülern in den Lehrmitteln Wörterlisten zur Verfügung stehen, in denen bei Nomen neben dem Genus auch die Plu-

204

ralbildung verzeichnet ist. Das Auftreten von singularischen und pluralischen Formen in Wortschatzverzeichnissen und in Lernertexten garantiert jedoch nicht automatisch deren zielsprachliche Aneignung. Eigentliche Pluralregeln werden im Unterricht nicht instruiert, d. h. wir haben mit der Herausbildung allfälliger Pluralregeln ein Beispiel für implizites Regellernen. Was den Input von Pluralformen betrifft, anhand derer die Schülerinnen und Schüler allen-falls Regeln herausbilden können, so begegnen die Lernenden in den ersten drei Unterrichtsjahren im „Cours romand“ 37 verschiedenen – und wohl oft unanalysierten – pluralischen Types,95 die sich auf die folgenden Plural-marker verteilen: -(e)n (U)/-e (U)/-0 (U)/-er -s andere Total 4. Kl. 9 2 4 1 16 5. Kl. 6 2 1 1 10 6. Kl. 5 2 1 1 2 11 Total 20 6 5 2 2 2 37

U = Umlaut Tab. 34: Pluralmarker im lernersprachlichen Input der 4. bis 6. Klasse Die Tabellierung zeigt eine überaus deutliche quantitative Vorrangstellung der -(e)n-Plurale im mutmasslichen Input der Anfängerinnen und Anfänger. 5.4.3 Die Pluralallomorphe in den Lernertexten Welche Aussagekraft hat das vorliegende Material für die Frage der Plural-bildung im gesteuerten L2-Erwerb? Die hier belegten Pluralbildungen können keineswegs „beweisen“, ob die Kinder und Jugendlichen über Pluralregeln verfügen, oder ob sie die Plurale mit Hilfe auswendig gelernter Formen „lexikalisch“ oder über lautliche Analogien zu bereits bekannten Lexemen setzen. Das Vorhandensein von lernersprachlichen Pluralregeln kann – wenn überhaupt96 – nur anhand von Kunstwörtern nachgewiesen werden.

Was die vorliegenden Plurale bei Substantiven in authentischen Texten betrifft, so kann erstens eine Bestandesaufnahme gemacht werden zu den _______________

95 Es ist natürlich keineswegs ausgeschlossen, dass die Schülerinnen und Schüler im

Unterricht nicht weiteren Pluralformen begegnen, die über die Vorgaben des Lehrmittels hinausgehen.

96 Ernstzunehmende Kritik gegen die Kunstwort-Experimente fomulieren Häcki Bu-hofer u.a. (1998: 94), die zu bedenken geben, dass auch in diesem Kontext nicht mit Sicherheit tatsächlich Pluralregeln nachgewiesen werden können, weil die Testpersonen auch eine Analogie-Strategie anwenden könnten, wonach den Kunstwörtern ein Plural nach lautlich ähnlichen Wörtern zugewiesen würde.

205

quantitativen Dimensionen richtiger und falscher Pluralzuweisungen. Anhand dieser Zuweisungen kann zudem festgestellt werden, welche Pluralformen in authentischen, inhaltsorientierten Texten vorzugsweise erscheinen und generalisiert werden, ohne dass aber für die so ermittelten Lernerverfahren unumstössliche psycholinguistische Erklärungen gegeben werden können.

Die Ergebnisse können zudem verglichen werden mit jenen, die Mugdan (1977), Köpcke (1987) und Häcki Buhofer u.a. (1998) in anderen Untersu-chungen zu ebenfalls authentischen Nomen ermittelt haben.

5.4.3.1 Zur Materialauswertung

Wie kann man das Vorkommen von Pluralallomorphen in lernersprachlichen Texten überhaupt nachweisen? Streng genommen sind bei jeglichem Auftre-ten eines Nomens Interpretationsprozeduren nötig. Da beispielsweise immer in Betracht gezogen werden muss, dass einem Substantiv das Nullallomorph als Pluralmarkierung zugeordnet wird, sind auch alle Substantive, die formal einem deutschen Singular entsprechen, darauf hin durchzusehen, ob der Kontext (wie zum Beispiel die Verbkongruenz) Indizien für inhaltliche Ein-zahl/Vielzahl hergibt. Umgekehrt sind formal „korrekte“ Plurale keineswegs zwingend als Plurale aufzufassen, weil lernersprachlich falsche Analysen des Inputs (siehe oben) vorliegen können. Der klärende Idealfall, dass nämlich zur Beurteilung der Pluralformen im gleichen Text auch die entsprechenden Singularformen mit den zugehörigen Genuszuweisungen belegt wären, liegt nur ausnahmsweise vor, so dass auch die möglicherweise genusabhängige Herausbildung von Pluralregeln der Beobachtung nicht zugänglich ist.

Die folgenden Tabellierungen enthalten aus den erläuterten Gründen nur die identifizierbaren Pluralbildungen.

Die individuelle quantitative Beleglage für Nominalplurale, die sich im Korpus der vorliegenden Untersuchung zeigen, hängt zweifellos vom Lerner-stadium ab (Anfänger/innen schreiben wenig und gebrauchen folglich auch wenig Nomen), aber nicht ausschliesslich: entscheidend ist auch der proposi-tionale Gehalt des geplanten Textes. So kann es Texte (auch bei Fortge-schrittenen) geben, die keine Plurale nötig machen. Die Plurale, die erschei-nen, können von Text zu Text und von Individuum zu Individuum andere Nomen betreffen, was die Vergleichbarkeit der Daten einschränkt und Aus-sagen über die Progression im Bereich der Pluralmarkierung erheblich ein-schränkt (vgl. Entsprechendes zur Beleglage hinsichtlich Genus und Kasus).

206

5.4.3.2 Ergebnisse

Zur Pluralbildung sind die Texte von 121 Testpersonen untersucht worden, bei denen 2341 Plurale belegt sind. Hinsichtlich des Gesamterscheinungsbil-des dieser nominalen Plurale können nun die folgenden allgemeinen Fest-stellungen gemacht werden:

Der formalen Herausforderung sind die Schülerinnen und Schüler insofern gewachsen, als sie von Beginn weg Plurale mit verschiedenen Endungen realisieren (z. B. Sophie V 4/5, 1 Jahrs; 4/5, 3 Birnen; 4/5, 5 Eier; 4/5, 7 Jahre, Kinder; 4/5, 8 Bananen, Äpfel). Diese Tatsache erstaunt kaum, wenn man bedenkt, dass die Lernenden schon im ersten Jahr Deutsch mit formal verschiedenen deutschen Pluralallomorphen konfrontiert werden, die sie zweifellos auch (unter Umständen unanalysiert) memorisieren können. Dass diese Schülerin und ein weiterer Schüler der 5. Klasse abweichende Plurale mit einem -s-Allomorph bilden, kann diese Hypothese eines lexikalischen Lernens meines Erachtens nur stützen: Jene Plurale, die „ganzheitlich“ gelernt worden sind, realisieren sie fehlerfrei. Was neue Bildungen betrifft, scheinen sie dagegen noch nicht in der Lage zu sein, aus dem Input ein deutsches Pluralallomorph zu extrahieren, und sie transferieren bei „unbekannten Pluralen“ das (schriftliche!) französische Pluralallomorph (tatsächlich gibt es bis zu diesem Zeitpunkt keinen Beleg für den ohnehin seltenen deutschen s-Plural, der als „Pluralvorlage“ hätte dienen können [vgl. auch Tab. 34]; dass eine -s-Defaultform quasi ab ovo generiert wird, ist eher unwahrscheinlich; vgl. auch 5.4.4.2.5).

Die Generalisierungen,97 die sich bei einem Teil der Fortgeschrittenen zei-gen, gehen in der Regel einher mit richtigen nominalen Pluralen, die mit an-deren Allomorphen markiert sind. Eine einzige und damit eindeutige Plural-endung – eine kognitiv ideale morphologische Kodierung also – ist in weni-gen Ausnahmefällen bei eher fortgeschrittenen Testperson ansatzweise belegt (vgl. Beispiel 1, S. 215).

_______________

97 Ich werde im folgenden den Terminus „Generalisierung“ für alle jene Fälle brau-chen, bei denen eine Schülerin oder ein Schüler einen nominalen Plural bildet, der in dieser Form von der Zielsprache abweicht. Eine solche Bildung setzt zwangs-läufig voraus, dass die Lernenden – nach welchen Kriterien auch immer – einer (singularischen) Basisform eine Pluralform zugewiesen haben, und das im Unter-schied zu den richtigen Bildungen, die auch auswendig produziert sein können.

207

lernersprachliches Pluralallomorph

(„)0 („)-e -(e)n („)-er -s anderes Total

zielsprachlich richtig 178

789

634

168 76 7 1852

zielsprachlich falsch %

156 47%

63 7%

269 30%

5 3%

38 33%

0 0%

531 22%

Summe der Plurale 334 852 903 173 114 7 2383 Fehler-Anteil 531= 100%

29%

12%

51%

1%

7%

0%

(121 Testpersonen) Tab. 35: Auftretenshäufigkeit von verschiedenen Pluralflexiven (Tokens) Die Daten aus den Arbeiten von 121 Schüler/innen zeigen, dass rund 78% (vgl. Fehleranteil 22%) aller vorkommenden Pluralformen (Tokens) richtig sind.98 Die Tabelle zeigt ebenfalls, welche Endungen – gemessen an der rich-tigen Zuordnung – häufig falsch verwendet und damit lernersprachlich gene-ralisiert werden: das 0-Allomorph wird dabei anteilsmässig am häufigsten, das er-Allomorph am seltensten bei „falschen“ Substantiven gebraucht. Was den absoluten Anteil an abweichenden Pluralallomorphen betrifft, so gibt es am meisten falsche -(e)n-Bildungen, was einher geht mit der höchsten Fre-quenz dieser Plurale sowohl in der Zielsprache als auch im mutmasslichen lernersprachlichen Input (vgl. Tab. 34).

Eine Interpretation dieses Lernerverhaltens wird versucht, indem zusätz-lich in Betracht gezogen wird, wie sicher die einzelnen Pluralkategorien sind (vgl. Tab. 36) und welche Plurale an Stelle der falschen zielsprachlich vorge-sehen sind (vgl. Tab. 37).

zielsprachliches Pluralallomorph (U)0 (U)-e -(e)n (U)-er -s

Anzahl der Nomen mit Allomorph X in der Zielsprache

232

1074

752

229

84

Anzahl der Nomen mit richtigem lernersprachlichem Pluralallomorph

178

789

634

168

76

Anzahl der Nomen mit falschem lernersprachlichem Pluralallomorph absolut (%)

54 (22%)

285 (27%)

118 (16%)

61 (27%)

8 (9%)

U: Umlaut Tab. 36: Nomen nach zielsprachlichen Pluralallomorphen (Tokens) _______________

98 Häcki Buhofer u.a. (1998: 98) können für den „binnensprachlichen Erwerb“ des

Hochdeutschen durch dialektsprechende Kinder ähnliche Quantitäten feststellen, nämlich für die erste Primarklasse 63%, für die zweite Primarklasse 75% richtige Pluralformen.

208

Die sicherste Zuweisung der Pluralallomorphe erfolgt bei jenen Substantiven, die -s- und -(e)n-Allomorphe verlangen. Diese Sicherheit verträgt sich gut mit dem Sachverhalt, dass gerade für die Zuweisungen dieser beiden Plu-ralallomorphe phonologisch determinierte Regeln mit relativ hoher Validität existieren (siehe oben), ohne dass beim vorliegenden Material natürlich nachgewiesen werden kann, dass die Lernenden tatsächlich nach diesen Plu-ralregeln zuweisen. abweichendes Pluralallomorph

(U)0 (U)-e -(e)n (U)-er -s Total

zielsprachliches Pluralallomorph

(U)0 14 (+/-U) 3 28 9 54

(U)-e 49 22 (+/-U) 192 1 21 285

-(e)n 77 31 4 (+ U) 6 118

(U)-er 8 6 41 4 (+/-U) 2 61

-s 3 1 4 8

anderes 5 5

156 63 269 5 38 531

U: Umlaut Tab. 37: Abweichende Pluralallomorphe (Tokens) und ihre zielsprachlichen

Entsprechungen Die Tab. 37 gibt Hinweise über die „Qualität“ der Abweichungen und kann horizontal und vertikal gelesen werden. Die horizontale Lesart geht von der Perspektive des zielsprachlich vorgesehenen Allomorphs aus und zeigt, wel-che abweichenden Allomorphe an Stelle des zielsprachlich richtigen selegiert werden. Die vertikale Lesart geht vom abweichenden Allomorph aus und er-laubt umgekehrt eine Aussage darüber, welche zielsprachlich richtigen Al-lomorphe bei einem bestimmten abweichenden Allomorph „betroffen“ sind.

Die tabellierten Phänomene werden in den nachfolgenden Abschnitten kommentiert.

5.4.3.2.1 Der 0-Plural bei pseudopluralischen Substantiven?

Von den 156 substantivischen Tokens, deren Plural abweichend von der Zielsprache nicht markiert rsp. das 0-Allomorph zugewiesen wird, weisen 81 und damit mehr als die Hälfte der Substantive ein Pseudosuffix auf, das mit einer deutschen Pluralendung übereinstimmt (in 60 Fällen handelt es sich um Substantive auf -e).

209

Bei individuellen Schülerinnen und Schülern, die eine Generalisierung der 0-Endung zeigen, kann aber in keinem einzigen Fall nachgewiesen werden, dass die falschen 0-Allomorphe ausschliesslich bei Substantiven mit „pluralischer Ausdrucksstruktur“ vorkämen. Da bei 15 von 16 Schülerinnen und Schülern allerdings immer auch falsche 0-Plurale bei Substantiven mit Pseudopluralsuffixen zu finden sind, könnte dieses Vorkommen doch als In-diz dafür gewertet werden, dass die Lernenden über Schemata verfügen, wie deutsche Plurale „aussehen“ und bei entsprechenden Singularformen (wie z. B. die Sache) Analyseschwierigkeiten haben, die sie zu falschen Hypothesen über Singular- und Pluralform verleiten.

0-Abweichungen in der Pluralbildung, die bei Singularen mit einer po-tentiellen „Pluralstruktur“ vorkommen, können also möglicherweise diesen formalen Eigenschaften zugeschrieben werden und mindestens nicht aus-schliesslich Lernerstrategien, die darin bestünden, dass entweder bei unbe-kannten Nomen „sicherheitshalber“ eher keiner als ein falscher Plural gesetzt wird99 oder dass die fast ausschliesslich externe und konstruktionell nicht-ikonische Pluralbildung der L1 auf die L2 übertragen wird.

5.4.3.2.2 Die marginale Rolle der e-Plurale

Im Gegensatz zu den Arbeiten von Köpcke (1987) kann beim vorliegenden Korpus weder davon ausgegangen werden, dass der e-Plural besonders sicher zugewiesen wird (fast ein Viertel der vorgesehenen e-Plurale werden von den Testpersonen anders markiert), noch dass er besonders ausgeprägt generali-siert würde (nur 7% der e-Plurale sind nicht-zielsprachlich). Eine Tendenz zu ausgeprägter Generalisierung wäre von einem Marker aber zu erwarten, der bei Wegener (1995b: 31) (zusammen mit dem dazu komplementär auftreten-den 0-Allomorph) immerhin den Status einer Defaultform für nicht-feminine Nomen hat.100 Der e-Plural scheint am häufigsten dann falsch gesetzt zu wer-den, wenn zielsprachlich -(e)n vorgesehen wäre. Berücksichtigt man gleich-zeitig die Ergebnisse für den -(e)n-Plural (siehe unten) kann dieses Resultat

_______________

99 Im Pluraltest mit Kunstwörtern kann Mugdan (1977) feststellen, dass 75,6% aller Kinder den Nullplural wählen, obwohl dieser in der Testanordnung nur in 23% der Fälle zu erwarten war. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass die Rate der 0-Plu-rale bei Kunstworttests immer höher ausfällt, als mit authentischem Material. Dazu Häcki Buhofer u.a. (1998: 94) in übereinstimmender Interpretation mit Mugdan: „Wir nehmen an, dass es sich bei dieser Tendenz zur Nichtmarkierung um eine Strategie handelt, die generell bei unbekannten Wörtern verfolgt wird.“

100 Im Unterschied zu Bartke (1998) und anderen gehen andere von mehreren De-faultformen aus: „Der Pluralmarker -(e)n stellt für die Feminina, der Pluralmarker -(e) für die Nicht-Feminina und -s schliesslich für die markierten Substantive den Defaultwert dar“ (Wegener 1995b: 31); vgl. auch Neef (1998: 262).

210

als Verunsicherung interpretiert werden, die offenbar zwischen den beiden frequentesten Pluralmarkern eintritt, im vorliegenden Fall aber tendenziell zugunsten des markierteren -(e)n-Plurals entschieden wird. Zur Schwierigkeit der Umlautung vgl. unten.

5.4.3.2.3 Die Übergeneralisierung des -(e)n-Plurals

Übereinstimmend mit allen hier referierten Arbeiten zum Pluralerwerb zeigt sich eine ganz offensichtliche Vorliebe für die Pluralbildung mit -(e)n.101 Wegener (1995a), Köpcke (1987), Bartke (1998) und Häcki Buhofer u.a. (1998) bringen nun diese Tendenz, die sowohl beim L1- als auch beim L2-Erwerb übereinstimmend beobachtet werden kann, mit unterschiedlichen Ei-genschaften dieses Allomorphs in Zusammenhang. Einmal ist der -(e)n-Plural der frequenteste überhaupt102 – es ist also aus der Lernerperspektive sozu-sagen „vernünftig“, bei allfälliger Unsicherheit diesen Marker zu wählen. Dann ist die Reliabilität dieses Allomorphs relativ hoch, das heisst bei der Endung -en bei einem Nomen handelt es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit tatsächlich um einen Plural. Die lautliche Salienz, die sich bei den Plural-markern daran bemisst, ob eine gut perzipierbare Ausdruckseinheit für die Funktion Plural vorkommt, wird von Köpcke und Wegener in bezug auf -en als hoch eingeschätzt, jene von -n dagegen wird bei Wegener abge-schwächt.103 Wegener zieht zusätzlich das Kriterium der Validität heran, das den Gültigkeitsbereich von Regeln meint. Insbesondere für einen Teil der Nomen, nämlich jenen, der den n-Plural bei Nomen auf -e bildet, kann eine überaus hohe Validität attestiert werden, weil dieser Plural dann genusunab-hängig zugewiesen wird. Allerdings – so ist mit Bartke (1998: 53) einzuwen-den – müsste genau diese klare Regel die Lernenden eigentlich davor bewah-ren, das -(e)n-Affix auf andere Kontexte anzuwenden.

_______________

101 Da die Generalisierung bei den untersuchten Testpersonen zwar bevorzugt den -(e)n-Plural betrifft, Generalisierungen anderer Marker aber auch vorkommen, bin ich zumindest vorsichtig hinsichtlich der Schlussfolgerung Clahsens (1997), dass es L1-abhängige Generalisierungen gäbe.

102 Nach Wegener (1995a: 16) werden bei knapp 40% der Tokens des Grundwort-schatzes -(e)n-Plurale zugewiesen, beim Gesamtlexembestand erhöht sich ihr An-teil auf über 50%.

103 Häcki Buhofer u.a. (1998: 100) interpretieren die hohen Generalisierungsraten bei -(e)n im Zusammenhang m Erwerb der Standardsprache ebenfalls mit kognitiven Eigenschaften dieses Markers. Sie gehen davon aus, „dass die Endung -(e)n zentral mit der Vorstellung von der Explizitheit des Hochdeutschen verbunden ist.“

211

5.4.3.2.4 Die „Untergeneralisierung“ des er-Plurals

Der er-Plural ist zwar lautlich salient, er gehört aber zu den wenig frequenten Pluralen und hat überdies den Nachteil, dass er mit dem nominalen Wortbil-dungssuffix -er homonym und damit wenig reliabel ist. Gerade im Schüler-wortschatz kommt diese Endung als Wortbildungssuffix bei Personenbe-zeichnungen sehr häufig vor (vgl. Schüler, Lehrer) und scheint damit an Tauglichkeit für die Pluralbildung einzubüssen. Man kann nämlich aufgrund der quantitativen Verhältnisse von einer eigentlichen „Untergeneralisierung“ des er-Plurals sprechen, der im gesamten Belegmaterial nur bei drei Nomen fälschlicherweise verwendet wird (weitere Abweichungen betreffen den Umlaut), andererseits aber bei 61 Nomen zielsprachlich erwartet werden könnte, die dann jedoch abweichend und zwar meist mit der „idealen“ Plu-ralmarkierung -(e)n realisiert werden. Dass -er von vielen Lernenden wahr-scheinlich nicht als Plural analysiert wird, zeigt sich auch bei den häufigen Verstössen beim Lexem Kind, dessen Plural bei mehreren übereinstimmend als Kindern, in einem Text als Kinders belegt ist – offensichtlich, weil Kinder als Singularform angesetzt wird. Zu beachten ist bei den Pluralen *Kindern und *Kinders, dass ersterer formal dem zielsprachlichen Dativ Plural ent-spricht, die Lernenden sich diesbezüglich also durchaus an einer authenti-schen „Pluralform“ haben orientieren können, während die Morphemkombi-nation -er + s zwar homonym ist mit einem Genitiv Singular (vgl. des Va-ters), jedoch als Plural nicht vorkommt. Im zweiten Fall ist damit eindeutiger von einer „produktiven“ Pluralbildung auszugehen, die offensichtlich nicht durch die Bildung zielsprachlicher Pluralschemata eingeschränkt wird.

Das Ergebnis deckt sich – was die „Untergeneralisierung“ betrifft – mit jenem von Köpcke (1987), aber auch mit jenem von Mugdan (1977), der keinen einzigen Beleg für eine er-Generalisierung hat.

5.4.3.2.5 Die lernersprachlichen s-Plurale für „lexikalische Sonderfälle“

Von den 38 zielsprachlich falschen s-Pluralen sind deren 26 bei „Fremdlexemen“ festzustellen, d. h. hier bei Transfers aus dem Englischen (* friends, *Eis ‘Augen’), bei deutschen Fremdwörtern mit besonderer Laut-struktur (*Museums) oder bei Interlexemen vorkommen, d. h. bei Nomen, die in gleicher oder ähnlicher Form auch in andern Sprachen (u.a. in der L1) exis-tieren (*Monuments, *Situations, *Films). Weil die bei fortgeschritteneren Schülerinnen und Schülern belegten s-Plurale vorzugsweise bei solchen Fremdlexemen und nicht bei autochthon deutschen Lexemen vorkommen, liegt die Vermutung nahe, dass diese Lernenden tatsächlich auf die besondere formale Struktur der Lexeme mit dem s-Allomorph als Defaultform reagieren. Die s-Plurale, die bei autochthonen Substantiven mit wenigen Ausnahmen auf

212

die ganz frühen Lernerphasen beschränkt sind (*hunds, *Bruders, 5/6) haben offensichtlich einen anderen Status: diese sind dort wohl als strategische Transfers aus der Schriftvariante der L1 zu interpretieren, der bei einzelnen Lernenden eintreten kann, wenn der deutsche Plural unbekannt ist. Der s-Marker scheint damit im Laufe des L2-Erwerbs verschiedene Funktionen zu haben und sich erst mit der Zunahme des lernersprachlichen Nominalwortschatzes bei einigen Schülerinnen und Schülern zur Defaultform herauszubilden.

5.4.3.2.6 Bemerkungen zum Umlaut

Jene Pluralbildungen, die nur bezüglich eines vorhandenen oder fehlenden Umlauts von der Zielsprache abweichen, betreffen Nomen, die ihren Plural mit allen Markern, ausser dem -s-Allomorph, bilden. Zielsprachlich abwei-chender Umlaut kommt also sowohl bei umlautlosen -(e)n-Pluralen vor, wie er auch bei immer umlautenden -er-Pluralen fehlen kann. Erwartungsgemäss ist die höchste Abweichungsrate hinsichtlich der Umlautung bei den Allo-morphen 0, -e und -(e)n festzustellen, bei denen die Unsicherheit wohl am grössten ist, weil sie nämlich sowohl mit als auch ohne Umlaut erscheinen können (vgl. die lernersprachlichen Plurale *Bruder, *Hünde, *Blümen).

Was die Umlautung als nicht-redundante, zeichenhafte Pluralmarkierung betrifft (vgl. Mutter/ Mütter), so ist auffällig, dass sich im Gesamtmaterial eher eine Tendenz zur Nicht-Markierung als zur Markierung zeigt.104 Umge-kehrt werden die -e-Plurale eher mit Umlauten übermarkiert. Dieses Ergebnis steht ganz im Gegensatz zu jenem von Köpcke (1987), der eine Tendenz zum Umlaut bei nicht-markierten Pluralen und eine Vermeidung von Umlauten bei bereits markierten Pluralen feststellen kann, was er mit einer Redundanz-steuerung in Zusammenhang bringt, die den Plural insofern optimalisieren soll, als er an einer und genau einer Stelle markiert wird.

_______________

104 Inwiefern hier die französische L1 als Sprache mit dominant nomen-externer Plu-ralmarkierung eine interferierende Rolle spielt, kann nur schwer abgeschätzt, aber immerhin in Erwägung gezogen werden.

213

5.4.3.3 Stufenabhängiges oder individuelles Lernerverhalten?

Im folgenden soll das Augenmerk auf die individuellen Beleglagen hinsicht-lich der Pluralbildung gelegt werden. Die Fragen, die sich nun auf der Ebene der Lernerindividuen stellen und die mit Hilfe der Gesamtdaten nicht beant-wortet werden können, sind die zwei folgenden: − Gibt es individuelle und/oder stufenabhängige Präferenzen für einen oder

mehrere bestimmte Pluralmarker? − Gibt es eine „Entwicklung“ hin zu bestimmten Pluralmarkern? Das Datenmaterial erlaubt folgende Antworten: von den 121 Testpersonen, deren Texte auf die Pluralbildungen hin untersucht worden sind, realisieren 109 Schülerinnen und Schüler abweichende Pluralbildungen und damit Ge-neralisierungen im hier definierten Sinne.

Im Untersuchungszeitraum zeigt sich nun – nach Schulstufe aufgeführt – das folgende Vorkommen von Pluralmarkern in qualitativer und quantitativer Hinsicht: Klasse Anzahl TPs pro Klasse

4/5 3

5/6 2

6/7 2

7/8 3

8/9 10

9/10 18

10/11 40

11/12 22

12/13 21

Total

1 Marker 1 1 3 6 10 6 9 36

2 Marker 1 1 2 3 4 17 11 9 48

3 Marker 1 2 4 7 2 2 18

4 Marker 1 2 3 1 7

Tab. 38: Anzahl generalisierter Pluralmarker im Untersuchungszeitraum nach Klassenstufe

214

Klasse 4/5 5/6 6/7 7/8 8/9 9/10 10/11 11/12 12/13 Total

Anzahl TPs/ Klasse

3 2 2 3 10 18 40 22 21

generalisierte Marker:

0105 3 1 2 4 10

e 1 2 1 1 5

(e)n 1 1 9 4 5 20

s 1 1

0,e 1 1 1 3

0,(e)n 3 2 15 5 7 32

0,s 1 1 1 1 1 5

e,(e)n 1 1 1 3

(e)n,s 1 2 3

(e)n,er 1 1 2

0,e,(e)n 1 1 3 3 1 9

0,e,s 1 1 2

0,(e)n,er 1 1

0,(e)n,s 1 1 1 1 4

e,(e)n,s 1 1 2

0,e,(e)n,s 1 2 3 1 7

Total 2 1 1 3 9 15 38 20 20 109

Tab. 39: Art der generalisierten Pluralmarker im Untersuchungszeitraum nach Klassenstufe

Die aufgeführten Daten legen weder in bezug auf die Quantität noch in bezug auf die Qualität der generalisierten Marker eine klassenstufenabhängige Prä-ferenz nahe. Gerade bei den Schulklassen, die durch viele Testpersonen be-legt sind (9. bis 12. Klasse),106 scheinen sich stufenübergreifend die gleichen Präferenzen zu zeigen (viele Schülerinnen und Schüler, die -(e)n oder -(e)n, 0 generalisieren, dagegen nur vereinzelte, bei denen -er-Generalisierungen nachweisbar sind).107 _______________

105 Hier sollen auch die 0-Plurale als Generalisierungen betrachtet werden, obwohl

nicht entschieden werden kann, ob die Form tatsächlich das Resultat einer 0-Plu-ralmarkierung oder einer fehlenden Pluralisierung ist.

106 Die ungleichmässige Verteilung der Testpersonen ist bedingt durch die Bedürf-nisse der am Projekt beteiligten Genfer Lehrpersonen, die sich vor allem die Do-kumentation des Lernerverhaltens der Schülerinnen und Schüler am Ende der ob-ligatorischen Schulzeit gewünscht haben.

107 Innerhalb der gleichen Arbeit ist durchaus mit Pluralvarianz zu rechnen (z. B. Haare/Haaren).

215

Ein Reflex der hohen Gesamtwerte hinsichtlich der -(e)n-Formen zeigt sich auf individueller Ebene nun darin, dass bei jenem Drittel der Schülerinnen und Schüler, die einen einzigen Marker generalisieren, es sich in über zwei Drittel aller Fälle um den -(e)n-Plural handelt. Wer zwei Marker generalisiert – das sind knapp die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler – benutzt meistens 0 und wiederum -(e)n.

Als Beispiel für eine Schülerin mit 0- und (e)n-Generalisierungen seien die folgenden Daten aus 4 Arbeiten von Céline T C10/11 zur Illustration an-geführt – allerdings mit der Anmerkung, dass ein derart auffälliges Generali-sierungsverhalten, das hier geradezu als ein lernersprachliches Bemühen um eine Pluralregularisierung interpretiert werden kann, nur bei einigen wenigen Schülerinnen und Schülern in dieser Deutlichkeit festgestellt werden kann: Arbeit 1: Palmen, *Fischen, Grilladen, *Fruschten ‘Früchte’, *Fuseen

‘Raketen’, Kometen, Sachen, Bananen, *Kilogrammen, *Freunden, (Kompositum *Milchenstrasse ‘Milchstrasse’)

Arbeit 2: Minuten, *Wolke, *Vögeln Arbeit 3: Damen, Herren, Augen, *Mamouthen ‘Mammute’, *Handen

‘Hände’, Minuten Arbeit 4: Fragen, Menschen Während bei dieser Schülerin fast nur (richtige und falsche) (e)n-Plurale vor-kommen, sind bei anderen Schülerinnen und Schülern (e)n-Generalisierungen festzustellen, die neben richtigen Pluralen mit anderen Markern vorkommen (Michel M ESC12/13: Tagen [Dativ], Sachen, Museen, Spaghettis, Nächte, *Monumenten).

Die Beliebtheit der (e)n-Markierung auf individueller Ebene zeichnet sich in allen Schulstufen deutlich ab und kann bei 85 von 109 Testpersonen nach-gewiesen werden, im Gegensatz etwa zu er-Generalisierungen, die einzig bei 3 Personen nachweisbar sind. Begründungen zum Erscheinungsbild dieser Formen sind in Abschnitt 5.4.4.2.3 versucht worden.

Die vorliegende Untersuchungsanordnung erfasst das Lernerverhalten über einen Untersuchungszeitraum von zwei Jahren, und es lässt sich die Frage stellen, ob Veränderungen, vielleicht sogar solche interindividueller Art, innerhalb dieses Zeitraums nachzuweisen sind. Dazu kann in Überein-stimmung mit den Ergebnissen von Clahsen (1997: 136), der den Pluraler-werb erwachsener Deutschlernender untersucht hat, festgestellt werden: „I found in the longitudinal data investigated here there were no drastic deve-lopmental changes in use of the overregularizations in noun plurals.“ Es sind auch in keiner Weise Veränderungen in den Pluralbildungen festzustellen, etwa in dem Sinne, dass in der ersten Arbeit ein anderer Marker oder eine anderes „Set“ von Markern generalisiert wird als am Schluss. Zu diesen Verläufen lässt sich wie schon zur Wahl der generalisierten Marker feststel-

216

len, dass es hier offenbar individuelle Variation gibt. Es zeichnet sich auf-grund der Texte dieser über hundert Schülerinnen und Schüler ab, dass wir nicht von einem Sachverhalt von der Art ausgehen könnten, dass die Lernen-den zuerst einen bestimmten Pluralmarker X präferieren, später einen Marker Y. So gibt es beispielsweise unabhängig von der Schulklasse Testpersonen, die in der ersten Arbeit 0 generalisieren und in der letzten -(e)n, gleichzeitig aber auch solche, die genau umgekehrt verfahren. Der 0-Plural, von Mugdan (1977) als eine mögliche Strategie zur Vermeidung falscher Plurale interpre-tiert, aber auch als Transfer-Produkt aus der L1 denkbar, kommt in der vier-ten so gut wie in der zwölften Klasse vor. In einigen Klassen sind es die Hälfte, in anderen drei Viertel der untersuchten Schülerinnen und Schüler, bei denen sich überdies keine Veränderung der Pluralmarker innerhalb des Untersuchungszeitraums nachweisen lässt – auch dieses „stabile“ Lernerver-halten scheint nicht an ein bestimmtes Erwerbsstadium gebunden zu sein.

Insgesamt dürfen die Resultate, die sich im vorliegenden Korpus zeigen, als Bestätigung gesehen werden für Ergebnisse, die in anderen Arbeiten zum L2-Erwerb des Plural in authentischen Texten herausgearbeitet worden sind. Sowohl Häcki Buhofer u.a. (1998: 90), als auch andere108 haben diesbezüg-lich nachweisen können, dass der nominale Plural relativ individuell erwor-ben wird und deshalb auch nicht für Sprachstandsbestimmungen herangezo-gen werden kann rsp. werden sollte. Erstaunlicherweise sind nun diese „individualistischen“ Resultate in Bezug auf die Art und Zahl der generali-sierten Pluralmarker nicht nur im L2-Erwerb festzustellen, sondern – wie die jüngsten Untersuchungen (vgl. Gawlitzek-Maiwald 1994, referiert nach Bartke 1998: 56ff.) zeigen – auch im L1-Erwerb. Im Gegensatz zu anderen Bereichen der Grammatik kann hier also weder im L1- noch im L2-Erwerb von interindividuellen Erwerbsphasen ausgegangen werden.

Was den Status der generalisierten Marker betrifft, so kann über Plurale in authentischen Texten nicht entschieden werden, ob ein Teil von ihnen als lernersprachliche Defaultformen zu betrachten sind.

5.4.3.4 Exkurs: Pluralmarker und Kompositionsfuge

Morphologinnen und Morphologen, die entweder dem Ebenenmodell Ki-parskys oder einem Dual-Mechanism-Modell verpflichtet sind, gehen davon aus, dass es qualitativ unterschiedliche Pluralaffixe gibt. Diesen qualitativen Unterschied sieht die Anhängerschaft des Ebenenmodells darin, dass diese Affixe untereinander streng hierarchisiert sind. Unregelmässige Affixe wer-

_______________

108 Vgl. Bartke (1998: 53ff.), die die Arbeiten von Park (1978), Clahsen u.a. (1992), Gawlitzek-Maiwald (1994) zu Pluralbildungen in spontaner, nicht-elizitierter Sprache ausführt.

217

den „zuerst“ zugewiesen, regelmässige im Sinne von Default-Formen nur dann, wenn keine speziellere Form vorgesehen ist. Der qualitative Unter-schied zwischen verschiedenen Affixen und die Reihenfolge der „Abarbeitung“ verschiedener Regeln werden insbesondere daran deutlich, dass in der Komposition zwar die unregelmässigen Plurale im Determinatum erscheinen können (Bücherregal, Seitenzahl), der Defaultplural in dieser Umgebung jedoch ausgeschlossen ist (*Autoswerkstatt). Verschiedene empi-rische Untersuchungen im Bereich des Spracherwerbs aber auch jenem des Dysgrammatismus haben nun nachweisen können, dass die Sprecherinnen und Sprecher tatsächlich eine Unterscheidung zwischen Defaultformen und anderen, weniger regelmässigen Formen machen (wobei es sich interindivi-duell durchaus um unterschiedliche Affixe handeln kann, die diese oder jene Qualität haben).109

Das vorliegende Material eignet sich aus bereits erwähnten Gründen nicht für den Nachweis der Haltbarkeit der einen oder anderen linguistischen Theorie. Da aber lernersprachliche Daten sowohl zur Pluralbildung als auch zur nominalen Komposition vorliegen, soll ein entsprechender Exkurs nicht fehlen, der zumindest das Erscheinungsbild der beiden Phänomene doku-mentieren kann.

Wenn wir davon ausgehen, dass das Affix mit Defaultstatus „zuletzt“ auf-tritt, d. h. immer dann, wenn kein spezielleres Affix vorgesehen ist, so kann dieses Affix nicht gleichzeitig als „Fuge“110 in der „vorgeordneten“ Kompo-sition vorkommen. Auf das vorliegende Material übertragen heisst das also, dass die „falschen“ Pluralmarker – sollte es sich denn um Defaultformen handeln – nicht gleichzeitig „falsche“ Fugen sein dürften. Allerdings sind nun die vorliegenden Daten in mehrfacher Hinsicht in ihrer Erklärungskraft zu relativieren: 1) Es ist nicht entscheidbar, nach welchen Gesichtspunkten die Lernenden

ihre abweichenden Plurale formiert haben. Statt der Anwendung einer Defaultform kommt eine nicht-zielsprachliche Pluralzuweisung z. B. auch auf Grund lautlicher Analogien oder von Frequenzen in Frage.

2) Es gibt keine direkte Gegenüberstellung und damit Vergleichbarkeit von Pluralformen und Fugenformen des gleichen Nomens (z. B. Autos und Auto(s)werkstatt).

3) Es können wiederum nur jene Komposita in Betracht gezogen werden, die nicht-zielsprachlich sind, alle anderen können auswendig gelernt worden sein und eventuell im Hinblick auf ihre morphologische Komplexität lernersprachlich unanalysiert (und damit chunkartig) sein.

_______________

109 Zu Testanordungen, die den Unterschied zwischen Pluralaffixen in Komposita und in Endposition empirisch nachweisen, vgl. Bartke (1998).

110 „Fuge“ wird hier nicht als qualitativer Begriff gebraucht, sondern als Terminus, um die beiden Pluralumgebungen deutlich auseinanderhalten zu können.

218

Vor diesem die Aussagekraft einschränkenden Hintergrund können die fol-genden Feststellungen gemacht werden:

Bei 88 der 121 hinsichtlich der Pluralbildungen untersuchten Schülerinnen und Schülern sind formale Komposita belegt; davon weisen 23 Testpersonen abweichende Nominalkomposita auf, wobei bei 21 gleichzeitig auch abwei-chende Plurale belegt sind. Diese 21 Schülerinnen und Schüler, die sowohl abweichende Plurale als auch abweichende Komposita aufweisen, sind für die Fragestellung qualitativ unterschiedlicher Pluralmarker nun von zentralem Interesse, weil hier zumindest manifest wird, ob die gleichen Affixe zur Pluralisierung und zur Fugenbildung herangezogen werden. Schüler/in generalisierte

Pluralaffixe „Fugenplural“

(1) Sophie R 7/8 0, -e Liebsporte

(2) Yvan B 8/9 0, en Doseöffner, Sonntagsmorgen

(3) Sonia G 9/10 -s Wascheteller, Umzugmann

(4) Nicolas T 9/ESC10 0, en Umzugauto, Umzugmänner

(5) Céline M ESC11/12 0, en Weltschmutzigkeit ‘Umweltverschmutzung’, Spitenname ‘Spitzname’

(6) Nicolas M ESC12/13 en, 0, s Malenbomben?

(7) David B ESC12/13 0, en (Studierenreise) Traumenschule

(8) Laetitia V ESC12/13 0 Südenländer, (Lernenreise)

(9) Claire R ESC12/13 0, en, s Kirchemann, Liebefreund, Liebefreundin

(10) Claudia M ESC12/13

0, en Liebegeschichte

(11) Sandrine G C10/11 0, en Familieleben

(12) Daniella R C10/11 en, 0, s (Essenzimmer), Deutschesvolk

(13) Délphine G C10/11 0, e, n, s Essenzimmer (jedoch Wohnzimmer, Schlafzimmer)

(14) Béatrice D C10/11 0, e, en Kinosfilm

(15) Céline T C10/11 0, en Milchenstrasse

(16) Vanessa P C10/11 n Raumtransport, Raumhaus, Geschichtebücher

(17) Damien C C10/11 e, en, s Windeslärm, Wüstemausen

(18) Frédéric B C11/12 0, en Arbeitort

(19) Cynthia D C11/12 0 Geldehilfen

(20) Silvia A C11/12 en Musiksart

(21) Nicolas F C11/12 en Montagsabend

Tab. 40: Pluralaffixe in Komposita

219

Weil nicht ermittelt werden kann, welcher lernersprachliche Status den ein-zelnen Affixen zukommt, sind hier sowohl die 0-Endungen als auch die ziel-sprachlich nicht-pluralischen s-Affixe mit aufgeführt worden (Montags-abend). Wiederum ist es nicht unproblematisch, den Status der lernersprachli-chen Bildungen bestimmen zu wollen, d. h. nachzuvollziehen, welche lerner-sprachlichen Analysen bei bestimmten Bildungen anzunehmen sind: Liegen bei den Komposita von (9) lernersprachliche 0- oder e-Fugen zugrunde?

Es zeigt sich nun, dass es verschiedene Verfahren hinsichtlich Pluralisie-rung und Komposition gibt.111 Die Daten einiger Schülerinnen und Schüler erwecken tatsächlich den Eindruck, sie würden für den Plural und die Fuge verschiedene Affixe verwenden (z. B. 3, 14, 19, 20), bei anderen scheinen es gerade wieder die gleichen zu sein (z. B. 7, 5, 15), bei dritten lässt sich die Datenlage kaum interpretieren (z. B. 2 und 8: welchen Status hat Dose bzw. Süden in der Lernersprache?).

Als Resultate stehen fest, dass erstens abweichende Komposita ab dem 7. Schuljahr belegt sind, so dass man damit diesen Zeitpunkt ansetzen könnte als frühesten Beginn der produktiven Wortbildung; dass zweitens die Affixe, die von den Lernenden in den Fugen und/oder als Pluralmarker in authentischen Texten erscheinen, individueller Natur zu sein scheinen, deren kognitiver oder linguistischer Status jedoch ungeklärt bleiben muss. 5.4.4 Schluss Wie das Genus (vgl. Kapitel 5.3.1) so ist auch die Pluralzuweisung eine lexeminhärente Eigenschaft des Nomens, die in der Regel nicht oder nicht ausschliesslich mit der Ausdrucksstruktur eines Nomens in direktem Zu-sammenhang steht.

Die Zuweisung des richtigen Pluralmarkers erfolgt nach Gesetzmässig-keiten, die je nach morphologischer Konzeption linguistisch unterschiedlich modelliert werden.

Die Plurale, die von den Schülerinnen und Schülern in der vorliegenden Untersuchung (und damit in einer Situation inhaltsorientierten Schreibens) gebildet werden, sprechen für folgende Sachverhalte: 1) Plurale können – vor allem zu Beginn des gesteuerten L2-Erwerbs – aus-

wendig gelernt werden; die vielen richtigen Plurale im grösseren nomi-nalen Lexikon der Fortgeschritteneren sprechen jedoch dafür, dass neben dem lexikalischen Lernen noch andere Lernerverfahren zum Zug kommen müssen.

_______________

111 Es ist auffällig, dass jene Schülerinnen und Schüler, die sich eigene Kompo-situmsbildungen zutrauen, besonders häufig aus dem Gymnasium sind.

220

2) Abweichende Plurale, die bereits im ersten Jahr des L2-Erwerbs erschei-nen, weisen auf produktive Pluralbildungen hin, die ihrerseits eine ge-wisse lernerseitige Analysefähigkeit voraussetzen.

3) Die Pluralaffixe, die generalisiert werden, legen eine Hierarchie der Marker nahe, die sich weitgehend mit jenen deckt, die in anderen Arbeiten zur Pluralbildung bei authentischen Lexemen in L1 und L2 festgestellt worden sind (hier – gemessen an den absoluten Abweichungszahlen – (e)n > 0 > e > s > er).

4) Die Generalisierungen scheinen in einem Zusammenhang zu stehen mit den Auftretenshäufigkeiten im lernersprachlichen Input einerseits und mit der Validität der Marker andererseits, während die grössere Salienz of-fenbar nur bei der Wahl zwischen dem e- und en-Marker eine Rolle spielt. Dass der nicht-ikonische 0-Marker relativ häufig generalisiert wird, läuft zwar den Erwägungen der Natürlichen Morphologie entgegen, kann aber möglicherweise den besonderen Lernbedingungen (Transfer aus der L1, Vermeidungsstrategie bei unsicherer Pluralbildung, 0-Marker bei „pluralischer Ausdrucksstruktur“) angelastet werden.

5) Der Erwerb des Plurals erfolgt nicht nach allgemeinen Phasen, sondern ist interindividuell unterschiedlich, sowohl was die Zahl der richtigen Plural-bildungen als auch die Art des oder der generalisierten Marker betrifft.

6) Falsche Pluralmarker führen zu einem relativ geringen Abweichungsgrad: insgesamt sind „nur“ etwa zwei von zehn Pluralformen falsch, d. h. die formalen Schwierigkeiten mit der deutschen Nominalflexion gehen zu ei-nem kleinen Teil auf das Konto der Pluralbildung, insbesondere wenn man bedenkt, dass der Grossteil der Nomen singularisch verwendet wird.

221

5.5 „... aber den Deutsch steht katastroffisch“ – Der Erwerb der Kasus in Nominalphrasen

Thérèse Studer

Ich habe einen Diplôme. Jetzt ich bin Deutschlererinne, ich habe eine böse klasse. Ich lerne in die klasse Accusativ und sie nicht verstanden. Das ist Normal. (Anouk W ECG 10/11, 1 „Mein Leben in 5 Jahre“)

Vorbemerkung: Nominalphrasen (NP) und Präpositionalphrasen (PP) werden im Folgenden getrennt behandelt, dies in der Annahme, dass der Kasuserwerb in den beiden Bereichen vermutlich nicht einfach gleich verläuft. Dafür spricht allein schon die Tatsache, dass – was auch ohne genaue Zählung un-mittelbar ersichtlich ist – in den Texten unserer Testpersonen im NP-Bereich Akkusativkontexte gegenüber den Dativkontexten in geradezu erdrückender Überzahl vorhanden sind, während im PP-Bereich Dative mindestens ebenso häufig vorkommen wie Akkusative, und zwar nicht nur pronominal wie in NP, sondern auch – und sogar mehrheitlich – substantivisch. Allerdings gibt es zwischen den beiden Domänen zweifellos Querverbindungen und Wech-selwirkungen, die herausgearbeitet werden müssen. So scheint es etwa wenig wahrscheinlich, dass die systematische Beherrschung von Akkusativ und Dativ bei den sog. Wechselpräpositionen (in, auf usw.) möglich ist, bevor die Unterscheidung zwischen Akkusativ- und Dativobjekt erworben ist. Anderer-seits deutet auch in unserem Material einiges darauf hin, dass der Dativ in den Präpositionalphrasen früher als in den Nominalphrasen erworben wird, wie dies beispielsweise von Heide Wegener für den ungesteuerten L2-Erwerb beobachtet wurde (vgl. Wegener 1994: 355, Anm. 17). Ausserdem stellt sich bereits nach kurzer Beschäftigung mit den Wechselpräpositionen heraus, dass der Kasus hier nur einen Teil des Problems ausmacht, da für die Opposition zwischen lokativer und direktiver Bedeutung auch noch andere sprachliche Mittel zur Verfügung stehen (vgl. in Genf wohnen – nach New York fliegen), deren Verwendung in den DiGS-Texten ebenfalls untersucht werden soll.

222

5.5.1 Zum Kasus in deutschen Nominalphrasen

5.5.1.1 Funktion

Während die Numeri eine klar erkennbare semantische Funktion haben (‘Einheit’ vs. ‘Vielheit’) und die Genera im Gegensatz dazu meistens funkti-onslos sind (Genus als lexikalisches Merkmal des Substantivs), ist die Funk-tion des Kasus in erster Linie syntaktisch, d. h. er drückt die Relationen im Innern des Satzes oder innerhalb gewisser Satzglieder aus. So „dient der Nominativ zusammen mit der Verbkongruenz dazu, das Subjekt zu kodieren, der Akkusativ kodiert das DO, der Dativ das IO112 und der Genitiv das Attri-but, drei adverbalen Kasus steht also ein adnominal gebrauchter gegenüber“ (Wegener 1995b: 120f.).113 Dies gilt für die unmarkierten Verwendungswei-sen der Kasus, von denen gemäss Wegener verschiedene Arten des markier-ten Gebrauchs unterschieden werden müssen. Für den Spracherwerb sind al-lerdings in erster Linie die unmarkierten – prototypischen – Kasus relevant.

Wegener legt nun überzeugend dar, dass gerade in lerntheoretischer Hin-sicht die Auffassung der Government-and-Binding Theory, laut der die Ka-suszuweisung in den meisten Fällen durch die Satzstruktur bestimmt wird (sog. struktureller Kasus), derjenigen der Valenztheorie vorzuziehen sei, wo-nach die Kasus von jedem einzelnen Verb determiniert werden. Das GB-Mo-dell impliziert, dass keineswegs für jedes Verb die Valenzeigenschaften sepa-rat gelernt werden müssen, sondern dass es ausreicht, wenn die Lernenden begreifen, dass die Nominalphrasen – im Normalfall – je nach Satzstruktur ganz bestimmte Kasus zugewiesen bekommen, was zweifellos einen sehr viel geringeren kognitiven Aufwand bedeutet. Die Kasus-Zuweisungsregeln für Nominativ, Akkusativ und Dativ lassen sich – vereinfacht – wie folgt dar-stellen und formulieren (vgl. auch Wegener 1995b: 129): a) Wenn ein Satz nur aus Verb und NP besteht, wird die NP durch INFL (auch I, vgl. engl. inflection) regiert, sie kongruiert mit dem Verb und steht im Nominativ.

_______________

112 DO = direktes Objekt, IO = indirektes Objekt. 113 Ebenso bei Clahsen et al. (1994: 85).

IP

NPnom V

223

b) Wenn in einem Satz zwei NP vorkommen, steht wiederum die durch INFL regierte NP im Nominativ, die andere NP wird durch V regiert, ist also DO und bekommt Akkusativ zugewiesen. c) Treten in einem Satz drei NP auf, so fügt sich zu einem DO ein IO hinzu, das nicht vom Verb direkt, sondern von V' regiert wird und im Dativ stehen muss.

Semantisch entsprechen den drei Kasus bzw. den drei syntaktischen Funktionen – wiederum im unmarkierten Normalfall – die Thetarollen Agens (Subjekt/Nominativ), Thema (DO/Akkusativ), Rezipiens (IO/Dativ).

Es besteht nun kein Zweifel darüber, dass eine überwiegende Mehrzahl der von unseren Testpersonen produzierten Sätze genau diesen prototypischen Strukturen mit den zugehörigen syntaktischen und semantischen Funktionen entsprechen, genauer: den Strukturen a) und b), während die komplexe Struktur c) in den DiGS-Texten ausgesprochen selten vertreten ist.114

Von den fünf markierten Kasusverwendungen, die Wegener diskutiert, sei hier nur der singuläre Dativ erwähnt, da er als einziger für unsere Lernenden _______________

114 Bemerkung zum Genitiv: Unmarkiert ist der Genitiv in seiner attributiven Ver-

wendung, die auch die einzige in den DiGS-Texten belegte ist. Allerdings sind die Vorkommen so spärlich, dass sie im Folgenden nur am Rand berücksichtigt wer-den.

IP

NPnom V''?

NPdat V'

IP

NPakk

NPnom

V

V'

NPakk V

224

eine gewisse Rolle spielt. Es geht um Verben wie helfen, gratulieren, die nur ein Objekt verlangen, das – wider Erwarten – im Dativ steht. In solchen Fäl-len muss tatsächlich das Verb mit seiner Valenz gelernt werden, da hier nicht wie oben ein struktureller, sondern ein lexikalischer Kasus vorliegt.115

5.5.1.2 Zur Kasusmorphologie116

Als Teilbereich des notorisch komplexen Deklinationssystems ist das Kasus-system des Deutschen schwer durchschaubar und stellt somit für die Lernen-den zwangsläufig ein besonderes Problem dar. Folgende Eigenschaften der Kasusmorphologie dürften für den Erwerb nicht eben förderlich sein: − An den Formen der NP, seien diese nun substantivisch oder pronominal,

lässt sich längst nicht immer der Kasus ablesen: ich habe eine Katze, sie helfen uns usw. Diese Tatsache reduziert den eindeutigen Input für die Lernenden in drastischer Weise.

− Die Kasusflexive werden an verschiedenen Stellen der (substantivischen) NP plaziert. Nur selten finden sie sich am Substantiv: Mamas Auto; nor-malerweise wird der Kasus an den Funktoren realisiert: der Mutter, den Hund, dem Kind. Manchmal müssen auch alle Bestandteile einer NP ka-susmarkiert werden: dem Menschen, ihren jungen Hunden vs. ihren jun-gen Hund. Wann was gilt, ist für Lernende mit Sicherheit nicht leicht zu erkennen.

− Für die Kodierung der vier Kasus an den Funktoren stehen sechs Flexive zur Verfügung, nämlich (illustriert an den Determinantien dies- und ein-): dies-er, dies-e, dies-en, dies-em, dies-es, ein-Ø. Zwar erscheint diese An-zahl nicht sonderlich hoch, was – oberflächlich betrachtet – das Lernen ei-gentlich erleichtern sollte. Doch besteht das Problem darin, dass ausser den Formen auf -em, die nur Dativ Singular bedeuten können, alle Flexive mehr als einen Kasus repräsentieren. Z.B. steht, bedingt durch die Fusion von Kasus-, Genus- und Numerusmarkern, den für Akkusativ (Singular, Maskulinum) und Dativ (Plural) oder diese für Nominativ und Akkusativ

_______________

115 Auf die von Wegener ebenfalls diskutierten marginalen bzw. sekundären Verwen-dungen der Kasus, zu denen etwa der Genitiv als Genitivobjekt gehört, braucht hier nicht eingegangen zu werden. Mit Ausnahme von Ausdrücken vom Typ den ganzen Tag und eines Tages, die als Chunks gespeichert werden, spielen sie für den Deutscherwerb unserer Testpersonen – evtl. von vereinzelten Ausnahmen ab-gesehen – keine Rolle.

116 Eine ausführliche Beschreibung der Kasusmorphologie bzw. des Deklinationssy-stems des Deutschen drängt sich nicht auf; sie kann in jeder Grammatik – meist ta-bellenförmig – gefunden werden. Für eine eingehende Diskussion und präzise Analyse der Kasus(-entwicklung) im heutigen Deutsch, vgl. Wegener (1995b: 120ff.).

225

(Singular, Femininum; Plural). Entsprechende Beispiele wären etwa: den Kunden, diese Tulpe bzw. diese Tulpen. Das Beispiel den Kunden zeigt überdies, dass die NP auch als Ganzes nicht unbedingt morphologisch disambiguiert wird.117

− Schliesslich sind die speziellen Regeln für die Adjektivdeklination in komplexen NP zu nennen.118 Zwar lassen auch sie sich – wie die übrigen Deklinationsflexive – problemlos in Tabellenform darstellen, doch kann kein Zweifel darüber bestehen, dass sie die Verarbeitungskapazität vieler Lernender völlig überfordern und ihr Teil zur Undurchsichtigkeit des Sys-tems und speziell der Kasusmorphologie beitragen.

5.5.2 Der Erwerb der Kasus im Unterricht

5.5.2.1 „... und sie nicht verstanden“

Dass der Kasuserwerb119 spät einsetzt und lange dauert, ist ein längst be-kanntes Faktum. Für die von uns untersuchten Schülerinnen und Schüler be-deutet dies konkret Folgendes: Im Genfer Deutschunterricht wird das Kasus-system während der obligatorischen Schulzeit im Verlauf von sechs Jahren Deutschunterricht – ausser von ganz vereinzelten Lernenden – nicht bzw. nur teilweise erworben; und auch am Ende der weiterführenden Schulen (Gymnasium eingeschlossen) nach drei bzw. vier zusätzlichen Schuljahren verfügen längst nicht alle SchülerInnen über das zielsprachliche Drei-Kasus-System (bzw. Vier-Kasus-System) – geschweige denn über die komplette Deklination.

Diesen Erfahrungstatsachen, die Lehrerinnen und Lehrern nur allzu ver-traut sind, entsprechen die Beobachtungen, die im Rahmen des DiGS-Projekts gemacht wurden und die zweifelsfrei zu der Feststellung führen, dass der Kasuserwerb erst dann wirklich beginnt, wenn die Satzmodelle (Verbstellung) _______________

117 Was evtl. dazu führt, dass ein Satz wie sie hilft den Kunden fälschlicherweise als

eine Folge Subjekt + Verb + Akkusativobjekt (Sg.) interpretiert wird. 118 Vgl. dazu Kapitel 5.3.6. 119 Zur Terminologie: Im Gegensatz zu einer – zumindest in Schulen – offenbar recht

verbreiteten Praxis wird im Folgenden terminologisch stets streng zwischen Kasus (Kasussystem, Kasuserwerb) und Deklination (Deklinationssystem, Deklinati-onserwerb) unterschieden. Letztere betrifft das gesamte durch Genus, Numerus, Kasus, Adjektivdeklinationsregeln bestimmte nominale Flexionssystem, ersterer nur den die syntaktischen Funktionen betreffenden Teilbereich davon. Auch in der Schule wäre übrigens die Respektierung dieser terminologischen Trennung wich-tig, könnte sie doch ein erster Schritt in die Richtung des sachlichen Auseinander-haltens von Kasus-, Genus- und Numerusphänomenen und somit die Vorausset-zung für eine gerechtere Fehlerbewertung sein.

226

beinahe vollständig erworben sind und wenn auch der Erwerb der Konjugation recht weit fortgeschritten ist, d. h. Präsens sowie Perfekt ei-nigermassen sicher beherrscht werden.120 Dass im Unterricht die Kasus, d. h. Akkusativ und Dativ – in Nominalphrasen und in Präpositionalphrasen – lange vorher und immer wieder behandelt und geübt werden, vermag daran offensichtlich nichts zu ändern.

5.5.2.2 Hypothese

Auf Grund − der allgemeinen Erkenntnis, die heute als gesichert gelten darf, dass auch

im L2-Erwerb, sei dieser nun ungesteuert oder gesteuert, manche gram-matischen Strukturen in unumstösslicher natürlicher Reihenfolge erworben werden (vgl. dazu v.a. die Untersuchungen zum Erwerb der Verbstellung, z. B. Clahsen/Meisel/Pienemann 1983, Pienemann 1988, Ellis 1989),

− der Arbeiten zum Kasuserwerb in L1, die gezeigt haben, dass deutschler-nende Kinder das Kasussystem ihrer Muttersprache nicht irgendwie, son-dern in geordneter Folge erwerben (vgl. dazu etwa Clahsen 1984a, Mills 1985, Tracy 1986, Clahsen et al. 1994, Stenzel 1994),

− der Untersuchungen von Wegener (1992, 1995b), in denen für den unge-steuerten Erwerb des Deutschen als L2 hinsichtlich der Kasus ebenfalls eine klar erkennbare Abfolge von Erwerbsphasen nachgewiesen wird,

wurde die folgende Hypothese aufgestellt: Der Kasuserwerb erfolgt auch im gesteuerten Deutscherwerb in natürlichen Phasen, die von den Lernenden nacheinander durchlaufen werden müssen. Der Unterricht hat auf die Abfolge der Phasen keinen Einfluss – ebenso wenig wie auf den Moment, wo die echte Auseinandersetzung mit dem Kasus beginnt. 5.5.3 Empirische Untersuchung

5.5.3.1 Ziel der Untersuchung

Es soll ermittelt werden, wie die Lernenden im Laufe ihrer Schulzeit ihr deutsches Kasussystem auf- bzw. ausbauen; oder präziser ausgedrückt: wel-che Phasen des Erwerbs bis zur Etablierung des (mehr oder weniger) ziel-sprachenkonformen Kasussystems durchlaufen werden. Von besonderem Interesse ist dabei auch die Frage, in welcher Relation der Erwerbsprozess zum Unterricht steht.

_______________

120 Vgl. dazu Tab. 55: Erwerbssequenzen.

227

Von den drei Kategorien Numerus, Genus und Kasus ist für frankophone Lernende der Kasus konzeptuell offensichtlich am schwersten zu erfassen. Anders als der Numerus mit seiner eindeutigen semantischen Funktion, an-ders auch als das weitgehend arbiträre Genus drückt der Kasus in erster Linie syntaktische Funktionen aus (daneben im prototypischen Fall auch semanti-sche), und die Frage ist, ob und inwiefern, d. h. mit welcher Differenziertheit, die Lernenden diese Beziehungen erkennen und dann auch markieren. Diese Lernaufgabe erweist sich nun als besonders schwierig, weil im Deutschen die Beziehung zwischen Funktion und Form längst nicht immer offen zu Tage tritt, werden doch die Kasus in vielen Fällen nicht durch spezielle, klar er-kennbare Flexive signalisiert.121 Dass solche Nicht-Eindeutigkeit sich lern-hemmend auswirkt, ist inzwischen längst bekannt.122

5.5.3.2 Das untersuchte Teilkorpus

Insgesamt wurden für die Untersuchung des Kasus in NP 129 Schülerinnen und Schüler berücksichtigt. Die meisten von ihnen haben im Laufe der zweijährigen Testzeit acht Aufsätze geschrieben; von den Maturaklassen ste-hen allerdings nur fünf Texte zur Verfügung, von denen vier in der zwölften Klasse geschrieben wurden, der fünfte als Maturaaufsatz ziemlich genau ein Jahr nach der vierten Arbeit. Nur ganz vereinzelt kommt es vor, dass bei einer TP eine Arbeit fehlt; so verweigerte beispielsweise ein Schüler am Ende der neunten Klasse explizit seine Mitarbeit für den letzten DiGS-Text.

_______________

121 Wegener (1995b: 169) erwähnt, dass Lernende angesichts der sprachlichen Daten im Input sehr wohl die Hypothese aufstellen können, Subjekt und Akkusativobjekt würden im Prinzip gleich markiert, gibt es doch in der gesprochenen Sprache in 10 von 12 Fällen (im Singular) tatsächlich keinen formalen Unterschied. Deutlich verschieden sind nur der/den sowie er/ihn; die Differenz von ein vs. ein’n ist akus-tisch kaum perzipierbar, im Sprachunterricht wird sie allerdings deutlicher, sobald die SchülerInnen mit geschriebenen Texten konfrontiert werden. – Vgl. dazu auch die Darstellung in Diehl (1991: 10f.).

122 Vgl. Slobins Operating Principles E und G (in der Version von 1973), wonach die zugrundeliegenden semantischen Relationen „offen und deutlich markiert“ (1973: 155) und umgekehrt die grammatischen Markierungen „semantisch sinnvoll“ (1973: 162) sein sollten. In der Perspektive der Natürlichen Morphologie wie-derum ist das Kasus- bzw. das gesamte Deklinationssystem des Deutschen weit von der idealen – d. h. natürlichsten und somit vermutlich leichter lernbaren – Symbolisierung entfernt (vgl. dazu Kapitel 5.1). Auf der empirischen Seite spricht für die schwere Lernbarkeit des Systems die Tatsache, dass auch deutsche Kinder die Kasus relativ spät erwerben – etwa im Vergleich zu türkischen Kindern, deren Muttersprache sich durch ein nominales Flexionssystem auszeichnet, das immer wieder als Idealfall der Eineindeutigkeit zwischen Formen und Funktionen ge-nannt wird (vgl. z. B. Wegener 1994: 142).

228

Vertreten sind alle Klassenstufen und alle Schultypen, allerdings nicht gleichmässig. Das hat verschiedene Gründe, die teils durch das vorhandene Material, teils durch bestimmte Untersuchungsinteressen bedingt sind. Zum einen präsentiert sich die Datenlage so, dass die Stufe 12/M (Maturaklassen) bei Abschluss der Datenerhebung nur noch insgesamt 15 TP umfasste; ver-glichen mit den auf den anderen Stufen zur Verfügung stehenden TP ist diese Zahl sehr klein. Zum anderen führten die Interessen und Bedürfnisse der Genfer Lehrerschaft dazu, dass auf die Untersuchung des Erwerbsniveaus an den sog. „Schnittstellen“, d. h. beim Übergang von einem Schultyp zum nächsten, besonderes Gewicht gelegt wurde. Dies erklärt die relativ hohe Zahl (insgesamt 37) von berücksichtigten Testpersonen der Klassenstufen 8/9 und 9/10; mit der neunten Klasse endet die obligatorische Schulzeit, und die SchülerInnen treten in eine der drei weiterführenden Schulen der Sekundar-stufe II über. Aus dem gleichen Grund sind auch die Stufen 5/6 und 6/7 recht gut vertreten, erfolgt mit dem Eintritt in die siebente Klasse doch der Wechsel von der Primarschule in den Cycle d’orientation. Allerdings liegt die Anzahl TP mit 14 längst nicht so hoch wie am Ende der neunten Klasse, was wiederum mit dem Untersuchungsgegenstand zu tun hat. Mehr Lernende zu berücksichtigen, ist nicht nötig, um festzustellen, dass sich im Bereich des Kasus bis zum Ende der sechsten Klasse praktisch nichts tut. Dass die Zahl der ECG-SchülerInnen allgemein hoch ist, hat wiederum mit dem Wunsch nach detaillierter Information seitens der betroffenen Lehrerinnen und Lehrer zu tun.

Die Etablierung der NP-Erwerbsphasen (5.5.3.5) erfolgte auf Grund der Untersuchung von 77 der 129 Schülerinnen und Schüler, die sich ziemlich regelmässig auf alle Klassenstufen und Schultypen verteilen. In die vier Pha-sen eingestuft (Kapitel 5.5.3.7) wurden alle 129 TP; für die Spezialuntersu-chung unter Kapitel 5.5.3.8 wurden 25 Testpersonen aller Stufen ausgewählt.

5.5.3.3 Kriterien für die Auswertung der Texte

Gezählt und zueinander in Beziehung gebracht wurden (wie im ganzen DiGS-Projekt) normgerechte und abweichende Formen. Da es hier um den konzeptuellen Aspekt der Kasuszuweisung geht, ist dabei nicht die morpho-logische Realisierung, sondern richtige bzw. falsche Kasuswahl ausschlagge-bend. Diese ist unter Umständen auch an morphologisch nicht zielsprachen-konformen Flexiven klar zu erkennen. Zum Beispiel lassen sich die Kasus von Formen wie meiner Bruder ist ..., ich mag den Katze und er ist meinen best Freund einwandfrei identifizieren, auch wenn sie – aus unterschiedlichen Gründen – nicht normgerecht sind.

229

Die Untersuchung bleibt auf Nominativ (N), Akkusativ (A) und Dativ (D) begrenzt, d. h. auf die drei adverbalen Kasus. Dagegen wird der Genitiv weit-gehend ausgeklammert, spielt er doch in den DiGS-Texten eine marginale Rolle.123

Des Weiteren beschränkt sich die Untersuchung weitgehend auf Singular-formen, da im Plural sich N und A formal nicht unterscheiden. Immerhin wurden – in der Hoffnung, die geringe Zahl von Dativ-Vorkommen im Sin-gular aufzustocken – die Dativ-Plural-Formen beigezogen, weil bekanntlich hier die A- und D-Form der Determinantien (falls vorhanden) und manchmal auch jene des Substantivs nicht identisch sind: die Tomaten – den Tomaten, die Kinder – den Kindern. Dazu ist allerdings zu sagen, dass sich der Auf-wand kaum lohnte, sind doch Dativkontexte im Plural womöglich noch sel-tener als im Singular. Zwar trifft man bisweilen auf Formen, die so aussehen, als wären sie zielsprachliche Plural-Dative, doch handelt es sich bei diesen -(e)n-Flexiven in Wirklichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit fast immer um Pluralmarker: ich habe grünen Haaren, meinen Freunden sind [...]; selbst eine an sich korrekte Form wie würde ich [...] meinen Eltern helfen ist mög-licherweise gar nicht als D intendiert, sondern ein Zufallstreffer (vgl. dazu auch Kapitel 5.4).

Was die Opposition von N und A im Singular betrifft, so zwingt die sprachliche Realität zu einer weiteren starken Einschränkung, nämlich auf maskuline NP, denn nur hier ist die formale Unterscheidung von A und N überhaupt möglich.124 Wegen Nicht-Eindeutigkeit fallen zahlreiche NP, die gemäss der zielsprachlichen Syntax zweifellos Akkusativobjekte sind, ausser Betracht; es sind dies: feminine und neutrale pronominale NP (sie, das A=N) sowie feminine und neutrale subtantivische NP mit Determinans und/oder Adjektiv (in Liechtenstein habt ihr ein gleiches Fest?); alle substantivischen NP ohne Determinans und ohne (flektiertes) Adjektiv, ob maskulin, feminin oder neutral, (ich möchte nicht apfel rot); alle fehlerhaften NP, wo formal nicht entschieden werden kann, ob ein Genus- oder ein Kasusfehler vorliegt (ich möchte ein anorak) – ausser wenn die Wahrscheinlichkeit, dass es sich

_______________

123 Adverbal – d. h. als Objekt – kommt er nicht vor; attributiv wird er vereinzelt be-reits im CO verwendet (Peters Schwester), daneben findet sich – allerdings auch nicht häufig – die Variante mit von (der Vater von Petra). Nachgestellter Genitiv ist nur bei sehr fortgeschrittenen Lernenden belegt, die das Drei-Kasus-System mit N, A und D beherrschen, allerdings auch da nur selten.

124 Bei der Lektüre der Arbeiten zum Kasuserwerb in L1 kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Schwierigkeit nicht immer gebührend berücksichtigt wird, kommt es doch vor, dass ambige Formen kommentarlos als A interpretiert werden, was sie gewiss in der Sprache sind, jedoch nicht unbedingt in der kindlichen Vorstellung, vgl. z. B. Clahsen (1984a), Tracy (1986).

230

um falsche Kasuswahl und nicht um einen Genusfehler handelt, aus semanti-schen Gründen sehr gross ist (weil sie schon ein Freund hatte).

Für die Opposition zwischen A und D wurden selbstverständlich auch fe-minine und neutrale Syntagmen berücksichtigt (ich helfe meine Mutter vs. ich helfe meiner Mutter), wobei auch hier sich im Prinzip jedes Mal die Frage stellt, ob A=N in der Lernersprache als A intendiert ist, was bei fortgeschrit-tenen Lernenden zutreffen dürfte, oder ob es sich um eine kasusneutrale De-faultform handelt, wie dies bei AnfängerInnen anzunehmen ist.

Für die Ermittlung der Erwerbsphasen wurde nicht zwischen substantivi-schen und pronominalen NP unterschieden. (Vgl. Kapitel 5.5.3.5.5)

Unter bestimmten Umständen und mit der nötigen Vorsicht wurden manchmal auch Präpositionalphrasen herangezogen. So ist z. B. die Verwen-dung des Nominativs in einer PP (der Lastwagen für der Umzug) ein starkes Indiz dafür, dass jemand nur über einen Kasus verfügt (vgl. unten die Phasen I und II); bei sehr fortgeschrittenen Lernenden wiederum ist die – im übrigen seltene – gute Beherrschung der Kasus nach den Wechselpräpositionen125 ein zusätzliches Zeichen für ein sehr weit fortgeschrittenes Stadium (vgl. unten Phase IV).

5.5.3.4 Probleme bei der Ermittlung der Phasen

Ein Problem, das offenbar auch in der L1-Erwerbsforschung zu schaffen macht (vgl. z. B. Clahsen 1984a: 10), ist die verhältnismässig geringe Anzahl von Belegen. Natürlich liegt dies – wie oben diskutiert – zum einen an der beträchtlichen Anzahl von Nominalphrasen, die für unsere Zwecke in Bezug auf den Kasus nicht interpretierbar sind, doch kommen andere Gründe hinzu. Während nämlich normalerweise auch im kürzesten und einfachsten DiGS-Text pro Satz mindestens ein Satzmodell realisiert werden muss und ein Verb konjugiert werden sollte (ob korrekt oder abweichend, tut hier nichts zur Sa-che), trifft Entsprechendes für die NP (und auch die PP) keineswegs zu. Zwar braucht man praktisch in jedem Satz ein Subjekt, doch kann man offensicht-lich mit einem Minimum an Akkusativobjekten auskommen, und Sätze ohne Dativobjekt sind nicht nur in den unteren Klassen der Normalfall. Dass dies so ist, hat verschiedene Gründe: a) der Sprache inhärente, b) individuelle, c) textsortenspezifische.

Zu a): Es gibt im Sprachsystem des Deutschen eine Reihe von Satzbau-plänen, die weder Akkusativ- noch Dativobjekt enthalten und von denen ei-nige in den Texten unserer SchülerInnen besonders oft realisiert werden, z. B. Ich heisse Sophie, ich wohne in Meyrin. Meyrin ist eine Stadt. Was speziell die geringe Anzahl von Dativobjekten betrifft, so muss man unbedingt

_______________

125 Näheres dazu in Kapitel 5.6.

231

bedenken, dass die Anzahl der Akkusativkontexte diejenige der Dativkontex-te nicht nur in den Schüleraufsätzen, sondern überhaupt in allen Arten von deutschen Texten um ein Mehrfaches übersteigt.126

Zu b): Leider ist die Schreibfreudigkeit vieler unserer Testpersonen so ge-ring, dass sie sich hinsichtlich Text- und Satzlänge mit einem absoluten Mi-nimum begnügen. Wer wenig schreibt und dies auch noch mittels kurzer Sätze tut, hat aber wenig Gelegenheit, Akkusativ- oder gar Dativkontexte zu produzieren.

Zu c): Nicht alle Themen gaben gleichermassen Anlass für die Verwen-dung von A bzw. D in Nominalphrasen. So kommen beispielsweise in Texten vom Typ ‘Interview mit einer berühmten Persönlichkeit’ im allgemeinen wenig Objekte, dafür oft umso mehr PP vor.

Angesichts all dieser Einschränkungen ist leicht einzusehen, dass die Da-tenlage im Bereich der Nominalphrasen, wenn es um den Kasus geht, nicht unproblematisch ist. Immerhin werden die Mängel durch die grosse Anzahl von Testpersonen sowie die Anzahl von acht bzw. fünf Arbeiten pro Schüler-In zumindest teilweise wettgemacht. Zwar lässt eine einzelne Arbeit sehr oft keine Schlüsse auf den Erwerbsstand der betreffenden Testperson zu, weil sie zu wenige oder manchmal auch gar keine bzw. keine eindeutigen Nominal-phrasen enthält. Folglich ist die Berücksichtigung mehrerer Arbeiten unab-dingbar, wenn überhaupt irgendwelche schlüssigen Beobachtungen angestellt werden sollen. Und auch so sind manche Ergebnisse mit einem Fragezeichen zu versehen; denn selbst acht Arbeiten reichen keineswegs immer aus, um herauszufinden, ob in den beiden Beobachtungsjahren im Bereich des Kasus eine Entwicklung stattgefunden hat oder nicht, so dass wir uns in einer Reihe von Fällen – die in erster Linie schwächere Lernende betreffen, die zudem wenig schreiben – damit begnügen mussten, zu eruieren, ob überhaupt in ei-nigen ihrer Arbeiten erkennbare Kasus (ausser N) vorkommen und wie sie verwendet werden.

5.5.3.5 Die Erwerbsphasen

Trotz der oben genannten Probleme und Komplikationen konnte für den Er-werb des deutschen Kasussystems eine überindividuelle Entwicklung in vier Phasen ermittelt und damit die unter Kapitel 5.5.2.2 aufgestellte Hypothese bestätigt werden.127 _______________

126 Auch wenn das Verhältnis je nach Textsorte bzw. Autor variiert: Laut Duden

(1984: 634) kommen z. B. in einem Ausschnitt von 1802 Sätzen aus den „Buddenbrooks“ ca. neunmal mehr Akkusativobjekte als Dativobjekte vor; in einer entsprechenden Anzahl von Sätzen aus der Wochenzeitung „Die Zeit“ ist das Verhältnis immer noch ungefähr 5 : 1.

127 Vgl. dazu auch Tab. 55: Erwerbssequenzen.

232

5.5.3.5.1 Phase I: Ein-Kasus-System – nur N-Formen

In dieser Phase werden nur Nominativformen verwendet,128 A- und D-Flexive kommen dagegen nicht vor; der Nominativ steht also als Default-Form129 für alle Strukturpositionen zur Verfügung, wobei einschränkend zu sagen ist, dass es in der Praxis in erster Linie um Subjekt und DO geht, da AnfängerInnen kaum Dativkontexte produzieren.130 Da unsere Testpersonen in der Regel von Anfang an vollständige Sätze bilden, die notwendigerweise ein Subjekt enthalten, und da sie den Substantiven oft auch Determinantien voranstellen,131 werden bereits in dieser Phase neben abweichenden auch zahlreiche Formen produziert, die in Bezug auf den Kasus (N) eindeutig und korrekt markiert sind: (1) Der Hund essen ein Poulet. [...] Der chef essen ein kotelet. [...] Der hund iste

Gipsi. (Sandrine M 5/6, 5) (2) Die Spinne wohnt im das Haus. Sie liebt der Honig. [...] Sie hat ein Freund

Hund. Der Hund humpelt. [...] Sie trinkt der Sirup hunt er trinkt Kaffee hunt Sie bratet der Cervolas. (Audrey P 5/6, 8)

Unter dem Aspekt der Normkonformität ist eine positive Folge der oben dis-kutierten Homonymie von N- und A-Formen, dass die Lernenden auch in dieser frühen Phase, in der sie nur über den Nominativ verfügen, keineswegs immer Fehler machen, wenn sie Nominalphrasen in Akkusativkontexten verwenden. Die Chancen, dass sie es mit einer A=N-Form zu tun haben, ste-hen sogar ausgesprochen gut, denn die Kinder verwenden im Singular natür-lich auch zahlreiche Feminina und Neutra sowie Substantive ohne DET und überdies eine Reihe von Pluralformen, so dass die Syntagmen, in denen A und N zusammenfallen, alles in allem mit Sicherheit eine deutliche Mehrheit ausmachen. Vgl. in Beispiel (1) die Syntagmen ein Poulet, ein kotelet sowie: (3) Ich éssé bananeune. Ich spielé Tenisse. [...] Ich brate servolate. (Audrey P 5/6, 4) Ein Phänomen, das in den Anfangstexten mehrerer SchülerInnen der Klas-senstufe 4/5 zu beobachten ist und das auf den ersten Blick der Auffassung, dass die Kinder zunächst nur über den Nominativ verfügen, zu widerspre-

_______________

128 Selbstverständlich sind auch zahlreiche A=N-Formen belegt, doch werden diese für die Etablierung der Erwerbsphasen nicht berücksichtigt.

129 Wegener (1994: 343) spricht von „unmarkiertem bzw. neutralem Kasus“, Clahsen et al. (1994: 104) von „citation (= nominative) form“.

130 Mit Ausnahme von Ausdrücken wie wie geht es dir, es tut mir leid, die als unana-lysierte Einheiten gelernt werden.

131 Dies im Gegensatz zum L1-Erwerb wie zum ungesteuertem L2-Erwerb.

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chen scheint, bleibt hier noch zu diskutieren. Es gibt in der vierten Klasse in der Tat Kinder, die in ihren allerersten Arbeiten eindeutige Akkusativformen in DO-Position verwenden: (4) Ich habe eine chwester ount einen bruder. Meine chwester heisst Marjorie.

Mein bruder heisst Christophe. Ich habe einen Telefone. Mein Telefonumer ist [...] Ich habe eine Muter. Meine Muter heisst Chantal. Ich habe einen schwiger-fater. Mein schwigerfater heisst Stéphane. Ich habe einen fater. Mein fater heisst Patrice. Ich habe einen Katze ount Ich habe ceinen ount. Ich habe eine Grossmuter. Meine Grossmuter heisst Paullette. Ich habe einen Grossfater. Mein Grossfater heisst Paul. (Sophie V 4/5, 1)

Wenn man diesen Text sowie die zweite und die dritte Arbeit derselben Schülerin liest, könnte man leicht die Überzeugung gewinnen, sie verfüge über ein gut ausgebautes Zwei-Kasus-System, verwendet sie doch Nominativ und Akkusativ systemkonform – was unserer Erwerbsphase III entspräche (s. unten). Nun ist es aber so, dass ab der vierten Arbeit in entsprechenden Kontexten keine A-Formen mehr erscheinen; auch Sophie schreibt dann: (5) Thomas schneidet der Salami. [...] Doggy isst der Poulet. (Sophie V 4/5, 5) Liebst du der Kafé? [...] Hast du der Hund? (dieselbe, 6) Dies lässt sich wohl nur so erklären, dass der Akkusativ in Wirklichkeit nicht erworben war. Dass er dennoch verwendet wurde (was ja nicht abzustreiten ist), muss andere Gründe haben. Vermutlich handelt es sich um einen mo-mentanen Übungseffekt, der aber von kurzer Dauer ist und mit zunehmendem Input völlig verschwindet. Die Schülerin hat also in der vierten Klasse keineswegs den Akkusativ erworben, sondern sich vermutlich das Muster ich habe (c)einen X eingeprägt, in dem sie an Stelle von X Substantive einsetzt, die in ihrer Interimsprache keine Feminina sind (bruder, Telefone, schwiger-fater, fater, Katze, ount, Grossfater); Feminina (eine Muter, eine Grossmuter) dagegen verwendet sie – normkonform – in der Struktur ich habe eine X.

5.5.3.5.2 Phase II: Ein-Kasus-System – beliebig verteilte N-, A- und D-Formen

Diese zweite Phase ist dadurch charakterisiert, dass N-, A- und bisweilen so-gar D-Morpheme verwendet werden, jedoch ohne dass diese dazu dienen würden, die syntaktischen Funktionen von Subjekt, direktem und indirektem Objekt formal zu differenzieren. Vielmehr sieht es so aus, als ob die Lernen-den entdecken würden, dass es im Deutschen eine ganze Reihe verschiedener Endungen gibt, die an Determinantien (und/oder allenfalls vorhandene Ad-

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jektive) anzuhängen sind, wobei völlig unklar bleibt, was es mit diesen For-men auf sich hat. Aus diesem Grunde ist hier immer noch von einem Ein-Ka-sus-System die Rede.

Lernende, die sich in Phase II befinden, verwenden also – besonders wenn sie bereits in den oberen Klassen sind, oft in kunterbuntem Durcheinander – N/A132 und A/N, ausserdem A/D und D/A und sogar – wenn auch selten – D/A, N/D und D/N. Selbstverständlich gibt es daneben – wenn es der Zufall will – auch korrekte N, A und allenfalls D. Zudem profitieren natürlich auch diese Lernenden von der häufigen Homonymie von A und N. – Ausschlag-gebend für die Einstufung in Phase II sind das gleichzeitige Vorhandensein von N/A einerseits und von A/N in Subjektsposition vor dem finiten Verb andererseits.133 Dagegen sind Verwechslungen von A und D alleine kein Kriterium, da sie auch in der Phase III noch möglich sind.

(6) Der Mann ist nass, weil es so viel regnet. Er hat keinen Regenmantel und sei-

nen Regenschirm ist kaputt. [...] Er hat seiner [K: seinen] Hut zu Hause verges-sen. [...] Er hat der Bus verpassen und er hat leider keinen Geld für telefonieren. [...] Der Igel ist tot, weil der Mann hat er überfahren. (Fanny G 8/9, 3)134

(7) Mein Vater ist in der Schweiz geboren und meine Mutter ist in die Slovaquie geboren. Meine Familie ist in der Schweiz und in der Slovaquie. Meinen Bru-der hat zwei Kinder [...] Ich habe zwei grossmut[unleserlich] aber kein gross-vater. In die Slovaquie habe ich 8 Kusine. [...] Ich habe einen Computer mit 200 games. [...] Ich mache Essen gern. Und früher, mein Vater war einen Koch. (Laurent M 9/ESC10, 1)135

(8) Frau Kurz hatte nicht den Wagen aber sie machte dem Rad. Montag sie Youpi heraus nahm und Youpi lief sehr schnell und Frau Kurz sah ihr nie. [...] Sie fuhr mit dem Bus zu Bahnhof dann sie nahm der Zug. (Lucie T ESC10/11, 7)

Dass in den obigen Beispielen nur ein einziges Mal ein nominativisches Pro-nomen (er) in DO-Position erscheint, ist kein Zufall. Tatsächlich ist dieses Phänomen im ganzen Korpus nur selten belegt, so dass man sich fragen sollte, ob möglicherweise die Kasuswahl bei Pronomina weniger Probleme macht als bei substantivischen NP. Wir werden dieser Frage weiter unten nachgehen (vgl. Kapitel 5.5.3.5.5).

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132 Der Schrägstrich bedeutet ‘an Stelle von, statt’: N/A = N-Form statt A-Form. 133 Zu A/N in anderen Positionen, vgl. Phasen III und IV. 134 seiner (K: seinen) bedeutet, dass -n durch -r ersetzt wurde. 135 Man beachte die Inkonsistenz der Flexive auch in den PP: in der/die Schweiz bzw.

in die/der Slovaquie.

235

5.5.3.5.3 Phase III: Zwei-Kasus-System – mit systematischer Markierung von Subjekt und Objektkasus

Auch in dieser Phase werden N-, A- und (wiederum seltener) D-Morpheme verwendet, jetzt aber mit systematischer Unterscheidung zwischen Casus rectus und Casus obliquus. D. h. die Lernenden erkennen, dass der funktio-nellen syntaktischen Opposition zwischen Subjekt und Objekt eine formale Opposition entspricht. Hingegen bleibt der Unterschied zwischen A und D nach wie vor unklar, so dass immer noch Verwechslungen vorkommen – wobei im Allgemeinen häufiger A für D steht als umgekehrt. N/A gibt es normalerweise nicht mehr, wohl aber – und das mag zunächst erstaunen – A/N, jetzt allerdings nicht mehr in der präverbalen Subjektsposition im Aus-sagesatz; irrtümlicherweise mit A markiert werden v.a. Prädikatsnomina. Zwar findet sich diese Abweichung nicht bei allen Testpersonen der Phase III; sie ist aber doch recht häufig und sollte bei jenen Lernenden, die nicht mehr N statt A verwenden, keinesfalls als schwerwiegend betrachtet werden, im Gegenteil: Die Generalisierung von A kann als ein Zeichen dafür gewertet werden, dass die Lernenden den Akkusativ in seiner Funktion entdeckt ha-ben.136 Ausserdem steht bisweilen das Subjekt in Nebensätzen im Akkusativ, als ob die Tatsache, dass ein Syntagma nicht die erste Stelle im Satz ein-nimmt, ausreichen würde, dass dieses als DO interpretiert wird. Schliesslich ist A statt N auch in Vergleichen belegt, und zwar bei Personalpronomina; in diesen Fällen dürfte Transfer aus der Muttersprache eine Rolle spielen (vgl. Kapitel 5.5.3.5.5). (9) Am Mittwoch sind wir tanzen gegangen. Es war toll. Die Musik gefiel mich

sehr. [...] Dort habe ich einen Mann getroffen. Er war sehr schön und sehr nett. [...] Seitdem ich ihm getroffen habe, war ich sehr glücklich. Zwei Tage später, hat er mich angerufen. Er wollte mich treffen. Ich war sehr glücklich, ich glaubte dass es einen Träum war. [...] Er sagte mir dass er Brad Pitt war. Ich weisste nicht was konnte ich machen. Er sagte mich dass er mich liebt. (Nathalie F ESC10/11, 2)

(10) Dann habe ich den Krieg den Sterne gesehen. Der Film war schlecht, sehr schlecht. Ich glaube, dass der Film die schlechteste von alle war. [...] Um 4h50 ist Julien angekommen. [...] Ich habe ihn einen Franken gegeben, damit er ei-nen bonbon einkaufen kann. (Sébastien B 9/C10, 2)

(11) Aber habe ich den Bus verpasst. [...] Im Krankenhaus habe ich einen „soucoupe“ in der Nacht in dem Himmel gesehen. [...] Am nächsten Tag habe ich mich geduscht. [...] Er hat mich nicht geglaubt. Er hat gesagt, dass ich mich ausruhen musste [...] Glaubst du wie mich? Ich hoffe, dass du wie mich glaubst. [...] Es ist einen Aprilfisch. (Sébastien B 9/C10, 3)

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136 Vgl. dazu die sehr ausführliche Untersuchung von Peter Jordens (1983).

236

(12) Ich mag nicht den Krieg, weil das nicht interessant ist. When ich einen politi-ken Mensch wäre, würde ich [...] Ich denke, dass jeden Mensch könnte ein we-nig Geld geben. [...] Ich möchte, dass jeder Mensch (!) keinen Krieg macht. (Fanny D ESC11/12, 4)

5.5.3.5.4 Phase IV: Drei-Kasus-System – mit systematischer Markierung von Subjekt, Akkusativobjekt und Dativobjekt

In dieser vierten Phase sind N-, A- und D-Formen weitgehend korrekt verteilt – mit Ausnahme von immer noch möglichen A/N (unter den gleichen Bedin-gungen wie in Phase III). Im Gegensatz zu den Akkusativ-NP, die in der sub-stantivischen wie in der pronominalen Variante häufig belegt sind, kommen Dativ-NP fast ausnahmslos pronominal vor. – A an Stelle von D erscheint nur noch in speziellen Fällen, so etwa bei helfen, folgen, drohen, also bei jenen nicht zahlreichen deutschen Verben, die – im Gegensatz zum Normalfall und zu franz. aider, suivre, menacer – nur ein Dativobjekt, jedoch kein Ak-kusativobjekt verlangen. Wenn bei solchen Verben Fehler gemacht werden, so kann das also zwei Gründe haben, die möglicherweise auch zusammen wirken. Einerseits verstossen diese Verben gegen den prototypischen Fall der Satzstruktur mit zwei NP, d. h. der Dativ ist hier nicht strukturell, sondern le-xikalisch bedingt; andererseits kann Transfer aus dem Französischen (das seinerseits an dieser Stelle dem Prototyp entspricht) eine Rolle spielen. Es sei nochmals betont, dass D-Formen auch bei fortgeschrittenen Lernenden all-gemein selten sind, was – wie bereits erwähnt (vgl. Anm. 126) – in erster Li-nie mit strukturellen Eigenschaften des Deutschen und ausserdem wohl auch mit den kommunikativen Bedürfnissen der Schreibenden zu tun hat. Jener Typ von N-A-D-Sätzen, die in der mündlichen Alltagskommunikation relativ häufig sind – gib mir ein Stück Brot, ich bringe dir das Buch mit u.ä. – ist in den Texten unserer SchülerInnen kaum vertreten, eben weil es sich nicht um mündliche Alltagsgespräche handelt. Mitunter kommt es sogar vor, dass SchülerInnen, von denen man auf Grund ihrer Fähigkeiten in den anderen Bereichen (Satzmodelle, Konjugation, Adjektivdeklination usw.) annehmen kann, dass sie sehr wohl die Phase IV erreicht haben, ganz einfach keine Da-tivkontexte und folglich auch keine Dativformen produzieren. – Typische Beispiele für Phase IV sind die folgenden: (13) Romana hat mir nämlich einen guten Eindruck gelasst. So freue ich mich, dich

kennenzulernen. [...] Ich möchten einen Antwort bekommen [...] (Frédéric H C11/12, 3)

(14) Er fragte mich, ob ich Flüchtlinge in meinem Haus zu beherbergen akzeptieren würde. Er warnte mich, dass es gegen das Gesetz war [...] Beschreiben Sie mir, was für ein Erlebnis war es. (derselbe, 6)

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(15) Wir sind nicht gezwungen, einen Kurs den wir nicht mögen zu folgen. (Laure S ESC12/M, 4)

(16) Sie hat nicht einmal die Zeit zu sprechen, dass drei Verbrecher kommen und alle Leute drohen. [...] Die Verbrechen [sic] fängen an, zu lachen und dann, wenn sie sehen, dass die Dame zu ihnen geht, dirigieren sie ihren Revolver zu Frau Kurz. Diese zieht ihren Mantel aus und gibt einen Fusstritt einem den Verbrechen.137 [...] Frau Kurz telephoniert der Polizei [...] (Sophie N C10/11, 7)

(17) Sie hatte einen wollen Hut, einen schwarzen Rock und eine schwarze Jacke. [...] Ich wollte ihr etwas geben [...] Wir könnten auch alte Sachen, so Kleidung, versammeln, um ihnen das geben zu können. [...] Wenn ich das sehe, das lese, so tut meinen Herz weh. (Delphine G C10/11, 5)

Absolute Ausnahmen sind jene Schülerinnen und Schüler, die das deutsche Kasussystem in der Weise beherrschen, dass sie keine A/N-Fehler mehr ma-chen und dass sie auch den lexikalischen Dativ korrekt verwenden. (18) Einer meiner Freunde kümmert sich darum die Aufenthaltbewilligung zu ver-

längern und hatte dabei die kurdischen Flüchtlinge, die den Hungerstreik machten, verteidigt. Sie (zwei kurdische Familien) haben bei mir versteckt ge-wohnt. [...] Jetzt glaube ich, dass es normal ist, verfolgtes Volk zu schützen. Wir können immer Platz finden und [sic] jemandem zu helfen, bis die Lage in seiner Heimat verbessert wird. (Brigitte A C11/12, 6)

Ob in diesen Fällen eine Phase V anzusetzen wäre oder ob eher von einer Differenzierung innerhalb der Phase IV die Rede sein soll, bleibe dahinge-stellt. Die Erwerbssequenzentabelle (vgl. Tab. 55), die als Arbeitsinstrument für die Genfer DeutschlehrerInnen erstellt wurde, enthält allein schon aus praktischen Gründen nur vier Phasen; eine eventuelle Phase V entspricht ganz einfach nicht dem, was bis zur Matura erworben werden kann (abgesehen von den erwähnten seltenen Ausnahmen).

5.5.3.5.5 Exkurs zu den Pronomina

Bisher wurde in dieser Untersuchung nicht nach substantivischen und pro-nominalen NP unterschieden. Dieser Mangel soll nun doch noch behoben werden, denn es spricht einiges dafür, dass die Unterscheidung relevant sein könnte. Zum einen trifft es zu, dass die morphologischen Schwierigkeiten bei den Personalpronomen und den Reflexivpronomen138 erheblich kleiner sind _______________

137 Was den Genitiv betrifft, so scheint die Schülerin durch die in der Tat komplizierte

Struktur überfordert. In der ersten Arbeit schreibt sie dagegen korrekt an die Wände der Geschäfte. Ebenfalls korrekt ist der einzige Genitiv Singular (sogar mit Adjektiv): die Geschichte einer armen Frau (5. Arbeit).

138 Nur diese werden im Folgenden untersucht, da alle andern – Relativ-, Interrogativ-,

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als bei den substantivischen NP, was die Annahme plausibel erscheinen lässt, dass der Kasus bei pronominalen NP möglicherweise früher und schneller gelernt wird als in NP mit Substantivkern. Manche PraktikerInnen halten es denn auch für angezeigt, im Deutschunterricht den Akkusativ und den Dativ jeweils zunächst an Hand der Pronomen einzuführen (vgl. Kwakernaak 1996: 389ff.). Zum andern ist speziell in Bezug auf unsere frankophonen Lernenden hinzuzufügen, dass im Gegensatz zu den substantivischen NP im Bereich der Personalpronomina ja durchaus morphologische Parallelen zwischen den beiden Systemen existieren; insbesondere gibt es im Französischen – aller-dings nur bei den klitischen Pronomen und nur in einem Teil der Fälle – für die Positionen von Subjekt, DO und IO ebenfalls drei verschiedene Formen (il/elle – le/la – lui),139 und es wäre immerhin denkbar, dass dies eine Er-leichterung für den Erwerb der Kasus sein könnte und im Unterricht entspre-chend zu nutzen wäre. Was lassen nun die Ergebnisse der empirischen Unter-suchung in Bezug auf die obigen Annahmen und Feststellungen erkennen?

Als erstes kann festgehalten werden, dass die Lernenden – im Normalfall (zu den Sonderfällen vgl. weiter unten) – von Anfang an keine Probleme mit den Personalpronomina in Subjektsposition haben; d. h. im Gegensatz zu den substantivischen NP findet man niemals A oder D in Subjektsposition, Sätze wie ihn/ihm hat eine Katze sind – von einem speziellen Fall abgesehen (s. weiter unten, S. 241) – nirgends belegt. Umgekehrt kommt es nur äusserst selten vor, dass jemand einen pronominalen Nominativ in A- oder D-Position verwendet (Beispiele S. 240). Dass ich, du, er als Subjekte zu verwenden sind und dass für die Subjektsposition keine anderen Formen in Frage kommen, scheint also – von wenigen Ausnahmen abgesehen – von allem Anfang an klar zu sein.

Wenn wir nun die Verwendung der Pronomina im Verlauf der Schulzeit betrachten, so erweist sich zunächst, dass diese sich in der Primarschule fast ausnahmslos auf den Nominativ beschränkt, was durchaus dem Lehrplan ent-spricht: ich bin ..., ich heisse ..., ich wohne ..., ich gehe ... usw., seltener wo wohnst du, wie alt bist du, hast du ... usw. und er heisst ..., er isst ... usw. Nicht nominativische Pronomen sind nur ganz vereinzelt zu verzeichnen, und zwar in Chunks wit [sic] get es dir, worauf bezeichnenderweise die Antwort Ich es get gut folgt (Nicolas B 4/5) ; sowie – als wörtliches Zitat – dass ich

________________ Demonstrativ-, Possessiv-, Indefinitpronomina – im Korpus allzu selten belegt sind.

139 In der 1. und 2. Person wird dagegen morphologisch nur zwischen Subjekt und Casus obliquus unterschieden: je – me – me, tu – te – te vs. dt. ich – mich – mir, du – dich – dir); die Pluralformen klammern wir auch hier aus. – Die tonischen Pro-nomen haben stets nur eine Form: moi, toi, lui, elle. – Zu der Hypothese, dass es sich bei den Klitika des Französischen in Wirklichkeit nicht um Pronomina – und damit auch nicht um Kasusträger – handelt, sondern um „agreement markers“, vgl. Kaiser (1994) und Stenzel (1996: 1032f.).

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dich besser fressen kan (Esther P 5/6). Ein einziger Schüler (Nicolas B 4/5) schreibt – erstaunlicherweise – in seiner vierten Arbeit ich bade mich und du badest tich?, zwei Sätze, die er selber konstruiert haben muss, da sie im Input in dieser Form nicht vorgekommen sein können.

Doch auch in den Cycle-Texten – und das entspricht nun nicht unbedingt den Erwartungen – sind A-und D-Pronomina alles andere als häufig, obschon sie ab der siebten Klasse intensiv unterrichtet und geübt werden. In Objekts-position (als DO oder IO) – den einzigen Fällen, die Schlüsse auf den Kasus-erwerb zulassen würden – werden sie nur von einigen wenigen Cycle-Schüler-Innen gebraucht, und auch von diesen, selbst wenn sie bereits in Phase III sind, nur selten. – Wenn überhaupt A oder D belegt sind, handelt es sich wiederum um Chunks, und zwar kommen zum bereits genannten wie geht es dir?, das auch hier mehrmals von ich gehe gut, bisweilen allerdings auch von es geht mir gut gefolgt ist, bei einigen TP jetzt auch es tut mir leid und es gefällt mir hinzu. – Nur vereinzelt vertreten sind – in der neunten Klasse, wo sie auch unterrichtet werden – Reflexiva, z.B. muss ich mich (mich später eingefügt!) von meinen Bruder kümmern (Yvan B 8/9, 8). – An diesem Punkt angelangt, lässt sich zusammenfassend also nur sagen, dass die Verwendung der Pronomina in EP und Cycle – mangels Vorkommen – praktisch keine Rückschlüsse auf den Kasuserwerb zulässt. Dass die Lernenden die „einfacheren“ Pronomina häufiger oder gar besser verwenden würden als substantivische NP, davon kann in Wirklichkeit keine Rede sein!

Erst im PO fangen manche LernerInnen an, nicht-nominativische Prono-mina in grösserer Zahl einzusetzen; dabei handelt es sich offensichtlich nur um fortgeschrittenere Lernende. Wer hingegen in Phase I und II ist, begnügt sich – wie im Cycle – weiterhin mit einer minimalen Anzahl Pronomen; es gibt sogar einzelne TP, bei denen in den acht Arbeiten kein einziges Vor-kommen zu verzeichnen ist. Ein Teil der vorhandenen Pronomina entfällt wiederum auf dieselben Chunks wie im Cycle; allerdings passiert es jetzt auch, dass von der einstigen Formel nur noch das semantisch relevante lexi-kalische Material übrig bleibt, so dass man bisweilen auf erstaunliche Wen-dungen stösst: Wie gehten Sie? Ich gehe gut (Francine E ECG10/11, 6). – Auch Strukturtransfer aus der Muttersprache kann offensichtlich eine Rolle spielen, wenn einst gelernte formelhafte Ausdrücke durch eigene Konstruk-tionen ersetzt werden; so schreibt etwa Céline M (ESC 11/12, 2), in deren Texten übrigens auch sonst zahlreiche Transferphänomene zu beobachten sind: ob du dir in america gefällst parallel zu si tu te plais en Amérique (allerdings mit korrekter Stellung des finiten Verbs!). – Auch Reflexiva wer-den von diesen TP nur spärlich verwendet, wobei zumindest in einigen Fällen wohl auch die Frage zu stellen ist, ob es sich nicht auch hier um formelhaft gelernte Einheiten handelt, z. B. ich freue mich. – In den wenigen Kontexten, wo Pronomina als Dativ- oder als Akkusativobjekt eingesetzt werden, kann

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die formale Realisierung – wie erwartbar – ebensogut korrekt wie abweichend sein: kannst du mich schreiben; du hast mir schreiben (Nicolas M ESC 12/M, 2). Sogar N/A und N/D sind – wenn auch selten – belegt: mein Bruder und ich helfen er in seine Beruf (Jeannette C ECG 10/11, 5); sie will er kissen (Sandra M ECG11/12, 5);140 und eine Schülerin weicht auf das Französiche aus: er (lui) hat gesagt, Sie lui hat gesagt (Liliane N ECG10/11, 2). – Damit bestätigt sich, was sich oben bereits abzeichnete: Pronomen werden von An-fängerInnen bzw. von schwachen Lernenden der höheren Klassen wenig ge-braucht.141

Im Gegensatz dazu brauchen fortgeschrittenere Lernende im Allgemeinen deutlich mehr Pronomen in DO- und IO-Kontexten, und hier stellt sich nun heraus, dass in Phase III A- und D-Formen bei den Pronomina ebenso wenig wie bei den substantivischen NP systematisch auseinandergehalten werden; man findet also auch hier A statt D und D statt A, vgl. er mag mich – er gab mich ein Woche ohne Arbeit – und fragt mich – er sagt mir, dass es ihm zu surfen gefällt – er schlagte mich vor – mich bringen in einem Restaurant – ich könnte ihm nie sehen – er sagte mich dass ... (Nathalie F ESC10/11, 6); hat es mich ... geguckt – ich könnte ihm nicht sehen – ich sah ihm – er schaute mich an (Inès I C10/11, 2). – Während also pronominale Subjekte bzw. Formen wie ich, du, er von Beginn an korrekt verwendet werden (s. oben), scheint die Differenzierung von pronominalen A und D innerhalb der obliquen Kasus ebenso problematisch zu sein wie im Falle der substantivi-schen NP, und dies obschon die Morphologie der Pronomina weniger kom-pliziert ist und obschon gewisse Parallelen zum Französischen existieren. – Festzuhalten ist nun auch noch, dass bei reflexiven Verben (die jetzt ebenfalls häufiger auftauchen) fast immer korrekt die Formen mich und dich verwendet werden. Dass anders als bei den Personalpronomina praktisch nie mir bzw. dir belegt ist, hat wohl damit zu tun, dass für die Lernenden als Reflexiva parallel zu sich (zielsprachlich A oder D) von vornherein nur mich und dich in Frage kommen. Eine Schülerin schreibt gar in der gleichen Arbeit ei-nerseits kann ich mich aufregen sowie dass ich mich ... aufregte (mit reflexi-vem mich) und andererseits er aufregte mir sehr. Dass auch Transfer eine

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140 Aus dem Kontext geht unstreitig hervor, dass sie das Subjekt ist. 141 Dies muss zumindest teilweise damit zu tun haben, dass diese LernerInnen ihre

Sätze und Texte meist sehr einfach konstruieren; frappant ist auch die vielfach be-obachtbare Tendenz, substantivische NP zu wiederholen, d. h. sie nicht durch Pro-nomen wieder aufzunehmen. Als typisches Beispiel ein Textausschnitt von Sarah P (ECG10/11, 2): Der Man hat ein Freund eingeladen. Sein Freund war in sein Wohnung um acht Uhr. Er hat brot, butter, fleich und Kartofeln gegessen und wein getrunken. Sein Freund hat discutieren mit der Man. Der Man war in die Kuche, wenn sein Freund hat sein Gewehr genohmen. Sein Freund hat der Man (menacé), weil er hat viele Geld wollten. Sein Freund hat der Man getötet usw.

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Rolle spielen kann, in dem Sinne, dass mich, dich, sich mit me, te, se gleich-gesetzt werden, zeigen besonders deutlich Abweichungen wie die folgenden: ich stehe mich auf, kann ich mich nicht aufwachen u.ä.

Eine auffallende Verwendungsweise von Pronomina, die formal A und – seltener – D zu sein scheinen und die v.a. bei TP der Phasen II und III zu be-obachten ist, sei hier ebenfalls kurz vorgeführt. Sie illustriert, dass die betref-fenden Formen nicht als Kasusformen identifiziert werden, sondern von den Lernenden eine andere Funktion zugewiesen bekommen. Einige Beispiele sind: mir auch ich abe vierzehn Jahre aut (Alexandra M 7/8, 2); mich aus-gehe ich mit ... (Sophie B 9/C10, 2) Sie hat einem Koffer blau. ihn hat die Schuhe brown (Evelyne C, ECG11/12, 4); deine Freunde und mich warten (Fabien F ESC11/12, 2) sowie – in Vergleichen – mein Bruder ist 9 Jahre alt als mich, er ist grösser als mich (Patricia R 8/9, 1); glaubst du wie mich (Sébastien B 9/C10, 2) ich bedauert nicht Italien sprechen als dich (Muriel G C12/M, 3). All diesen Beispielen liegt offenbar eine Analyse zu Grunde, laut der die tonischen Pronomen des Französischen im Deutschen in jedem Falle mit mich, mir, ihn usw. wiederzugeben sind. In Wirklichkeit trifft das nur für einige Kontexte zu, von denen den Lernenden etwa für mich, mit dir u.ä. (franz. pour moi, avec toi) bekannt sind. Daraus scheinen sie nun zu schlies-sen, dass den französischen tonischen moi, toi, lui im Deutschen stets mich oder mir, dich oder dir, ihn oder ihm entsprechen.142

Bei den sehr fortgeschrittenen Lernenden der Phase IV verschwinden der-artige Konstruktionen; und auch sonst haben sie mit den pronominalen A- und D-Objekten so wenig Schwierigkeiten wie mit den substantivischen: ich kenne ihn nicht – wurde ihn sicher nicht leiden können – wurde ich ihn ... schlagen – es geht mir auf die Nerven – ich will ihn sehen, um ihn zu schla-gen, und ... totzumachen – ich strengte mich an, ihn zu trösten – ich sagte ihm, dass – ich sagte noch ihm – ich sagte ihm anzustrengen (C10/11 Olivier M, 4). Abweichungen sind nur noch ausnahmsweise zu verzeichnen, bei Oli-vier M etwa in der siebten Arbeit, wo er neben Frau Kurz fragte ihn, was er wollte auch schreibt hat sie ihn antwortet – ein Fehler, der möglicherweise auf die semantische Nähe der beiden Verben zurückzuführen ist. – Was die einst formelhaft gelernten Ausdrücke anbelangt, so sind verschiedene Phä-nomene zu beobachten: Sie werden einerseits nach wie vor unverändert ge-braucht (wie geht es dir); andererseits werden sie auch in semantischen und syntaktischen Kontexten verwendet, die entsprechende Änderungen der ge-lernten Formel erfordern, z. B. wenn es Dir gefällt (Brigitte A C11/12, 3), dieser Film hat mir gefallen (Laure S ESC 12/M, 1); dass sich die Formel _______________

142 Die französischen Entsprechungen zu den obigen Beispielen lauten: moi aussi j’ai

quatorze ans; moi je sors avec ...; elle a une valise bleue, lui a des chaussures brunes; tes amis et moi attendons; mon frère a 9 ans comme moi; il est plus grand que moi; penses-tu comme moi; je regrette de ne pas parler italien comme toi.

242

manchmal auch als stärker als das strukturelle Wissen erweist, illustriert der folgende Nebensatz von Olivier M (der normalerweise mit der Verbstellung im Nebensatz keine Schwierigkeiten hat): dass es tat ihr leid; und schliesslich geschieht es ab und zu auch bei diesen TP, dass ein Chunk quasi verloren geht und durch eine eigene – z. B. nach dem französischen Modell gebildete – Struktur ersetzt wird, vgl. hier gefalle ich mich.

Das Fazit dieses Exkurses lautet also: Im Nominativ werden Pronomina von allen Lernenden oft und problemlos verwendet; hingegen tauchen akku-sativische und dativische Pronomina in den DiGS-Texten nur bei fortge-schritteneren Lernenden in grösserer Zahl auf; auch scheint der Erwerbsver-lauf weder rascher noch müheloser zu sein als bei den substantivischen NP. Dieses Ergebnis führt unweigerlich zur Frage, ob es unter diesen Umständen überhaupt möglich und sinnvoll ist, die Kasus im Unterricht zunächst an Hand der Pronomen einzuführen und zu üben, wie dies von Erik Kwakernaak und auch von vielen in der Schulpraxis stehenden Lehrerinnen und Lehrern empfohlen wird.

Eine definitive Antwort auf diese Frage kann hier nicht gegeben werden, denn dass unsere SchülerInnen so lange kaum A- und D-Pronomina brauchen, könnte ja auch mit der spezifischen Aufgabe, die sie zu lösen hatten, zu tun haben. Immerhin ist es denkbar, dass sie in anderen Kommunikationssi-tuationen eher Pronomen brauchen, so dass wir auf keinen Fall von vornhe-rein davon abraten möchten, die Kasus über die Pronomina einzuführen – auch dies allerdings erst dann, wenn insbesondere die Satzmodelle weitge-hend erworben sind.

5.5.3.5.6 Diskussion

Wenn eine TP sich in einer bestimmten Phase befindet, bedeutet das nun nicht, dass ausnahmslos alle produzierten Formen der betreffenden Phase entsprechen müssen; in Wirklichkeit kommen auf allen Stufen Flexive vor, die nicht ins Schema passen, was auf verschiedene Ursachen zurückzuführen ist. So haben wir gesehen, dass bei einigen Primarschulkindern in Phase I Akkusativformen belegt sind, die mit Sicherheit nicht als Indiz dafür inter-pretiert werden dürfen, dass der Akkusativ erworben wäre. Die beliebige Verwendung verschiedener Flexive in Phase II führt selbstverständlich dazu, dass manchmal eine A- oder eine D-Form auch normgerecht verwendet wird, ohne dass deswegen die Phase III oder gar IV erreicht wäre. Umgekehrt sind auch fortgeschrittene Lernende nicht vor „Flüchtigkeitsfehlern“ gefeit. So schreibt etwa die oben bereits genannte Brigitte, die gewöhnlich souverän mit allen Kasus (inkl. Genitiv) umgeht, in der dritten Arbeit:

243

(19) Romana [...] hat die Idee gehabt, dass jeder von uns einen Freund von St-Gallen schreibt. (Brigitte A C11/12, 3)

Selbst N/A ist bei fortgeschrittenen Lernenden belegt, und zwar findet man ab und zu ein (bzw. mein, kein u.ä.) an Stelle von einen (bzw. meinen, keinen u.ä.), was mit der schlechten (auditiven) Perzipierbarkeit des Akkusativ-markers -en zu tun haben dürfte. Für diese Erklärung spricht zumindest, dass bei denselben TP andererseits Verwechslungen wie der statt den oder dieser statt diesen, d. h. in Fällen, wo A-Flexiv und N-Flexiv sich deutlich wahr-nehmbar unterscheiden, kaum je zu vermerken sind. – Ebenfalls bei fortge-schrittenen SchülerInnen kann es geschehen, dass sie sich auf besonders komplizierte Konstruktionen einlassen, so dass ihre kognitive Verarbeitungs-fähigkeit überfordert zu sein scheint. Appositionen beispielsweise stehen selbst bei den besten unserer Lernenden immer im Nominativ, wie im fol-genden Satz, der von einer Schülerin stammt, die zweifellos Phase IV erreicht hat:143 (20) [...] und hatte zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. (Sophie N C10/11, 5) Spezieller ist der folgende Fall, der sehr schön erkennen lässt, wie bei einer Schülerin, die ebenfalls in Phase IV ist, so dass sie die verschiedenen Kasus normalerweise beherrscht, die Konzentration auf ein kommunikatives Be-dürfnis, nämlich die explizite Nennung beider Geschlechter, gewissermassen den Blick auf den Akkusativ blockiert. Nicht auszuschliessen ist übrigens auch, dass sie eine oder einer als Chunk gespeichert hat, doch gibt es keine Beweise – weder dafür noch dagegen. (21) Die reichen Leute müssten eine oder einer Obdachlosen144 mitnehmen.

(Christine V ESC10/11, 5) Gerade das letzte Beispiel illustriert, was in Wirklichkeit für alle Formen gilt, die abweichenden wie die korrekten: Es ist prinzipiell nie möglich, festzu-stellen, auf welche Weise und aus welchen Gründen eine bestimmte Form zustande gekommen ist. Was die Ursache/n eines Fehlers ist/sind, aber auch warum eine Form normgerecht produziert wurde, darüber lässt sich letztlich nur spekulieren.

_______________

143 Es sei daran erinnert, dass der Kasus in Appositionen auch muttersprachlichen SprecherInnen bisweilen Probleme macht.

144 Zu der Form Obdachlosen: diese interpretiere ich nicht als Akkusativ. Im selben Text kommt sie noch dreimal vor, allerdings jeweils als Plural. Doch selbst wenn Obdachlosen A sein sollte, bleibt einer als eindeutiger N.

244

Schliesslich soll – wenn auch nur kurz – die Frage diskutiert werden, ob es sich für die LernerInnen bei der Kasuswahl eigentlich um ein funktionales oder um ein morphologisches Problem oder um beides handelt. Vorstellbar ist im Prinzip, dass sie zwar um die Funktion der jeweiligen Satzglieder wis-sen,145 m.a.W. dass sie über die strukturellen Kasus verfügen, jedoch ignorie-ren, wie diese zu markieren sind, so dass die Schwierigkeiten morphologi-scher Art wären.146 Es könnte aber auch sein, dass sie die syntaktischen Funktionen nicht auseinanderhalten und deshalb auch mit der Markierung nicht zurecht kommen können. Es spricht nun, wie es scheint, einiges dafür, dass in Wirklichkeit beide Faktoren eine Rolle spielen, wobei die Position der jeweiligen Nominalphrase im Satz relevant zu sein scheint. In der Tat sieht es so aus, als ob die Lernenden schon früh sehr wohl wüssten, welche NP im Satz das Subjekt ist; dies lässt sich daraus ersehen, dass sie die Verb-konjugation sehr bald stets korrekt nach dem Subjekt richten, auch wenn sie dieses formal als Akkusativ markieren (vgl. etwa das Beispiel (7) Meinen Bruder hat zwei Kinder). M.a.W. die semantische Rolle des Subjekts bzw. seine Position im Strukturbaum ist ihnen klar, so dass sich in diesem Falle wohl folgern lässt, dass es sich bei der Kasuswahl um ein morphologisches Problem handelt. In dieselbe Richtung weist ebenfalls die frühe und prob-lemlose Verwendung der Personalpronomen in Subjektsposition. Und auch von ihrer Muttersprache her ist eigentlich zu erwarten, dass die Kinder wis-sen, welches Syntagma im Satz Subjekt ist. – Demgegenüber ist anzunehmen, dass die Schwierigkeit mit den Prädikatsnomina, wie sie bei manchen TP der Phasen III und IV beobachtet werden kann, funktional ist; d. h. hier wissen die Lernenden tatsächlich lange nicht, welches die Funktion des fraglichen Syntagmas im Satz ist, gehen sie doch offenbar davon aus, dass die zweite NP auch im Falle des Verbs sein die DO-Position einnimmt und folglich im Akkusativ stehen muss.147 – Was die Unterscheidung von A und D anbelangt, kann man sich vorstellen, dass in Phase III, wo A- und D-Flexive nicht systematisch unterschieden werden, tatsächlich zunächst einmal funktional nur Subjekt und Casus obliquus voneinander getrennt werden, so dass die beliebige Verwendung von A und D damit zu tun hätte. Es könnte aber auch sein, dass – zumindest wenn beide Strukturpositionen besetzt sind – in Wirklichkeit die konzeptuelle Differenzierung zwischen DO und IO vorhan-den ist, jedoch ohne die entsprechende formale Realisierung. _______________

145 Damit ist natürlich nicht bewusstes Wissen gemeint. 146 Vgl. die Unterscheidung bei Teresa Parodi (1990: 178): „A distinction has to be

made between case as a phenomenon of government (abstract CASE) and case as a phenomenon of agreement (surface case, case morphology).“

147 Dass dies keine abwegige Analyse ist, zeigt das Schweizerdeutsche, wo in genau dieser Position (bei Pronomen) der Akkusativ verwendet wird: z. B. berndt. es isch ne nid (= es ist ihn nicht) für er ist es nicht.

245

5.5.3.6 Vergleich mit den Phasen im L1-Erwerb und im ungesteuerten L2-Erwerb

In knappster Form lässt sich zusammenfassen, dass der Kasuserwerb im ge-steuerten Deutschunterricht ähnlich verläuft wie in ungesteuerten Erwerbssi-tuationen und wie beim Erwerb des Deutschen als Muttersprache.

Für alle drei Erwerbssituationen gilt, dass der Nominativ zunächst als un-markierte Default-Form in allen Positionen gebraucht wird, dass dann eine erste Differenzierung zwischen Casus rectus und Casus obliquus gemacht wird und dass schliesslich innerhalb des Casus obliquus auch noch Akkusativ und Dativ auseinandergehalten werden. Der Dativ als lexikalischer Kasus er-scheint im L2-Erwerb – ob gesteuert oder nicht – erst spät (Wegener 1994: 351f., 1995b: 133f.), und auch im Erstspracherwerb verwenden die Kinder Verben wie helfen zunächst mit dem Akkusativ (Mills 1985: 184f.). Der Ge-nitiv als Objektkasus ist im natürlichen wie im schulischen Deutscherwerb ir-relevant, und der nachgestellte attributive Genitiv taucht so spät auf, dass er für Untersuchungen zum L1-Erwerb und zum ungesteuerten L2-Erwerb of-fenbar ebenfalls ausser Betracht fällt, während er in den DiGS-Texten bei fortgeschrittenen SchülerInnen immerhin ab und zu vorkommt. Demgegen-über sind überall bereits viel früher vorangestellte Genitive mit -s am Sub-stantiv belegt; und zwar im ungesteuerten Erwerb (L1 und L2) häufig, wäh-rend sie im DiGS-Korpus doch eher selten zu beobachten sind, so dass dazu keine spezielle Untersuchung durchgeführt wurde.

Nun gibt es aber doch auch signifikante Unterschiede: − Als erstes fällt auf, dass bei den DiGS-SchülerInnen am Anfang keine

Phase ohne Kasusmarker zu beobachten ist. Die Kinder verwenden im Gegensatz zu dem, was für den natürlichen Erwerb (L1 und L2) festgestellt wurde, von Anfang an Artikel und auch Pronomina (im Nominativ). Es gibt also im DiGS-Material nur wenige Sätze vom Typ gleich wauwau suche (Clahsen 1984a: 7) oder Katze essen Maus (Wegener 1994: 343). Dass dem so ist, könnte ein Effekt des Unterrichts sein, reproduzieren die Schülerinnen und Schüler doch von Anfang an (wenn auch mit individu-ellen Variationen) das in der Klasse Gehörte, Wiederholte und Geübte – und das sind eben keine subjektlosen Sätze und auch keine reduzierten Nominalphrasen, wie sie im ungesteuerten Erwerb normal sind. Typische erste Sätze unserer Testpersonen sind ich heisse X, mien fateur heisse Y, man (= mein) bruder ist Z, du trinkt cafée (alle aus ersten Arbeiten der vierten Klasse, ca. 2½ Monate nach Beginn des Deutschunterrichts), und – etwas später auch mit definitem Artikel – der Herr iste Napoléon (aus ei-ner vierten Arbeit der vierten Klasse).

− In den Arbeiten zum ungesteuerten Kasuserwerb ist nie die Rede von einer Phase, die der DiGS-Phase II entspräche (Ein-Kasus-System mit beliebig

246

verteilten N-, A- und evtl. D-Formen). Dafür sind mindestens zwei Erklä-rungen denkbar – die sich nicht gegenseitig auszuschliessen brauchen:

a) Die Entwicklung verläuft tatsächlich unterschiedlich; so ist es sehr wohl möglich, dass die durch Schulbuch und Lehrplan vorgegebene einerseits viel zu früh einsetzende und andererseits materiell und zeitlich geballte Behandlung der Deklination148 eine derartige Verwirrung tatsächlich pro-voziert oder zumindest stark begünstigt.

b) Es ist aber auch nicht auszuschliessen, dass die ungleichen Ergebnisse auf eine unterschiedliche Interpretation der Daten zurückzuführen sind, ohne dass in der Realität eine Differenz bestünde. So stuft Wegener (1994: 344/5) eines ihrer Testkinder, das im gleichen Zeitraum sowohl Der Mann will der Junge schlagen mit fehlerhaftem N als auch Wo hast du den Frö-sche gefunden? mit korrektem A produziert, in ihre Erwerbsphase 3 ein, d. h. sie geht davon aus, dass hier bereits ein Zwei-Kasus-System vorliegt, auch wenn noch „Nominativformen statt der Akkusativformen verwendet [werden], der Nominativ also auf den Akkusativ übergeneralisiert“ wird. Nach unseren Kriterien dagegen wäre dasselbe Kind – umso mehr als es zur gleichen Zeit auch A/N in Erstposition braucht (den Mann schlägt den Papa) – noch nicht in die Zwei-Kasus-Phase III einzuordnen, da hier N/A sowie A/N in dieser Position im Prinzip nicht mehr vorkommen dürfen.149

− Im Gegensatz zu manchen Beobachtungen zum L1-Erwerb (vgl. Clahsen 1984a: 12, Tracy 1986: 54)150 und zum L2-Erwerb (Wegener 1994: 348ff.) konnte in Bezug auf die Phase III (Zwei-Kasus-System) keine uneinge-schränkte Vorliebe für den Akkusativ festgestellt werden. Zwar gibt es auch im DiGS-Korpus mehr Akkusative als Dative, und A figuriert häufi-ger an Stelle von D als umgekehrt D an Stelle von A. Letzteres kommt aber durchaus vor; und eine Schülerin hat sogar eine deutliche Präferenz für D-Formen (Sophie B 9/C10). Dass im Normalfall der Akkusativ häufi-ger ist und öfter für D verwendet wird als umgekehrt, ist erwartbar und lässt sich allein schon dadurch erklären, dass der Dativ auch im Input sehr viel seltener ist und sich also gewissermassen weniger aufdrängt als der Akkusativ.

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148 Ab der 7. Klasse werden die SchülerInnen bis zum Ende der 9. Klasse (Ende der obligatorischen Schulzeit) mit A und D, mit Singular und Plural, mit verschiede-nen Pronomina, mit der Adjektivdeklination, ja selbst mit den Subtilitäten der Wechselpräpositionen konfrontiert. Gleichzeitig müssen sie sich ebenfalls mit grossen Bereichen der Verbalflexion sowie mit diversen Satzmodellen auseinan-dersetzen.

149 Es sei daran erinnert, dass es in Wirklichkeit natürlich nicht möglich ist, jemanden auf Grund von drei Sätzen einzustufen.

150 „So far no overgeneralization of datives for accusatives has been reported [...].“ (Tracy 1986: 54)

247

− Ein weiterer Unterschied betrifft die Verwendung von A statt N bei relativ fortgeschrittenen Lernenden (Phasen III und IV). Während das Phänomen im schulischen Erwerb vielfach beobachtet und insbesondere von Peter Jordens 1983 ausführlich beschrieben und analysiert wurde,151 wird es in den Untersuchungen zum natürlichen L1- und L2-Erwerb nicht oder höch-stens am Rande erwähnt. Allerdings meint Jordens (1983: 209), auch in L1 seien genau die gleichen Fehler in den gleichen Positionen zu beobachten, so dass diese Nicht-Übereinstimmung vielleicht eher auf andersgeartete Interessen als auf reelle Unterschiede zurückzuführen ist.

5.5.3.7 Einstufung der Testpersonen – Ergebnisse

5.5.3.7.1 Erwerbsstufen am Ende jeder Klassenstufe

Tab. 41 zeigt, wieviele Schülerinnen und Schüler sich am Ende jeder Klas-senstufe in welcher Phase befinden; in der ersten Spalte ist in Klammer die Gesamtzahl der berücksichtigten Testpersonen angegeben. I I/II 152 II II/III III III/IV IV EP 4 (6) 6 - - - - - EP 5 (13) 13 - - - - - - EP 6 (13) 12 1 - - - - - CO 7 (11) 8 - 3 - - - - CO 8 (13) 1 1 10 - - 1 - CO 9 (37) 4 1 18 3 7 2 2 ECG 10 (16) 10 1 5 - - - ECG 11 (26) 13 3 6 1 3 - - ECG 12 (12) 2 1 4 1 4 - - ESC 10 (10) 3 - 3 1 2 - 1 ESC11 (8) 1 - 3 1 2 - 1 ESC 12(7) - - 3 2 1 - 1 ESC M (6) - - 2 1 2 - 1

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151 Vgl. aber auch Fervers (1983), Diehl (1991), Kwakernaak (1996: 370ff.). 152 I/II bedeutet: Es ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden, ob TP noch in Phase I ist

oder bereits II erreicht hat; für Letzteres sprechen gewisse Anzeichen, doch sind sie nicht eindeutig bzw. zahlreich genug. Analog dazu: II/III bzw. III/IV.

248

I I/II 152 II II/III III III/IV IV C 10 (8) - - - - 3 1 4 C 11 (8) - - - - 2 1 5 C 12 (8) - - 1 - 5 - 2 C M (6) - - 1 1 3 1 - Total TP: 208153 73 8 59 11 34 6 17

Tab. 41: Erwerbsstand – am Ende jeder Klassenstufe Erläuterungen zu Tab. 41: Vorausgeschickt sei, dass weder diese noch die folgenden Tabellen Anspruch auf statistische Gültigkeit erheben können. Nichtsdestoweniger spiegeln sie eine Realität, mit der sich Lehrerinnen und Lehrer tagtäglich auseinandersetzen müssen.

Ausser Zweifel steht, dass alle untersuchten Primarschulkinder (mit einer einzigen Ausnahme in der sechsten Klasse) in der Phase I sind; d. h. sie ver-wenden in allen Kontexten bzw. Strukturpositionen den Nominativ als un-markierten Defaultkasus. Nur scheinbar ein Gegenbeweis sind jene „antrainierten“ Akkusative, die bei einigen Kindern in der vierten Klasse be-obachtet wurden, die aber, wie wir gesehen haben, bestimmt nicht auf ein be-reits erworbenes Zwei-Kasus-System hindeuten, da sie ausnahmslos überall sehr bald verschwinden bzw. durch N ersetzt werden.

Im Cycle d’orientation beginnen die Dinge sich allmählich zu differenzie-ren. Am Ende der siebten Klasse ist die Verschiebung noch wenig spektaku-lär, doch haben immerhin drei Kinder (von 11) jetzt die Phase II erreicht, d. h. sie verwenden andere als N-Flexive; eine deutliche Mehrheit (8 von 11) ist aber immer noch in Phase I. Am Ende der achten Klasse hat sich das Ver-hältnis umgekehrt, jetzt befinden sich die meisten Kinder (10 von 13) in Phase II, zwei sind noch nicht so weit, und eine Schülerin steht kurz vor IV.154 Am Ende der neunten Klasse schliesslich ist zwar immer noch etwa die Hälfte der Testpersonen in Phase II (18 von 37), aber die Anzahl jener, die aus dem Ein-Kasus-System ausgebrochen sind, hat deutlich zugenommen, und nurmehr eine kleine Minderheit steckt nach wie vor in I bzw. I/II.

Wer nun erwartet, die Kompetenzen im Bereich Kasus würden weiterhin regelmässig zunehmen, wie es bis in die neunte Klasse durchaus der Fall war,

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153 Es handelt sich nicht um 208 Individuen, denn viele TP wurden doppelt (d. h. am Ende des 1. und am Ende des 2. Testjahrs) gezählt, da es hier nicht um die Ent-wicklung einzelner Schülerinnen und Schüler, sondern um den Stand am Ende je-der Klassenstufe geht.

154 Als einzige scheint sie tatsächlich in der Lage zu sein, dem Lehrplan zu folgen, d.h. Erklärungen, Regeln usw. in dem Tempo zu integrieren, wie das von der Schule vorgesehen ist. Vgl. auch Kapitel 5.5.3.7.3, S. 257.

249

sieht sich angesichts der Zahlen für die ECG getäuscht. Zehn von sechzehn Testpersonen der zehnten Klasse dieses Schultyps befinden sich in Phase I, und keine einzige ist weiter als II. Auch in der elften Klasse sieht es nicht viel anders aus, wobei hier immerhin vereinzelt auch II/III bzw. III vertreten sind. Und in der zwölften stehen zwar nur noch zwei Schülerinnen (von 12) immer noch ganz am Anfang, doch weiter als III kommt auch hier niemand.

Ein ziemlich anderes Bild zeigen nun aber die Ergebnisse aus ESC und Collège. Auf einen Blick ist zu sehen, dass sich die Ziffern in der Tabelle nach rechts verschieben, m.a.W. dass die Ergebnisse deutlich besser sind. Doch auch zwischen ESC und Collège sind Unterschiede festzustellen: Wäh-rend in der ESC das Gros der SchülerInnen im Bereich II, II/III, III liegt, wo-bei die Leistungen sich von der zehnten Klasse bis zur Maturität kaum unter-scheiden, also in den höheren Klassen nicht besser werden, liegen die Test-personen des Collège mehrheitlich eine ganze Phase weiter vorn, nämlich im Bereich III, III/IV, IV. Bemerkenswert – aber natürlich nicht unbedingt re-präsentativ – ist die Tatsache, dass die sechs MaturandInnen des Collège, von denen niemand in IV einzuordnen ist, weniger gut abschneiden als die Schü-lerInnen der vorangehenden Stufen 10 bis 12.

Die horizontale Lektüre der Tabelle zeigt ebenfalls, dass die Niveauunter-schiede innerhalb einer Klassenstufe zum Teil enorm sind. So umfassen die Stufen CO 9, ESC 10 und ESC 11 jeweils das ganze Spektrum von Phase I bis Phase IV; und sonst sind – ausser in der Primarschule und zu Beginn des Cycle – fast immer drei Phasen vertreten.155 Bei vertikaler Lektüre stellt sich klar dar, dass Phase I in den ersten vier Schuljahren der Normalfall ist, dass es aber auch SchülerInnen gibt, die sich nach sieben, acht und neun Jahren Deutschunterricht immer noch in dieser Phase befinden – dies allerdings nur ausnahmsweise in der ESC und gar nicht im Collège. Phase II wiederum ist ab der siebten Klasse sowohl im Cycle als auch in ECG und ESC so gut ver-treten, dass hier nicht entschieden werden kann, für welche Schulstufe oder welchen Schultyp sie nun als typisch gelten könnte. Was die Phase III betrifft, die man insofern als kritische Phase bezeichnen kann, als sie den Ausbruch aus dem Ein-Kasus-System bedeutet, so lassen die Zahlen erkennen, dass ihr ab Ende der neunten Klasse auf allen Stufen (ausser ECG 10) und in allen drei Schultypen verhältnismässig immerhin so viele TP zuzuzählen sind, dass hier sicher nicht von Ausnahmen die Rede sein kann.156 Demgegenüber _______________

155 Was das für die Realisierung eines binnendifferenzierten Unterrichts bedeutet, den

sich die Genfer Lehrerschaft in den neuen Empfehlungen für den Deutschunter-richt ganz oben auf die Liste der Prioritäten geschrieben hat, lässt sich nur erah-nen.

156 CO9: 10 von 37, ECG11: 4 von 26, ECG12: 5 von 12, ESC10: 3 von 10, ESC11: 3 von 8, ESC12: 3 von 7, ESC M: 3 von 6, C10: 3 von 8, C11: 2 von 8, C12: 5 von 8, C M: 4 von 6 (gezählt wurden II/III und III).

250

scheint Phase IV, d. h. die Beherrschung des Drei-Kasus-Systems, weitgehend dem Collège vorbehalten zu sein. Allerdings sind die Zahlen für Collège und ESC leider so niedrig, dass es sich auch um Zufallsergebnisse handeln könnte. Kein Zufallsergebnis ist aber wohl das völlige Fehlen der Phase IV in ECG.

Stellt man die obigen Ergebnisse den Lehrplänen der verschiedenen Schulstufen gegenüber, so ist Folgendes festzuhalten:

Für die Primarschule sind die Ergebnisse eindeutig, und sie sähen mit Si-cherheit auch bei einer grösseren Anzahl von TP nicht anders aus. Die kind-lichen Kompetenzen im Bereich Kasus und der Lehrplan stimmen vollkom-men miteinander überein. Die Kinder kennen und verwenden nur den Nomi-nativ, der als Defaultform in allen Positionen eingesetzt wird; im Unterricht ist Kasus kein Thema.

Im Cycle d’orientation beginnen die Leistungen der Lernenden und die Lehrplanvorgaben auseinander zu klaffen. Bereits in der siebten Klasse wer-den Akkusativ und Dativ eingeführt.157 In der achten Klasse kommt die Ad-jektivdeklination im Nominativ dazu, in der neunten werden Adjektive dann auch im Akkusativ und Dativ verwendet, so dass am Ende der obligatorischen Schulzeit das deutsche Kasussystem (und gezwungenermassen nicht nur dieses, sondern die gesamte deutsche Deklination) im Prinzip als behandelt und geübt – als „durchgenommen“ – gilt. Was die betroffenen Lehrerinnen und Lehrer wohl am besten wissen, zeigt ein Blick auf Tab. 41: Der Un-terricht bewirkt nicht, dass die Kinder im Laufe der drei Cycle-Jahre das Ka-sussystem zielsprachengemäss ausbauen. Die Realität sieht vielmehr so aus, dass eine deutliche Mehrheit der SchülerInnen bis zum Ende der obligatori-schen Schulzeit nicht aus dem Ein-Kasus-System (Phasen I und II) heraus-findet, dass auf der entgegengesetzten Seite nur vereinzelte Lernende das vom Programm vorgesehene Drei-Kasus-System tatsächlich beherrschen und dass einige (wenige) immerhin über ein Zwei-Kasus-System verfügen.

ECG: Bei vielen SchülerInnen dieses Schultyps kann man sich des Ein-drucks nicht erwehren, dass sie vor den unergründlichen Schwierigkeiten des Deutschen, insbesondere der Nominalflexion, ein für allemal kapituliert ha-ben – und dies vermutlich schon vor längerer Zeit. Zwar werden auch in die-sen Klassen die Kasus wiederholt, erklärt und geübt, doch hilft das offenbar wenig; eine grosse Mehrheit der Lernenden fossilisieren in Phase I oder II.

ESC und Collège: Dass die beobachteten Leistungen in ESC und erst recht im Collège im Allgemeinen deutlich besser sind als in der ECG, steht ausser Zweifel und würde sich auch bei einer grösseren Anzahl von Testpersonen

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157 Und zwar nicht nur als Objekte! Im Bereich PP wird hier bereits die Verwendung von A und D bei den Wechselpräpositionen erklärt und geübt – allerdings, wie man sich denken kann, erfolglos! Vgl. auch 5.6.6.

251

gewiss bestätigen. Nicht nur verfügen manche SchülerInnen bereits zu Beginn der zehnten Klasse über mehr als einen Kasus, sondern es hat zudem den Anschein, dass eine Mehrzahl der Lernenden im Verlauf ihrer ESC- bzw. Collège-Jahre im Kasuserwerb auch weiter kommt. Inwiefern und in welcher Weise der Unterricht dabei eine Rolle spielt, lässt sich nicht genau sagen. Der implizite Input dürfte seinen Anteil an der Entwicklung haben, nimmt er doch in den höheren Klassen, wo vermehrt deutsch gesprochen wird und wo auch deutsche Texte gelesen werden, zweifellos zu; auch expliziter Input (etwa die Wiederholung von bestimmten Bereichen, die die Deklination und speziell die Kasus betreffen) kann sich bei diesen Lernenden positiv auswirken. Auf jeden Fall ist es so, dass sie offenbar jetzt endlich das tun, was man bereits Jahre zuvor im Cycle vergeblich von ihnen verlangt hatte: Sie setzen sich aktiv und auch mit einem gewissen Erfolg mit den Kasus auseinander.

5.5.3.7.2 Erwerbsstand nach der Behandlung der Kasus im Unterricht

Tab. 42 und Tab. 43 fassen die Ergebnisse für all jene Schülerinnen und Schüler zusammen, die das gesamte Kasussystem (bzw. Deklinationssystem) im Unterricht behandelt haben: also Nominativ, Akkusativ und Dativ158 in substantivischen und pronominalen Nominal- und Präpositionalphrasen (inkl. Wechselpräpositionen), differenziert nach Genus und Numerus, sowie die Adjektivdeklination. Es geht darum herauszustellen, welches (im NP-Bereich) das tatsächliche Erwerbsniveau bei jenen LernerInnen ist, die vom Deutschunterricht her das System eigentlich beherrschen sollten. Laut Lehr-plan sollte dieses Niveau am Ende der neunten Klasse erreicht sein, so dass in den beiden Tabellen ab der zehnten Klassse nicht mehr nach Stufen unter-schieden wird. Hingegen wird die Unterscheidung zwischen ECG und ESC/Collège beibehalten, hat doch Tab. 41 bereits deutlich erkennen lassen, dass zwischen den beiden Gruppen grosse Unterschiede bestehen.

Tab. 42 zeigt die Ergebnisse differenziert nach den vier Phasen, während in Tab. 43 nur noch nach Ein-Kasus-System vs. Mehr-Kasus-System unter-schieden wird. Die betreffenden Zahlen lassen nun einige interessante und aussagekräftige Feststellungen zu. Am Ende der neunten Klasse begnügen sich knapp zwei Drittel der Lernenden nach wie vor mit einem Ein-Kasus-System, nur ein gutes Drittel hat die Kasus bzw. den Zusammenhang zwi-schen Funktion und morphologischer Realisierung der NP – zumindest teil-weise – entdeckt. Von den ECG-SchülerInnen verbleiben gar über vier Fünftel im Ein-Kasus-System (Phasen I und II), während die Proportionen in ESC und Collège (zusammengefasst) beinahe umgekehrt sind. Zwar ist hier

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158 Der nachgestellte attributive Genitiv figuriert erst auf den Programmen der 10. Klasse.

252

immer noch ein gutes Viertel der TP nicht über die Phase II hinaus gekom-men, ihnen stehen jedoch die drei Viertel gegenüber, die den entscheidenden Schritt aus dem Ein-Kasus-System heraus getan haben und mindestens über zwei, wenn nicht über drei Kasus verfügen. I I/II II II/III III III/IV IV CO 9 (37) 4 1 18 3 7 2 2 ECG (54) 25 5 15 2 7 - - ESC+C (61) 4 - 13 6 20 3 15 Total TP: 152 33 6 46 11 34 5 17

Tab. 42: Erwerbsstand nach Behandlung im Unterricht – nach Phasen Ein-Kasus-System Mehr-Kasus-System CO 9 (37) 23 (62%) 14 (38%) ECG (54) 45 (83%) 9 (17%) ESC+C (61) 17 (28%) 44 (72%) Total TP: 152 = 100% 85 (56%) 67 (44%)

Tab. 43: Erwerbsstand nach Behandlung im Unterricht – Ein-Kasus-System vs. Mehr-Kasus-System

5.5.3.7.3 Diskussion

Die Ergebnisse lassen keinen Zweifel offen: Dem Lehrplan, der die Behand-lung von Akkusativ und Dativ bereits früh vorschreibt, folgen die allerwenig-sten Lernenden. Welche Faktoren jedoch bewirken, dass manche LernerInnen im Gegensatz zu anderen irgendwann eben doch hinter die Geheimnisse des deutschen Kasussystems kommen, ist nicht leicht ausfindig zu machen. Gemäss unseren Daten kann diese Entwicklung offenbar in der neunten Klasse in Gang kommen – also lange, nachdem im Unterricht mit der Be-handlung der Kasus begonnen wurde. Die Frage ist nun aber, wodurch der Prozess ausgelöst und/oder begünstigt wird. Dazu sollen im Folgenden ein paar Vermutungen und Überlegungen angestellt werden.

Ein Vergleich der Erwerbssequenzen in den drei Bereichen „Konjugation“, „Satzmodelle“ und „Kasus“159 zeigt, dass die entscheidende Kasus-Phase III (Differenzierung nach Casus rectus und Casus obliquus) nur von solchen Lernenden erreicht wird, die in den beiden anderen Bereichen weit fortgeschritten sind, d. h. sie befinden sich in der Satzmodellphase V (Inversion) und in der Konjugationsphase IV (Auxiliar und Partizip).

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159 Vgl. Tab. 55: Erwerbssequenzen.

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Es scheint nun nicht wahrscheinlich, dass es sich bei der Relation zwischen dem Erwerb von Verbstellung bzw. Konjugation einerseits und dem Erwerb der Kasus andererseits, wie sie sich in der Erwerbssequenzentabelle darstellt, um ein rein zufälliges chronologisches Nacheinander handelt. Vielmehr ist anzunehmen, dass es für den späten Kasuserwerb Gründe gibt.

In Bezug auf den ebenfalls relativ spät einsetzenden Kasuserwerb bei Kin-dern mit deutscher Muttersprache hat Harald Clahsen (1984a) die Hypothese aufgestellt, dass zwischen dem Erwerb der Verbzweitstellung bzw. der Inver-sion und dem Auftreten von Kasusflexiven ein systematischer, ursächlicher Zusammenhang bestehe, und zwar meint er, dass vom Moment an, wo die Funktionen von Subjekt und Nicht-Subjekt nicht mehr durch die Wortstellung garantiert seien,160 die Kasusmarkierung zur Disambiguierung ein Bedürfnis werde. Ob die Entwicklung im Bereich der Verbstellung tatsächlich eine derartige Auslöserfunktion hat, ist allerdings fragwürdig. Schon Jürgen Meisel 1986 hält Clahsens Hypothese für nicht haltbar, aus dem einfachen Grund, dass es in der Kindersprache kein funktionales Defizit zu kompensie-ren gebe: „Thus, I maintain that child utterances in their communicative set-tings do not suffer from functional deficiencies which would have to be re-medied by means of additional markings. Moreover, initialized objects – those constructions which are most likely to create confusion in German – are extremely rare during this period of linguistic development. It is, therefore, more than unlikely that they should be of such crucial importance in triggering new developments.“ (Meisel 1986: 174)

Was nun den gesteuerten Deutscherwerb anbelangt, so scheint ein derarti-ger kausaler Zusammenhang zwischen dem mehr oder weniger abgeschlos-senen Erwerb der Inversion und dem Beginn des Kasuserwerbs – in dem Sinne, dass der Erwerb der Inversion den Kasusererwerb notwendigerweise auslösen würde – ebenfalls unwahrscheinlich.

Gegen einen zwingenden Zusammenhang spricht zum Beispiel allein schon die Tatsache, dass – wie Kwakernaak 1996 berichtet – auch niederländische Deutschlernende mit dem Kasuserwerb offenbar spät beginnen und dass sie sich durchaus mit den gleichen Problemen herumschlagen wie unsere frankophonen Testpersonen, obschon sie von ihrer Muttersprache her von Anfang an über die deutschen Satzmodelle verfügen.161 Meisel seinerseits

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160 Was vor V steht, ist nicht mehr notwendigerweise Subjekt, und was auf V folgt, kann Subjekt sein.

161 Kwakernaak (1996: 278) schätzt, dass holländische Deutschlernende nach unge-fähr 400 Stunden Deutschunterricht in lediglich ca. 20% der Fälle den Akkusativ (Sg. mask.) als solchen markieren. Zum Vergleich: Am Ende der obligatorischen Schulzeit haben die DiGS-SchülerInnen im Durchschnitt etwa 550 Deutschlektio-nen hinter sich (vor allem in der Primarschule gibt es recht grosse Unterschiede, und auch im Cycle kann die Anzahl der Lektionen variieren).

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lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Punkt, der auch im Unterricht oft unbeachtet bleibt. Zwar kann der Akkusativ im Deutschen disambiguierend wirken, er tut dies aber in Wirklichkeit nur in einer geradezu verschwindend kleinen Zahl von Fällen, so dass Wegener (1992: 544) nur zugestimmt wer-den kann, wenn sie meint, „die Funktionalität der Kasusmarkierung [werde] gewaltig überschätzt“. Ganz offensichtlich machen die zahlreichen Akkusa-tivobjekte, die formal mit dem Nominativ zusammenfallen, in der deutschen Alltagskommunikation normalerweise überhaupt keine Schwierigkeiten. Und selbst dann, wenn unsere TestschülerInnen bei Maskulina im Singular anstelle von Akkusativ den Nominativ verwenden, ergeben sich daraus bestimmt keine Verständnisprobleme – diese haben in Wirklichkeit ganz andere Ursachen. Mit andern Worten: Disambiguierung durch Kasusmarkierung ist in der Alltagssprache selten und im Deutsch der Lernenden praktisch nie ein wirklich dringendes kommunikatives Bedürfnis.162

Eine andere Erklärungsmöglichkeit für das späte Einsetzen des Kasuser-werbs ist die folgende: Es ist immerhin denkbar, dass die kognitive Belastung durch die Auseinandersetzung mit der Verbalflexion und den Satzmodellen während langer Zeit so gross ist, dass ganz einfach keine Verarbeitungskapa-zität für den Erwerb der Kasus frei bleibt. Dass ausgerechnet mit den Kasus solange zugewartet wird, erscheint insofern plausibel, als die Kasusmarkie-rung als ein Teilbereich der hochkomplexen und undurchsichtigen Nominal-flexion besonders schwer zu erfassen ist; auch erfordert das Sprachsystem ja tatsächlich in vielen Fällen keine spezielle Kasusmarkierung, und die kom-munikative Relevanz des Kasus ist äusserst gering. Im Grunde genommen gibt es keinen andern Anlass, die Kasusflexion zu erwerben, als die Tatsache, dass das deutsche Sprachsystem dies erfordert.163

Demgegenüber präsentieren sich die Dinge in Bezug auf die Verbalflexion und die Verbstellung doch anders. So bedeutet der Verzicht auf die Konju-gation der Verben, d. h. der ausschliessliche Gebrauch von Infinitiven, eine erhebliche Einschränkung der Ausdrucksmöglichkeiten – selbst wenn es im Prinzip möglich ist, temporale und personale Verhältnisse nur mit Hilfe von entsprechenden Lexemen auszudrücken (vgl. Anna gestern nicht arbeiten),

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162 Im Übrigen kommen auch die schweizerdeutschen Dialekte (wie das Niederländi-sche), wo dieselben Inversionsregeln gelten wie im Standarddeutschen, ohne Ak-kusativmarkierung in substantivischen NP aus, ohne dass daraus Verständnis-schwierigkeiten entstünden.

163 Vgl. auch Meisel (1986: 178): „(i) The inventory of grammatical forms of a lan-guage constitutes an autonomous area of language development. (ii) Therefore, new means of expression are acquired simply because they are part of the target system, largely independently of their semantic-pragmatic functions and in spite of the fact that the devices already available may suffice to fulfill the child’s commu-nicative needs.“

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m.a.W. die Konjugationsflexive entsprechen sicher in höherem Masse einem kommunikativen Bedürfnis als die Kasusmorpheme. Ausserdem wird in der Schule – anders als im natürlichen Spracherwerb – von Anfang darauf insis-tiert, dass die Kinder ihre Verben konjugieren, und auch von ihrer Mutter-sprache her wissen sie, dass man Verben – gerade in schriftlichen Texten – nicht im Infinitiv verwendet. Vermutlich trifft es ebenfalls zu, dass die Kon-jugationsregeln, wenn sie auch beileibe nicht einfach sind, doch im Grossen und Ganzen einen geringeren Komplexitätsgrad aufweisen als die Deklinati-onsregeln, von denen die Kasusregeln nur einen – schwer identifizierbaren – Teil ausmachen. – Was die Satzmodelle anbelangt, so decken sie zwar kein dringendes kommunikatives Bedürfnis ab, versteht man Sätze doch auch dann, wenn sie nicht normgerecht gebaut sind. Dafür ist das betreffende Re-gelsystem verhältnismässig einfach; und dass einfache, klare Regeln früher und schneller beherrscht werden als komplizierte, undurchschaubare, ist schon fast eine Binsenwahrheit.

Nun ist aber auch noch Folgendes zu bedenken: Es trifft ja nicht zu, dass im Bereich der Nominalphrasen jahrelang einfach nichts geschehen würde. In Wirklichkeit befassen sich die Lernenden praktisch seit dem Beginn des Deutschunterrichts mit der Pluralmarkierung und dem Genus, d. h. sie sind durchaus mit der Morphologie der Nominalphrasen beschäftigt (vgl. auch die Kapitel 5.3 und 5.4). Es deutet nun alles darauf hin, dass ihnen die Notwen-digkeit der morphologischen Plural- und Genusmarkierung eher „einleuchtet“ als diejenige der Kasusmarkierung. Wir konnten denn auch im DiGS-Material nicht dieselbe Erwerbsreihenfolge beobachten wie Wegener (1992: 547) im ungesteuerten Deutscherwerb (Numerus > Kasus > Genus). Aus unseren Daten ergibt sich klar, dass die Auseinandersetzung mit Numerus und Genus etwa gleichzeitig – und zwar im Gegensatz zum Kasus sehr bald – beginnt.164 Weshalb das so ist, darüber lassen sich einige Vermutungen anstellen. Zwar könnte man sagen, auch beim Plural und beim Genus sei die kommunikative Notwendigkeit nur bedingt gegeben. Schliesslich wäre es möglich, sich mit Lexemen wie zwei, viele usw. zu begnügen, um sich verständlich zu machen. Das tun unsere LernerInnen aber nicht (genau so wenig wie die Wegener-Kinder), d. h. es scheint, dass die Pluralmarker – im Gegensatz zu den Kasusflexiven – sehr bald wahrgenommen und auch (natürlich nicht unbedingt normkonform) verwendet werden können. – Dass es andererseits ohne die Dreiteilung der Substantive in Feminina, Maskulina und Neutra auch gehen würde, dafür sind Sprachen wie das Englische Beweis genug; dennoch lassen sich unsere Testkinder schon in der Primarschule auch auf das Genus ein. Sowohl in Bezug auf den Plural als auch auf das Genus kann man

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164 Genus- und Pluralmarkierung werden nicht wie die Kasusmarkierung in einer fes-ten Sequenz erworben, vgl. dazu die Kapitel 5.3 und 5.4.

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annehmen, dass die Muttersprache für den frühen Erwerbsbeginn insofern mitverantwortlich ist, als den Kindern die Prinzipien von Plural und Genus vom Französischen her bekannt sind: Der Plural hat eine klare semantische Funktion, und wenn auch im Deutschen drei statt nur zwei Genera existieren, so ist den beiden Sprachen doch gemeinsam, dass das Genus in vielen Fällen willkürlich ist, bei Personenbezeichnung aber eine semantische Funktion hat. Diese Ähnlichkeiten scheinen die Lernenden sehr bald wahrzunehmen und nutzen zu können. Ganz anders verhalten sich die Dinge beim Kasus: Obschon die strukturellen Kasus im Französischen und im Deutschen dieselben sind (Subjekt – DO – IO) und man zwischen den beiden Sprachen auch gewisse formale Parallelen feststellen kann (z. B. er – ihn – ihm; il – le – lui), sieht es ganz danach aus, dass die LernerInnen beim Erwerb des Deut-schen in diesem Bereich dennoch Neuland betreten müssen, positiver Trans-fer scheint hier nicht möglich zu sein.

Was auch immer die Gründe dafür sein mögen, eines ist sicher: Eine echte, erfolgreiche Auseinandersetzung mit den Kasus findet nicht statt, solange hinsichtlich Konjugation und Verbstellung allzu grosse Konfusion herrscht; da scheint tatsächlich aller Unterricht – alles Üben und Erklären – nichts zu helfen. Tatsache ist, dass viele Schülerinnen und Schüler im Verlauf ihrer ganzen Schulzeit in ihrer Entwicklung niemals so weit kommen, dass sie den Kasuserwerb in Angriff nehmen könnten. Dabei ist es möglicherweise auch eine Frage des Temperaments (Lerntyps), ob jemand in Phase I bleibt oder ob sie/er irgendwann doch zu II übergeht. Unter unseren SchülerInnen der höheren Klassen finden sich beide Typen vertreten: Manche begnügen sich in der Tat mit der konsequenten Verwendung des Nominativs als Default-Form für alle Kasus, was – nach sechseinhalb Jahren Deutschunterricht – zum Beispiel so aussieht:

(22) Sein Freund hat der Man (menacé), weil er hat viele Geld wollten. Sein Freund

hat der Man getötet und er war mit das Geld (parti). Früher, ein (autre) Freud hat der Man angeruft (getelephoniert). (Comme) der Man war nicht hier, sein (autre) Freund war gekommt. Wen, er hat sein Freund gestorben, er hat der In-spektor Snif und sein Assistant angeruft. (Sarah P ECG10/11, 2)

Andere beginnen mit wachsendem – implizitem und explizitem – Input wahrzunehmen, dass verschiedene Flexive möglich und nötig sind. Dabei muss erwähnt werden, dass auch diese LernerInnen durchaus wissen, wie deutsche Kasusmarker aussehen können, so dass Fantasiemorpheme überaus selten belegt sind. Da sie aber selbst nach vielen Unterrichtsjahren keinerlei Vorstellung von der syntaktischen Funktion der Kasusflexive haben, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als diese nach dem Zufallsprinzip einzusetzen.165 _______________

165 Nicht zufällig sind die Flexive aber in Bezug auf das Genus, vgl. v.a. Beispiel (23).

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Vgl. dazu das Beispiel (9) oben sowie: (23) Inspektor Snif und seinen Assistent s’habillent la même chose. Seinen Inspektor

sieht faul aus. [...] La deuxième Person hat der Mann getötet. Der Inspektor Snif und seinen Assistent haben nicht der meurtrier gefunden. (Francine E ECG10/11, 2)

Eine weitere Frage, die sich im Zusammenhang mit den Phasen I und II stellt, ist die folgende: Durchlaufen wirklich alle Lernenden – vorausgesetzt der Kasuserwerb kommt überhaupt in Gang – die beiden Ein-Kasus-Phasen I und II? Oder gibt es LernerInnen, die direkt von I zu III übergehen? Die Frage lässt sich angesichts der Datenlage nicht definitiv beantworten. Bei einer Schülerin wie Sophie N (CO 8/9), deren Sprachbeherrschung allerdings für ihre Schulstufe ganz untypisch ist, scheint es aber zumindest denkbar, dass sie die chaotische Phase – zumindest in der schriftlichen Sprachproduktion – überspringt. Nachdem sie in ihrer ersten Arbeit einmal einen Nominativ an Stelle eines Akkusativs einsetzt (ich sehe gern der Film B., daneben ich habe einen Bruder), unterscheidet sie in den folgenden Texten stets völlig zielsprachenkonform zwischen N und A (insgesamt verwendet sie immerhin 14 eindeutige A-Formen). Überdies zeigt ein Blick auf ihre Präpositional-phrasen, dass sie auch mit dem Dativ kaum Schwierigkeiten hat, ja selbst den Kasuswechsel bei den Wechselpräpositionen scheint sie im Griff zu haben. Dass sie auch in den andern beiden Bereichen (Konjugation, Satzmodelle) überdurchschnittlich weit fortgeschritten ist, versteht sich von selbst. Als ein-zige von den beobachteten SchülerInnen ihrer Klassenstufe scheint sie also in der Lage zu sein, den Erklärungen von Schulbuch und Lehrerin zu folgen, die Regeln zu verstehen und auch anzuwenden. Dass sie dies allerdings nicht immer spontan tut, lassen die auffallend zahlreichen grammatischen Selbst-korrekturen erkennen. Ganz offensichtlich kontrolliert sie ihre Sprachpro-duktion mit Hilfe des Monitors; dass sie dazu selbst im Bereich der Kasus (und der gesamten Deklination) fähig ist, kann im Vergleich mit ihren Mit-schülerInnen nur als ganz und gar aussergewöhnlich taxiert werden. Mit an-dern Worten: Die ideale Schülerin, von der sowohl Schulbücher als auch manche Lehrerinnen und Lehrer auch heute oft noch ausgehen, die Lernerin, die fähig ist, den Erklärungen zu folgen und die gegebenen Regeln anzuwen-den und die sich zudem selber erfolgreich korrigieren kann, erweist sich in der Realität als die absolute Ausnahme!

258

5.5.3.8 Und wenn alles nicht so dramatisch wäre ...

Nachdem kein Zweifel mehr darüber bestehen kann, dass die Beherrschung des deutschen Kasussystems eine Kunst (von können!) ist, zu der nur eine Minderheit von Schülerinnen und Schülern Zugang hat, soll nun noch die Frage gestellt werden, wie sich die verbreitete Unkenntnis der Kasusmor-phologie in den Textproduktionen der Lernenden auswirkt. Oder anders ge-sagt: Welchen Einfluss hat es auf den Output, in unserem Falle also auf die schriftliche Produktion, wenn man das Kasussystem des Deutschen nicht oder nur rudimentär erfasst hat?

Dazu wurde eine Teiluntersuchung anhand von 25 ausgewählten Testper-sonen, die sowohl alle Klassenstufen als auch alle vier Phasen repräsentieren, durchgeführt.166 Wir betrachten dabei die Gesamtheit der Texte als eine Art „Grosstext“, ohne uns um die Einzeltexte bzw. die einzelnen AutorInnen in ihrer Individualität zu kümmern – ähnlich wie man eine Zeitung für be-stimmte Untersuchungszwecke als einen einzigen Text ansehen kann.

5.5.3.8.1 Korrekte vs. abweichende NP mit eindeutigem Kasus (Maskulina)

In den Texten der 25 Testpersonen kommen im Ganzen 1237 substantivische Singular-NP vor. Davon haben 515 (42%) die Form DET (+ ADJ) + Nmask und sind folglich in Bezug auf den Kasus eindeutig markiert. Erwartungsge-mäss überwiegen zahlenmässig die Nominativformen. Von den insgesamt 350 Nominativen stehen 276 im passenden syntaktischen Kontext (mehrheitlich als Subjekt, aber auch als Prädikatsnomen), 74 werden abweichend, d. h. meistens in A-Position verwendet. Der Akkusativ ist immerhin 143mal vertreten, in 115 Fällen ist die Verwendung zielsprachenkonform, 28mal figuriert der A fälschlicherweise an Stelle von N bzw. (seltener) von D. Nur vereinzelt belegt sind, wie bereits mehrmals erwähnt, substantivische Dativ-NP (ob korrekt oder abweichend verwendet), und auch Genitivformen kommen selten vor. – Von den 515 NP sind die meisten, nämlich 447 (87%), einfach, d. h. sie haben die Form DET + N; nur 68 (13%) sind komplex, ent-halten also ein Adjektiv.

Zur Wahl des Kasus bei den einfachen NP: In 78% (348) der Fälle ist der Kasus korrekt gewählt – ein Ergebnis, das zunächst verblüffen mag, wider-spricht es doch der gängigen Vorstellung, dass Lernende beim Kasus „sowieso immer alles falsch“ machen würden. Dies trifft offensichtlich in Wirklichkeit nicht zu – allerdings nicht, weil die Schülerinnen und Schüler alle das Kasus-System beherrschen würden, sondern weil in den DiGS-Texten

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166 Die folgenden Zahlen sind nicht in einem statistischen Sinne repräsentativ, doch können sie zweifellos den Anspruch erheben, Tendenzen zu wiederspiegeln.

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selbst die einfachsten Sätze (normalerweise) ein Subjekt enthalten und der eindeutig markierte Nominativ, der vielen Lernenden (neben A=N) als einzige Form zur Verfügung steht, infolgedessen in zahlreichen Fällen eben die passende Form ist.

Nun ist allerdings der Kasus nicht das einzige, was in einer einfachen sub-stantivischen NP falsch sein kann; eine weitere Fehlerquelle ist das Genus (vgl. dazu Kap. 5.3), daneben sind auch Fehler am Artikelwort möglich (z. B. einer Mann). Berücksichtigt man auch diese Abweichungen, so ergibt sich, dass von den 447 einfachen Nominalphrasen mit eindeutiger Kasusmarkie-rung 298 in jeder Hinsicht korrekt realisiert sind, dies sind immerhin zwei Drittel (67%). Mit andern Worten: in 11% der Fälle ist zwar der Kasus richtig gewählt, es liegt aber ein anderer Normverstoss vor.

Zur Wahl des Kasus bei den komplexen NP: Der Prozentsatz der richtig gewählten Kasus liegt hier mit 85% (58) sogar noch höher als bei den einfa-chen NP,167 wodurch die obige Feststellung bestätigt wird: Kasuswahl ist, wenn man die Nominativkontexte (in erster Linie Subjekt) miteinbezieht, ein sehr relatives Problem. – Hingegen fällt die Zahl der fehlerfrei realisierten komplexen NP im Vergleich zu den einfachen NP stark ab; nur 38% (26), d.h. etwas mehr als ein Drittel, sind in jeder Hinsicht normgerecht. In 47% der Fälle ist die NP nicht wegen des Kasus abweichend, sondern der Irrtum liegt woanders. In Frage kommen auch hier Genus und fehlerhafte Artikelformen, die Hauptfehlerquelle ist aber zweifellos das Adjektiv, das dem Substantiv vorangestellt und nach in der Lernperspektive überaus komplexen Regeln dekliniert werden muss (vgl. Kapitel 5.3.6).

Tab. 44 zeigt das oben beschriebene Verhältnis der korrekt gewählten Ka-sus zu den insgesamt korrekt realisierten NP (Sg. mask.), getrennt nach ein-fachen und komplexen NP. einfach komplex

Kasus ganzes Syntagma Kasus ganzes Syntagma

OK falsch OK falsch OK falsch OK falsch

total no *K total no *K

absolut 348 99 298 149 50 58 10 26 42 32

in % 78% 22% 67% 33% 11% 85% 15% 38% 62% 47%

Total (515)

447 = 100%

447 = 100%

68 = 100%

68 = 100%

no *K = andere als Kasusfehler Tab. 44: Korrekt gewählter Kasus vs. korrektes Syntagma (NP Sg. mask.) _______________

167 Dies mag Zufall sein, könnte aber auch daran liegen, dass komplexe NP eher von

fortgeschritteneren Lernenden verwendet werden, die tatsächlich über mehr als ei-nen Kasus verfügen.

260

Ohne die Unterscheidung nach einfachen und komplexen NP ergeben sich folgende Zahlen: Kasuskorrekt sind insgesamt 406 von den 515 NP (348 + 58); in jeder Hinsicht normgerecht realisiert sind 324 NP (298 + 26).

5.5.3.8.2 Korrekte vs. abweichende NP (alle)

Um zu zeigen, welches (Leicht-)Gewicht den Kasusfehlern in Wirklichkeit beizumessen ist, werden im Folgenden nun auch jene 722 Nominalphrasen miteinbezogen, die in Bezug auf den Kasus nicht eindeutig markiert sind.

In Zahlen ausgedrückt sieht das Verhältnis zwischen eindeutigen und nicht eindeutigen Formen wie folgt aus (vgl. Tab. 45, 1. Spalte): Neben den 515 maskulinen NP sind insgesamt 445 (36%) feminine und neutrale NP mit der Struktur DET (+ADJ) + N belegt, bei denen A und N morphologisch zusam-menfallen; ausserdem gibt es 226 (18%) Syntagmen, die kein DET aufweisen, so dass sie bezüglich des Kasus ebenfalls nicht eindeutig sind.168 Die Ge-samtzahl der A=N-Formen (total 54%) liegt also deutlich höher als als jene der eindeutigen N und A (42%) und garantiert allein schon, dass die Chancen für die Lernenden, sozusagen zufällig und ahnungslos eine kasuskorrekte Form zu verwenden, von vornherein recht gut stehen. – Es bleibt zu erwäh-nen, dass in der obigen Rechnung jene 51 zielsprachlich maskulinen NP feh-len, bei denen formal nicht zu entscheiden ist, ob in der Lernersprache ein Kasus- oder/und ein Genusfehler vorliegt.169

Was das Verhältnis zwischen in jeder Hinsicht normgerechten und ir-gendwie abweichenden Formen betrifft, so ist als erstes feszuhalten, dass von den 1237 Syntagmen immerhin zwei Drittel (67% = 834) rundum korrekt sind und nur ein Drittel (33% = 403) aus irgendeinem Grunde gegen die Norm verstösst (Tab. 45, letzte Zeile). Dabei estaunt es nicht, dass Syntagmen ohne DET mit wenigen Ausnahmen normkonform sind (nur 2% Abweichungen), handelt es sich doch meist um einfache artikellose Substantive wie z. B. in ich mache gern Tennis.170

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168 Maskuline NP ohne DET, jedoch mit Adjektiv, bei denen A und N sich morpholo-gisch ebenfalls unterscheiden, wurden hier nicht berücksichtigt, da sie sehr selten und nur in der Briefanredeformel vorkommen, z. B. lieber Yves.

169 Zum Beispiel: G/K? mein Bruder hat sein arm gebrochen (Corinnee P 9/ESC10), G+K? der Vater hat ein Küchenschürze (Philippe B 5/6).

170 Als Abweichung kommt in Frage, dass ein obligatorischer Artikel fehlt, z. B. ich habe schwester.

261

in jeder Hinsicht korrekt

irgendwie abweichend

absolut in % absolut in %

N+A mask (515 = 42%)

324 26% 191 davon Kasus: 109

15% davon Kasus: 9%!!

A=N fem + neutr (445 = 36%)

303 24% 142 12%

A=N ohne DET (226 = 18%)

207 17% 19 2%

G/K? G+K? (51 = 4%)

- - 51 4%

Total (1237 = 100%)

834 67% 403 33%

Tab. 45: Korrekte und abweichende NP (einfache und komplexe) Betrachtet man nun den Anteil der kasusbedingten Abweichungen an der Ge-samtheit der fehlerhaften NP, so ergibt sich, dass in 109 (99 einfachen + 10 komplexen, vgl. Tab. 44) von den 403 nicht normgerechten NP der Fehler auf falsche Kasusmarkierung zurückzuführen ist (ev. in Kombination mit anderen Fehlern); d. h. Kasusfehler machen kaum mehr als ein Viertel (27%) der Deklinationsfehler aus (Tab. 45, 4. Spalte) – In drei Fünfteln der Fälle (243 = 60%)171 liegt ein anderer Verstoss gegen die Norm vor, wobei zweifellos falsche Wahl des Genus die häufigste Fehlerursache ist. Daneben kommen vor: falsche Form des DET (eines Haus), DET/0 (sie spielt ein Tennis), def. DET/indef. DET (er hat die Brille), sein/ihr (sie hatte sein Gesicht in sein Handen), 0/DET (ich habe hund) falsche Adjektivstellung (ein Koffer braun), falsche Adjektivform (der rot Fisch), wobei auch mehrere Fehler kombiniert sein können (wir haben ein Mantel blaue). – Übrig bleiben jene 51 Syntagmen, wo die Frage, ob ein Genus- oder ein Kasusverstoss oder beides vorliegt, offen bleiben muss; sicher ist hier nur, dass sich die betreffenden NP irgendwie auf die beiden andern Gruppen verteilen, so dass diese auf jeden Fall grösser sind als oben angegeben.

Wenn wir schliesslich die Anzahl von 109 Nominalphrasen mit offen-sichtlich falsch gewähltem Kasus auf die Gesamtheit der von den 25 Testper-sonen produzierten Nominalphrasen beziehen, so tritt noch deutlicher zu Tage, dass Kasusfehler in Wirklichkeit ein verhältnismässig geringes Problem darstellen: Sie machen tatsächlich nur 9% der 1237 Nominalphrasen aus

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171 142 A=N fem+neutr, 19 A=N ohne DET, 82 (=191 minus 109) N+Amask, vgl. Tab. 45, 4. Spalte.

262

(Tab. 45, 5. Spalte). Dazu gesellt sich ein nicht zu eruierender – aber sicher kleiner – Teil der Fehler unter G/K? bzw. G+K?, so dass der Anteil an kasus-bedingten Abweichungen in Wirklichkeit etwas höher liegt.

5.5.3.8.3 Kommentar

Das verblüffendste Ergebnis der Untersuchung zur anzahlmässigen Relevanz von Kasusfehlern auf Grund von 25 Testpersonen aus dem DiGS-Korpus, die alle Klassenstufen (4/5 bis 12/M) und alle Kasus-Erwerbsphasen vertreten (I bis IV), ist zweifellos die wider Erwarten niedrige Zahl von Kasusfehlern: 9% bezogen auf die Gesamtzahl der produzierten korrekten und abweichenden Nominalphrasen (dazu ein unbestimmter Teil der G/K? bzw. G+K?); 27% bezogen auf die Anzahl irgendwie fehlerhafter Syntagmen. Das bedeutet nichts anderes, als dass in ca. neun Zehntel der Fälle der Kasus ganz einfach kein manifestes Problem darstellt und dass zum andern ungefähr drei Viertel der Normverstösse nicht kasusbedingt sind. Zwar sind diese Zahlen gewiss nicht statistisch abgestützt, doch selbst wenn sie sich auf Grund anderer Texte nach oben verschieben sollten, so würden sie dennoch niedrig bleiben – zumindest im Vergleich zu dem Gewicht, das dem Kasus im Unterricht beigemessen wird.

Selbstverständlich bedeuten die Zahlen nun nicht, dass die grosse Mehrheit der Schülerinnen und Schüler in Wirklichkeit das deutsche Kasussystem durchschaut haben (und dass sie gewissermassen zu Unrecht viel zu niedrig in die diversen Phasen eingestuft worden wären). Von eigentlichem Kasus-verständnis kann nach wie vor nur in Bezug auf jene TP die Rede sein, die sich in den Phasen III und IV befinden. Dass auch die anderen Lernenden, die unzweifelhaft noch in den Anfängen des Kasuserwerbs stecken, so erstaunlich gut abschneiden, hat andere Gründe, die hier nochmals zusammengestellt werden: − Der Nominativ kommt in den Texten naturgemäss sehr häufig vor, ist er

doch in seiner Funktion als Subjekt im Deutschen auch in den simpelsten Sätzen obligatorisch.172 Er wird von unseren Testpersonen in Subjektspo-sition von Anfang an im Allgemeinen problemlos gehandhabt, selbst wenn, wie wir sahen, bisweilen Verwechslungen von A und N in Phase II, aber auch in III und IV (hier allerdings v.a. beim Prädikatsnomen) vor-kommen.173

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172 Mit Ausnahme von Konstruktionen des Typs Jetzt wird geschlafen, die aber von den TP nie produziert werden.

173 Der Anteil der richtig gewählten Kasus wäre übrigens noch um einiges höher, wenn wir auch die pronominalen NP mitgezählt hätten: ich, du, er sind eindeutige N, sie sind überaus zahlreich vertreten und werden fast immer korrekt in nomina-tivischen Kontexten verwendet.

263

− Da der Akkusativ sich in zahlreichen Fällen morphologisch nicht vom Nominativ unterscheidet, ist Kasuswissen für die Produktion korrekter Akkusativobjekte längst nicht immer notwendig. Ob ich als Lernerin weiss, dass ein poulet in der hund essen ein poulet, musik in ich mag musik hören und – im Plural – shpagetti in ich esse gern shpagetti funktional ein Akkusativ ist, oder ob ich davon ausgehe, dass (substantivische) NP, wo auch immer sie sich im Satz befinden, immer gleich aussehen, hat be-züglich der Unterscheidung von N und A bei Neutra und bei Feminina, bei DET-losen NP und im Plural keinen Einfluss auf den Output. Dies gibt auch jenen Lernenden, die in Bezug auf das Kasusverständnis noch ganz in den Anfängen stecken, recht grosse Chancen, eine ganze Reihe von Nominalphrasen trotz mangelhaftem Wissen in Bezug auf die Kasusmor-phologie korrekt zu verwenden.

− Was den Dativ anbelangt, so stellt sich heraus, dass er in substantivischen NP in unseren Testtexten so selten vertreten ist, dass er als Fehlerquelle praktisch nicht ins Gewicht fällt.

− Bedenkt man dann auch noch, dass Kasusabweichungen, ungeachtet der Tatsache, dass es sich dabei um eindeutig identifizierbare Verstösse gegen die geltende Norm handelt, die Verständlichkeit der Texte von Deutsch-lernenden kaum je beeinträchtigen, so drängt sich der Schluss auf, dass der Kasus – für sich alleine genommen – bei weitem kein so dramatisches Problem darstellt, wie immer wieder behauptet wird.

5.5.4 Schluss Zusammenfassend seien hier nochmals die wichtigsten Ergebnisse der Unter-suchung zusammengestellt: − Der Kasus in Nominalphrasen wird in Phasen erworben; zunächst dient

den Lernenden der Nominativ als Defaultform für alle Kasuspositionen (I), später verwenden sie verschiedenartige scheinbare Kasusflexive, ohne dass diesen eine Kasusfunktion beigemessen würde (II); der nächste – ent-scheidende – Schritt führt zu der Erkenntnis, dass einerseits das Subjekt, andererseits die obliquen Kasus verschieden zu markieren sind (III); und schliesslich etabliert sich das zielsprachliche Drei-Kasus-System mit der funktionalen Unterscheidung von Subjekt, Akkusativobjekt und Dativob-jekt.

− Der Kasuserwerb setzt spät ein, nämlich erst wenn die Lernenden in den Bereichen der Konjugation und der Satzmodelle bereits weit fortgeschrit-ten sind, und Jahre nach der Behandlung im Deutschunterricht; überdies stellte sich heraus, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Schülerinnen und Schüler im Verlauf der Schulzeit nie über die Phase II hinausgelangen,

264

was bedeutet, dass sie die systematische Relation zwischen der strukturellen Position von NP im Satz und der morphologischen Markie-rung nicht erkennen.

− Die weitreichende Unkenntnis der Kasusmarkierung führt aber – dank den morphologischen Eigenschaften des deutschen Kasussystems – keineswegs dazu, dass die Nominalphrasen der Lernenden in Bezug auf die Ka-susmarkierung mehrheitlich abweichend wären; der Prozentsatz der mor-phologischen Kasusabweichungen ist in Wirklichkeit erstaunlich klein.

Abschliessend ist zu sagen, dass diese Resultate für den Unterricht eine er-hebliche Relevanz haben müssten, ist es doch offensichtlich so, dass alle An-strengungen seitens der Lehrerschaft und der Schülerinnen und Schüler nicht zu dem im Lehrplan vorgegebenen Ziel führen. Als Konsequenz müsste sich ergeben, dass mit der expliziten Behandlung der Kasus im Unterricht erst dann begonnen wird, wenn eine Mehrheit der Lernenden das erforderliche Niveau für die erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem Kasus auch wirklich erreicht hat. Eine derartige Entlastung des Programms (im Genfer Cycle und in entsprechenden Schulen anderswo) müsste – so ist zu hoffen – dazu führen, dass mehr Zeit für andere lustvollere Arten der Beschäftigung mit der fremden Sprache frei wird; dass die Motivation der Lernenden zunimmt, weil Misserfolge und Sanktionierungen abnehmen; und schliesslich, dass der Er-werb im Endeffekt besser und schneller vorangeht als bisher, weil die ver-schiedenen grammatischen Strukturen nicht mehr alle mehr oder weniger gleichzeitig unterrichtet werden, sondern nacheinander, wie es der natürlichen Abfolge entspricht. 5.6 „Wir lernen heraus in die Umwelt, under dem Sonne“ –

Der Erwerb von Präpositionalphrasen Thérèse Studer 5.6.1 Einleitung Dass dieses Kapitel nicht parallel zu 5.5 den Titel ‘Der Erwerb der Kasus in Präpositionalphrasen’ trägt, hat seine Gründe. Die Beschäftigung mit den sogenannten Wechselpräpositionen, die sowohl hinsichtlich ihres anzahlmäs-sigen Vorkommens als auch ihres Schwierigkeitsgrades für Deutschlernende ein zentrales Lernobjekt darstellen, führt nämlich sehr bald zu der Erkenntnis, dass der Kasus nur einen Teil des Problems ausmacht, da die Opposition zwi-

265

schen lokativer und direktiver Bedeutung von lokalen Präpositionalphrasen sehr oft auch mit andern Mitteln – und zwar mit Hilfe verschiedener Präpo-sitionen (vgl. in – nach, zu – bei) – ausgedrückt wird. Allein schon deshalb kann der Kasus, auch wenn er durchaus im Zentrum des Interesses bleibt, hier nicht das einzige Thema sein.

Doch auch sonst erwies es sich – in der Perspektive des gesteuerten Deutscherwerbs – als notwendig und aufschlussreich, sich über die Kasusproblematik hinaus mit den Präpositionen und Präpositionalphrasen auseinander zu setzen. Insbesondere die Vorkommenshäufigkeiten der verschiedenen Präpositionen (als Types und als Tokens) in den Schülertexten schienen uns eine nähere Untersuchung wert: einerseits weil es offensichtlich ist, dass hier zwischen den Lernenden sehr grosse individuelle Unterschiede existieren, andererseits weil sehr bald der Eindruck entstand, dass das schulische Angebot diesbezüglich weder den Verarbeitungskapazitäten noch den kommunikativen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler entspricht.

Nach einer knappen Darstellung der Schwierigkeiten und Tücken deutscher Präpositionen im Gegensatz zum Französischen (5.6.2) sowie einem Überblick über die Literatur zu dem Thema (5.6.3) ist ein längerer Abschnitt den Vorkommenshäufigkeiten der Präpositionen – aufgeteilt nach Präpositionen mit festem Kasus und Wechselpräpositionen – in einem Teilkorpus von 58 Testpersonen gewidmet (5.6.4). Es folgt die Untersuchung der Kasusverwendung nach Präpositionen mit festem Kasus, exemplarisch dargestellt an den für-Phrasen und den mit-Phrasen (5.6.5); schliesslich wird untersucht, wie die Lernenden mit den lokalen Präpositionen und der Opposition zwischen lokativer und direktiver Bedeutung umgehen (5.6.6). 5.6.2 Präpositionen und Präpositionalphrasen im Deutschen und im

Französischen Dass das System der Präpositionen bzw. die Bildung und Verwendung von Präpositionalphrasen im Deutschen erheblich komplexer ist als im Französischen, wird wohl von niemandem bestritten. Für deutschsprachige Sprecherinnen und Sprecher mag dies durchaus ein Vorteil sein, stehen doch zum Ausdruck insbesondere von lokalen Verhältnissen Mittel zur Verfügung, die im Französischen nicht vorhanden sind.174 In der Lernperspektive bedeu-tet die Komplexität allerdings, dass die Schwierigkeiten, seien sie semanti-

_______________

174 Vgl. etwa Blumenthal (1997: 63): „Hier soll nun gezeigt werden, dass [...] das Deutsche besonders durch die Opposition zwischen Dativ und Akkusativ, durch Präpositionen und durch Verbalpräfixe reichere Möglichkeiten zur Erfassung räumlicher Verhältnisse bietet.“

266

scher oder morphosyntaktischer Art, zwangsläufig gross sind. Probleme, die die Wahl der Präposition und des Kasus sowie die formale Realisierung der Präpositionalphrasen (PP) betreffen, sind vorauszusehen.175

Zwar kommt es vor, dass zwei Präpositionen der beiden Sprachen in einem bestimmten Kontext parallel verwendet werden, z. B. sur la table – auf dem Tisch, pendant les vacances – während der Ferien usw., doch kann von einer Eins-zu-Eins-Entsprechung keine Rede sein, vgl. in der Schublade – in der Küche – an der Wand vs. dans le tiroir – à la cuisine – au mur. Zudem verlangen Präpositionen im Deutschen einen Kasus, so dass Lernende sich in formaler Hinsicht bei den Präpositionalphrasen mit den gleichen durch die Verquickung von Kasus, Numerus und Genus (+ Adjektivdeklination) bedingten Deklinationsproblemen wie bei den Nominalphrasen konfrontiert sehen (vgl. die Kapitel 5.3, 5.4, 5.5). Für die Wahl des korrekten Kasus gibt es bezüglich einer ganzen Reihe von Präpositionen keinerlei semantischen Hinweise, und wo die Kasuswahl semantisch motiviert ist, bedeutet dies keine Erleichterung, im Gegenteil: Die Unterscheidung von Akkusativ und Dativ bei den Raumpräpositionen erweist sich als eine zusätzliche Komplikation, ist es doch, wie jede Deutschlehrerin, jeder Deutschlehrer weiss, alles andere als einfach, die für Deutschsprachige selbstverständliche Unterscheidung zwischen lokativer (LOK) und direktiver (DIR) Bedeutung nachzuvollziehen; ganz abgesehen davon, dass diese Opposition sich längst nicht immer in der Kasuswahl, sondern oftmals auch in der Wahl unterschiedlicher Präpositionen niederschlägt.

Zur Illustration mag die folgende Gegenüberstellung dienen; dabei ist zu bedenken, dass es sich jeweils nur um einen kleinen Ausschnitt aus den beiden Systemen handelt, der jedoch als typisch gelten kann für die Art von Schwierigkeiten, mit denen Lernende konfrontiert sind (WP: Wechselpräposition; PfK: Präposition mit festem Kasus; D: Dativ; A: Akkusativ):

_______________

175 Vgl. Fervers (1983: 156): „Die konstrastive Analyse der beiden Sprachsysteme lässt wegen des grösseren Komplexitätsgrades des Deutschen eine hohe Fehlerhäu-figkeit erwarten.“

267

devant la petite maison

lokal lokativ vor dem kleinen Haus WP D

direktiv vor das kleine Haus WP A derrière la petite maison

lokal lokativ hinter dem kleinen Haus

WP D

direktiv hinter das kleine Haus

WP A

avant la représentation

temporal vor der Aufführung WP D

après la représentation

temporal nach der Aufführung PfK D

Im Französischen dienen vier Lexeme dazu, vier Bedeutungen (zwei lokale, zwei temporale) zu differenzieren. Was die beiden Raumpräpositionen anbelangt, wird keine semantische Unterscheidung zwischen DIR und LOK gemacht. Die nachfolgende Nominalphrase (NP) wird von der Präposition morphologisch nicht beeinflusst.

Demgegenüber stehen im Deutschen nur drei Lexeme zur Verfügung, mit denen aber sechs Bedeutungen ausgedrückt werden. Zwei sind Wechselpräpositionen, d. h. es muss, wenn hinter bzw. vor (mit lokaler Bedeutung) verwendet wird, zwischen D und A gewählt werden. Dagegen verlangt das temporale vor den Dativ, parallel zur Präposition nach, die allerdings im Gegensatz zu den beiden andern hier implizierten Präpositionen nie einen Akkusativ nach sich zieht. Die auf die Präposition folgende NP muss morphologisch angepasst, d. h. nach Kasus, Numerus und Genus flektiert werden.176

Die konzeptuelle Unterscheidung zwischen LOK und DIR ist für die korrekte Verwendung von Raum-PP im Deutschen fundamental – und sie ist für Frankophone alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Findet keine Bewegung statt, wie dies insbesondere für statische Verben wie wohnen, bleiben, sein usw. zutrifft, ist die Bedeutung lokativ, was den Dativ nach sich zieht, vgl. sie wohnt auf dem Land. Auch alle nicht in dieser Weise vom Verb abhängigen PP, die eine Handlung, einen Prozess usw. im Raum situieren, sind lokativ: ich esse meinen Apfel in der Küche. – Umgekehrt ist es nun aber nicht so, dass eine Bewegung notwendigerweise direktiv ist, selbst wenn eine solche „Regel“ (Nicht-Bewegung = Dativ, Bewegung = Akkusativ) in den Köpfen der Lernenden und wohl auch einiger Lehrenden vielerorts herumgeistert. Es geht nicht um die Frage, ob eine Bewegung vorhanden ist _______________

176 Natürlich soll nicht bestritten werden, dass auch die französischen Präpositionen

für LernerInnen ihre Tücken haben; vgl. etwa die Opposition von en und dans: en ville vs. „Dans la ville blanche“ (Titel eines Films von Alain Tanner).

268

oder nicht, sondern darum, ob die Bewegung innerhalb eines Raums/an einem Ort stattfindet oder ob ein Raum-/Ortswechsel eintritt, m.a.W. ob die Bewegung zielgerichtet ist oder nicht. Nur im zweiten Falle wird der Akkusativ verwendet, vgl. wir wandern in den Bergen vs. wir wandern auf den Hügel; die Kinder hüpfen im Planschbecken (herum) vs. sie hüpfen ins Planschbecken.

Dass frankophone Lernende mit der semantischen Opposition LOK vs. DIR Schwierigkeiten haben müssen, ist erwartbar, da sie von ihrer Muttersprache her eine derartige konzeptuelle Unterscheidung nicht kennen. Interessant ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass offenbar selbst dann, wenn die Opposition LOK – DIR in der Muttersprache existiert, dies nicht unbedingt eine Hilfe für Deutschlernende darstellt. So konstatiert Heide Wegener (1992: 517) bei ihren LernerInnen in diesem Bereich enorme Schwierigkeiten, und sie findet „keine Hinweise darauf, dass die Kinder ihr durch die L1 erworbenes Wissen auf die L2 übertragen“, obgleich in allen drei implizierten Muttersprachen (polnisch, russisch, türkisch) in zum Deutschen analoger Weise zwischen den beiden Bedeutungen unterschieden wird.

Die semantische Unterscheidung von LOK und DIR ist also an und für sich konzeptuell bereits keine Selbstverständlichkeit. Als zusätzliche Schwierigkeit kommt im Deutschen dazu, dass die Opposition mittels verschiedener sprachlicher Mittel ausgedrückt werden kann, die sich – zumindest in der Perspektive der Lernenden – bisweilen widersprechen, so dass das System teilweise schlecht durchschaubar ist. Es ist ja nicht so, dass dem Gegensatz LOK vs. DIR immer ein Gegensatz D vs. A entspräche, sondern es stehen auch andere Mittel zur Verfügung: Die Opposition LOK – DIR kann auch durch die Verwendung zweier verschiedener Präpositionen ausgedrückt werden; dies trifft zu bei den geographischen Bezeichnungen, die ohne DET verwendet werden, vgl. sie wohnt in Lausanne – sie fährt nach Bern, sowie bei den Personenbezeichnungen, vgl. sie ist bei ihrem Freund – er fährt zu seiner Freundin. Während sich beim Paar in – nach wenigsten die Kasusfrage nicht stellt, stehen die Lernenden im Falle von bei und zu vor der – potentiell verwirrenden – Tatsache, dass beide Präpositionen denselben (festen) Kasus erfordern, somit die bei den Wechselpräpositionen gültige Parallele von D und LOK bzw. A und DIR nicht gilt. Und schliesslich kommt es auch vor, dass dieselbe Präposition je nach Kontext lokativ oder direktiv verwendet wird, vgl. sie ist zu Hause – er fährt zu ihr. Zwar könnte man versucht sein zu sagen, bei zu Hause handle es sich um eine Ausnahme, doch wenn dies auch vom System her gesehen durchaus richtig ist, in dem Sinne, dass es in der heutigen Sprache nur sehr wenige solcher Types gibt, so trifft

269

es eben in Bezug auf die Häufigkeit, d. h. die Anzahl der Tokens in der Sprache Deutschlernender, keineswegs zu.177

Wie sich die Lernprobleme im Bereich der Präpositionalphrasen, die in Anbetracht der eben skizzierten Eigenschaften des Deutschen unvermeidlich sind, manifestieren und wie Schülerinnen und Schüler damit umgehen, darum soll es im Folgenden gehen. Vorausgeschickt sei jedoch zunächst eine kurze Übersicht über die Literatur zum Erwerb von Präpositionen und Präpositionalphrasen, die dazu beitragen soll, den Blick für besonders aufschlussreiche Phänomene und mögliche Fragestellungen zu schärfen. 5.6.3 Präpositionen und Präpositionalphrasen im L1- und im

L2-Erwerb Linguistische Untersuchungen, die sich speziell mit dem Erwerb von Präposi-tionen bzw. Präpositionalphrasen befassen, gibt es auffallend wenige.178 Hauptgegenstand der Arbeiten zum Kasuserwerb sind normalerweise die No-minalphrasen; die Präpositionalphrasen werden meistens eher beiläufig mit-einbezogen, bisweilen auch in eine Fussnote verwiesen. Zu erklären ist dieses Ungleichgewicht zwischen NP und PP zweifellos damit, dass in den betref-fenden Untersuchungen das Hauptinteresse auf dem Aufbau des Systems der strukturellen Kasus Subjekt – direktes Objekt (DO) – indirektes Objekt (IO) liegt.179 Dennoch lassen sich manchen dieser Texte interessante Hinweise auf den Erwerb der Präpositionen und speziell auf die Kasusverwendung in Prä-positionalphrasen entnehmen.

5.6.3.1 Zum L1-Erwerb

Nach Harald Clahsen (1984a), Anne Mills (1985) und Rosemary Tracy (1986) kommen in der Kindersprache A- und D-Kontexte zwar etwa gleich häufig vor, doch ist die Verteilung auf Nominalphrasen und Präpositional-phrasen ganz verschieden. Während in NP der Akkusativ bei weitem über-wiegt, ist der Dativ in PP in der deutlichen Überzahl. – Alle drei beobachten in ihrem Material die Generalisierung von A auf D-Kontexte nicht nur in NP, _______________

177 Vgl. dazu 5.6.6.3. 178 Ausnahmen bilden Klinge (1990) und Stenzel (1996), die beide den Erwerb der

Präpositionen bei bilingual (dt.-franz.) aufwachsenden Kindern untersuchen, wo-bei erstere sich v.a. für die Reihenfolge interessiert, in der die Präpositionen in der kindlichen Sprache auftauchen, und nur sehr am Rand für die Kasusverwendung bei den Präpositionen, während letzterer sich mit der Kasusverwendung nach Wechselpräpostionen befasst.

179 Vgl. auch Kapitel 5.5.1.

270

sondern ebenfalls in PP, während die Verwendung von D anstelle von A offenbar nicht bzw. selten vorkommt, und zwar weder in NP noch in PP. Mit andern Worten: Die Erwerbsreihenfolge ist nach diesen Untersuchungen stets eindeutig N – A – D.180

Am ausführlichsten äussert sich Mills zum Kasus in Präpositionalphrasen. Sie hält zunächst (wie übrigens auch Tracy) das häufige Fehlen von DET in PP fest, das bis in relativ späte Stadien des Erwerbs beobachtbar ist; als eine Erklärung dafür nennt sie die grosse phonetische Ähnlichkeit zwischen an/am und in/im. Ist der Kasus markiert, kommen in den verschiedenen von Mills berücksichtigten Korpora offenbar – wie im Material von Clahsen und Tracy – wenig Abweichungen bei jenen PP vor, die den Akkusativ verlangen; auch wird A bzw. A=N auf D-Kontexte übertragen. Dies trifft sowohl auf die Präpositionen mit festem Kasus als auch auf die Wechselpräpositionen zu. Der Nominativ (= „citation form“) ist in Präpositionalphrasen selten zu beobachten. Mills erwähnt auch explizit die Möglichkeit, dass manche PP vermutlich „as a kind of formulaic speech“ (190) gelernt werden, was erklären würde, weshalb gewisse PP sehr früh – gewissermassen zu früh – korrekt auftauchen: „Rote learning is, in my opinion, the learning of a very restricted pattern. Pronouns in correct case forms after certain prepositions or constructions are acquired quite early, probably because these set phrases occur frequently in the input speech.“ (243). Mills befasst sich ebenfalls mit der Wahl der Präposition und stellt dabei Folgendes fest: Anfangs (bis ca. 3 J.) werden Präpositionen oft weggelassen. Lokale Präpositionen tauchen als erste auf und sind viel häufiger als temporale. Mit Abstand die höchste Frequenz hat in (44,4%), gefolgt von auf (19,6%); die übrigen Präpositionen liegen alle unter 10%.181

Was die semantische Opposition LOK vs. DIR anbelangt, konstatiert Mills: „The contrastive concept of stativity and directionality would seem to emerge quite late ...“ (225).

_______________

180 Laut Clahsen (1984a: 21) „zeigt sich, dass Unsicherheiten nur in den Fällen zu er-kennen sind, in denen im Deutschen Dativformen verlangt werden, also bei Reci-pient, Source, Instrument und Location; demgegenüber treten keine Unsicherhei-ten auf, wenn im Deutschen ohnehin die Akkusativmorphologie erforderlich ist, also bei Goal und Direction.“ – Und Tracy (1986: 62) meint: „The data also show that German children use accusatives in PPs requiring the dative, just as they overgeneralize accusative markers to other noun phrases requiring datives, ...“ Ungeklärt bleibt bei Clahsen wie bei Tracy, ob und wie sie die bekanntlich sehr häufige formale Identität von A und N berücksichtigen, d. h. ob sie nicht eine Reihe von Defaultformen fälschlicherweise als A interpretieren. Vgl. dazu Kapitel 5.5.3.3 (Fussnote 124).

181 Prozentzahlen nach Grimm (1975: 101) in Mills (1986: 200).

271

Ziemlich anders als bei Clahsen, Tracy und Mills präsentieren sich die Ergebnisse von Jürgen Meisel (1986). Auf Grund der Daten von zwei bilingualen (dt.-franz.) Kindern182 kommt er zum Schluss, dass Kinder, ob sie nun zwei- oder einsprachig aufwachsen, A und D in NP und PP in Wirklichkeit gleichzeitig erwerben: „it is claimed that monolinguals as well as bilinguals acquire accusative and dative inflection simultaneously.“ (166). Speziell in Bezug auf die PP stellt er fest, dass der Dativ bei den PfK früh auftaucht183 und keine bzw. nicht mehr Probleme als der Akkusativ macht und dass zudem in Präpositionalphrasen mit WP nicht nur A statt D, sondern ebenfalls D statt A zu beobachten ist. So lautet sein Fazit: Der Dativ ist konzeptuell nicht schwerer als der Akkusativ zu erfassen, weshalb er auch nicht später erworben wird. Dass dennoch der Eindruck entsteht, D folge in der Entwicklung auf A, liegt an der sehr viel höheren Frequenz von Akkusativ-NP mit Nominalkern und an der Komplexität des Deklinationssys-tems.

Auch Swantje Klinge (1990), deren Testkinder aus dem Hamburger DUFDE-Projekt ebenfalls mit Deutsch und Französisch aufwachsen, vertritt die Auffassung, dass A und D gleichzeitig erworben werden. „It is evident that children acquire the linguistic system for marking the dative and the accusative at approximately the same stage of linguistic development.“ (144) Wie Meisel kann sie im Falle der PfK (fast) keine Probleme mit dem Dativ ausmachen, während bei den WP sehr wohl abweichende Formen vorkom-men. „German prepositions that are exclusively used to encode the dative show almost no incorrrect occurrences, whereas prepositions that can be used either with the dative or the accusative cause a certain number of divergent uses.“ (144) Auch Klinge beobachtet, dass bis zum Alter von ca. 3 Jahren die Präposition fehlen kann, dass die Raumpräpositionen klar vor den Zeitpräpo-sitionen auftauchen und erstere auch viel häufiger sind und dass überdies für und mit bereits kurz nach den ersten räumlichen Präpositionen erscheinen.

Achim Stenzel (1996) arbeitet ebenfalls mit Daten aus dem DUFDE-Pro-jekt; in seiner Untersuchung zum Erwerb der Kasus bei Wechselpräpositionen stellt er deutliche Unterschiede zwischen dem Erwerb von A und D fest, und

_______________

182 Problematisch erscheint in all diesen Untersuchungen zum L1-Erwerb (ausser Mills) die geringe Zahl von beobachteten Kindern, die ausserdem nur wenige in Bezug auf Kasus interpretierbare Formen produzieren. Angesichts der Tatsache, dass auch Kleinkinder sich in ihrer sprachlichen Produktion mit Sicherheit stark voneinander unterschieden, ist nicht unbedingt auszuschliessen, dass die Dürftig-keit des sprachlichen Materials (mit) ein Grund dafür ist, dass die Beobachtungen der einzelnen AutorInnen und dann auch die Schlüsse, die sie daraus in Bezug auf die natürliche Erwerbsabfolge schliessen, sich nicht decken.

183 Als Beispiele nennt Meisel mit dir, bei mir, zu mir, Dativ-PP also, die von Mills höchst wahrscheinlich – und wohl zu Recht – als „formulae“ interpretiert würden.

272

zwar in dem Sinne, dass sein (einziges) Testkind mit dem Akkusativ weniger Schwierigkeiten hat als mit dem Dativ.

Auf die Schwierigkeiten, die man bei der Interpretation der kindlichen Nominalflexive unbedingt mitbedenken sollte, verweist Teresa Parodi (1990) (1 Kind, ebenfalls aus dem DUFDE-Projekt). Sie vertritt die Auffassung, dass die nicht zu bestreitende n-Generalisierung noch lange kein Beweis dafür sei, dass von den Kindern auch wirklich der Akkusativ generalisiert wird, denn möglicherweise sei längst nicht alles, was formal wie ein A aussehe, auch als solcher intendiert; denkbar sei auch, dass das Kind das n-Flexiv zu andern Zwecken verwendet. „The fact that the child uses the n suffix in unexpected contexts does not necessarily indicate a generalization of the accusative. [...] I think we can only say with certainty that overgeneralization with respect to the n suffix has taken place; what this stands for is an open question at this point.“ (180)

5.6.3.2 Zum ungesteuerten L2-Erwerb

Wenngleich bei Heide Wegener die Präpositionalphrasen nicht im Vordergrund des Interesses stehen, so finden sich dennoch insbesondere in Wegener (1992) interessante Beobachtungen und Überlegungen zum Erwerb der Kasus in PP, die sich teilweise deutlich von manchen Ergebnissen der L1-Forschung unterscheiden. Insbesondere stellt sie fest, − dass in ihrem Material – analog zu den Nominalphrasen – in einer frühen

kasusneutralen Phase durchaus N statt A auch in Präpositionalphrasen zu beobachten ist, z. B. für er (N = Defaultwert) (451);

− dass der Dativ in (adverbialen) PP sehr früh auftaucht, d. h. noch vor dem Akkusativ in PP und deutlich vor dem Dativ in NP, was sie mit formelhafter Übernahme aus dem Input erklärt (452, 463);

− dass der Dativ in PP – ganz anders als in NP – auch in A-Kontexten verwendet wird, insbesondere bei den Wechselpräpositionen, und zwar ist dies viel öfter der Fall als das Umgekehrte; eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass die Kinder den Dativ als den eigentlichen Präpositionalkasus identifizieren (463);184

− dass der Akkusativ nicht, wie man erwarten könnte, auf die PfK mit direktiver Bedeutung (zu, nach, aus) generalisiert wird, was sie als ein Indiz dafür wertet, dass der Kasuserwerb nicht von der Semantik abhängt (503);

_______________

184 Vgl. dazu auch Wegener (1994: 355) und Parodi (1990: 179): „Dative is the un-marked case for prepositional objects“.

273

− dass die Kinder mit der Opposition LOK vs. DIR grosse Probleme haben, obgleich ihnen diese konzeptuelle Unterscheidung von ihrer L1 her (russisch, polnisch, türkisch) eigentlich vertraut sein müsste; positiver Transfer findet also nicht statt, die Kinder fangen für das Deutsche mit dem Erwerb nochmals ganz von vorn an (516f.).

5.6.3.3 Zum gesteuerten L2-Erwerb

Zu den im Folgenden präsentierten Untersuchungen ist zu sagen, dass sie nur sehr bedingt miteinander vergleichbar sind, da sie sich bezüglich verschiedener Faktoren stark unterscheiden: SchülerInnen vs. Studierende, schriftliches vs. mündliches Material, freies Schreiben vs. Übersetzung, unterschiedlich lange Unterrichtsdauer. Dennoch seien die wichtigsten Ergebnisse hier kurz referiert.

Helga Fervers (1983) konstatiert bei ihren Testpersonen185 in PP „zahlreiche Kasusfehler“ (156); auch präzisiert sie, dass bei den Wechselpräpositionen ungefähr gleich oft A statt D und D statt A eingesetzt wird, also keine Präferenz für einen der beiden Kasus nachgewiesen werden kann. Dagegen wird bei den semantisch nicht motivierten Präpositionen mit festem Kasus der Akkusativ deutlich häufiger auf D-Kontexte generalisiert als umgekehrt, wobei sie – zweifellos zu Recht – erwähnt, dass es sich bei einer Reihe dieser A-Formen in Wirklichkeit auch um den „Gebrauch einer unmarkierten Grundform“ A=N handeln könnte.

Auch Erika Diehl (1991)186 kommt zum Ergebnis, dass Kasuswahl und -markierung in Präpositionalphrasen selbst weit fortgeschrittenen Lernenden Schwierigkeiten bereiten, und zwar deutlich mehr und länger als in Nominalphrasen. In der DiGS-Perspektive ist speziell die Feststellung interessant, dass bei den MaturandInnen187 zwei Drittel der Kasusfehler auf Präpositionalphrasen entfallen (ohne Unterschied zwischen PfK und WP) und dass von diesen wiederum eine grosse Mehrheit entweder eindeutige N/A, N/D oder A=N/D sind.188 Dass eindeutig markierter Nominativ – offenbar als Defaultform – in Präpositionalphrasen recht häufig vorkommt, scheint demnach, zumindest nach den hier berücksichtigten Untersuchungen zu

_______________

185 Es handelt sich um 185 frankophone Studierende des 1. bis 3. Studienjahrs in Paris X (Nanterre).

186 Ihr Korpus setzt sich aus Aufsätzen von 19 Genfer MaturandInnen sowie Überset-zungen von je 13 Studierenden des 1. und 2. Studienjahrs an der Universität Genf zusammen.

187 Diese entsprechen den 12/M-Klassen des DiGS-Projekts, haben allerdings – da „Frühdeutsch“ in den Genfer Schulen erst in jüngerer Zeit eingeführt wurde – drei Jahre später mit dem Deutschunterricht begonnen.

188 N/A ist zu lesen als N statt A, ebenso für N/D usw.

274

schliessen, tatsächlich für Deutsch als L2 (gesteuert und ungesteuert) typisch zu sein, während diese Art von Generalisierung im L1-Erwerb nicht (bzw. nur sehr selten) beobachtet wurde.

Erik Kwakernaak (1996: 414) referiert die Ergebnisse einer niederländi-schen Querschnittstudie von Kluiter und Reen (1994),189 die sich scheinbar nicht mit denen von Fervers und Diehl decken, da sie zumindest tendenziell dahingehend lauten, dass die Korrektheitswerte bei den Präpositionen mit fes-tem Kasus höher als bei A- und D-Objekten liegen, allerdings auch höher als bei den Wechselpräpositionen. Dies sei – so Kwakernaak – vermutlich nicht auf den Unterrichtseffekt zurückzuführen, sondern habe vielmehr damit zu tun, dass Kasusmarkierungen in PP (mit festem Kasus) leichter zu produ-zieren seien als in NP, da die Präposition als Oberflächen-Kasussignal funk-tioniere. Was die WP betrifft, so nimmt Kwakernaak an, dass viele Lernende im Laufe ihrer Schulzeit hier nie zu einer Analyse gelangen, m.a.W. dass sie derartige Ausdrücke also – nicht nur am Anfang, sondern überhaupt – aus-schliesslich als feste Formeln verwenden, wobei das Ergebnis je nach Kontext zielsprachenkonform ist oder nicht. 5.6.4 Vorkommenshäufigkeiten der Präpositionen

(Types und Tokens) Für die folgende Untersuchung wurden aus dem Korpus, das der Untersuchung des Kasuserwerbs in NP zugrunde liegt, 58 Schülerinnen und Schüler aller Stufen ausgewählt, und zwar in der Weise, dass pro Klassenstufe möglichst unterschiedliche Niveaus repräsentiert sind. Wo es möglich war, erfolgte die Auswahl nach dem vorher ermittelten Erwerbsstand im Bereich der Nominalphrasen;190 in den unteren Klassen, in denen alle Lernenden sich in der NP-Phase I befinden, wurde so selektioniert, dass möglichst unterschiedliche Arten des Umgangs mit Präpositionalphrasen vertreten sind (v.a. Verwendung vieler vs. weniger PP).

Als erstes sollen einige Fakten zusammengestellt werden, die Varianz und Frequenz der Präpositionen in den DiGS-Texten betreffen. Es geht dabei um folgende Fragen, die zunächst in Bezug auf das PP-Korpus als Ganzes (das zu diesem Zweck als eine Art „Grosstext“ betrachtet wird), danach auch hin-sichtlich der einzelnen Klassenstufen bzw. Schultypen untersucht werden:

_______________

189 Getestet wurden 59 SchülerInnen zweier Gymnasien – und zwar in kommunikati-ven Sprechsituationen.

190 Vgl. 5.5.3.

275

− Welche von den im Deutschen existierenden bzw. im Unterricht eingeführten Präpositionen werden von den Lernenden überhaupt verwendet? (Varianz)

− Wie oft kommen die einzelnen Präpositionen vor? Welche Präpositionen werden am häufigsten gebraucht, welche erscheinen nur vereinzelt? (Frequenz)

− Wie sieht das Verhältnis zwischen PfK und WP aus? Welche fallen für die LernerInnen zahlenmässig mehr ins Gewicht?

Irrelevant ist dagegen hier die Frage, ob die betreffenden Präpositionen bzw. PP zielsprachenkonform verwendet werden oder nicht. (Vgl. Kapitel 5.6.5 und 5.6.6)

Analog zu der Untersuchung der Nominalphrasen wurden nur Präpositionalphrasen im Singular berücksichtigt, und zwar weil eines der Hauptinteressen nach wie vor auf der Kasusverwendung liegt und die Pluralmorphologie diesbezüglich (wegen der vielen Homonymien) weniger aussagekräftig ist als jene des Singulars. Im Übrigen deutet nichts darauf hin, dass bei Miteinbezug der Plural-PP, die zudem auch viel seltener als die Singulare sind, die Ergebnisse sich wesentlich verschieben würden.

In den 441 Texten der 58 TP191 wurden 2269 Präpositionalphrasen im Singular erhoben.192 Insgesamt sind 25 verschiedene Präpositionen vertreten: 9 Wechselpräpositi-onen und 16 Präpositionen mit festem Kasus; dabei machen – um dieses in der Perspektive des Unterrichts wirklich bemerkenswerte Ergebnis vorwegzu-nehmen – die problemträchtigeren WP zwei Drittel, die PfK nur ein Drittel der Vorkommen aus.

_______________

191 Von 50 SchülerInnen je 8 Arbeiten, von einem Schüler nur 7, von 6 MaturandIn-nen jeweils 5 sowie von einer Maturandin nur 4 Arbeiten.

192 Es muss der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass diese Zahl in Wirklich-keit noch grösser ist. Wegen der Vorrangstellung des Kasus auch in PP wurden bei der Zählung jene Formen nicht miteinbezogen, die diesbezüglich nichts hergeben (mit Zucker, von Peter, um sieben Uhr usw.). Das bedeutet allerdings nicht, dass alle PP ohne DET weggefallen wären; denn für die Untersuchung der Opposition LOK vs. DIR sind natürlich auch manche DET-lose PP unverzichtbar (in Genf – nach Luzern).

276

5.6.4.1 Wechselpräpositionen (WP)

Varianz: Im Korpus sind alle 9 WP repräsentiert: in, an, auf, über, vor, ne-ben, unter, zwischen, hinter.

Die WP werden von den TP alles in allem überwiegend in ihrer lokalen Bedeutung verwendet;193 erst in den höheren Klassen und bei den meisten SchülerInnen nur ab und zu tauchen valenzbedingte WP auf (meistens Präpositionalobjekte). Recht gut vertreten ist die temporale Verwendung von an und in, wobei hier Ausdrücke wie im Juli, im Sommer, am Abend, die zweifellos fast immer als unanalysierte Formeln gespeichert sind, die grosse Mehrheit ausmachen.194

Tab. 46 zeigt zunächst (s. zweite Kolonne) für jede Präposition – in abneh-mender Rangfolge –, von wievielen TP sie verwendet wird; den vier nächsten Kolonnen ist zu entnehmen, bei wieviel TP die Präposition jeweils in lokaler, temporaler, valenzbedingter oder sonstiger Verwendung belegt ist; in der letzten Kolonne ist zu sehen, in welcher Klasse eine Präposition erstmals auftaucht. Präp Anz TP

total Anz TP lokal

Anz TP temporal

Anz TP valenzbed

Anz TP andere

erstmals in Klasse

in 57 57 24 3 - 4

an 42 14 36 12 - 4

auf 36 33 - 10 - 6

über 22 6 - 20 - 8

vor 14 9 3 4 - 9

neben 11 11 - - - 6

unter 6 4 - - 2 10

zwischen 6 1 1 - 4 9

hinter 2 2 - - - 10

Tab. 46: Verbreitung der WP _______________

193 Es sei daran erinnert, dass auch in L1 die lokalen vor den temporalen Präpositio-

nen auftauchen und am häufigsten sind. Allerdings ist die Situation trotzdem wohl nicht dieselbe: Kleinkinder müssen sich nicht nur die sprachlichen Formen aneig-nen, sondern ebenfalls die entsprechenden lokalen und temporalen Konzepte, und da ist es offensichtlich so, dass Raum vor Zeit erworben wird (vgl. auch: Pia-get/Inhelder 1975). Demgegenüber verfügen L2-Lernende auf jeden Fall bereits über ein ausgebautes Raum-Zeit-System; wenn also unsere SchülerInnen so früh so viele lokale PP verwenden, hat das wohl in erster Linie mit ihren kommunikati-ven Bedürfnissen zu tun.

194 Daneben sind auch Abweichungen der Art in Sommer, in Juli zu verzeichnen so-wie normgerechte Formen, die vermutlich keine Chunks sind: in dieser Nacht, in meiner Jugend.

277

Erläuterungen: − in kommt bei allen SchülerInnen vor ausser bei Nicolas B 4/5 (dessen

einzige PP am See ist); mit lokaler Bedeutung bei allen 57 TP; temporal immerhin bei 24 TP; valenzbedingt dagegen nur bei 3 TP.

− An zweiter Stelle steht an; insgesamt findet sich diese Präposition bei 42 TP (von der vierten Klasse an), und zwar bei 36 TP in Form von am mit temporaler Bedeutung, bei 14 TP mit lokaler Bedeutung und valenzbedingt immerhin bei 12 TP.

− Auf dem dritten Platz figuriert auf, das bei 36 TP belegt ist (erstmals in der sechsten Klasse); bei 33 TP mit lokaler Bedeutung, valenzbedingt bei 10 TP.

− Es folgen: über ab der achten Klasse bei 22 TP (lokal 6 TP, valenzbedingt 20 TP!), vor ab der neunten Klasse bei 14 TP (lokal 9 TP, temporal 3 TP, valenzbedingt 4 TP), neben ab der sechsten Klasse bei 11 TP (nur lokal), unter ab der zehnten Klasse bei 6 TP (lokal 4, andere 2), zwischen ab der neunten Klasse bei 6 TP (lokal 1, temporal 1, andere 4) und hinter ab der zehnten Klasse bei 2 TP (lokal).

An dieser Stelle sei als eine Art zehnte „Wechselpräposition“ auch die Präposition nach in ihrer lokalen Funktion genannt; und zwar, weil sie bei Substantiven ohne Determinans (also in erster Linie bei geographischen Bezeichnungen) in Gegensatz zu in tritt und damit, wenn nicht dem Wechsel zwischen Dativ und Akkusativ, so doch der Opposition LOK vs. DIR unterliegt. Im Korpus ist das lokale nach bei 40 TP belegt (ab der vierten Klasse), steht also an zweiter Stelle noch vor auf.

Bei den einzelnen TP variiert die Varianz zwischen 1 und 7; sie nimmt im Laufe der Jahre – erwartungsgemäss – tendenziell zu, doch sind die individuellen Unterschiede gross. So verfügt beispielsweise ein Schüler der Stufe 5/6 (David P) bereits über vier verschiedene WP (an, in, auf, neben), während sich andere mit in begnügen; oder auf Stufe 10/11 liegt das Minimum bei zwei (in, auf; Jeannette C ECG10/11) und das Maximum bei sieben (an, in, auf, über, unter, vor, hinter; Sophie N C10/11); ähnlich frappant sind die individuellen Unterschiede auch auf den übrigen Klassenstufen. Frequenz: Die WP (inkl. nach mit räumlicher Bedeutung) machen ziemlich genau zwei Drittel (nämlich 1494 = 66%) der erhobenen insgesamt 2269 Präpositionen aus. Diese Zahl impliziert allein schon, dass die Lernenden beim Produzieren deutscher Texte – und zwar von Anfang an – „auf Schritt und Tritt“ mit dem Problem des Wechsels zwischen lokativer und direktiver Bedeutung und den damit verbundenen sprachlichen Ausprägungen konfron-tiert sind. Dass sie für eine systematische Bewältigung dieser Schwierigkeiten während Jahren nicht gerüstet sind, hat die Erfahrung längst gezeigt.

278

Nun ist allerdings zu sagen, dass sich die Frage nach der Opposition von D und A bzw. LOK und DIR in Wirklichkeit nicht immer stellt, kommt doch im Normalfall bei temporaler Verwendung auch bei den WP nur der Dativ in Frage. Im Korpus machen die temporalen Vorkommen der WP aber nur 12% aus (179 Tokens), die sich fast ausschliesslich auf an und in verteilen (ausserdem höchst selten vor und zwischen); der grösste Teil davon sind, wie bereits erwähnt, systemkonforme Chunks der Typen im Sommer, am Abend. Wenn Lernende eigene Temporal-PP produzieren, was ab und zu doch vorkommt, zeigt es sich, ob sie am und im als D identifiziert haben oder nicht; je nachdem schreiben sie dann nämlich in dem gleichen Moment oder in diese Stunde.

In den meisten Fällen (88% = 1319 Tokens) ist die Frage der Wahl zwischen D und A bzw. zwischen LOK und DIR zwingend; den weitaus grössten Teil machen dabei die lokalen Vorkommen der WP aus. Auf Präpositionalobjekte entfallen dagegen nur relativ wenige Formen, und sie erscheinen fast ausnahmslos erst im PO (Sekundarstufe II).195

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass eine deutliche Mehrheit der von den SchülerInnen verwendeten Formen ausgerechnet zu den Wechselpräpositionen gehören, jener Gruppe von Präpositionen also, die besonders fehlerträchtig sind. Die Beherrschung der WP setzt in der Tat voraus, dass die Lernenden die konzeptuelle Opposition zwischen LOK und DIR erfasst haben und über gut ausgebaute Kasuskenntnisse verfügen. Dass für eine Mehrheit unserer TP weder das eine noch das andere zutrifft, ist evident. – Fervers 1983 schätzt also wohl die Situation allzu optimistisch ein, wenn sie meint, der Gegensatz zwischen A und D betreffe nur einen geringen Teil der PP: „Jede Präposition verlangt hier einen bestimmten Kasus, dessen Wahl in den meisten Fällen [Hervorhebung von mir, TS] semantisch nicht motiviert ist (‘gegen seinen Willen’, ‘nach dem Essen’, ‘trotz der Gefahr’). Motiviert ist dagegen die Wahl zwischen Dativ und Akkusativ nach den lokalen Präpositionen ‘an’, ‘auf’, ‘hinter’, ‘in’, ‘neben’, ‘über’, ‘unter’, ‘vor’ und ‘zwischen’ ...“ (156) Die Realität sieht – zumindest in den DiGS-Texten – anders aus, als sie von Fervers beschrieben wird, ist doch die semantisch motivierte Kasuswahl weitaus häufiger als die grammatisch festgelegte.

Bei genauerem Zusehen erweist sich ausserdem, dass ausgerechnet die jüngeren Lernenden in Primarschule und Cycle ganz besonders viele Wechselpräpositionen benutzen. Dass dem so ist, liegt an den Inhalten, über die zu schreiben die Kinder aufgefordert wurden; ihre Aufsätze behandeln Themen, die mit ihrer Alltagswelt und ihren Interessen zu tun haben und die sehr oft lokale Präzisierungen erfordern oder zumindest ermöglichen.196

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195 Andere Fälle sind nur selten belegt, z. B. auf diese Weise, am liebsten u.ä. 196 Z.B. wird im ‘Interview mit meinem Idol’ gefragt, wo jemand geboren ist, wo

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Tatsächlich machen denn auch in den Klassen 4/5 bis 8/9 (alle zusammen genommen) die Wechselpräpositionen nicht nur zwei Drittel, sondern sogar drei Viertel aller Präpositionen aus (477 von 638 = 75%). – Im Unterricht werden die lokalen Präpositionen (nicht nur die WP und die Opposition D vs. A, sondern ebenfalls zu und nach) ab der siebten Klasse übrigens immer wieder thematisiert, mittels Zeichnungen illustriert und intensiv geübt; der Erfolg allerdings ist gering und entspricht gewiss nicht den allseitigen Anstrengungen.

Tab. 47 zeigt die Frequenz der Wechselpräpositionen in abnehmender Rangfolge (absolut und in Prozent): Präp. Anzahl in % in 922 70 [nach] 113 8.6 auf 104 7.8 an 82 6.2 über 50 3.8 übrige* 48 3.6 Total 1319 100

*vor, neben, zwischen, unter, hinter Tab. 47: Frequenz WP Erläuterungen: − Natürlich liegt in auch in Bezug auf die Frequenz mit 922 Tokens (d. h.

70% von 1319) weit vor allen anderen an der Spitze. Abgesehen von 60 temporalen sowie einer verschwindend kleinen Anzahl sonstiger Verwendungen (verliebt sich in dem Mann, in Bezug auf) hat in lokale Bedeutung.

− Gefolgt – wenn auch mit enormem Abstand – wird in von jener WP, die in Wirklichkeit keine ist, jedoch aus den oben genannten Gründen trotzdem hier mitgezählt wird: Mit 8,6% (113 Tokens) liegt nach (in seiner lokalen Verwendung) weit hinter in und nur wenig vor auf und an, die mit 104 und 83 Tokens 7,8% und 6,2% ausmachen.

− Auf über entfallen noch bescheidene 3,8% (50), während die übrigen Präpositionen vor, neben, zwischen, unter, hinter mit Vorkommen zwischen 18 und 4 sich auf den kleinen Rest von 3,6% verteilen.

________________ er/sie lebt usw.; die Bildbeschreibung ‘Küche’ verlangt, dass Gegenstände situiert werden; auch das Selbstporträt ‘Ich, meine Familie, meine Hobbies’ zieht unver-meidlich lokale Informationen nach sich.

280

Der Anteil der valenzbedingten Präpositionen (v.a. Präpositionalobjekte) ist jeweils sehr unterschiedlich. Keine derartigen Verwendungen sind – erwar-tungsgemäss – für neben, zwischen, unter, hinter zu verzeichnen; vor figuriert zweimal in Angst vor; hingegen gibt es unter den PP mit auf und an – in den oberen Klassen – doch eine Reihe valenzbedingter Vorkommen (z. B. auf eine Freude warten, konzentriere ich mich an diese); und über wird sogar fast ausschliesslich in Präpositionalobjekten gebraucht (was denkst du über diese Kleid?) – Ausserdem kommen einige der WP vereinzelt auch in andern Kon-texten – meist in festen Ausdrücken – vor (vgl. Fussnote 194).

5.6.4.2 Präpositionen mit festem Kasus (PfK)

Varianz: Die 16 im Korpus vertretenen Präpositionen sind mit, zu, für, von, bei, nach, aus, während, gegen, durch, seit, um, bis, wegen, dank, ohne. Dies ist nicht die Gesamtheit der im Deutschen existierenden PfK, fehlen doch einige (auch sonst mehr oder weniger selten gebrauchte) Formen ganz: ausser, binnen, entlang, gegenüber, wider.197 Tab. 48 ist wiederum zu entnehmen, von wieviel TP eine Präposition verwendet wird und wann sie erstmals belegt ist: Präp Anzahl TP erstmals in Klasse mit 53 4 zu 44 5 für 37 7 von 29 6 bei 18 7 nach (-lokal) 14 8 aus 12 8 während 9 10 gegen 8 6 seit 6 9 durch 4 11 um 4 9 wegen 2 11 bis 2 10 dank 1 11 ohne 1 M

Tab. 48: Verbreitung PfK

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197 Erwähnens- und bedenkenswert ist, dass beispielsweise entlang und gegenüber, die offensichtlich nicht dem geringsten kommunikativen Bedürfnis entsprechen, laut Aussagen der betreffenden Lehrerinnen geübt, ja geradezu gedrillt werden.

281

Erläuterungen: − Beinahe alle TP, nämlich 53 von 58 verwenden mit; erstmals taucht die

Präposition bereits in der vierten Klasse auf. − An zweiter Stelle steht zu mit Vorkommen bei 44 TP, und zwar – mit einer

Ausnahme in der fünften Klasse – von der siebten Klasse an. − Es folgt – erstmals in der siebten Klasse – die Präposition für, die immer-

hin von 37 TP eingesetzt wird. − 29 TP, also genau die Hälfte, brauchen von; hier ist das erste Aufkommen

in der sechsten Klasse zu verzeichnen. − Bei 18 TP ist bei belegt (ab siebte Klasse). − Nicht-lokales nach findet sich bei 14 TP, aus bei deren 12 (ab der achten

Klasse). − Die restlichen Präp. sind wie folgt vertreten: während bei 9 TP, gegen bei 8

TP, seit bei 6 TP, durch und um bei je 4, wegen und bis bei 2, dank und ohne bei je einer TP. Die Formen seit und um tauchen erstmals in der neunten Klasse auf, gegen einmal bereits in der sechsten, dann wieder ab der neunten; während, durch, wegen, bis, dank, ohne sind alle erst im PO belegt.

Wiederum unterscheiden sich die Schülerinnen und Schüler einer Klassenstufe hinsichtlich der Varianz teilweise stark voneinander. Um nur zwei – repräsenta-tive – Beispiele zu nennen: auf Stufe 6/7 liegen die Extremwerte zwischen fünf (mit, für, zu, bei, von; Catherine E) und Null (Alexandre S); auf Stufe 11/12 schwankt die Anzahl der PfK zwischen acht (mit, für, zu, von, seit, gegen, dank, während; Frédéric H C11/12) und drei (mit, für, von; Sandrine D ECG11/12). Frequenz: Wie bereits erwähnt, wird alles in allem ein Drittel – in Primar-schule und Cycle jedoch nur ein Viertel – der ausgezählten Singular-PP von einer Präposition mit festem Kasus regiert (775 von 2269 = 34%). Im Einzel-nen präsentieren sich die Zahlen wie folgt: Präposition Anzahl abs. In % mit 293 37,8 zu 166 21,4 für 130 16,8 von 65 8,3 bei 32 4,1 nach (-lokal) 20 2,6 übrige (10)* 69 8,9 Total 775 100% (99,9)

*aus, während, gegen, durch, seit, um, bis, wegen, dank, ohne Tab. 49: Frequenz PfK

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Erläuterungen: − Auch hier liegt eine Präposition weit vor den andern, doch sind die Ver-

hältnisse längst nicht so extrem wie bei den Wechselpräpositionen. Mit 293 Vorkommen, d. h. immerhin 38% der PfK, nimmt mit den ersten Platz ein, deutlich vor zu (166 = 21,4%) und für (130 = 16,8).

− Ansonsten fallen nur noch von, bei und nicht lokales nach mit 65, 32 und 20 Vorkommen bzw. 8,3%, 4,1% und 2,6% ins Gewicht.

− Die restlichen zehn Präpositionen – aus, während, gegen, durch, seit, um, bis, wegen, dank, ohne – sind nur zwischen 17 und 1mal vertreten (insgesamt 69mal = 8,9%).198

5.6.4.3 Konsequenzen für den Unterricht

Betrachtet man alle Präpositionen (WP und PfK) miteinander, kommt man zu den folgenden – teilweise doch unerwarteten – Ergebnissen, die in Tab. 50 zusammengestellt sind: Absoluter Spitzenreiter ist in mit insgesamt 982 Vor-kommen, was einem Anteil von 43,3% entspricht;199 auf die übrigen 56,7% verteilen sich nicht weniger als 24 weitere Präpositionen. Auf die Gesamtheit der Präpositionen gerechnet, liegt mit zwar weit hinter in, nimmt aber doch den zweiten Platz ein und macht immerhin 12,9% aus. Alle weiteren Präpo-sitionen befinden sich unter der 10%-Grenze: an, zu, nach, für erreichen im-merhin noch zwischen 8,7% und 5,6%, während auf, von, über, bei nur noch zwischen 4,6% und 1,4% ausmachen. Die restlichen 15 (!) Präpositionen lie-gen alle unter der 1%-Grenze, sie repräsentieren zusammen (mit 117 Tokens) nicht mehr als 5,1% der 2269 Präpositionen. Präposition Anzahl abs. In % in 982 43,3 mit 293 12,9 an 197 8,7 zu 166 7,3 nach (alle) 133 5,9 für 130 5,7 auf 104 4,6 von 65 2,9

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198 Wie die WP können selbstverständlich auch PfK valenzbedingt sein, entspre-chende Belege finden sich – allerdings selten – auch in den DiGS-Texten, z. B. zufrieden mit der Handelsschule, interessierte mich für die Musik, um ihren Sohn kümmern.

199 Dies entspricht – geradezu verblüffend genau – der Prozentzahl für in (44,4%), die Mills (1986: 200) nennt.

283

Präposition Anzahl abs. In % über 50 2,2 bei 32 1,4 übrige (15) 117 5,1 Total 2269 100%

Tab. 50: Frequenz WP + PfK Im untersuchten Korpus stellen also in und mit bereits deutlich mehr als die Hälfte der verwendeten Präpositionen dar (ca. 56%). Mit 6 von 25 Präposi-tionen – in, mit, an, zu, nach (alle Verwendungsweisen), für – sind fünf Sechstel der Präpositionalphrasen abgedeckt (84%). Auf ein knappes Sechstel der PP entfallen schliesslich die restlichen 19 Präpositionen (16%). Dies sind Tatsachen, die in Bezug auf den Deutschunterricht zu denken geben sollten. Wenn wirklich so wenige Präpositionen so viele Bedürfnisse – zumindest beim freien Schreiben – abdecken, dann müsste dem in der Unterrichtspraxis Rechnung getragen werden. Es scheint in der Tat wenig sinnvoll zu sein, den Lernenden ein viel zu grosses Angebot von Präpositionen zu machen, die ihnen offensichtlich nur wenig dienen, sie aber möglicherweise im Lernvorgang belasten und behindern. Genau dies mutet nun aber der Lehrplan den DiGS-SchülerInnen zumindest ab einer gewissen Stufe zu: Während die jüngeren unter ihnen in den ersten Jahren des Deutschunterrichts eine überschaubare Anzahl gebräuchlicher und somit nützlicher Präpositionen kennen gelernt haben, wurden alle älteren SchülerInnen in der achten Klasse, d.h. zu einem Zeitpunkt, wo dies mit Sicherheit ihren kommunikativen Bedürfnissen und sprachlichen Fähigkeiten in keiner Weise entsprach, mit einer Zusammenstellung praktisch aller im Deutschen existierenden PfK und WP konfrontiert (mit Erläuterungen zum Gebrauch, insbesondere zur Verwendung von D und A); in der Liste figurieren auch solche Präpositionen, die im Korpus überhaupt nie belegt sind (entlang, gegenüber). Da die Präpositionen, wie schon in Kapitel 5.6.2 dargelegt wurde und wie sich im Folgenden noch genauer zeigen wird, ein besonders schwieriges Kapitel der deutschen Grammatik sind, drängt sich ein Plädoyer für eine drastische Reduktion des expliziten Inputs bereits hier auf. Auf gar keinen Fall scheint es sinnvoll, die Kinder im Cycle (Sekundarstufe I) mit so vielen verschiede-nen Präpositionen zu belasten, die sie dann doch nie brauchen; vielmehr wäre es angebracht, eine Auswahl zu treffen, die auf der Häufigkeit in der Lerner-sprache basieren müsste. Im PO kann der Vorrat an Präpositionen selbstver-ständlich nach Bedarf weiter ausgebaut werden; dabei dürfte sich zeigen, dass die ECG-SchülerInnen mit dem Grundstock aus dem Cycle recht gut auskommen, während die SchülerInnnen von ESC und Collège einen grösse-ren Bedarf an Präpositionen – und eine grössere Aufnahmebereitschaft – ha-ben dürften.

284

5.6.4.4 Frequenz und Varianz der Präpositionen auf den verschiedenen Klassenstufen

Dass Varianz und Frequenz der Präpositionen von den unteren zu den oberen Klassen hin tendenziell zunehmen,200 ergibt sich bereits aus dem oben Ge-sagten. Dass andererseits die individuellen Unterschiede innerhalb einer Klassenstufe beträchtlich sind, wurde ebenfalls angedeutet. Diesen Unter-schieden, die auch bei einer oberflächlichen Lektüre der Texte ins Auge springen, soll im Folgenden nachgegangen werden.

Die Verwendung der Präpositionen durch die Lernenden ist zunächst selbstverständlich dadurch bedingt, ob diese im Input – sei es explizit oder möglicherweise auch nur implizit – überhaupt vorkommen. Lernende können Präpositionen genauso wenig wie z.B. Substantive oder Adjektive verwenden, wenn sie nie die Gelegenheit hatten, ihnen zu begegnen. So gesehen sind die Präpositionen auch ein lexikalisches Problem. In den ersten Schuljahren und bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit sind nun alle Genfer Schulkinder, was den Input anbelangt, im Prinzip in der gleichen Lage, sind doch die Lehrbücher jeweils für alle die gleichen. Die SchülerInnen einer Klassenstufe haben also mit Sicherheit die gleichen Präpositionen kennengelernt und sie auch in mehr oder weniger gleicher Weise geübt.201 Umso bemerkenswerter sind die teilweise beträchtlichen Differenzen, die auf allen Stufen beobachtet werden können.

Am meisten überraschen vielleicht die Unterschiede im Umgang mit den Präpositionen, die zwischen den jüngsten SchülerInnen existieren. Von An-fang an gibt es Kinder, die sich im Bereich der PP auf ein absolutes Minimum – an Types und Tokens – beschränken, während andere unbekümmert möglichst viel aus dem Input in ihre Texte übernehmen. 202 Dass dabei neben einigen Chunks zahlreiche nicht zielsprachenkonforme Formen herauskom-men, versteht sich von selbst, ist jedoch hier nicht von Belang (vgl. Kapitel 5.6.5 und 5.6.6).

In den ersten Klassen präsentieren sich die Dinge besonders extrem: Wäh-rend Nicolas B (4/5) sich in den acht Arbeiten mit einer PP (am See in der er-sten Arbeit) begnügt, verwendet Christine M (ebenfalls in 4/5) ab der zweiten Arbeit insgesamt fünf Präpositionen, die sie im Ganzen 36mal einsetzt

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200 Das schliesst keineswegs aus, dass einzelne SchülerInnen der unteren Klassen mehr bzw. öfter Präpositionen verwenden als einzelne SchülerInnen der höheren Klassen.

201 Denkbar sind allenfalls geringfügige Unterschiede etwa in Bezug auf die Intensität, mit der die Präpositionen behandelt werden, in Bezug auf das Tempo, auf den impliziten Input usw.

202 Einige DiGS-TP verwenden überhaupt nie eine PP, so dass sie gar nicht in die PP-Untersuchung miteinbezogen wurden.

285

(verteilt über die Arbeiten 2 bis 8). Selbstverständlich sehen sich viele ihrer Syntagmen sehr ähnlich (z. B. am Montag, am Donnerstag, am Samstag usw.), doch ändert dies nichts an der Tatsache, dass diese Schülerin versucht, möglichst viel von dem, was ihr im Unterricht angeboten wurde, zu reprodu-zieren. Das Verhältnis zwischen den maximalen und den minimalen Werten beträgt auf der Stufe 4/5 also bezüglich der Frequenz 36 : 1, bezüglich der Varianz 5 : 1. Ähnliche Extremwerte sind auch auf der nächsten Stufe 5/6 zu beobachten, nämlich 34 : 1 (Frequenz) und 6 : 1 (Varianz).

Auf Stufe 6/7 beträgt das Verhältnis in Bezug auf die Frequenz „nur noch“ 7,7 : 1. Diese deutlich geringere Differenz darf jedoch nicht darüber hin-wegtäuschen, dass die Schülerin Catherine E insgesamt beinahe achtmal so viele Präpositionalphrasen verwendet wie Alexandre S auf derselben Stufe – zweifellos immer noch ein beträchtlicher Unterschied. Auch bezüglich der Varianz klaffen der maximale und der minimale Wert wiederum deutlich auseinander, nämlich im Verhältnis von 7 : 1.

Ab Stufe 7/8 nimmt die Frequenz der Präpositionen im Durchschnitt klar zu, wenngleich nach wie vor deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen TP zu verzeichnen sind. So stehen auf Stufe 7/8 den eher spärlichen 16 PP von Alexandra M die immerhin 42 PP von Sophie R gegenüber, was einem Verhältnis von 2,6 : 1 entspricht. Auch in den folgenden Klassen überschrei-ten die höchsten und tiefsten Werte pro Klassenstufe nie das Verhältnis von 2,8 : 1. Damit sind die Unterschiede gewiss längst nicht mehr so extrem wie in den ersten Schuljahren, doch sind sie immer noch relativ gross. Bei nähe-rem Zusehen stellt sich allerdings heraus, dass im PO innerhalb eines Schul-typs die Differenzen im Allgemeinen203 deutlich geringer sind, d. h. das Ver-hältnis beträgt jeweils zwischen 1,7 : 1 und 1,2 : 1. Es scheint also, dass die SchülerInnen eines Schultyps sich bezüglich der Frequenz von Präpositional-phrasen nicht allzusehr voneinander unterscheiden, wobei die ECG-Schüler-Innen durchschnittlich am wenigsten, die Collège-SchülerInnen am meisten PP verwenden.

Auch was die Varianz betrifft, verringern sich ab Stufe 7/8 die Differen-zen, selbst wenn sie durchaus beachtlich bleiben. So kommt es nicht selten vor, dass auf einer Stufe die TP mit der grössten Varianz doppelt bis dreimal so viele (oder gar noch mehr) verschiedene Präpositionen verwendet als die TP mit der geringsten Varianz. Auf Stufe 7/8 beispielsweise kontrastieren als Extreme wiederum Sophie R und Alexandra M mit sieben bzw. drei ver-schiedenen Präpositionen. Im PO sind die Unterschiede abermals dann be-sonders frappant, wenn nicht nach Schultypen unterschieden wird, so etwa zwischen Liliane N oder Jeannette C (beide ECG 10/11) mit je fünf Präposi-tionen einerseits und Sophie N (C 10/11) andererseits, die nicht weniger als

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203 Ausser für die beiden 12/M-Klassen, wo die Unterschiede wiederum höher sind.

286

siebzehn verschiedene Präpositionen verwendet. Trennt man hingegen nach ECG, ESC und Collège, so erweisen sich die Differenzen innerhalb einer Klassenstufe wiederum als erheblich kleiner. Tendenziell lässt sich sagen, dass die ESC-SchülerInnen durchschnittlich mehr verschiedene Präpositionen verwenden als die ECG-SchülerInnen, die SchülerInnen des Collège wiederum mehr als jene der ESC.

Gegen obige Zahlen und Vergleiche, betreffend die Frequenz und Varianz der Präpositionen auf den einzelnen Klassenstufen, lässt sich nun zweifellos einwenden, dass sie keine Repräsentativität beanspruchen dürfen. In der Tat sind pro Klassenstufe jeweils nur zwischen vier und – bestenfalls – zehn SchülerInnen vertreten; und wenn im PO nach Schultypen unterschieden wird, so umfassen einzelne Gruppen gar nur drei SchülerInnen. Das bedeutet mit Sicherheit, dass von statistischer Relevanz keine Rede sein kann. Den-noch ist anzunehmen, dass die obigen Ergebnisse Tendenzen widerspiegeln, die auch durch eine genauere Untersuchung nicht grundsätzlich in Frage ge-stellt würden. Und auf jeden Fall zeigen sie ganz konkret, dass die individu-ellen Unterschiede im Umgang mit Präpositionen und Präpositionalphrasen innerhalb einer Lernergruppe ausserordentlich gross sind; dies gilt vom ersten Jahr an bis hinauf zu den Maturaklassen. Den Ansprüchen an den bin-nendifferenzierten Unterricht gerecht zu werden, dürfte demnach für die Leh-rerinnen und Lehrer gerade auch im Bereich der Präpositionalphrasen keine leichte Aufgabe sein. 5.6.5 Präpositionen mit festem Kasus (PfK) Im Folgenden soll nun – anhand der Präpositionen für und mit – gezeigt wer-den, wie die Lernenden den Kasus in PP handhaben, in denen von der Präpo-sition ein fester Kasus gefordert wird. Sowohl für als auch mit können als re-präsentativ für die jeweilige Gruppe von PfK gelten: mit macht, wie wir ge-sehen haben, knapp zwei Fünftel aller PfK mit Dativ aus und wird von 53 der 58 berücksichtigten TP verwendet; und für liegt mit 83% weit vor den andern Präpositionen, die den Akkusativ verlangen, taucht allerdings nur bei 37 der 58 TP auf.204 Beide Präpositionen werden im Unterricht sehr früh eingeführt, mit bereits in der vierten Klasse, für in der fünften; allerdings erscheint – in-teressanterweise – nur mit im untersuchten Korpus bereits in der Primar-schule, während für erstmals in der siebten Klasse zu finden ist. _______________

204 Es sei daran erinnert, dass – absolut gesehen – für sehr viel weniger häufig ist als

mit (130 gegenüber 293 Tokens) und dass ganz allgemein die A-Präpositionen – hinsichtlich Frequenz und Varianz – weit hinter den D-Präpositionen liegen. Prä-positionen mit D: mit, von, zu, bei, nach, aus, während, seit, wegen, dank; Präpo-sitionen mit A: für, gegen, durch, um, ohne.

287

5.6.5.1 Der Kasus in den für-Phrasen

Von den 124 kasusrelevanten für-Phrasen205 mit morphologisch markiertem – aber nicht unbedingt eindeutig identifizierbarem – Kasus sind 109 in Bezug auf die Wahl des Kasus korrekt: das sind nicht weniger als 88%!206 Dieses ausgezeichnete Ergebnis ist gewiss nicht darauf zurückzuführen, dass alle Lernenden, angefangen von der siebten Klasse bis hinauf zu den verschiede-nen Typen von Abschlussklassen, auch wirklich wüssten, was sie tun. In Wirklichkeit kann keine Rede davon sein, dass der Grossteil der SchülerInnen tatsächlich über den Akkusativ verfügt. Dies zeigt allein schon ein Blick auf die Anzahl der A=N-Formen: Sie machen zwei Drittel der korrekten Formen aus (73 von 109, davon sind 11 pronominal) und verteilen sich auf alle Klassenstufen.

Bei den meisten Cycle-SchülerInnen ist nun mit grosser Wahrscheinlich-keit damit zu rechnen, dass es sich bei den in Bezug auf Kasus unzweifelhaft korrekt realisierten A=N-Formen in Wirklichkeit sehr oft nicht um A handelt, sondern um den ihnen allein zur Verfügung stehenden Default-Kasus.207 Die Einstufung der betreffenden Lernenden im NP-Bereich208 zeigt, dass eine grosse Mehrzahl sich in den Phasen I und II situiert, also noch nicht über ein Mehr-Kasus-System verfügt.209 Dass bei diesen Lernenden auch im PP-Be-reich nur ein Kasus vorhanden ist, illustrieren besonders deutlich jene Texte, in denen neben A=N auch morphologisch eindeutige N figurieren:

(1) Alice kauft für sein Brüder ein Fussball. Ich habe kaufen für meine Mutter eine

Pelzmütze und für mein Vater auch. (Sophie R 7/8, 3) (2) Der Vater, Peter und Elisa machen ein gut Essen für die Mutter. [...] Die Karotten,

die Kartofeln und die Tomaten sind für die Suppe. [...] Sie machen auch die Spa-getti für das Essen. [...] Der Rotwein ist für der Vater. (Mélanie C 8/9, 5)

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205 Sechs von den oben (Kapitel 5.6.4.2, Tab. 49) mitgezählten PP fallen weg, weil sie in Bezug auf den Kasus keine Schlüsse zulassen (für Evas Geburtstag, gut für ei-nes mannes éducation usw.).

206 Natürlich bedeutet dies nicht, dass all diese PP in jeder Hinsicht zielsprachenkon-form wären, da ausser dem Kasus auch das Genus, die Wahl von DET, die Endun-gen evtl. vorhandener Adjektive u.a. Probleme machen können; vgl. für den Inter-view.

207 Zum Default-Kasus vgl. auch 5.5.3.5.1, S. 232. 208 Zu den Kasus-Erwerbsphasen im Bereich der Nominalphrasen vgl. 5.5.3.5. 209 Die am weitesten fortgeschrittene Schülerin im Cycle (Sophie N 8/9), die im NP-

Bereich auf jeden Fall III, vermutlich sogar IV erreicht hat, produziert keine für-Phrasen, was erkennen lässt, dass die Frequenz von für-Phrasen alleine noch gar nichts über das sprachliche Niveau aussagt.

288

Bemerkenswerterweise wird der Nominativ in Präpositionalphrasen nicht nur dann verwendet, wenn Nullmarkierung vorliegt (für mein Vater), wofür man als Erklärung allenfalls die schlechte Perzipierbarkeit des Unterschieds zwi-schen N und A evozieren könnte, sondern ebenfalls bei salienter Markierung (für der Vater). Was speziell die für-Phrasen betrifft, so halten sich die beiden Fälle in etwa die Waage: 5mal liegt der vor, 6mal ∅. Hingegen ist im ganzen PP-Korpus kein einziges Mal ein pronominaler Nominativ in für-PP zu verzeichnen.

In den oberen Klassen (ab 9/10) sind die A=N-Formen von Fall zu Fall unterschiedlich zu interpretieren. Jenen Testpersonen, die im NP-Bereich Phase III (Zwei-Kasus-System) oder gar Phase IV (Drei-Kasus-System) er-reicht haben, ist gewiss zuzutrauen, dass ihre A=N-Phrasen keine Nominative bzw. Default-Formen sind. Solche Lernende produzieren denn auch – wie erwartbar – einerseits eindeutige Akkusative in PP, und zwar auch in solchen, die nicht chunkverdächtig sind (Beispiele weiter unten); und sie verwenden andererseits in PP keine N-Formen mehr (weder nach für noch nach anderen Präpositionen). Für SchülerInnen des PO, die nicht weiter als in NP-Phase II sind, gilt dagegen, was bezüglich des Cycle gesagt wurde: Ihre ziel-sprachenkonformen für-PP sind gewissermassen Glückstreffer, ein positives Nebenprodukt der Tatsache, dass im Deutschen so oft A und N morpholo-gisch zusammenfallen.

A=N-Formen, so einwandfrei sie auch sein mögen, sagen also nichts über die Kasusbeherrschung aus. Demgegenüber kann man aus dem Vorhanden-sein von N in PP schliessen, dass die betreffende TP noch in den Anfängen des Kasuserwerbs steckt. Wie steht es nun aber diesbezüglich mit den ein-deutigen A-Formen, von denen es im PP-Korpus zwar nicht sehr viele, aber immerhin doch 36 gibt? Entsprechend dem Vorhandensein von N statt A in maskulinen für-PP bei den Cycle-SchülerInnen sind eindeutige A überhaupt erst ab Stufe 10/11 festzustellen – mit einer einzigen (pronominalen) Aus-nahme in der achten Klasse.

Nun wäre es aber mit Sicherheit ein Fehler, aus dem Vorhandensein sol-cher Strukturen automatisch auf die Beherrschung des Akkusativs schliessen zu wollen. Von den 36 eindeutigen PP sind nämlich nicht weniger als 27 pronominal, und zwar findet man ausschliesslich die drei Formen für mich (20x), für dich (4x) und für ihn (3x). Diese sind nun zweifellos stark chunk-verdächtig, und so ist es auch nicht erstaunlich, dass selbst schwächere SchülerInnen sie erfolgreich einsetzen (wenn auch nur vereinzelt). Bei fort-geschrittenen Lernenden können für mich, für dich, für ihn zwar durchaus „echte“ Akkusative sein, doch auch hier sollte formelhafte Verwendung nicht einfach von vornherein ausgeschlossen werden. – Als Indizien für die Be-herrschung des Akkusativs nach für bleiben somit nur noch die 9 substantivi-schen PP übrig. Sie finden sich ausnahmslos in Texten von fünf fortgeschrit-

289

tenen Lernenden (NP-Phasen III bzw. IV) und sind von Wortwahl und Kon-text her wohl wirklich als Eigenbildungen anzusehen. Ganz deutlich wird dies in den beiden folgenden Beispielen (mit Selbstkorrektur bzw. mit Dis-tanzstellung zur Präp. + Genusfehler):

(3) Es kostet 70 Fr für ein-en Tag (Nathalie F ESC10/11, 3; die Endung-en wurde

offensichtlich im Nachhinein eingefügt) (4) Danke schön für die Antworte und den Interview Kurt. (Fanny D ESC11/12, 6) Schliesslich sei festgehalten, dass von den 124 für-PP eine einzige hinsicht-lich ihrer Morphologie einem zielsprachlichen Dativ entspricht, doch ist es in Wirklichkeit nicht einmal ganz sicher, ob die betreffende Form auch tatsäch-lich als Dativ intendiert ist; immerhin könnte es sich auch um einen übermar-kierten Nominativ maskulinum handeln. Für D spricht allerdings, dass die betreffende Schülerin in der gleichen Arbeit und auch sonst eine deutliche Vorliebe für D-Formen (korrekte und abweichende) zu haben scheint: (5) Petra hat ihnen geantwortet, dass sie das für einer Wette gemacht hätte. (Sophie

B 9/C10, 7) Die Tatsache, dass auf für praktisch nie ein Dativ folgt, ist in dieser Eindeu-tigkeit erstaunlich. Den Kindern sind D-Formen nach Präpositionen (speziell mit) seit langem vertraut, und sie verwenden diese auch häufig. Man hätte al-so durchaus erwarten können, dass sie für-PP nach dem Modell der mit-PP bilden, also z. B. für dem Auto, für dir nach den ihnen bestens bekannten mit dem Auto, mit dir. Ganz offensichtlich tun sie es aber nicht. Dies steht im Ge-gensatz zu den von Wegener beobachteten Kindern, die anscheinend D auf A-PP generalisieren (zwar besonders deutlich, aber nicht nur bei den WP), so dass Wegener – wie bereits erwähnt – dieses Phänomen sogar als ein mögli-ches Indiz dafür wertet, dass der Dativ in Präpositionalphrasen der unmarkier-te Kasus sein könnte (vgl. Kapitel 6.3.2, S. 272). Die Art und Weise, wie un-sere Genfer Schülerinnen und Schüler mit für und den anderen Präpositionen umgehen, die mit dem Akkusativ konstruiert werden, stützt diese These mit Sicherheit nicht. Allerdings ist es an dieser Stelle zweifellos verfrüht, wei-tergehende Schlüsse ziehen zu wollen; zuvor gilt es die Präpositionen, die den Dativ verlangen, sowie die Wechselpräpostionen zu betrachten. Als vorläu-figes Fazit halten wir fest: − Zielsprachenkonforme für-Phrasen bzw. Akkusativ-PP lassen nur wenig

Schlüsse auf das Kasuswissen der Lernenden zu. − Kasuswissen ist für einen relativ erfolgreichen Umgang mit Akkusativ-PP aus

sprachimmanenten Gründen jedoch nicht notwendig, da A=N-Formen gegen-über eindeutigen A-Formen bei weitem überwiegen, so dass die grosse Mehr-heit der von den Lernenden verwendeten für-Phrasen kasuskorrekt sind.

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− Eindeutige N-Formen kommen in frühen Erwerbsstadien in substantivi-schen, jedoch nicht in pronominalen für-Phrasen vor.

− D wird nicht auf für-Phrasen (und auch nicht auf andere Akkusativ-PP) generalisiert.

Und in Bezug auf den Deutschunterricht: − für sollte im Unterricht früh eingeführt und auch immer wieder benutzt

werden,210 wobei auf Erklärungen, die den Kasus betreffen, während lan-ger Zeit verzichtet werden kann.

5.6.5.2 Der Kasus in den mit-Phrasen

Anders als bei den Akkusativ-PP haben die Lernenden im Falle der Dativ-PP, deren Markierung sich in allen drei Genera klar von der Defaultform unter-scheidet, kaum Chancen, korrekte Strukturen sozusagen unabsichtlich zu produzieren.211 Es ist also damit zu rechnen, dass der Kasus-Fehleranteil nach den PfK, die den Dativ erfordern, deutlich höher ist als bei den PfK mit Ak-kusativ.

Die folgenden Zahlen, die sich auf mit beziehen, geben dieser Vermutung Recht: Von den 292 mit-PP mit erkennbarem Kasus212 sind 194 in Bezug auf den Kasus korrekt, 98 weichen von der Norm ab: 23mal wird N/D verwendet, wobei es sich ausnahmslos um substantivische PP handelt; A=N/D ist in 55 mit-Phrasen belegt, von denen nur 2 pronominal sind; und 20mal erscheint A/D, mit einem ebenfalls sehr geringen Anteil von 3 pronominalen Formen.

Wenn auch die Korrektheitsrate bei mit deutlich niedriger ist als bei für, so lässt sich wohl dennoch nicht leugnen, dass 66% kasuskorrekte mit-Phrasen – das sind immerhin zwei Drittel – ein recht positives Ergebnis sind. Doch ebenso wenig wie im Falle der für-Phrasen ist anzunehmen, dass in erster Li-_______________

210 Zwar haben unsere TP für bereits in der 5. Klasse kennengelernt, doch scheint ih-

nen die Präposition – aus was für Gründen auch immer – während langer Zeit nicht zur Verfügung zu stehen. Anders lässt sich nicht erklären, dass die Kinder bis zur 7. Klasse warten, ehe sie für zu verwenden beginnen. Die Themen hätten die Verwendung auf jeden Fall erlaubt.

211 Als Zufallstreffer wäre allenfalls eine Struktur wie mit der Katze denkbar, die zweifellos zielsprachenkonform ist, jedoch auf falschem Weg entstanden sein kann, nämlich mit + Nmask (mit möglichem Transfer des Genus aus dem Franzö-sischen). In Wirklichkeit ist dieser Fall für mit im Korpus gar nicht und auch sonst nur selten belegt, z. B. der Hunger in der Welt (dans le monde).

212 Auch hier stimmt die Anzahl nicht ganz genau mit derjenigen des Abschnitts 5.6.4.2, Tab. 49 überein; einerseits, weil wiederum ein paar PP ohne DET wegfal-len, andererseits weil für die Kasusuntersuchung in koordinierten PP vom Typ mit einer Freundin oder einem Freund vernünftigerweise zweimal D gezählt wurden (aber nur eine Präposition).

291

nie Kasuswissen für die relativ hohe Zahl richtiger Formen verantwortlich ist. Ein Blick auf die Tab. 51 lässt erkennen, dass offensichtlich keineswegs nur sehr fortgeschrittene Lernende korrekte mit-Phrasen verwenden. Dies zeigen besonders deutlich die Ergebnisse der Klassen 6/7 und 7/8, wo der Ausbau des Kasussystems im NP-Bereich noch ganz in den Anfängen steckt (Phasen I und II) und wo nichtsdestoweniger die korrekten PP gegenüber den abwei-chenden klar überwiegen. Andererseits geht aus der Tabelle aber ebenfalls hervor, dass das Verhältnis kasuskorrekter und abweichender Formen durch-aus auch damit zu tun hat, wie weit die SchülerInnen einer Stufe213 im Kasus-erwerb der NP sind: Wo die Phasen I und II überwiegen, gibt es mehr abwei-chende Formen (ausser auf den erwähnten Stufen 6/7 und 7/8); wo dagegen III und IV in der Überzahl sind, kommen deutlich mehr korrekte Formen vor. Klassenstufe (Anzahl TP)

NP-Phasen (Anzahl TP, wenn mehr als 1)

Anzahl mit-PP Verhältnis richtig:falsch

4/5 (2) I 6 0 : 6

5/6 (2) I 8 2 : 6

6/7 (3) I 11 9 : 2 !

7/8 (5) I>II(3), I>II/III, II 26 23 : 3 !

8/9 (7) I, II(2), II>III, II/III, II>III/IV, III 26 9 : 17

9/10 ESC(4) I, I>II, II, III 28 5 : 23

9/10 Coll (3) II>III, III>IV, IV/III 23 18 : 5

10/11 ECG (3) I, I/II, II>III 20 8 : 12

10/11 ESC (3) I, III, IV 25 20 : 5

10/11 Coll (4) III>IV(3), IV 48 43 : 5

11/12 ECG (3) I, II(2) 8 2 : 6

11/12 ESC (3) II, II>III, III/IV 21 18 : 3

11/12 Coll (4) III(2), IV(2) 16 16 : 0

12/M ESC (3) II, II>III, IV 9 8 : 1

12/M Coll (3) II, III(2), III>IV 17 13 : 4

Total 292 194 : 98

Tab. 51: Kasuswahl nach mit Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, inwiefern der Erwerb des Dativs (und damit der Kasuserwerb überhaupt) in Präpositionalphrasen mit PfK par-allel zum Erwerb in den Nominalphrasen verläuft und welches die allfälligen Unterschiede sind. Im Gegensatz zu den Akkusativ-PP scheint ein solches Verfahren hier durchaus möglich und sinnvoll.

_______________

213 Ab Stufe 9/10 nach Klassenstufe und Schultyp getrennt.

292

Einige Unterschiede zwischen Dativ-PP und Dativ-NP sind von vornherein evident: Dativ-PP werden überaus häufig benutzt, und sie sind (wie alle andern Präpositionalphrasen) in der Lernersprache im Gegensatz zu den dati-vischen Nominalphrasen sehr oft substantivisch. Ausserdem spielt das Lernen von unanalysierten Ausdrücken – auch dies dürfte unbestritten sein – im PP-Bereich eine sehr viel zentralere Rolle als im NP-Bereich (auch wenn sich der Anteil an Chunk-Lernen nicht ohne weiteres messen lässt).

Hingegen ist sicher nicht auf den ersten Blick zu erkennen, ob der Kasus-erwerb – und speziell der Erwerb des Dativs – in Präpositionalphrasen pa-rallel zum Erwerb in Nominalphrasen verläuft oder nicht. Wäre der Erwerbs-verlauf tatsächlich genau der gleiche, dann müssten sich die Dinge im Falle der mit-Phrasen folgendermassen abspielen: a) TP der NP-Phase I dürften nur mit-Phrasen mit N bzw. A=N produzieren

(dazu eventuell Chunks). b) TP der NP-Phase II müssten verschiedene Morpheme – N, A=N, aber

auch A und D – in unsystematischer Verteilung verwenden (+ ev. Chunks).

c) Bei TP der Phase III dürften nach mit keine N mehr vorkommen; hinge-gen müssten sowohl A- bzw. A=N-Marker als auch D-Marker belegt sein (+ ev. Chunks).

d) Schliesslich sollten die Lernenden der NP-Phase IV alles richtig machen, d. h. in ihren mit-PP dürften weder N noch A=N noch A figurieren (+ ev. Chunks).

Es wird sich zeigen, dass die obigen Annahmen zwar zu einem guten Teil, aber eben doch nicht in jeder Hinsicht zutreffen.

Ad (a): TP der NP-Phase I dürften nur mit-Phrasen mit N bzw. A=N pro-duzieren (dazu eventuell Chunks).

Erwartungsgemäss verbinden die TP der Phase I mit (und andere Präposi-tionen) mit N bzw. A=N, also mit der Defaultform; zu beobachten ist dies nur bei substantivischen PP, da die betreffenden Lernenden keine pronominalen mit-PP verwenden.

Auf den Stufen 4/5 und 5/6 ist mit bei je zwei von vier Kindern belegt. Of-fensichtlich haben sie die Präposition dem Input entnommen (sie taucht erst-mals in der vierten Klasse nach wenigen Monaten Deutschunterricht in mit Bananen auf) und verwenden sie produktiv, d. h. sie verbinden sie mit dem Substantiv bzw. der NP in der Form, wie sie diese kennengelernt haben:

(6) Da ich schwimme, singe mit der Papagaye ount ich esse die orange mit der

Hund oun Catz. (David P 5/6, 8)

293

Noch im PO findet man bei Lernenden der NP-Phase I solche – eindeutigen – Nominative: Der Kind wohnt mit der König (Sandrine D ECG11/12); verhei-ratet mit der Mann reich (Liliane N ECG10/11). Daneben sind bei diesen TP natürlich auch zahlreiche A=N-Formen zu verzeichnen, für die mit Sicherheit gilt, dass es sich um Default-Formen – und nicht etwa um intendierten A – handelt: (7) Und für die 31 December habe ich mit meine Familie gesungen und haben wir

viel getrunken. Ein Tag habe ich mit mein Vater skigefahren. (Odette A 9/ESC10, 2)

Analog zu für spielt es offenbar für die Verwendung von N als Defaultform auch hier keine Rolle, ob der N-Marker gut oder schlecht perzipierbar ist (der – mein). – Erwähnenswert ist, dass mit-Phrasen, in denen das Substantiv ein Mitglied des Familien- oder Freundeskreises bezeichnet, offenbar nicht als Chunks gelernt werden, obschon dies äusserst nützlich wäre, verwenden die SchülerInnen gerade solche Präpositionalphrasen in ihren Texten doch über-aus häufig. Immer wieder trifft man von der Primarschule an auf mit meine Mutter, mit mein Bruder, mit meine Freundin sowie auf mit die Familie, mit meine Familie usw.

Ab und zu und nur in den höheren Klassen tauchen in den Texten von Lernenden der NP-Phase I andere als N-Marker auf (ausserhalb der Chunks), die offenbar in jener unsystematischen Weise verwendet werden, wie sie im NP-Bereich für die Phase II typisch ist. So schreibt etwa Vincent C (ESC10/11) in derselben Arbeit neben mit die Matura, mit meine Matura auch mit dem Hand, eine D-Form, die gewiss nicht auf Dativ-Verständnis be-ruht. Vielleicht handelt es sich um eine Analogiebildung zu Chunks vom Typ mit dem Auto, mit dem Bus (vgl. dazu weiter unten) oder auch um ein rein zu-fälliges Produkt, eine Form, die ebenso gut eine andere hätte sein können und die dem Schüler gewissermassen „unterläuft“, weil er wahrgenommen hat, dass neben N und A=N – die in seinen Präpositionalphrasen die erdrückende Mehrheit ausmachen – auch noch andere Deklinationsmarker existieren. Dass allerdings derartige Erklärungsversuche immer auch Spekulation sind und sich letztlich nichts beweisen lässt, sei hier ausdrücklich festgehalten.

Ad (b): TP der NP-Phase II müssten verschiedene Morpheme – N, A=N, aber auch A und D – in unsystematischer Verteilung verwenden (+ ev. Chunks).

Erwartungsgemäss versehen die Testpersonen der NP-Phase II auch ihre Präpositionalphrasen mit allerlei verschiedenartigen Endungen, ohne dass sie zu wissen scheinen, dass mit bestimmten Formen auch bestimmte Kasus-funktionen verbunden sind. Dazu ein Textausschnitt aus der letzten Testarbeit der oben zitierten Odette A, die inzwischen von der alleinigen Verwendung

294

des Nominativs (Phase I) abgekommen ist, so dass sie in ihrer letzten Testarbeit in unmittelbarem Nebeneinander A=N/D, N/D und A/D produziert:

(8) Am Sonntag, mit meine Familie und mein Hund in Watt ich habe spazierenge-

gangen. Meine Mutter sagt mir: kannst-du mit deinen Bruder ein Brot kaufen ein. (Odette A 9/ESC10, 8)

Dass die scheinbare A-Phrase mit deinen Bruder von Odette tatsächlich (irrtümlicherweise) als Akkusativ intendiert wäre, ist angesichts ihres allge-meinen Sprachstandes nicht anzunehmen. Wahrscheinlich verhält es sich eher so (doch ist auch dies wiederum nur eine Vermutung), dass sie ihre Endungen nach dem Genus variiert (ein paar Zeilen weiter unten schreibt sie auch mit meine Schwester) und dass sie überdies „gemerkt“ hat, dass bei Maskulina manchmal eine andere als die „normale“ (Default-)Endung stehen muss. Unklar ist ihr aber, unter welchen Bedingungen welche andere Form zu wählen ist. – Pronominale Präpositionalphrasen werden von diesen Lerner-Innen nur ganz vereinzelt gebraucht, sie sind jeweils korrekt, so dass sie wohl als Chunks zu interpretieren sind (z. B. mit mir, mit ihr).

Ad (c): Bei TP der Phase III dürften nach mit keine N mehr vorkommen; hingegen müssten sowohl A- bzw. A=N-Marker als auch D-Marker belegt sein (+ ev. Chunks).

Die erste Annahme, wonach Lernende, die im NP-Bereich Phase III er-reicht haben, in mit-Phrasen (und überhaupt in PP) normalerweise keine ein-deutig markierten N mehr verwenden sollten, trifft unzweifelhaft zu. Es sieht also ganz so aus, als ob mit der Entdeckung des Mehr-Kasus-Systems auch die Erkenntnis einherginge, dass nach Präpositionen kein N stehen darf. Nur in einer speziellen Konstruktion verfallen auch diese Lernenden in Präposi-tionalphrasen in den Nominativ, und zwar setzen sie Appositionen, wenn sie überhaupt welche verwenden, in den N (bzw. N=A), z. B. mit C.L., eine Sän-gerin verheiratet (Fanny D ESC11/12).

Die zweite Annahme dagegen entpuppt sich als nicht richtig, schneiden doch die betreffenden Testpersonen in auffallender Weise besser ab, als von ihren NP-Kasuskenntnissen her zu erwarten wäre. Zwar gibt es vereinzelt Lernende, die der Annahme entsprechen und die – bisweilen gar in derselben Arbeit – nach mit (wie auch nach den anderen D-Präpositionen) in scheinbar zufälliger Verteilung einmal D, dann wieder A oder A=N verwenden; zu ih-nen gehört z. B. Sophie B (9/C10), die in mehreren Texten mit-Phrasen ver-wendet: mit meiner Freundin, mit meiner Mutter und meiner Schwester (1), mit dem Flugzeug (3), mit ein Kleid, mit einen Pullover (4), mit meiner Frau, mit ihr (6), mit ihre Freundin (7). Dabei fällt auf, dass ganz im Gegensatz zum Befund im NP-Bereich nicht etwa der Akkusativ, sondern der Dativ zah-lenmässig überwiegt. Die meisten Schülerinnen und Schüler, die in NP-III

295

sind, produzieren jedoch fast nur kasuskorrekte mit-Phrasen (sowie andere Dativ-PP), von denen grossenteils kaum anzunehmen ist, dass es sich um Chunks handelt. So verwendet beispielsweise Céline M (ESC11/12) in Verbindung mit der Präposition mit stets den Dativ, d. h. sie produziert meh-rere Dativ-PP mit substantivischem Kern – mit eurem Vater, mit meiner Mannschaft, mit meiner Frau (7) und mit ihrem Ehemann (2x in 8) –, wäh-rend entsprechende Formen bei ihr wie bei den meisten unserer Testpersonen im NP-Bereich völlig fehlen. Bei einer anderen Schülerin (Nathalie F ESC10/11) finden sich neben einer Reihe von pronominalen PP (mit ihr, mit mir, mit ihm) die Formen mit dem Schauspieler, mit dem Zug, mit ihrem Tochter: Wenn hier mit dem Zug gewiss auch Chunk sein kann (vgl. weiter unten), so trifft dies mit Sicherheit nicht für mit dem Tochter zu, wo der mas-kuline D-Marker auf das Femininum generalisiert wurde. – Selbst was zu-nächst wie ein Akkusativ aussieht, ist in Wirklichkeit vielleicht gar nicht als solcher intendiert, etwa wenn eine Schülerin (Delphine G C10/11) neben ei-ner ganzen Reihe von korrekten Dativ-PP mit verschiedenen Präpositionen (darunter auch mit) als einzige abweichende Form mit vielen Lust schreibt. Es könnte nämlich durchaus sein, dass der Irrtum hier nicht in der falschen Ka-suswahl liegt, sondern in der Generalisierung einer schwachen Deklinations-form auf einen Kontext, der die starke Deklination erfordert.

Ad (d): Schliesslich sollten die Lernenden der NP-Phase IV alles richtig machen, d. h. in ihren mit-PP dürften weder N noch A=N noch A figurieren (+ ev. Chunks).

Lernende, die im NP-Bereich die Phase IV erreicht haben, produzieren erwartungsgemäss fast ausschliesslich korrekte mit-Phrasen, die zweifellos zu einem guten Teil eigene Konstruktionen sind, wie die folgenden Beispiele zeigen: mit aller meiner Kraft, mit meiner Mutter, mit dem Geld, mit einem andern Mann u.a. kann man beispielsweise bei Sophie N (C10/11) in diver-sen Arbeiten lesen; und Brigitte A (C11/12) schreibt in derselben Arbeit (5) mit einem freundlichen reichen Mann verheiratet, mit einem schönen Haus, mit ihrer Tochter, daneben auch mit dem Zug, mit ihr, in Bezug auf die nicht zu entscheiden ist, ob es sich um Chunks handelt oder nicht. Fehler passieren hier nur noch ausnahmsweise und unter speziellen Bedingungen: So stehen die (wenigen) Appositionen auch bei diesen weit fortgeschrittenen LernerIn-nen stets im N bzw. N=A. Diese Abweichung ist mit Sicherheit nicht als ein Indiz für einen frühen Erwerbsstand im Kasusbereich zu werten, handelt es sich doch um eine jener Finessen, die wirklich nur von Lernenden mit annä-hernd muttersprachlichen Deutschkompetenzen beherrscht werden. Ähnliches gilt wohl, wenn ein sehr fortgeschrittener Schüler (Sébastien B 9/C10, 6) auf die Frage Mit wem? mit der Form mit Herr J.-M. antwortet. Auch dies ist insofern kein „schlimmer Fehler“, als hier der Dativ ausnahmsweise am Substantiv markiert werden muss – eine Schwierigkeit, die selbst von

296

Deutschsprachigen nicht ohne weiteres gemeistert wird. A=N/D ist – ausser in Appositionen – überhaupt nicht belegt; und bei einem einzigen Schüler findet sich nach mit ein Akkusativ: Olivier M (C10/11) verwendet in der siebten Arbeit zweimal mit ihn, was wohl mit einer momentanen Verunsicherung zu erklären ist, da er in seinen andern Texten mit stets korrekt mit D kombiniert und auch sonst die Kasus in seinen zahlreichen PP mühelos richtig handhabt. Möglicherweise nimmt er kurzfristig tatsächlich an, mit verlange den A; dass die Verwechslung von A und D ausgerechnet im Falle der 3. Person mask. passiert, mag damit zu tun haben, dass ihn und ihm sich lautlich sehr nahe sind.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass unser Material keine Indizien dafür liefert, dass in Präpositionalphrasen mit PfK der Akkusativ auf D-Kontexte generalisiert würde; die scheinbaren A der frühen Stadien, die for-mal mit N zusammenfallen, sind unseres Erachtens als Defaultformen zu in-terpretieren, und in späteren Phasen – d. h. sobald ein Kasuswissen vorhanden ist – überwiegen ganz klar die D-Formen.

Dativ-PP als Chunks: Dass das Lernen von nicht analysierten Syntagmen im Bereich der Dativ-PP eine wichtige Rolle spielt, wurde bereits erwähnt. Auch wenn sich längst nicht immer mit Sicherheit sagen lässt, ob eine normgerechte Form ein Chunk ist oder nicht, so ist es dennoch möglich, dem Chunk-Lernen anhand unseres Materials zumindest ein Stück weit auf die Spur zu kommen.

Korrekte mit-PP, die (mit mehr oder weniger hoher Wahrscheinlichkeit) als Chunks zu interpretieren sind, kommen in allen Phasen und auf allen Stu-fen ausser 4/5 vor. Allerdings verwenden nicht alle TP solche formelhaften Ausdrücke; auch treten sie bei den einzelnen TP bzw. in den verschiedenen Arbeiten in sehr unterschiedlicher Häufung auf. Offensichtlich spielen sie auf den Stufen 6/7 und 7/8 eine besonders wichtige Rolle; denn dass die betref-fenden Kinder so verblüffend gut abschneiden (vgl. Tab. 51), liegt sicher nicht an ihrer Dativkenntnis, situieren sie sich doch alle im NP-Bereich in Phase I oder II; von eigentlichem Kasuswissen kann bei ihnen also keine Rede sein.214 Ein Blick auf die belegten PP zeigt, dass diese sich sehr ähnlich sehen: mit dem Velo, mit dem Auto, mit dem Taxi, mit dem Zug usw. Auch tauchen sie – themenbedingt – gehäuft in der dritten Arbeit der Klassenstufe 7/8 auf (18 von den 23 richtigen Formen wurden in der siebten Klasse ver-wendet, nur 5 in der achten). Es handelt sich um Syntagmen, die als ganze Einheiten im Buch eingeführt und im Unterricht geübt wurden und deren Struktur von den Lernenden offensichtlich nicht durchschaut wird. Dass sie

_______________

214 Eine Schülerin hat möglicherweise III erreicht, jedoch erst ganz am Ende der Test-zeit.

297

bisweilen auch als Muster für Neubildungen dienen, zeigen die folgenden – abweichenden – Ausdrücke: mit dem Freundin; mit dem Ski; und dann ich fahre mit dem Strassenbahn mit dem Bachet (Sébastien R 7/8, 3).215

Wenn aus kommunikativen Gründen der DET des festen Ausdrucks durch einen andern ersetzt werden muss, verfallen die LernerInnen – was erwartbar ist – in das Muster mit + (DET + X)default: mit sein Freund, mit meine Freun-din, mit S. B. und seine Familie usw., so dass man manchmal korrekte und abweichende Formen in derselben Arbeit nebeneinander vorfindet:

(9) Um 19 Uhr will ich mit meine Auto nach Hause kommen. Aber ich kann nicht,

weil meine Auto kaputt ist. Ich muss denn der Bus haben. Ich fahre mit dem Bus nach Hause [...] (Florian W 7/8, 8)

Wahrscheinlich verfügt dieser Schüler über mit dem Auto genauso problemlos wie über mit dem Bus; da er aber ein Possessivum benötigt, ist er gezwungen, einen neuen Ausdruck aus Elementen seines interimsprachlichen Wissens zusammenzufügen: mit + mein- + Auto (= fem., vielleicht wegen Genustransfers aus dem Französischen).

In den oberen Klassen (ab 8/9) werden die Chunks proportional weniger, ohne dass sie vollständig verschwinden würden. Immer wieder trifft man auf mit dem Zug, mit dem Bus usw.; gerade diese Ausdrücke aus der siebten Klasse scheinen sich also während vieler Jahre gut zu halten. Im PO tauchen auch vermehrt pronominale mit-Phrasen auf (mit mir, mit dir, mit ihm, mit ihr, vereinzelt mit wem?), die in einer Reihe von Fällen vermutlich ebenfalls Chunks sind.216 Andererseits gilt aber für all diese Schülerinnen und Schüler – so unterschiedlich ihre grammatischen Kenntnisse auch sein mögen –, dass sie allmählich über immer mehr Ausdrucksmöglichkeiten, insbesondere über einen grösseren Wortschatz, verfügen und dass sie sich in ihren Texten nicht mehr damit begnügen, in erster Linie formelhafte, nicht analysierte mit-PP als Chunks zu verwenden, wie dies in den Klassen 6/7 und 7/8 klar der Fall war. Unter diesen Voraussetzungen produzieren Lernende ohne Kasuswissen zahlreiche Abweichungen (vgl. oben unter (a) und (b)), während Lernende mit mehr oder weniger ausgebautem Kasussystem, wie oben beschrieben, in der Verwendung von eigenen Dativ-PP durchaus erfolgreich sind.

_______________

215 mit dem Bachet anstatt bis Bachet (Bachet = Name einer Strassenbahnhaltestelle): offenbar steht dem Schüler die passende Präposition nicht zur Verfügung, so dass er sich mit einer ihm bekannten Form behilft. Dieses Phänomen wird hier nicht untersucht, obgleich auch dies ohne Zweifel aufschlussreich wäre.

216 Die pronominalen mit-Phrasen machen nur 23% aus (67 von 292). Insgesamt sind nur fünf Abweichungen zu verzeichnen, die sich auf vier TP verteilen; es sind dies: 3x mit ihn (2 TP), 1x mit dieses, 1x mit das.

298

Hier stellt sich nun auch die Frage, in welchem Masse und unter welchen Bedingungen Chunks aufgebrochen, d. h. analysiert werden können, so dass sie für die Bildung neuer Syntagmen nutzbar werden. Dass die Schülerinnen und Schüler in der Primarschule und in den ersten Cycle-Jahren die zahlrei-chen gelernten Chunks in dieser Weise produktiv verwenden, wird wohl von niemandem ernstlich erwartet (vgl. das Beispiel (9) mit meine Auto). Ganz offensichtlich ist es aber auch vielen Lernenden der höheren Klassen nicht möglich, den Kasus in ihnen geläufigen Chunks zu identifizieren und ein derart gewonnenes Wissen auf andere Kontexte zu übertragen. So tritt im folgenden Beispiel einer Schülerin der zehnten Klasse klar zu Tage, dass dem im längst bekannten mit dem Auto nicht als Dativ erkannt wurde, figuriert der Ausdruck doch in einer koordinierten PP mit dem Auto und die Caravane, wo das aus dem französischen entlehnte Caravane mit dem Default-DET er-scheint (Jeannette C ECG 10/11, 8). Und wenn eine Schülerin in der neunten Klasse mit mein Auto schreibt, dann zeigt dies ebenfalls, dass der Dativ aus mit dem Auto217 nicht auf das Possessivum übertragen werden kann, weil er nicht als solcher identifiziert wird (Corinnee P 9/ESC 10, 3). Die Vorausset-zung für das erfolgreiche Knacken von Chunks ist Kasusbewusstsein; dieses aber ist weder bei der einen noch bei der anderen der beiden Schülerinnen gegeben.

Erwähnenswert ist auch, dass bei manchen schwachen LernerInnen der oberen Klassen selbst einst verfügbare Chunks verloren gehen können, so dass sie abweichende Formen produzieren, wo sie es vermutlich in früheren Jahren noch richtig gemacht hätten; bei der eben genannten Jeannette bei-spielsweise kann man auch lesen mit die Auto von mein Freund (3), mit das Schiff (8).

All diese chunkbedingten Schwierigkeiten und Pannen sollen nun gewiss nicht die prinzipielle Nützlichkeit des Lernens von formelhaften Einheiten in Frage stellen. sie zeigen aber deutlich, dass keineswegs alle Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, Chunks in der Weise zu analysieren, dass sie die einzelnen Elemente neu und produktiv verwenden könnten.218 Dazu sind wohl wirklich nur fortgeschrittene Lernende fähig, die über ein gutes Kasus-verständnis verfügen; ihnen ist es zuzutrauen, dass sie erkennen, wie eine Präpositionalphrase vom Typ mit dem Auto intern strukturiert ist, so dass sie daraus andere Syntagmen, z. B. mit meinem Auto ableiten können. Allerdings lässt sich kaum nachweisen, ob und wann sie es auch wirklich tun, denn auf welche Weise ein Ausdruck wie mit meinem Auto in Wirklichkeit entstanden ist, lässt sich nicht nachvollziehen. Das Problem ist, dass es bei fortgeschrit-_______________

217 Es ist wahrscheinlich, aber nicht nachzuweisen, dass mit dem Auto auch dieser

Schülerin als Chunk zur Verfügung steht. 218 Zur Frage der „Verwendbarkeit“ von Chunks für die Bildung neuer Syntagmen

vgl. auch die Spezialuntersuchung zu nach Hause/zu Hause (5.6.6.3).

299

tenen LernerInnen angesichts ihrer fast ausschliesslich korrekten Präpositio-nalphrasen grundsätzlich schwierig ist zu entscheiden, wie sie zu der richtigen Form gekommen sind; selbst stark chunkverdächtige Syntagmen wie mit dem Taxi, mit dem Fahrrad werden von ihnen möglicherweise gar nicht formelhaft verwendet, sondern sind „echte“ Dative. Fazit: − Die Anzahl der kasuskorrekten mit-Phrasen ist proportional weniger hoch

als jene der für-Phrasen (66% gegenüber 88%). − Im Gegensatz zu den für-Phrasen lassen zielsprachenkonforme mit-Phrasen

durchaus einige Schlüsse über den Kasuserwerb bzw. das Kasuswissen der Lernenden zu.

− Es sieht so aus, als würde der Kasuserwerb in Präpositionalphrasen mit festem Kasus zumindest an einzelnen Stellen schneller verlaufen als im Be-reich der Nominalphrasen. So tauchen bereits bei LernerInnen der NP-Pha-se I nach mit bisweilen andere als N-Marker auf (nicht nur in Chunks). Vor allen Dingen aber erscheint der Dativ in mit-Phrasen früher und in ungleich grösserer Anzahl als in NP, nämlich bereits bei Lernenden der NP-Phase III.

− Dennoch verläuft die Entwicklung im PP-Bereich sicher nicht völlig unab-hängig von derjenigen im NP-Bereich: Die Voraussetzung dafür, dass der Dativ in PP systematisch verwendet werden kann, ist offensichtlich der Ausbruch aus dem Ein-Kasus-System im NP-Bereich.

− Eindeutige N-Formen kommen in frühen Phasen an Stelle von D vor, dies aber wiederum (wie nach für) nur in substantivischen PP.219

− Auch A=N wird in den frühen Phasen anstatt D verwendet; A=N ist in die-sem Falle nicht als A, sondern als Defaultform zu interpretieren; ab Phase III ist A=N/D nur noch selten belegt, hier dürfte es sich um intendierten A handeln.

− A statt D ist in mit-PP selten und fast nur bei TP der Phase II belegt, bei denen (wie wir annehmen) A-Morpheme keine A-Funktion haben.

− Aus den beiden letztgenannten Befunden ergibt sich, dass der Akkusativ in PP nicht auf Dativ-Kontexte generalisiert wird.

Und in Bezug auf den Deutschunterricht: − Chunklernen ist wichtig; das Inventar von festen Formeln könnte im Un-

terricht erweitert werden (vgl. Bezeichnungen für Verwandte und Be-kannte). Für Schülerinnen und Schüler, die kein Kasuswissen besitzen,

_______________

219 Pronominale N statt D sind sowohl in PP wie in NP überaus selten; im DiGS-Ma-terial belegt sind beispielsweise Informationen über du, mein Bruder und ich hel-fen er in seine Beruf. – Zum Kasuserwerb in pronominalen NP vgl. 5.5.3.5.5.

300

bilden feste Formeln die einzige Möglichkeit, die in der Kommunikation so wichtigen mit-PP (sowie andere Dativ-PP) korrekt zu verwenden; für fortgeschrittene Lernende sind sie analysierbares Material, das die Bildung eigener Präpositionalphrasen ermöglicht (wenn auch nicht garantiert).

5.6.6 Raumpräpositionen – die semantische Opposition

‘lokativ – direktiv’ Anders als im Bereich der PfK, wo es möglich und sinnvoll war, jeweils die Präposition mit dem höchsten Vorkommen (für + A bzw. mit + D) quasi stell-vertretend für die andern zu behandeln, erweist sich ein derart einfaches Ver-fahren für die Wechselpräpositionen als nicht praktikabel. Zwar stimmt es natürlich, dass der Wechsel zwischen D und A nach in, der WP mit der höchsten Frequenz, die Opposition zwischen lokativer und direktiver Bedeu-tung ausdrückt; jedoch entspricht dieser Opposition, wie wir bereits gesehen haben, keineswegs immer ein solcher Kasuswechsel. In Wirklichkeit haben wir es mit vier Präpositionen zu tun, die alle miteinander vernetzt sind, von denen aber nur eine (in) zu den WP gehört, während sich für eine zweite (nach), weil sie ohne DET gebraucht wird, die Frage nach dem Kasus im Prinzip nicht stellt220 und die beiden übrigen (zu und bei) einen festen Kasus, nämlich den Dativ, erfordern.

Kasus ist also nur ein Faktor unter anderen und kann deshalb im Zusam-menhang mit der Präposition in nicht der einzige Untersuchungsgegenstand sein. Denn wer Deutsch lernt, steht im Bereich der Raumpräpositionen (wie wir bereits sahen) vor einer äusserst komplexen Lernaufgabe: Einmal muss die Unterscheidung zwischen lokativer und direktiver Bedeutung erfasst wer-den, was allein schon eine erhebliche Schwierigkeit darstellt; dann ist zu ent-scheiden, ob diese Opposition durch morphologische (Kasus) oder durch lexi-kalische Mittel (verschiedene Präpositionen) auszudrücken ist, was davon ab-hängt, ob es sich um Personen oder Orte handelt und ob das jeweilige Sub-stantiv mit oder ohne Determinans verwendet wird.221 Und selbstverständlich besteht wie immer das Problem der adäquaten Realisierung des einmal ge-wählten Kasus, unabhängig davon, ob eine WP oder eine PfK vorliegt.

Dass die Datenlage im Bereich der Raumpräpositionen noch komplizierter und noch undurchsichtiger ist als in den übrigen Kasus- bzw. Präpositionalbe-reichen, ergibt sich aus dem Gesagten beinahe von selbst. Nichtsdestoweniger

_______________

220 Ganz vereinzelt gibt es in unserem Korpus allerdings Syntagmen vom Typ nach die Jugendherberge.

221 Pronominale Raum-PP sind in den Texten so selten, dass sie praktisch vernachläs-sigbar sind.

301

soll nun aber im Folgenden der Versuch gemacht werden, einige Punkte zu diskutieren, die zumindest teilweise Aufschluss darüber geben können, in welcher Weise Lernende in der Situation des gesteuerten Erwerbs mit dem hochkomplexen Problem der Raumpräpositionen umgehen.

5.6.6.1 Lokative und direktive Kontexte: Was tun die Lernenden?

Die folgende Tabelle zeigt die Anzahl der lokativen und direktiven Kontexte bei den 58 untersuchten TP, in denen zielsprachlich eine der vier Präpositio-nen in (+ D oder A), nach, zu, bei stehen müsste (Kolonnen 4 und 7); sie gibt überdies an, wie oft jeweils eine dem Kontext angemessene Struktur gewählt wurde und wie oft dies nicht der Fall ist (Kolonnen 5 und 6 bzw. 8 und 9).222 Die einzelnen Arbeiten werden hier nicht auseinander gehalten, was sich da-durch rechtfertigen lässt, dass nur bei wenigen TP im Laufe der Testzeit eine eindeutige Entwicklung zu erkennen ist. Vermutlich entspricht dies meistens der Realität, doch ist nicht auszuschliessen, dass in einigen Fällen tatsächliche Fortschritte durch die Heterogenität der Formen, die oft einfach keine klaren Schlüsse zulassen, verdeckt werden. Stufe TP NP-

Phase lokativ

direktiv

alle

Ant. r

total r f total r f r f tot

4/5 NB I 0 0 0 0 0 0 0 0 0 -

CM I 10 4 6 5 0 5 4 11 15 exp-

SV I 1 0 1 3 3 0 3 1 4 (±ok)

YD I 1 0 1 2 0 2 0 3 3 (f)

5/6 SM I 1 1 0 0 0 0 1 0 1 (ok)

AP I 7 2 5 1 0 1 2 6 8 ±f

PB I 11 2 9 7 1 6 3 15 18 ±f

DP I 6 2 4 5 1 4 3 8 11 exp-

6/7 MM I(>II) 8 2 6 3 2 1 4 7 11 exp-

NC I 4 3 1 1 1 0 4 1 5 (±ok)

AS I 8 4 4 0 0 0 4 4 8 exp-

EE I 10 6 4 17 6 11 12 15 27 exp-

7/8 SRa I>II/III 14 11 3 15 9 6 20 9 29 exp+

AM I>(II)? 11 5 6 3 1 2 6 8 14 exp-

FW I>II 14 9 5 18 11 7 20 12 32 exp+

_______________

222 Dabei spielen Genus sowie morphologische Abweichungen nach wie vor keine Rolle: Sowohl in den Restaurant als auch in eines Café gelten – in direktivem Kontext – als korrekt.

302

Stufe TP NP-Phase

lokativ

direktiv

alle

Ant. r

total r f total r f r f tot

SRo I>II 15 9 6 17 4 13 13 19 32 exp-

NF II 10 7 3 9 4 5 11 8 19 exp+

8/9 AA II/III? 6 3 3 6 4 2 7 5 12 exp+

FG II(>III) 12 11 1 17 11 6 22 7 29 ±ok

SN (II>)IV? 16 13 3 12 10 2 23 5 28 ±ok

CU II 9 5 4 11 7 4 12 8 20 exp+

MC II 8 4 4 18 14 4 18 8 26 exp+

LA I? 14 4 10 10 6 4 10 14 24 exp-

YB III? 16 6 10 11 9 2 15 12 27 exp+

9/10 PM III? 16 13 3 9 4 5 17 8 25 exp+

ESC DF II/III? 16 10 6 11 3 8 13 14 27 exp-

CP I 12 3 9 18 3 15 6 24 30 ±f

OA I>II 10 2 8 14 5 9 7 17 24 exp-

Coll SBa (II>)III 12 9 3 10 5 5 14 8 22 exp+

SBl III(>IV) 17 14 3 21 17 4 31 7 38 ±ok

SN IV/III? 19 15 4 22 13 9 28 13 41 exp+

10/11 LN I 12 7 5 6 1 5 8 10 18 exp-

ECG CL II>III 11 5 6 10 3 7 8 13 21 exp-

JC I/II? 17 10 7 9 1 8 11 15 26 exp-

ESC CV IV 16 12 4 19 10 9 22 13 35 exp+

VC I 24 9 15 22 4 18 13 33 46 exp-

NF III 13 7 6 18 5 13 12 19 31 exp-

Coll DG III>IV 22 20 2 20 17 3 37 5 42 ±ok

SN IV 13 10 3 14 9 5 19 8 27 exp+

II III>IV? 22 17 5 8 8 0 25 5 30 ±ok

OM (III>)IV 12 8 4 13 7 6 15 10 25 exp+

11/12 EC II 16 4 12 9 6 3 10 15 25 exp-

ECG SM II 11 4 7 7 3 4 7 11 18 exp-

SD I 20 7 13 3 1 2 8 15 23 exp-

ESC FD III 13 7 6 7 5 2 12 8 20 exp+

FF I 8 8 0 5 3 2 11 2 13 ±ok

CM II>III? 12 8 4 3 2 1 10 5 15 exp+

Coll FB III? 17 13 4 8 4 4 17 8 25 exp+

FH IV> 18 16 2 8 7 1 23 3 26 ±ok

BA IV> 15 15 0 7 6 1 21 1 22 ok

CD III 12 10 2 5 3 2 13 4 17 ±ok

12/M NM II(>III)? 14 7 7 5 1 4 8 11 19 exp-

303

Stufe TP NP-Phase

lokativ

direktiv

alle

Ant. r

total r f total r f r f tot

ESC VG II? 15 12 3 5 2 3 14 6 20 exp+

LS IV 13 13 0 12 10 2 23 2 25 ±ok

Coll MG II 12 6 6 4 3 1 9 7 16 exp+

SD III 3 3 0 8 7 1 10 1 11 ±ok

SC III>(IV)?

6 5 1 1 1 0 6 1 7 (±ok)

CG III 9 7 2 8 6 2 13 4 17 ±ok

690

429 261 540 289 251 718 512 1320

100% 62% 38% 100% 54% 46% 58% 42% 100%

lokativ direktiv alle

690 = 56% 540 = 44% 1230 = 100%

Tab. 52: Lokative und direktive Kontexte in den Testarbeiten223 Werden die Zahlen aller 58 TP zusammengefasst, so ergibt sich folgendes Bild: Von den insgesamt 1230 Präpositionalphrasen figurieren 690 in einem lokativen und 540 in einem direktiven Kontext, was einem Verhältnis von 56% : 44% entspricht.

In Bezug auf die Differenzierung LOK vs. DIR korrekt realisiert sind 718 (58%) der 1230 Syntagmen; 512 Formen (42%) weichen von der Norm ab. Die Erfolgsquote ist also, was kaum zu erstaunen vermag, um einiges niedri-ger als bei den mit-PP und (erst recht) als bei den für-PP; andererseits war aber nicht unbedingt zu erwarten, dass trotz der enormen Schwierigkeiten die zielsprachenkonformen Strukturen alles in allem die abweichenden zahlen-mässig dennoch übertreffen. Dabei ist ein deutlicher Unterschied zwischen lokativen und direktiven Kontexten zu erkennen: Bei ersteren machen die korrekten Syntagmen 62% (429) aus, bei letzteren dagegen nur 54% (289).

Die Tabelle zeigt unübersehbar, dass Kontexte, in denen die Opposition zwischen LOK und DIR relevant ist, in den Texten unserer TP bereits in ei-nem sehr frühen Lernstadium häufig sind und dass die SchülerInnen die ent-sprechenden Präpositionen, wenn auch nicht alle gleich oft und gleich bald, ausgiebig verwenden.224 Mit andern Worten: eine ganze Reihe von Lernenden _______________

223 Aus Platzgründen werden in der Tabelle die Schülerinnen und Schüler nur mit ih-

ren Initialen bezeichnet. – Wenn in Kolonne 3 (NP-Phase) ein Fragezeichen steht, bedeutet dies, dass die Einstufung wegen unklarer Datenlage nicht ganz sicher ist – meistens weil wenig eindeutige NP-Belege vorhanden sind.

224 Zu den Vorkommen der vier implizierten Präpositionen vgl. 5.6.4.

304

– unzweifelhaft eine Mehrheit bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit und viele darüber hinaus – ist durch ihre kommunikativen Bedürfnisse gezwungen, Strukturen zu verwenden, die sie von ihrem Erwerbsstand her eigentlich nicht beherrschen können, da sie weder über die konzeptuelle Un-terscheidung zwischen DIR und LOK noch über ein ausgebautes Drei-Kasus-System verfügen.

Daraus könnte man leicht den – allzu raschen – Schluss ziehen, dass die entsprechenden Präpositionalphrasen bei einem überwiegenden Teil der SchülerInnen mehrheitlich abweichend sein müssen. Doch haben wir bereits bei der Betrachtung der für- und mit-Phrasen gesehen, dass es selbst bei weitgehender Regelunkenntnis möglich ist, eine gewisse mehr oder weniger hohe Anzahl von zielsprachenkonformen Syntagmen zu produzieren (Stichworte: Chunks, homonyme Formen). In der letzten Kolonne (Ant. r) der Tab. 52 ist in vereinfachender Form angegeben, wieviel der Anteil der korrekten PP bei jeder TP ausmacht, und zwar nach folgendem System: Symbol: normgerechte PP in %: f : 0 – 5% ± f : 5 – 25% exp- : 25 – 50% exp+ : 50 – 75% ± ok : 75 – 95% ok : 95 – 100% In Tab. 53 wird zusammengefasst, wieviele TP (von insgesamt 52225) den sechs Gruppen von f bis ok zuzurechnen sind. Anzahl TP (total 52) f 0 ± f 3 exp- 19 exp+ 18 ± ok 11 ok 1

Tab. 53: Anteil korrekter PP – 6 Gruppen

_______________

225 Wer weniger als insgesamt 8 Raum-PP verwendet, wurde nicht berücksichtigt, so dass von den 58 TP hier noch 52 übrig bleiben (vgl. die Klammern in Kolonne 13).

305

Die Aufstellung lässt erkennen, dass keineswegs eine grosse Mehrheit der Lernenden mehr als die Hälfte falsch macht; dies trifft in Wirklichkeit „nur“ für 22 (3 + 19) von 52 SchülerInnen zu. Die andern 30 befinden sich über der 50%-Linie, was natürlich für die 18 TP, die zwischen 50 und 75% liegen, nicht bedeutet, dass sie das System im Griff haben. Ob man letzteres für die restlichen 12 annehmen kann, sei vorläufig dahingestellt.

Interessant ist an den obigen Zahlen, dass bei niemandem ausschliesslich abweichende Strukturen zu verzeichnen sind und dass nur gerade drei TP mehr oder weniger alles falsch machen. Es handelt sich um zwei Kinder der Klassenstufe 5/6 sowie um eine Schülerin der Stufe ESC 9/10. Ein solches Ergebnis ist in der Primarschule nun gewiss weder erstaunlich noch beunru-higend – im Gegenteil: Die zahlreichen abweichenden Formen bei Philippe B, dem einen Primarschüler, sind beispielsweise darauf zurückzuführen, dass er überaus schreib- und risikofreudig ist. In seiner dritten Arbeit etwa verwendet er nicht weniger als elfmal die Form im, und zwar offensichtlich als Pendant zum französischen à, was zu ebenso vielen abweichenden Syntagmen führt:

(10) Ich bin im Genf im die Placette. [...] Ich gehe im der Kasse [...] Ich gehe im die

Bäckerei kaufen das Brot und das Nussgipfel. Im der Kasse vir franken bitte. [...] Dann ich gehe im Coop kaufen ein Messer und das Papier. Im Kasse 3 franken bitte danke. Dann ich gehe im Migros [...] usw.

Auch in der achten Arbeit legt er nochmals seine Vorliebe für im an den Tag (nachdem er zwischendurch auch einmal in dem Strasse und in Kanton Graubünden produziert hat); diesmal jedoch gelingen ihm damit auch zwei korrekte Formen, nämlich im Kanton Genf, im Kanton Graubünden – neben im Vésenaz, im Graubünden. Dass solche Normverstösse für diese Stufe normal und eigentlich geradezu „vernünftig“ sind, liegt auf der Hand. Anders sieht es für die Schülerin der Stufe 9/10 aus (Corinnee P 9/ESC10): Sie hat auch nach vielen Jahren Deutschunterricht von den Geheimnissen der Raum-PP offensichtlich nur wenig begriffen, wimmelt es in ihren Texten doch von Formen wie arbeitet in Fabrik, gehe in Italie, wohnt in die Strasse, gingen zur ein Fest, bin bei mein Onkel usw., und wenn eine Form ausnahmsweise korrekt ist, dann ist das gewiss dem Zufall zu verdanken: in Italie habe ich.

Für die 37 Testpersonen (19 exp-, 18 exp+), deren zielsprachenkonforme Raum-PP mehr als ein Viertel, aber weniger als drei Viertel ausmachen, gilt mit Sicherheit, dass sie das System der Raum-Präpositionen nicht beherr-schen; aus verschiedenen Gründen sind sie aber mit ihren Produktionen mehr oder weniger erfolgreich. So geht, wer viel zu sagen hat und sich dabei mit diversen Elementen aus dem Input behilft, beträchtliche Risiken ein, was zu einem Nebeneinander von korrekten und abweichenden Formen führt – in der Weise, dass letztere sehr wohl in der Mehrzahl sein können:

306

(11) Heute Abend gehe ich zur Party von meine Freundin Céline.226 Sie wohnt in Carouge. [...] Zur Party wir gehen zum Kino und dann wir gehen ins Restau-rant. Wir gehen zum Kino Realto und wir gehen essen ins Restaurant „Les Cygnes“. [...] Ins Restaurant essen wir Kotletten [...] Dann gehen wir bei Céline. [...] Dann gehen wir in Sportplatz [...] (Catherine E 6/7, 7)

Aber auch das umgekehrte Verfahren, etwa die Verwendung einer einzigen lokalen Präposition, kann scheitern; Jeannette C (ECG10/11) beschränkt sich in allen acht Arbeiten auf die (fast) alleinige Verwendung von in, wobei sie diese Präposition in den Strukturen in + X, im + X, ins + X sowie in + (DET + X)default in lokativen und direktiven Kontexten braucht: (12) Ich wohne in Genf [...] er wohne in Spanien [...] Meine Familie gehen auch in

Spanien [...] Ich habe eine Hause in Madrid und eine Hause in die Meer in Ca-longe. (1)

Im Ferien meine Familie und ich fahren mit dem Auto [...] in Spanien. In Bar-celona wir haben eine Campingplatz finden [...] Wir haben ins Restaurant: „eine Pizza“ die älter Freunden von meinen Eltern in der Tisch neben uns tref-fen. [...] wo bist du in die Schule gehen hat er zu fragen. Am Morgen meine Eltern wollen ihren Freunden mit ihren Kind in unsere Caravane für essen ein-laden. Wir haben zu essen und wir sind in eine Insel mit die freunden mit das schiff gefahren. (8)

Glück hat, wer viele Ortsbestimmungen vom Typ in Genf, in Amerika in lo-kativen Kontexten verwendet und gleichzeitig möglichst auf direktive Kon-texte verzichtet: (13) Wo sind Sie geboren? In Deutschland, in München. [...] Wo wohnen Sie? Ich

wohne in Deutschland, in Hambourg. [...] Sind Sie glücklich in Deutschland? Ja, ich bin gern in Deutschland. (Florian W 7/8, 6)

Allerdings darf die Struktur in + X nicht auf andere Substantive generalisiert werden, was bei dem eben zitierten Schüler zwar nicht in derselben, wohl aber in der nächsten Arbeit der Fall ist (sind in Küche, kommt in Küchen) und im Übrigen bei einer ganzen Reihe von TP beobachtet werden kann. Und wer obige geographische Ortsbestimmungen aus kommunikativen Gründen vor-wiegend in direktiven Kontexten einsetzt, produziert notwendigerweise ab-weichende Formen; auch dies ist ein wiederholt zu beobachtendes Phänomen: (14) In februar bin ich in Brézil gegangen mit meine Familie für die Ferien. Ich bin

in Rio de Jeaneiro und Sao Paulo gegangen [...] In July bin ich in Italie gegan-gen [...] (Odette A 9/ESC10, 1)

_______________

226 Heute abend gehe ich zur Party von ... war als Schreibanlass vorgegeben.

307

Bei vielen dieser 37 TP überwiegt der Eindruck, dass sie zwar dem Input eine Reihe von Formen (in, im, ins, in die, in der, zu, zum, zur, nach, bei) ent-nommen haben, jedoch ohne die Prinzipien, die das System regeln, zu durch-schauen. Nun gibt es aber bei einigen Lernenden – und zwar solchen, die zwischen 50 und 75% der PP normgerecht verwenden – auch Hinweise da-rauf, dass sie der konzeptuellen Unterscheidung von LOK und DIR auf der Spur sind. Dies dürfte etwa zutreffen, wenn eine Schülerin (Christine V ESC10/11) in derselben Arbeit (3) korrekt zwischen könnten ... in München bleiben, könnten ... in München spazierengehen einerseits und würde ich nach England fahren, wenn wir nach Deutschland fahren würden anderer-seits unterscheidet. Dass sie den Wechsel zwischen LOK und DIR dennoch nicht voll beherrscht, zeigen folgende Strukturen, die sie in späteren Texten produziert: in der Handelsschule mag ich – wollte ich in der Handelsschule gehen (4); in ein „Pub“ Freunde treffen – in eine Diskotheque gehen (8). Obschon Christine als fortgeschrittene Lernerin im NP-Bereich A und D un-terscheidet (Phase IV), kommt sie bei der Wechselpräposition in mit dem Kasus nicht zurecht.

Bisweilen – wenn auch bedauerlicherweise nicht allzu oft – lassen gewisse Regelmässigkeiten bei einzelnen Testpersonen bzw. in einzelnen Arbeiten auf vermutliche Lernerhypothesen schliessen.

So scheinen manche LernerInnen – kurzfristig – anzunehmen, lokatives in werde stets direkt mit dem Substantiv verbunden:

(15) In Zürich habe ich eine Freundin. [...] In flugzeug habe ich essen. [...] In Flug-

hafen Marianne mich warten (Mélanie M 6/7, 8) Manchmal kann das zahlenmässige Übergewicht im Input, wie das Beispiel von Jeannette C oben (12) zeigt, offenbar auch dazu führen, dass in – und seine Varianten im und ins – als die einzige lokale Präposition für allerlei lo-kale Relationen wahrgenommen werden.

Analog zu den Präpositionalphrasen mit PfK ist bei Lernenden, die noch kein Kasusverständnis haben, die Annahme weit verbreitet, dass Präpositio-nalphrasen, die einen Determinator enthalten, sich wie folgt zusammensetzen: Präp. + (DET + X)default, also beispielsweise in mein frigo, in die kuche, in ein burg, in die Garten mit lokaler Bedeutung und ebenso gehen nach die Polizeiwache, gehe in die Schule mit direktiver Bedeutung (Sandrine D ESC11/12, in verschiedenen Arbeiten).227

_______________

227 Problematisch ist die Interpretation von Formen wie in der Wald, in der Kühl-schrank, in der Korb u.ä., weil es hier nicht immer möglich ist, zu entscheiden, ob interimsprachlich Nominativ maskulinum oder Dativ femininum vorliegt.

308

Wer die Opposition LOK – DIR entdeckt, stellt möglicherweise die Hy-pothese auf, nach werde für jegliche Art von direktiven Präpositionalphrasen verwendet:

(16) [...] ich nehme der Zug nach Schaffhausen. [...] Dann ich fahre mit dem Velo

nach Sportplatz [...] und dann ich fahre mit dem Taxi nach Hotel. (Catherine E 6/7, 4)228

Catherine korrigiert ihre Annahme in der übernächsten Arbeit zugunsten von zu und schreibt jetzt: (17) Am Montag ich fahre mit dem Schiff zu Freiburg [...] Am Samstag ich fahre mit

dem Zug zu Köln und dann mit dem Auto zu Berlin. [...] Wie komme ich am besten zur Burg [...] und dann kommst du zur Burg. (Catherine E 6/7, 6)

Das folgende Beispiel zeigt, wie ein Lerner im Muster geht in die ... zum Ausdruck der direktiven Bedeutung als Substantiv nicht nur Ortsbezeichnun-gen, sondern auch eine Personenbezeichnung einsetzt: (18) Er geht in die Schule [...] Er geht in die Hopital [...] Er geht in die Frisör [...]

(Cédric U 8/9, 7)229 Und geradezu klassisch ist die Annahme, dass geographische Namen – ob lokativ oder direktiv – stets mit in kombiniert werden. Beispiele von der Art bin ich in Genf geblieben – ich bin in Fribourg gegangen (Vincent C ESC10/11, 2) und in Deutschland oder in Frankreich oder in England gehen, in Genf gehen, in Amerika gehen (derselbe in 3) sind überaus häufig belegt. Dass umgekehrt angenommen wird, nach sei die Präposition, die vor geogra-phischen Namen zu figurieren habe, kommt zwar ebenfalls vor, interessan-terweise jedoch nur selten: war ich nach Brezil, war ich nach Italien; wo gehst du? Nach Genf, München, ... (Odette A ESC9/10, 3). Die geringe An-zahl derartiger Abweichungen lässt den Schluss zu, dass die – eindeutige – direktive Bedeutung von nach den LernerInnen im Allgemeinen recht bald klar wird.

Auch lokale Präpositionalphrasen werden von den Lernenden oft als una-nalysierte Chunks gelernt und gespeichert. Da diese Formen aber jeweils nur in den einen oder in den andern lokalen Kontext passen, bilden sie für all jene Lernenden, welche die Opposition LOK – DIR noch nicht erfasst haben,

_______________

228 Die lokativen PP im gleichen Text variieren: ich bin in Bern; ich bin zu Bahnhof; ich bin ins Restaurent (sic).

229 Nicht ganz auszuschliessen ist allerdings, dass Cédric Friseur für eine Ortsbe-zeichnung hält.

309

keinerlei Garantie für Normgerechtheit, so dass man eine Anzahl Beispiele wie die folgenden findet: ins Restaurant essen wir, willst du im Café gehen, gehe in der Schule, geht zu Hause, war nicht nach Hause, sind im Restaurant gefahren, ist in die Küche usw. All diese (und andere) Ausdrücke werden – oft von den gleichen TP – selbstverständlich auch normkonform verwendet, doch ist dies in vielen Fällen eine reine Glückssache. Im Übrigen sind natür-lich auch diese Chunks nicht davor gefeit, auseinanderzubrechen, so dass selbst ihre innere Struktur zerstört wird, vgl. in küche, in küchen, in die Ko-che, im Koche (bei verschiedenen TP für in der Küche bzw. in die Küche).

Soviel zu einigen Phänomenen, die für den Umgang unserer Testpersonen mit lokalen PP als typisch gelten können. Sie sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in diesem Bereich noch viel schwieriger als an-derswo ist, Systematisches herauszuarbeiten: Allzu undurchdringlich ist die Formenvielfalt in den Schülertexten, zu gross sind die – scheinbare oder wirkliche – Zufälligkeit, mit der die lokalen Präpositionalphrasen realisiert werden, und zu verwirrend die Undurchschaubarkeit der Verfahren, Hypo-thesen, Regeln, aufgrund deren die Lernenden ihre Formen produzieren.

Dass der Zufall in diesem grammatisch und semantisch hochkomplexen Bereich wohl doch eine nicht unbedeutende Rolle spielt (oder könnte es sein, dass selbst hier nicht erkennbare Gesetzmässigkeiten im Spiel sind?), mögen die folgenden durchaus repräsentativen Beispiele lernersprachlicher Inkonsis-tenz illustrieren: Petra geht bei ihre Freundin – darf ich bei Freundin gehen – du darfst bei Ihren Freundin Gehen sowie Iren Eltern sind in die (K: im) Kuchen – Ihren Eltern sind in der Kuche heisst es bei Sébastien R (7/8, 7). Bei Cécile L (ECG10/11, 8) ist in derselben Arbeit zu lesen ob sie in Stadt mit mir kommen will – in der Stadt haben wir Geld suchen – um mit uns im Stadt einladen; und Vincent C (ESC10/11, 4) schreibt im Abstand von weni-gen Zeilen in eine Lehre kann man – in Lehre kann man sowie vielleicht in Universität gehen und wenn gehe in die Universität.

Es bleiben schliesslich jene zwölf Testpersonen zu kommentieren, die über drei Viertel der fraglichen Syntagmen korrekt realisieren, von denen man also sagen kann, dass sie mehr oder weniger alles richtig machen. Die Frage ist, ob man aus diesen zweifellos guten Ergebnissen schliessen darf, dass die betreffenden Lernenden das System der lokalen Präpositionen in, nach, zu, bei in jeder Hinsicht tatsächlich beherrschen.230 Sie zu bejahen, wäre wohl etwas voreilig. Zunächst einmal sind in zwei Fällen die Belege so wenig zahlreich und zudem teilweise stark chunkverdächtig, dass in Wirklichkeit keine Schlüsse auf das tatsächliche Wissen der betreffenden TP gezogen werden können. Eine weitere Schülerin verwendet ebenfalls nur wenige

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230 Normalerweise gilt im DiGS-Projekt eine Erfolgsquote von 75–80% als Indiz da-für, dass eine Struktur erworben ist.

310

lokale PP (insgesamt 11); dennoch besteht hier einiger Grund zur Annahme, dass sie das Wesentliche begriffen hat, da sie offensichtlich keine Chunks, wohl aber eindeutige D und eindeutige A zielsprachenkonform verwendet, z. B. mag im Bett bleiben, in meinen Zimmer kommen (Sabine D C12/M, 4) Bei einigen SchülerInnen wiederum sieht es so aus, als hätten sie nur bestimmte Teile des Systems erfasst, nämlich die Opposition zwischen in und nach bzw. zwischen im und ins, nicht aber die Kasusopposition D vs. A. Wer nun bei diesem Kenntnisstand überwiegend Phrasen vom Typ in Ulm bzw. nach München sowie im Restaurant bzw. ins Kino verwendet und gleichzeitig die Struktur in + DET + X, wo der Kasus zu markieren wäre, meidet, hat gute Chancen, mehrheitlich normgerechte PP zu produzieren.

Übrig bleiben somit noch fünf SchülerInnen, von denen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gesagt werden kann, dass sie das System wirklich durchschauen. Sie verwenden zahlreiche entsprechende Ausdrücke, wissen, in welchen Fällen ein DET vorhanden ist und wann nicht, und wählen die passende Präposition sowie den korrekten Kasus (sei es nach in oder nach den drei PfK). Im besten Fall, der nur ein einziges Mal vertreten ist, führt dies zu fast hundertprozentiger Richtigkeit; die einzige – minime – Abweichung ist bei Brigitte A C11/12 (die übrigens ihre MitschülerInnen mit ihren aussergewöhnlichen Deutschkenntnissen auch sonst in jeder Hinsicht übertrifft) einmal zum Schwimmbad anstatt ins Schwimmbad. Dass die vier anderen TP unter der 95%-Grenze liegen, rührt daher, dass auch bei guter Beherrschung des Systems noch Fehler passieren können. So schreibt ein Schüler (Frédéric H, C11/12, 2) einmal kam zu mich (eine der wenigen pro-nominalen Raum-PP), was man in diesem Fall möglicherweise darauf zu-rückführen kann, dass er – eigentlich vernünftigerweise – wegen der direkti-ven Bedeutung von zu den Akkusativ wählt. Auch kommt es vor, dass in mit den Präpositionen an oder auf verwechselt wird, also etwa auf diesem Land gelebt statt in diesem Land gelebt (Inès I C10/11, 6); dies mag hier auf eine Verwechslung mit auf dem Land leben (vs. in der Stadt leben) zurückgehen. Und zuguterletzt sind selbstverständlich auch bei diesen sehr fortgeschritte-nen Lernenden „Flüchtigkeitsfehler“ nicht auszuschliessen.

Ein Blick auf die Einstufung der fünf SchülerInnen in die NP-Phasen zeigt übrigens, dass sie alle im Kasusbereich weit fortgeschritten sind, d. h. sie be-finden sich entweder bereits von Anfang an in Phase IV oder erreichen diese Phase im Verlauf der Testzeit (III>IV). Hingegen unterscheiden sie sich deutlich in Bezug auf die Klassenstufe; eine Schülerin ist im Cycle (8/9),231 die vier übrigen verteilen sich auf die Schultypen bzw. Klassenstufen C10/11, C11/12 (2mal) und ESC12/M. Daraus ergibt sich unbestreitbar, dass es nur

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231 Es handelt sich um Sophie N 8/9, jene ganz und gar untypische Cycle-Schülerin, die dem Lehrplan als einzige problemlos zu folgen scheint.

311

sehr fortgeschrittenen LernerInnen möglich ist, im Bereich der lokalen PP quasi muttersprachliche Kompetenz zu erreichen. Freilich ist dies nun nicht so zu verstehen, dass die Beherrschung des Drei-Kasus-Systems im NP-Bereich eine Garantie für problemlose Beherrschung der lokalen PP bedeuten würde: Auch unter den TP, für die in obiger Tabelle das Ergebnis +exp er-mittelt wurde (d. h. zwischen 50% und 75% richtiger Formen) gibt es einige, die in IV oder III>IV eingestuft wurden.

Abschliessend gehen wir – wenn auch nur kurz – auf die Frage ein, welche Rolle der schulische Input beim Erwerb der lokalen Präpositionen in, nach, zu und bei spielen mag. In einem Satz lässt sich das Wichtigste etwa folgendermassen zusammenfassen: Der Unterricht spielt vermutlich nur inso-fern eine Rolle, als er das sprachliche Material – d. h. die einzelnen Präposi-tionen sowie eine grosse Anzahl von verschiedenartigen Ausdrücken und Kontexten, in denen sie vorkommen – zur Verfügung stellt. Hingegen weist nichts darauf hin, dass die systematische Behandlung der betreffenden Präpo-sitionen (bzw. der Präpositionen überhaupt), wie sie vom Lehrbuch unserer DiGS-SchülerInnen bzw. den dazugehörigen Genfer Unterrichtsmaterialien vorgesehen ist, dem Erwerb im Normalfall in irgendeiner Weise förderlich wäre. Ganz knapp zusammengefasst spielen sich die Dinge wie folgt ab: Nachdem die Kinder in der Primarschule bereits alle vier Präpositionen in Chunks oder Patterns (z. B. in der Schweiz, zur Bäckerei, im Kanton X) ken-nengelernt haben, werden sie in der siebten Klasse explizit mit der Dichoto-mie LOK – DIR konfrontiert, d. h. sie bekommen diese an Hand von Bei-spielen wie im Café – ins Kino, in der Schule – in die Schule (teilweise mit Hilfe von Zeichnungen) erklärt. Hingegen wird offenbar nicht erwähnt, dass dieselbe Opposition auch durch in – nach bzw. zu – bei ausgedrückt werden kann. Drei Lektionen später müssen sich die Kinder – weshalb, ist allerdings nicht nachvollziehbar – auch noch auf eine Unterscheidung zwischen ins Café – zum Café, in die Schule – zur Schule (!) einlassen, die ebenfalls mit Zeichnungen illustriert wird. In der achten Klasse wird die Opposition zwi-schen LOK und DIR wiederum thematisiert; und jetzt wird den SchülerInnen auch eine alphabetische Liste mit nicht weniger als 24 Präpositionen vorge-legt. Eine spezielle Tabelle präsentiert die Opposition LOK – DIR für alle WP; ihr ist zu entnehmen, dass die lokative Bedeutung mit Dativ, die direk-tive Bedeutung mit Akkusativ ausgedrückt wird; zu und nach werden in dem Zusammenhang als „Ausnahmen“ deklariert ...232

Eines kann mit Sicherheit gesagt werden: Die Schülerinnen und Schüler lernen in der siebten und achten Klasse des Cycle nicht das, was ihnen ihr Lehrbuch präsentiert und was sie im Unterricht intensiv üben. Eine fruchtbare

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232 Dass lokales nach in Wirklichkeit (im Normalfall) ohne DET, d. h. ohne Kasus-marker, verwendet wird, ist dabei offenbar übersehen worden.

312

Auseinandersetzung mit den in Frage stehenden Formen und Oppositionen setzt – wenn überhaupt – sehr viel später ein. Das mag zum Teil in der gewiss nicht in allen Teilen geglückten Präsentation des Stoffs begründet sein, doch liegt die Hauptursache vermutlich viel eher darin, dass nur solche Lernende, die in ihrem Deutscherwerb schon weit fortgeschritten sind (auf jeden Fall viel weiter, als dies in der siebten und achten Klasse der Fall ist) die Raumpräpositionen überhaupt produktiv und mit einiger Aussicht auf Erfolg in Angriff nehmen können.

5.6.6.2 Gibt es „einfache“ und „schwierige“ Raum-PP?

Im Folgenden soll die Problematik der lokalen PP nun auch noch in einer an-dern Perspektive angegangen werden; und zwar wird diesmal von den ver-schiedenartigen in den Schülertexten belegten Strukturen ausgegangen und die Frage gestellt, welche von ihnen mehrheitlich normgerecht verwendet werden und für welche das Gegenteil zutrifft. Daraus müsste sich – zumindest tendenziell – ableiten lassen, welche Präpositionen, Strukturen, Oppositionen leichter, welche schwerer zu lernen sind. Oben wurde in dieser Perspektive bereits erwähnt, dass beispielsweise die Opposition zwischen in X und nach X öfter korrekt realisiert wird als jene zwischen in + D und in + A, woraus man schliessen kann, dass erstere leichter zu erfassen ist als letztere. Es wird sich herausstellen, dass auch für andere Strukturen die Erfolgsquoten sehr unterschiedlich sind. Ausserdem wird sich zeigen, dass die Dinge sich vielleicht doch nicht in jeder Hinsicht ganz so chaotisch verhalten, wie es bisweilen den Anschein hat. Strukturen, die mehrheitlich korrekt verwendet werden: – im X, in dem X, in einem X, in meinem X usw. (D mask./neutr.): Diese mor-phologisch eindeutigen Dativformen werden, wenn man das untersuchte Korpus als ganzes betrachtet, überwiegend zielsprachenkonform verwendet, entfallen doch auf insgesamt 177 Formen 149 normgerechte, was einem Pro-zentsatz von 84% entspricht. Es fragt sich nun, wie ein solches Ergebnis zu interpretieren ist.

Zunächst scheint es notwendig, die vollen Formen von der kontrahierten Form im zu trennen. Erstere machen nämlich nur 40% aller maskulinen und neutralen in-PP im Dativ aus (70 von 177 Formen). Sie erscheinen erst ab der achten Klasse und längst nicht bei allen Testpersonen, und – dies mag auf den ersten Blick erstaunen – sie werden fast immer korrekt lokativ eingesetzt (im Kino, im Stadt); in der Tat sind nur 6 von 70 Formen abweichend. Tatsache ist also, dass jene Lernenden, die derartige Dativ-PP überhaupt verwenden, dies fast immer in Übereinstimmung mit der Norm tun, d. h. sie scheinen

313

tatsächlich zu wissen, dass Dativ-PP in lokative Kontexte gehören. Das bedeutet aber selbstverständlich nicht, dass der lokative Gebrauch von in gegen Ende der obligatorischen Schulzeit allgemein geklärt wäre, denn zahl-reiche SchülerInnen – auch der oberen Klassen – verwenden nach in niemals den Dativ.

Im Gegensatz zu in dem, in einem usw. kommt im auch bei SchülerInnen der unteren Klassen oft vor, d. h. also bei Lernenden, die im gar nicht als Da-tiv identifizieren können und die auch nicht wissen, dass es sich dabei um eine Kontraktion aus in und DET handelt. Dies illustrieren Ausdrücke wie im das Haus (Audrey P 5/6), im die Küche (Philippe B 5/6), die in der Primar-schule zu beobachten sind, nachher jedoch weitgehend verschwinden. Im Gesamtkorpus wird im in ca. vier Fünftel der Fälle der Norm entsprechend in lokativen Kontexten eingesetzt, wobei die abweichenden direktiven Verwen-dungsweisen erwartungsgemäss in den unteren Klassen (bis 7/8) deutlich häufiger als später sind. Das besagt nichts anderes, als dass die Lernenden der höheren Klassen im offensichtlich meistens zielsprachenkonform mit lo-kativer Bedeutung benutzen. Manchen jüngeren Lernenden dagegen dient im (manchmal neben in, ohne dass nachzuvollziehen wäre, nach welchen Krite-rien entschieden wird233) einfach dazu, eine Raumrelation auszudrücken: wonth er in walt – er wonht in walt – er verlorst in walt – er geht einkaufen! Im walt! – ich wonht im walt – er Papagei geht im walt (Christine M 4/5, 7). – in der X, in einer X, in dieser X usw. (D fem.): Der Prozenzsatz der mit lo-kativer Bedeutung verwendeten femininen Dativ-PP (85%, d. h. 107 von 128) bestätigt das obige Ergebnis: Wer nach in den Dativ gebraucht, weiss gewöhnlich auch um die lokative Bedeutung dieses Kasus. Angesichts der hohen Übereinstimmung in Bezug auf das Verhältnis von korrekten und ab-weichenden Formen zwischen femininen und maskulinen bzw. neutralen PP dürfte auch der mögliche Einwand, es könnte sich im Prinzip bei in der X in der Lernersprache auch um Nominativ maskulinum handeln, weitgehend entkräftet sein, auch wenn solche Fälle natürlich nicht auszuschliessen sind. Vier Testpersonen verwenden beispielsweise die PP in der Welt, doch nur bei einer von ihnen ist in Anbetracht ihres Erwerbsstandes bzw. ihrer übrigen PP (sie schreibt in derselben Arbeit über der Hunger in der Welt, in der Super-markt, in der Schrank) der Verdacht gross, dass tatsächlich N vorliegt. Dass in diesem Falle auch Genustransfer aus dem Französischen eine Rolle gespielt haben mag, scheint zumindest denkbar (vgl. dans le monde).

Nicht verschwiegen sei, dass es sich bei immerhin 21 der 108 femininen PP mit bestimmtem Artikel um das stark chunkverdächtige Syntagma in der Schule handelt, welches 16mal korrekt lokativ, aber doch auch 7mal fälschli-

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233 Möglicherweise spielt dabei die grosse lautliche Ähnlichkeit eine Rolle.

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cherweise direktiv gebraucht wird, so dass das Verhältnis von normgerechtem und abweichendem Gebrauch ungünstiger ist als für die anderen Dativ-PP. Die Erklärung dürfte darin liegen, dass gerade in der Schule als unanalysierte Einheit auch von Lernenden gebraucht wird, die keine Vorstellung von D bzw. LOK (in Opposition zu A=N bzw. DIR) haben und für die es demzu-folge eine Frage des Zufalls ist, ob sie den Ausdruck im richtigen oder im falschen Kontext einsetzen234 (vgl. auch weiter unten in die Schule). – in den X, in einen X, in meinen X usw. (A mask.): Einmal mehr stehen wir hier vor dem Problem, dass eindeutige A-Formen selten sind. Zwar kann man feststellen, dass zwei Drittel der betreffenden Akkusativ-PP normgerecht auf direktive Kontexte entfallen, ein Drittel abweichend auf lokative, doch kom-men im Korpus insgesamt nur 21 derartige Formen vor, so dass dieses Ver-hältnis, das überdies auch weniger eindeutig ist als in den obigen Fällen, we-nig aussagekräftig ist. – ins X (A neutr.): Wäre für unsere Klassifizierung die grammatische Be-schreibung ausschlaggebend, so müsste diese Struktur in der gleichen Gruppe wie in das X figurieren. Nun sieht es aber ganz so aus, als würden die Ler-nenden die beiden Formen ins und in das völlig unterschiedlich wahrnehmen: Während sie ins mit überwiegender Mehrheit korrekt verwenden, trifft dies für in das nicht zu (vgl. unten). Die 81% (66) normgerechten Vorkommen von ins (von immerhin 81) lassen den Schluss zu, dass diese Form tendenziell als direktiv identifiziert wird. Wiederum bedeutet das natürlich nicht, dass dies für alle TP gilt, sondern lediglich, dass Schülerinnen und Schüler, die ins verwenden (und das sind ab Stufe 7/8 viele), dies vorzugsweise in direktiven Kontexten tun.

Wenn wir nun die Resultate für ins neben jene für im stellen, so ergibt sich, dass die Opposition im vs. ins offenbar (wider Erwarten?) keine allzu grossen Schwierigkeiten macht; d. h. es ist eindeutig nicht so, dass die Lernenden diese beiden Formen völlig willkürlich miteinander verwechseln würden, sondern die Präferenzen gehen klar in Richtung direktives ins und lokatives im.235 – in X (geographische Namen ohne DET): Recht erfolgreich sind die Schüle-rinnen und Schüler ebenfalls mit dieser Struktur, machen doch auch hier – im _______________

234 Ähnliches gilt für in der Stadt mit 8 korrekten und 5 abweichenden Vorkommen. 235 Selbstverständlich gibt es Lernende, die dieser Tendenz widersprechen und ins

oder im in beiden Kontexten verwenden (wenn auch nur selten in derselben Ar-beit), vgl. bleibt ins krankenhaus, ins Krankenhaus wären – ins Krankenhaus zu gehen (Corinnee P 9/10ESC, 8); im Krankenhaus besuchen – muss im Kranken-haus gegangen (Sophie B 9/C10, 2).

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ganzen gesehen – die normgerechten Vorkommen gegenüber den abwei-chenden eine deutliche Mehrheit aus: 79% dieser PP (156 von insgesamt 198) werden korrekt in lokativen Kontexten eingesetzt. Nun verweist allerdings die normgerechte Verwendung von solchen in-Phrasen längst nicht immer darauf, dass jemand die Opposition in vs nach bzw. LOK vs. DIR erfasst hat. In unserem Korpus sind gerade in den ersten Jahren lokative Ausdrücke, die nach dem Muster wohne in X gebildet sind, häufig, und mit Sicherheit ist hier nicht anzunehmen, dass sie in Opposition zu gehe nach X stehen. Besonders klar wird dies, wenn beide Kontexte in derselben Arbeit vorhanden sind: ich wohne in California neben ich gehe in Italien (Alexandra M 7/8, 8). Direktive Verwendung von in X ist immerhin 42mal zu verzeichnen (21%), dies vorwiegend in den ersten Lernjahren, bei schwachen Lernenden bis weit in die oberen Klassen. – nach X (geographische Namen ohne DET): Sehr hoch ist die Korrektheits-quote für diese Struktur: Sie taucht ab Stufe 6/7 insgesamt 82mal auf – und zwar mit 4 Ausnahmen (bei 3 TP) stets normgerecht. Es scheint demnach, dass jene Lernenden, die nach überhaupt verwenden, sobald sie dies tun, auch wissen, dass die Bedeutung im Gegensatz zu in direktiv ist, so dass bei ihnen ab diesem Zeitpunkt die fälschlicherweise direktiv eingesetzten in ver-schwinden. Dass die Verwendungsweise von nach X leichter zu durchschauen ist als diejenige von in X, erstaunt nicht, hat das lokale nach doch stets dieselbe direktive Bedeutung – im Gegensatz zu in, das in beiden Kontexten gebraucht wird.

Noch deutlicher als für die Opposition im vs. ins erweist sich also für in vs. nach, dass die beiden Formen keineswegs wahllos miteinander verwechselt werden; in unserem Korpus ist eine derartige Verwechslung (in derselben Arbeit) kein einziges Mal belegt. – zu (+ DET) + X, zum X, zur X:236 Zu den erfolgsträchtigen Strukturen gehö-ren ebenfalls die zu-PP; auch sie werden zwar nicht von allen Lernenden ge-braucht, doch sobald sie auftauchen, geschieht dies meistens im richtigen Kontext, wie der hohe Prozentsatz von 91% direktiven Vorkommen zeigt. Bei näherem Hinsehen erweist es sich, dass von den insgesamt 94 zu-PP ganze 68 (d. h. beinahe drei Viertel) auf die kontrahierten Varianten zum und zur entfallen, davon stehen nur 7 fälschlicherweise in lokativem Kontext. Ganz offensichtlich werden wiederum die kontrahierten Formen von vielen Lernenden relativ mühelos in ihrer – in diesem Falle direktiven – Funktion identifiziert. Dass es sich dabei um Dativformen handelt, dürfte dagegen den wenigsten Lernenden klar sein. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang

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236 Ohne das lokative zu Hause, vgl. aber 5.6.6.3.

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übrigens auch, dass nicht selten zum an Stelle von ebenfalls direktivem ins gebraucht wird, also etwa zum Café statt ins Café, zum Kino statt ins Kino. – Was die wenigen nicht kontrahierten Formen anbelangt, so erscheinen sie nur bei einigen fortgeschrittenen Lernenden und sind ebenfalls meist korrekt, z. B. kommt zu ihrer Wohnung (Sophie N 9/C10, 5). Der Fall, dass zu mit A bzw. A=N verbunden würde (was eigentlich angesichts der direktiven Be-deutung erwartbar wäre), ist nur ausnahmsweise belegt (zu die Schule Nicolas M ESC12/M, 3).237 Strukturen, die mehrheitlich abweichend verwendet werden: – in das X, in ein(es) X, in mein(es) X usw. (A=N neutr.): Ganz anders als bisher präsentieren sich die Ergebnisse bei diesen Strukturen, wo A und N formal zusammenfallen. Das Verhältnis zwischen korrekt verwendeten und abweichenden Formen kehrt sich radikal um: 21mal werden solche Phrasen lokativ eingesetzt und nur 14mal direktiv (60% : 40%, total 35). Die meisten der abweichenden Vorkommen finden sich in Texten von LernerInnen, die im Kasusbereich (und nicht nur dort) in den Anfängen stecken, was bedeutet, dass ihre A=N-Formen interimsprachlich sicher keine Akkusative sind, son-dern Defaultformen, die formal mit A und N zusammenfallen. Besonders aufschlussreich ist der Vergleich dieser Ergebnisse mit den sehr viel besseren von ins; ganz offensichtlich stellt sich das Problem in der Lernerperspektive jeweils in völlig anderer Weise, obschon ins grammatisch gesehen nichts an-deres als die kontrahierte Form von in das ist. Fortgeschrittene Lernende, d. h. jene, die ebenfalls über in dem X verfügen (s. oben), irren sich selten in der Verteilung der beiden Strukturen. – in die X, in eine X, in meine X usw. (A=N fem.): Auch bei den femininen A=N überwiegen wiederum die abweichenden Vorkommen, wenn auch we-niger eindeutig: 52% machen die lokativen Phrasen aus, 48% die direktiven (total 136). Analog zu oben handelt sich bei den meisten abweichenden – sowie entsprechend natürlich auch bei einer Reihe von zielsprachenkonfor-men Formen – nicht um intendierten A, sondern um die Defaultform. Ebenso chunkverdächtig wie die Dativ-PP in der Schule ist hier nun auch der Aus-druck in die Schule, der zwar 15mal direktiv und damit korrekt gebraucht wird, aber doch auch 9mal lokativ bzw. abweichend, dies ausschliesslich von LernerInnen, die am Beginn des Kasuserwerbs stehen, sich aber auf die ver-schiedendsten Klassenstufen von 7/8 bis 12/M verteilen.

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237 Ausserdem das bereits genannte pronominale zu mich bei Frédéric H C11/12, 2.

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– bei (+ DET) + X: Alles in allem sind bei-Phrasen im Korpus ziemlich selten (32); die kontrahierte Form beim taucht erstaunlicherweise überhaupt nicht auf, obschon sie (spätestens ab der achten Klasse) im expliziten Input belegt ist. Auch finden sich die bei-Phrasen auffallenderweise häufiger in direktiven als in lokativen Kontexten (18 : 13) und werden – falls DET vorhanden – sowohl mit D als auch mit A bzw. A=N und selbst mit unzweifelhaftem N kombiniert, vgl. bei meiner Kusine, bei meinen Grossvater, bei meine Freundin, bei der Frisör. Ganz im Gegensatz zu nach und zu (zum, zur), deren direktive Bedeutung zu erkennen, wie wir gesehen haben, nicht allzu grosse Schwierigkeiten bereitet, tun sich die Lernenden mit der Präposition bei und ihrer lokativen Bedeutung offensichtlich schwer, wobei die Gründe dafür unklar sind.

Es bleiben schliesslich jene Strukturen zu nennen, die in der Zielsprache nie vorkommen und die somit notwendigerweise abweichend sind. – Fehlen der Präposition: Dieses Phänomen, das laut Mills im L1-Erwerb bei Kindern bis zu drei Jahren häufig beobachtet wird (vgl. 5.6.3.1, S. 270), ist in unserem Korpus ebenfalls belegt. Allerdings trifft es keineswegs zu, dass am Anfang des Deutscherwerbs mehr oder weniger systematisch Raumbestim-mungen ohne Präpositionen gebildet würden. Vielmehr ist es so, dass insbe-sondere in den ersten Jahren bei einem Teil der Schülerinnen und Schüler (aber nicht bei allen) ab und zu eine Präposition fehlt. So schreibt z. B. Ni-colas B (4/5) in seiner achten Arbeit neben ich wonhe in Genf auch ich gehe Bett, dies nachdem er in den vorangegangenen Texten immerhin bereits 13mal entweder im oder in verwendet hatte. Selbst in den höheren Klassen ist das Phänomen vereinzelt zu beobachten, etwa bei Evelyne C (ECG 11/12), die in ihrer siebten Arbeit neben fünf lokalen Ausdrücken mit Präposition auch schreibt dann sind wir nicht die Kirsche gegangen (= in die Kirche). Solche Einzelfälle ändern aber sicher nichts an der Tatsache, dass unsere Lernenden von Anfang an um die Notwendigkeit der lokalen Präpositionen wissen und sie im Prinzip auch verwenden. – N in lokalen PP: Eindeutiger Nominativ ist in lokalen Präpositionalphrasen nur sehr selten belegt, und erwartungsgemäss nur bei Lernenden ohne Ka-suswissen: bei der Frisör, bei der Mörder, bei mein Onkel, auch pronomina-les bei ich. Dass es sich bei diesen Beispielen um lauter bei-Phrasen handelt, ist insofern kein Zufall, als aus semantischen Gründen nur bei den Präposi-tionen bei und zu, die mit Personenbezeichnungen verbunden werden, zu ent-scheiden ist, ob eine Form bei der X wirklich ein maskuliner Nominativ und nicht etwa ein femininer Dativ ist. Bemerkenswerterweise sind im Korpus N-Formen nur nach bei, jedoch nicht nach zu belegt – ein weiteres Indiz dafür, dass zu (aus was für Gründen auch immer) einfacher zu begreifen ist als bei.

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Ansonsten sind eine Reihe von Zweifelsfällen zu verzeichnen, die mit einer Ausnahme auf in-Phrasen entfallen: in der Wald, in der Korb, in der Kühl-schrank usw. sowie nach der Wald, wo allein auf Grund der Form nicht ent-schieden werden kann, ob Nmask oder Dfem vorliegt. Allerdings legt der Kasus-Erwerbsstand der jeweiligen AutorInnen in vielen Fällen die eine oder die andere Interpretation nahe. Fazit: − Die sprachliche Realisierung der Opposition LOK vs. DIR ist äusserst

vielschichtig und stellt für die LernerInnen ein grosses Problem dar. Er-wartungsgemäss ist die Erfolgsquote mit 58% denn auch deutlich niedriger als bei den beiden Präpositionen für und mit.

− In lokativen Kontexten ist der Korrektheitsgrad deutlich höher als in di-rektiven Kontexten.

− Im Gegensatz zu den Kleinkindern, die ihre Muttersprache erlernen, wis-sen die Genfer Schülerinnen und Schüler, dass zum Ausdruck räumlicher Relationen eine Präposition nötig ist; diese fehlt in der Tat nur ganz selten.

− Eindeutig markierter N ist wie bei für und mit selten belegt. Speziell zum Kasuswechsel nach in: − In in-Phrasen kommt A=N statt D recht oft vor; vermutlich handelt es sich

dabei meistens um Defaultformen (und nicht um intendierten A). − D (ausser im) wird nur von fortgeschrittenen LernerInnen gebraucht und

zwar mehrheitlich korrekt in lokativen Kontexten; nur selten ist Generali-sierung auf A-Kontexte zu beobachten; zwar gilt das Umgekehrte auch für A, doch sind eindeutige A-Formen ausgesprochen selten.

− Ob D oder A in in-Phrasen bevorzugt wird, lässt sich nicht entscheiden, da die Datenlage insbesondere wegen des Mangels an eindeutigen A-Formen und der schweren Interpretierbarkeit der A=N-Formen unklar ist.

− Die Frage nach dem Kasus ist jedoch gar nicht unbedingt die vordring-lichste, da die Opposition LOK vs. DIR oft anders ausgedrückt wird.

− Gewisse Formen bzw. Oppositionen sind besser lernbar als andere: z.B. ist der Gegensatz von in vs. nach sowie im vs. ins offenbar leichter zu erfas-sen als derjenige von D vs. A; kontrahierte Formen (ins – im; zum, zur) machen weniger Mühe als volle Formen; die Präposition nach ist weniger problematisch als zu und diese ihrerseits weniger als bei.

− Die Lernenden verwenden – wenn überhaupt – sowohl die lokativen Strukturen im X und in X als auch die direktiven Strukturen ins X und nach X mehrheitlich normkonform; anders gesagt: Lokative Wendungen werden eher selten auf direktive Kontexte generalisiert – und umgekehrt.

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− Aus dem Obigen folgt: Wenngleich bei der Lektüre der Schülertexte oft der Eindruck entsteht, lokale PP würden sowohl in Bezug auf die Wahl der Präposition als auch in Bezug auf die Kasusmarkierung in völlig will-kürlicher Weise realisiert, trifft dies in Wirklichkeit nicht zu.

− Auch wer die komplexe Systematik der lokalen PP nicht durchschaut, hat gewisse Chancen, manches dennoch richtig zu machen: dies wiederum dank den Chunks und den zahlreichen A=N-Formen; allerdings muss es der Zufall wollen, dass sie im passenden Kontext eingesetzt werden.

Und in Bezug auf den Deutschunterricht: − Das intensive Training, dem die Schülerinnen und Schüler von der siebten

Klasse an ausgesetzt sind, steht in keinem Verhältnis zum Erfolg; insbe-sondere scheint es sinnlos, den Kindern auf dieser Schulstufe systematisch den Unterschied zwischen D und A in räumlichen Präpositionalphrasen beibringen zu wollen. Solche Versuche müssen scheitern und tragen zwei-fellos dazu bei, dass das Deutsche im Lauf der Jahre immer weniger be-liebt ist. Allenfalls könnte man versuchen, die Opposition LOK vs. DIR zunächst anhand des Paares in Genf wohnen – nach Berlin fahren klar zu machen; ob dies zum gewünschten Resultat führt, bleibt aber fraglich.

5.6.6.3 Exkurs: Lernen in festen Formeln – ja aber!

Das Oppositionspaar zu Hause vs. nach Hause sowie eine Anzahl weiterer Syntagmen der Lernersprache, die mit dem Lexem haus gebildet sind, bieten eine vorzügliche Gelegenheit zu beobachten, wie Lernende mit Ausdrücken, die sie als feste Formeln lernen, umgehen. Dabei zeigt sich, dass das Lernen von Chunks, so sinnvoll es in vielerlei Hinsicht sein mag, auch seine Tücken hat.

Nachdem die Kinder das Substantiv Haus schon ganz zu Beginn der vier-ten Klasse gelernt haben, wird zu Hause in der sechsten, nach Hause erst in der achten Klasse eingeführt. Wahrscheinlich scheint allerdings, dass sie die beiden Ausdrücke im Unterricht bereits gehört haben, bevor diese im Schul-buch auftauchen.

42 von den 58 untersuchten TP verwenden das Lexem haus in Präpositio-nalphrasen, meistens als einfaches Substantiv, bisweilen auch als Teil eines Kompositums (im Krankenhaus u.ä.); insgesamt ist haus 110mal belegt. In 80 Fällen ist die interne Struktur der PP korrekt, d. h. sie kommt im Deutschen tatsächlich so vor (nach Hause, zu Hause, im Krankenhaus). Allerdings werden nun diese potentiell richtigen Syntagmen längst nicht immer auch im passenden syntaktischen Kontext verwendet, so dass 32mal Abweichungen wie die folgenden zu verzeichnen sind: Vati geht zu Hause (Nathalie

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F 7/8), er war nicht nach Hause (Cécile L ECG10/11).238 30 Syntagmen sind auch intern fehlerhaft, d. h. sie kommen im Deutschen niemals vor, z. B. in das Hause, in die Hause, zum Roxane Hause.

Im Folgenden interessieren uns nun speziell die beiden komplementären Formen zu Hause/nach Hause einerseits sowie die intern abweichenden Strukturen andererseits. total r f zu Hause 23 16 7 nach Hause 14 12 2

Tab. 54: zu Hause vs. nach Hause Die Aufstellung lässt erkennen, dass zu Hause offenbar mehr Probleme macht als nach Hause; und zwar wird zu Hause siebenmal fälschlicherweise direktiv – also an Stelle von nach Hause – verwendet. Umgekehrt steht nach Hause nur zweimal in lokativem Kontext; im einen Fall liegt zudem das Verb ankommen vor, wo es auch für fortgeschrittene Lernende schwierig ist, die lokative Sichtweise konzeptuell nachzuvollziehen.

Dass nach Hause weitgehend problemlos gehandhabt wird, ist nun nicht allzu erstaunlich. Wir haben bereits gesehen, dass nach in seiner direktiven Funktion eindeutig ist und dass die Lernenden dies offenbar auch wissen. Dass andererseits zu Anlass zu Irrtümern gibt, ist ebenfalls zu erwarten, wird diese Präposition doch normalerweise nicht lokativ, sondern wie nach direk-tiv verwendet (zu mir). Selbst fortgeschrittene SchülerInnen irren sich hier, was dafür spricht, dass direktives zu Hause im Grunde genommen ein durch-aus „intelligenter Fehler“ ist oder zumindest sein kann.

Solange man nur die beiden Formen nach Hause und zu Hause in Betracht zieht, scheinen sich die Probleme also im Rahmen zu halten. Interessanter wird es nun aber, wenn man sich jene Formen genauer ansieht, die in ihrer internen Struktur von der Norm abweichen. Da finden sich (nach den ver-schiedenen Typen geordnet): − Hause (fem.): in die Hause, in meine Hause, in seine Hause, zu meine Hause sowie als

NP habe eine Hause; ausserdem (vermutlich ebenfalls fem.) ich gehe in der Hause im selben Text wie ich gehe in der Schule

− Hause (neutr.): in das Hause, ins Hause

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238 Probleme mit zu/nach Haus(e) gibt es auch in L1-Erwerb, wie Klinge (1990: 133) vermerkt.

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− Hause (neutr. oder – wenig wahrscheinlich, aber nicht auszuschliessen – mask.):

in mein Hause, in ein klein Hause, zum Roxane Hause − Erweiterung von nach Hause: nach Frau Kürz’ Hause, nach Hause Martinas, nach Hause von unseren

Freunden − Erweiterung von zu Hause: zu meine Hause, zum Roxane Hause Diese in Anzahl und Vielfalt doch recht bemerkenswerten Formen, die offen-sichtlich alle auf zu Hause bzw. nach Hause zurückzuführen sind,239 lassen einige interessante Rückschlüsse auf vermutliche Lernerhypothesen zu: − Das Lexem lautet Hause und ist – völlig regulär240 – Femininum; Genus-

transfer aus der Muttersprache (la maison) kann dabei eine Rolle spielen, muss aber nicht.

− Das Lexem lautet Hause und ist – möglicherweise wie für Haus gelernt – Neutrum.

− nach Hause und zu Hause dürfen beliebig erweitert werden, d. h. Chunks der Lernersprache werden „geknackt“ und verlieren damit ihren Chunk-Status.

Wägt man Nutzen und Schaden des Chunk-Lernens im Falle von zu Hause und nach Hause gegeneinander ab, so kommt man nicht umhin, festzustellen, dass das Lernen nicht analysierter Formen, dessen prinzipielle Nützlichkeit und Notwendigkeit nicht in Frage gestellt werden sollen, doch auch seine Grenzen hat.241 Und man muss sich fragen, wie dem Problem im Unterricht allenfalls beizukommen ist. Die Wendungen zu Hause, nach Hause, das Sub-stantiv Haus sind aus der Lernersprache selbstverständlich nicht wegzuden-ken; die Frage ist also, ob und wie es möglich ist, die Lernenden davor zu bewahren, aus dem Input allzu viele irrige Annahmen abzuleiten. Denkbar wäre etwa, dass man sie relativ früh darauf aufmerksam macht, dass die Form Hause trotz ihres häufigen Vorkommens in Wirklichkeit nicht die normale ist. Und möglicherweise wäre es zumindest für fortgeschrittene Lernende auch sinnvoll, wenn man ihnen bewusst machen würde, dass zu in zu Hause entgegen der normalen Verwendungsweise lokativ ist. Inwiefern die Schülerinnen und Schüler solche Hilfestellungen auch wahrzunehmen ver-mögen, steht allerdings auf einem andern Blatt. _______________

239 Interessanterweise ist -hause in Komposita nie belegt, auch wird das Schema nach

Hause vs. zu Hause nicht auf Komposita übertragen; Formen wie in das Kranken-hause oder nach Schulhaus(e) o.ä. gibt es nicht.

240 Zu den Regelhaftigkeiten in der Genus-Zuweisung vgl. 5.3.4.2, S. 178. 241 Zu den Risiken des Chunk-Lernens vgl. auch Karpf (1990: 106f.) sowie Ellis

(1994: 84ff.).

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5.6.7 Schluss Was aus der Schulpraxis längst bekannt ist, hat auch diese Untersuchung be-stätigt: Präpositionalphrasen sind ein äusserst komplexer und schwieriger Lerngegenstand. Die vollständige und systematische korrekte Handhabung des Systems der deutschen Präpositionen mit seinen WP und seinen PfK er-fordert in konzeptueller wie in struktureller Hinsicht einen Kenntnisstand, den in Wirklichkeit nur ein verschwindend kleiner Teil der Genfer Schülerinnen und Schüler je erreicht. Auf der andern Seite sind Präpositionalphrasen aber kommunikativ überaus wichtig und für die Lernenden bald einmal unverzichtbar, so dass diese sich in der verzwickten Lage befinden, dass sie in grosser Zahl Ausdrücke verwenden müssen und auch möchten, zu deren Bildung sie in Wirklichkeit nicht – oder nur beschränkt – fähig sind.

Das bedeutet nun aber nicht, dass der Umgang mit den Präpositionalphra-sen in den DiGS-Texten in jeder Hinsicht völlig chaotisch und zufällig wäre, so wenig wie es bedeutet, dass die fehlerhaften PP gegenüber den korrekten die grosse Mehrheit ausmachen würden. Zum einen spielt gerade im PP-Be-reich das Chunk-Lernen eine besonders wichtige Rolle; und zumindest, was die PfK betrifft, verhelfen Chunks den Lernenden offensichtlich dazu, präpo-sitionale Ausdrücke zielsprachenkonform zu verwenden. Wenn man es aller-dings mit (lokalen) WP zu tun hat (und das ist bei unseren TP sehr oft der Fall), bewahrt auch das Memorieren fester Formeln nicht vor Normverstös-sen, solange die Dichotomie LOK – DIR nicht ebenfalls berücksichtigt wird.

Doch auch dann, wenn die SchülerInnen ihre eigenen Präpositionalphrasen produzieren, haben sie durchaus Chancen, manches richtig zu machen. So hat es sich gezeigt, dass der Kasus nach der Präposition für (und den anderen A-Präpositionen) bei Lernenden aller Stufen sehr oft korrekt ist – nicht in erster Linie weil alle TP den Akkusativ erfasst hätten, sondern weil im Deutschen A und N formal häufig identisch sind. Dativ ist in solchen PP praktisch überhaupt nicht belegt – ein in seiner Eindeutigkeit wirklich bemerkenswerter Befund. Präpositionen, die wie mit den Dativ erfordern, machen erwartungsgemäss mehr Schwierigkeiten; doch stellt sich heraus, dass fortgeschrittenere Lernende, d. h. solche, die nicht mehr N oder A=N als De-faultform verwenden, in mit-Phrasen überwiegend normgerecht den Dativ benutzen. Von einer Generalisierung des (eindeutigen) Akkusativs auf D-Kontexte kann also keine Rede sein. Und selbst was die WP betrifft, wo die Fehlerquote zwar noch einmal deutlich höher ist, konnten wir feststellen, dass manche LernerInnen die Opposition LOK – DIR bzw. deren sprachliche Realisierung zumindest teilweise erfassen; ausserdem hat sich ergeben, dass gewisse Strukturen bzw. Oppositionen (z. B. in X – nach X, im X – ins X) of-fenbar leichter zu erwerben sind als andere. Zu letzteren gehört der Kasus-wechsel D vs. A nach in, der nur von einzelnen sehr fortgeschrittenen Ler-

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nenden beherrscht wird. Was die Frage der Generalisierung von D auf A-Kontexte bzw. von A auf D-Kontexte nach in anbelangt, so erlauben die Da-ten keine eindeutige Antwort; eine klare Tendenz zeichnet sich hier weder in die eine noch in die andere Richtung ab.

Ein weiteres speziell auch in Bezug auf den Deutschunterricht relevantes Ergebnis betrifft Frequenz und Varianz der in den DiGS-Texten belegten Präpositionen. Es erweist sich nämlich mit einer frappanten Deutlichkeit, dass die Schülerinnen und Schüler mit einer – gemessen an den im Unterricht behandelten – sehr kleinen Zahl von Präpositionen auskommen, die ihre wichtigsten kommunikativen Bedürfnisse abdecken. Von einem Grossteil der im Cycle intensiv trainierten Präpositionen wird bis in die letzten Schulklas-sen wenig oder überhaupt kein Gebrauch gemacht, so dass eine Reduktion der offensichtlich unnötig hohen Zahl von unterrichteten Präpositionen angezeigt erscheint.

Angesichts der Komplexität der Präpositionalphrasen als Lerngegenstand einerseits und ihrer hohen kommunikativen Relevanz andererseits ist anzu-nehmen, dass im Unterricht ein möglichst „lockeres“ Verhältnis gerade zu dieser Materie letztlich den grössten Erfolg zeitigen wird. Erklären und Üben helfen während langer Zeit wenig bis nichts; das Lernen von Chunks ist sicher sinnvoll, doch dürfen – wie wir gesehen haben – auch da keine Wunder erwartet werden. Und schliesslich sollte man sich auch eingestehen, dass von der Norm abweichende Präpositionalphrasen die Kommunikation kaum ein-schränken, das Insistieren auf Korrektheit dagegen die Motivation und Lernlust der Lernenden erheblich beeinträchtigen kann. 5.7 Deklination: Fazit Thérèse Studer 5.7.1 Die wichtigsten Ergebnisse Wer die DiGS-Texte liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Umgang der Lernenden mit der Nominalflexion generell ziemlich chaotisch ist. Abweichende Nominalphrasen und Präpositionalphrasen sind – ausser bei einer Minderzahl auffallend guter Schülerinnen und Schüler – bis in die letzten Klassen überaus zahlreich; hinter den Schülerproduktionen eine Sys-tematik zu erkennen, scheint oftmals unmöglich. Die Leistungen stehen in keinem Verhältnis zum Aufwand, der von Lehrenden und Lernenden im Be-reich Deklination getrieben wird. In der Tat lernen die Kinder praktisch von

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Anfang an die Substantive mit dem Artikel und folglich mit dem zugehörigen Genus kennen; auch die Pluralformen werden (in den ersten Jahren zwar noch nicht systematisch) in Wörterlisten angegeben; die Kasus sind ab der siebten Klasse explizites Thema (in NP und PP, mit diversen Artikelwörtern, substantivisch und pronominal) und die Adjektivdeklination wird ab der achten Klasse unterrichtet, so dass am Ende der obligatorischen Schulzeit praktisch die gesamte Deklination als behandelt – d. h. erklärt, geübt und getestet – gilt.242 Misst man den Erfolg dieses zweifellos sehr intensiven und aufwendigen Unterrichts, der auch im PO fortgeführt wird (v.a. Wiederholung), an der Anzahl der normkonform realisierten NP und PP, dann ist das Ergebnis – gelinde gesagt – enttäuschend. Entsprechend entmutigt reagieren denn auch manche Schülerinnen und Schüler, denen das Deutsche – wie oft gesagt wird, wohl wirklich nicht zuletzt wegen der Schrecken der Deklination – zu einer immer grösseren Last wird.

Nun sind allerdings die in der Perspektive der Norm (und der Zensuren) zweifellos wenig befriedigenden Resultate in Wirklichkeit keineswegs er-staunlich, im Gegenteil: Erstaunlich ist eher, dass es SchülerInnen gibt, die es tatsächlich (fast) zur Perfektion bringen. Dass der Erwerb der Deklination so schwierig und langwierig ist, hat mehrere Gründe: − Die Nominalflexion ist im Deutschen weder transparent noch uniform, und

auch konstruktionelle Ikonizität ist nur bedingt gegeben (vgl. dazu 5.1). Es besteht kein Zweifel, dass ein Teil der Lernenden angesichts der Undurchschaubarkeit des Systems und der Erfolglosigkeit ihrer Bemü-hungen – die, wie man annehmen kann, normalerweise zunächst einmal vorhanden sind243 – resigniert aufgeben (Fossilisierung).

− Die kommunikative Relevanz der Deklinationsmorpheme ist gering, so dass es in dieser Perspektive keine Rolle spielt, ob jemand der Welt statt die Welt, die Hünde statt die Hunde, ich habe ein Bruder statt einen Bru-der, das rotes Kleid statt das rote Kleid sagt bzw. schreibt. Dass nominale Syntagmen dekliniert werden müssen, ist in erster Linie sprachsystematisch bedingt, für die Verständigung aber keineswegs unentbehrlich.

− Der Lehrplan ist in den Monaten und Jahren (7. bis 9. Klasse), in denen zahlreiche und verschiedenste Aspekte der Nominalflexion explizit be-handelt werden, sehr gedrängt, stehen doch im gleichen Zeitraum auch weite Bereiche der Konjugation sowie der Satzstruktur auf dem Programm. Dieser Belastung sind die meisten Schülerinnen und Schüler nicht

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242 Mit Ausnahme des Genitivs, von dem die Lernenden bis Ende Cycle nur die vor-angestellte Verwendung kennen (Mamas Auto).

243 Dass die Genfer Schülerinnen und Schüler zu Beginn Spass am Deutschen haben und durchaus motiviert sind, diese Sprache zu lernen, geht aus den DiGS-Frage-bögen deutlich hervor (vgl. S. 18).

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gewachsen, und es ist nur verständlich, wenn sie ihre Aufmerksamkeit nicht in erster Linie auf das hochkomplexe und „unnütze“ System der Nominalflexion richten.

Der springende Punkt liegt aber anderswo: Die verschiedenen DiGS-Teilstu-dien zum Nominalbereich haben nämlich gezeigt, dass vieles bei den Ler-nenden sich in Wirklichkeit gar nicht so unsystematisch abspielt, wie es den Anschein hat. Die künstliche Trennung in mehrere Untersuchungsbereiche (die zwar nicht ganz unproblematisch war) hat es ermöglicht, nachzuweisen, dass die Nominalflexive in den Lernertexten keineswegs völlig zufällig ver-wendet werden und dass der Erwerb der Deklinationsmorphologie nicht be-liebig abläuft. Es besteht im Gegenteil kein Zweifel, dass manches systema-tisch und schrittweise erworben wird – wenn auch oft viel später und in ande-rer Manier, als dies von der Schule vorgesehen ist. Für alle untersuchten Domänen (Genus, Plural, Kasus, Adjektivdeklination – NP und PP) gilt, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise, dass der Lernvorgang zumindest teilweise geordnet, systematisch, vorhersagbar ist.244 Interessant ist in dem Zusammenhang die Tatsache, dass die Abweichungen sowohl bei der Wahl des Genus wie bei der Pluralbildung und bei der Kasuswahl, wenn diese je einzeln ausgezählt werden, ganz klar in der Minderheit sind (überall weniger als ein Viertel); nur bezüglich der Adjektivflexion liegt die Fehlerquote deut-lich höher, was aber insofern weniger ins Gewicht fällt, als komplexe Nomi-nal- und Präpositionalphrasen ohnehin eine Minderheit ausmachen. Es ist also in erster Linie die Kombination der diversen Abweichungen (zu den oben erwähnten gesellen sich weitere, die im DiGS-Projekt nicht untersucht wurden, vgl. die Beispiele unten), die dazu führt, dass die Nominalflexion im Allgemeinen so beliebig wirkt.

Zur Illustration folgt eine Serie von Beispielen, die zeigen, was alles pas-sieren kann, wenn jemand – völlig richtig – den Akkusativ (bzw. in einem Fall A = N in direktivem Kontext) gewählt hat – eine Leistung, die (wenn sie nicht dem blossen Zufall zu verdanken ist) an und für sich bereits für ein re-lativ hohes Erwerbsniveau spricht: − Genusfehler: durfte P. nicht den Frühstück essen (Sophie N 8/9) − Genusfehler + fehlende Markierung am Adjektiv: einen gut Gewissen haben (Nicolas M ESC12/M) − fehlende Markierung am Det: spielst du ein anderen Sport (Fanny D ESC11/12)

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244 Dass daneben rote-learning sowie die mehr oder weniger grosse Variabilität der Ler-nersprachen ebenfalls ihre Rolle spielen, wird selbstverständlich nicht bestritten.

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− Übermarkierung des Neutrums: gingen in eines Café (Fanny D ESC11/12) − sein- statt ihr-: meine Schwester mögte seinen Kopf, seinen neuen Kopf (Nathalie F

ESC10/11) − fehlender Umlaut bei Komparativ: weil sie einen alteren Freund getroffen hat (Céline M ESC11/12) − usw. Im Folgenden wird in knappster Form zusammengefasst, wie Numerus, Ge-nus und Kasus sowie die Adjektivflexion (in NP und PP), nach unseren Analysen zu schliessen, erworben werden.

Ganz am Anfang scheint die nominale Morphologie zu grossen Teilen aus-serhalb der sprachlichen Aufmerksamkeit der Lernenden zu liegen. Zwar kommen selbstverständlich Flexive vor, doch werden diese zunächst nicht als funktionstragende Elemente identifiziert. Recht bald jedoch werden Genus- und Pluralmarker wahrgenommen, während Kasus und Adjektivmarkierung lange unbeachtet bleiben.245 Konzeptuell bereitet die Unterscheidung von Singular und Plural offensichtlich keine Schwierigkeiten, sind doch die Kin-der mit genau dieser Numerus-Opposition längst vertraut. Auch das Phäno-men des Genus ist vom Französischen her bekannt, und die Tatsache, dass im Deutschen drei Genera existieren, scheint für die Lernenden kein unüber-windliches Problem zu sein, verwenden sie doch schon bald nicht nur Nomi-nalphrasen wie das Kind, das Mädchen, sondern auch das Ofen, das papagei (alle in der fünften Klasse). Im Gegensatz dazu ist das Kasussystem konzep-tuell schwer zu erfassen. Zwar ist den Lernenden bereits früh klar, welches Syntagma im Satz das Subjekt ist;246 doch sie wissen während langer Zeit nicht, dass den Funktionen Subjekt vs. Casus obliquus – wenn auch nicht in allen Fällen – bestimmte Morpheme entsprechen; auch unterscheiden sie lange nicht zwischen den beiden Casus obliqui A und D. Dass es im Franzö-sischen eine analoge Unterscheidung zwischen COD und COI (direktem und indirektem Objekt) gibt, scheint nicht ohne weiteres durch Transfer für das Deutsche genutzt werden zu können. Entsprechend spät kommt der Kasuser-werb, verstanden als die Zuordnung der N-, A- und D-Flexive zu den syn-taktischen Funktionen Subjekt, Akkusativobjekt und Dativobjekt, in Gang.247 _______________

245 Wobei zu sagen ist, dass attributive Adjektive im Gegensatz zu markierten Kasus-

formen bis in die achte Klasse im expliziten Input fehlen und im impliziten Input vermutlich selten sind.

246 Das lässt sich aus der Tatsache ableiten, dass das Verb stets korrekt mit dem Subjekt koordiniert wird, auch dann wenn dieses (was in NP-Phase II recht oft vorkommt) mit A-Markern versehen ist: Einen Polizist halt die Männer (Audrey A 8/9, 4).

247 Unsere Ergebnisse stimmen demnach offensichtlich nicht mit denjenigen von

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Als besonders erwerbsresistent erweist sich schliesslich auch die Adjektivde-klination, was angesichts der Komplexität der betreffenden Regeln allerdings auch zu erwarten ist. – Die in der Einleitung zur Morphologie (vgl. 5.1) ge-stellte Frage, ob der Erwerb der kontextuellen Flexion (durch welche syntak-tische Funktionen kodiert werden) auch im gesteuerten L2-Erwerb später einsetzt als der Erwerb der inhärenten Flexion (die ihrerseits semantische Funktionen ausdrückt), kann also nach unseren Ergebnissen für den nomina-len Bereich248 bejaht werden: Sowohl die Kasusmarkierung als auch die Ad-jektivflexion, die beide unstreitig dem kontextuellen Flexionstypus zuzuzäh-len sind, werden deutlich später erworben als die – inhärente – Pluralmarkie-rung. Was das Genus betrifft, das zwar eine inhärente Eigenschaft der Sub-stantive ist, die jedoch ausschliesslich mittels kontextueller Flexion ausge-drückt wird, so kann man davon ausgehen, dass die verschiedenen morpho-syntaktischen Umgebungen für die Lernenden in unterschiedlichem Masse für die Genusmarkierung zugänglich sind.

Die Systematik, mit der die Lernenden die einzelnen Bereiche bearbeiten, ist nun nicht immer die gleiche, und sie ist auch nicht überall mit der gleichen Sicherheit nachzuweisen. In natürlichen Phasen (im Sinne von Pienemann), d. h. in der Weise, dass die Lernschritte in einer gegebenen, nicht umkehrbaren und durch Unterricht nicht beeinflussbaren Ordnung aufeinander folgen, werden die Kasus erworben: Im NP-Bereich geht die Entwicklung vom Ein-Kasus-System (in zwei Ausprägungen) zum Zwei-Kasus-System und schliesslich zum Drei-Kasus-System. Nicht völlig parallel dazu verläuft der Erwerb der Kasus im PP-Bereich, sieht es doch ganz danach aus, als ob nach Präpositionen mit festem Kasus der Dativ früher in Opposition zum Akkusativ verwendet würde als in NP; d. h. D und A tauchen hier etwa gleichzeitig auf. – Nicht in Erwerbsphasen, aber dennoch mit einer gewissen Regelhaftigkeit werden die Pluralformen der Substantive und die Genera ge-lernt. So spricht vieles dafür, dass die Lernenden bestimmte produktive Plu-ralregeln ausbilden; auch zeichnet sich eine Hierarchie der Pluralmarker in den Lernertexten ab: (e)n > 0 > e > s > er. Was die Genera betrifft, so ist of-fensichtlich die semantische Regel der Genus-Sexus-Übereinstimmung bei der Genus-Wahl ein entscheidender Faktor. Aber auch formale Regeln schei-nen die Lernenden zu entwickeln, gibt es doch starke Indizien dafür, dass sie auf Schwa endende Substantive tendenziell den Feminina, einsilbige Sub-________________

Heide Wegener überein (Wegener 1992: 547). Während Wegener für den unge-steuerten Deutscherwerb durch Kinder mit verschiedenen Muttersprachen (russisch, polnisch, türkisch) eine Erwerbsreihenfolge Numerus – Kasus – Genus etabliert, laufen die DiGS-Untersuchungen klar darauf hinaus, dass Plural- und Genusmarkierung etwa gleichzeitig – und zudem früh – in Angriff genommen werden, während der Kasuserwerb erst Jahre danach einsetzt.

248 Zur Verbalflexion vgl. Kapitel 5.2, S. 165.

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stantive eher den Nicht-Feminina (Maskulina und Neutra) zuordnen. Selbst-verständlich spielt neben der Regelausbildung auch das Auswendiglernen sowohl für die Pluralformen als auch für die Genuswahl eine wichtige Rolle, deren Anteil allerdings nicht quantitativ nachweisbar ist. Ebenso ist – insbesondere beim Genus – mit Transfer zu rechnen. – Noch einmal anders verhält es sich mit der Adjektivdeklination, ist doch hier wiederum eine interindividuelle Progression festzustellen, die sich allerdings nicht – oder nur bedingt – in einen Zusammenhang mit den Kasusphasen bringen lässt. So werden von Lernenden der NP-Phase II Adjektive, falls überhaupt welche vorhanden sind, beliebig flektiert; weiter fortgeschrittene Schülerinnen und Schüler (NP-Phasen III und IV) durchschauen die Flexion der Adjektive allmählich immer besser in ihrer Abhängigkeit von den diversen Kategorien (Genus, Numerus, Kasus), ohne dass die Adjektiv-Stadien des formalen bzw. des funktionalen Ausgleichs mit den NP-Phasen III bzw. IV zusammenfallen würden. 5.7.2 Konsequenzen für den Unterricht Es kann hier nicht darum gehen, eine Art Curriculum für die Behandlung der Deklination im Schulunterricht auszuarbeiten; dies bleibt nach wie vor Leh-rerInnen und SchulbuchautorInnen als den zuständigen Fachleuten vorbe-halten. Hingegen erlauben es die DiGS-Ergebnisse, auf einige wichtige Punkte hinzuweisen, die im Unterricht dringend berücksichtigt werden soll-ten.249

Zentral ist, dass die Lehrenden sich klar machen, dass sie und ihre Schüle-rinnen und Schüler es im Falle der Deklination – ganz objektiv gesehen – mit einem ungewöhnlich komplexen Lerngegenstand zu tun haben, derart dass während der ganzen Schulzeit mit Schwierigkeiten gerechnet werden muss. Insbesondere sollte man sich der auf den ersten Blick paradox anmutenden Tatsache bewusst sein, dass Strukturen wie die Deklinationsparadigmen, die sich aus linguistischer Sicht problemlos beschreiben – und beispielsweise in Tabellenform darstellen – lassen, sich in der Perspektive der Lernenden als überaus komplex und schwer erwerbbar erweisen können.

Eine wichtige Voraussetzung für eine andere und angemessenere Ein-schätzung der Schülerleistungen erscheint uns zu sein, dass Lehrerinnen und Lehrer in ihrer Praxis Abweichungen als das erkennen, was sie wirklich sind (selbst wenn das nicht immer leicht fällt). So ist ich habe einen Katze nicht einfach als ein Fehler, sondern möglicherweise als ein höchst positives Indiz

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249 Zu den didaktischen Konsequenzen, die sich allgemein aus der DiGS-Studie erge-ben, vgl. auch 7.4.2.

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dafür zu werten, dass jemand den Akkusativ entdeckt hat. Dass er oder sie sich im Genus täuscht, ist dabei von sekundärer Bedeutung. Umgekehrt muss man sich auch bewusst machen, dass manches, was zielsprachlich einwandfrei ist, nicht auf Wissen beruht, sondern bestimmten glücklichen Sprachum-ständen zu verdanken ist. Zum Beispiel ist es denkbar, dass die Präpositio-nalphrase auf der Mauer in der Lernersprache keinen Dativ enthält, sondern sich zusammensetzt aus auf + N (= der Mauer, vgl. auch franz. le mur). Wenn eine Schülerin schreibt ich habe eine Schwester, beruht die Korrektheit dieses Satzes nicht unbedingt auf ihren Kasuskenntnissen, sondern auf dem Umstand, dass sie keinen Bruder hat. Und so erscheint es geradezu ungerecht, wenn ihr Mitschüler, der aus pragmatischen Gründen zu schreiben gezwungen ist ich habe ein Bruder, für seinen Kasusfehler bestraft wird.

Wenn hier die Auffassung vertreten wird, dass ganz speziell im Bereich der Nominalflexion der Begriff des „Fehlers“ dringend relativiert werden muss, soll damit gewiss nicht einer allgemeinen Laxheit das Wort geredet werden. Es geht vielmehr darum, sich zu vergegenwärtigen, welche Formen und Strukturen auf welcher Schulstufe lern- bzw. lehrbar sind, und zu klären, was für Ansprüche zu welchem Zeitpunkt an die SchülerInnen gestellt werden können. Nun scheint es so, dass nicht nur im Genfer Schulsystem der Neunziger Jahre, dem unsere Testpersonen entstammen, im Bereich der De-klination von den Schulkindern zu früh zu viel erwartet wird. Aus unseren Untersuchungen geht klar hervor, dass die Ausdifferenzierung des Kasus-systems sowie die Adjektivdeklination von den Lernenden erst dann in An-griff genommen werden, wenn der Erwerb der Satzmodelle quasi abge-schlossen und der Erwerb der Konjugation weit vorangeschritten ist.250 Dar-auf müssten Schulbücher und Lehrpläne dringend Rücksicht nehmen. Wenn darauf verzichtet wird, Kasus und Adjektivflexion „vor der Zeit“ explizit zu unterrichten,251 dann ist es denkbar, dass die kognitive und vor allem auch die zeitliche – und vielleicht gar die emotionale – Entlastung (Stichwort: Moti-vation) so gross ist, dass der Erwerb in den anderen Bereichen schneller als bisher vonstatten geht. Gerade dieses Argument müsste auch jene überzeugen, die befürchten, die zeitweilige Reduktion des Lernstoffs führe notwen-digerweise zu einer Senkung des Niveaus.252 Wenn wir hier also entschieden für eine Entzerrung des grammatischen Unterrichtsstoffs plädieren, in dem Sinne, dass nicht gleichzeitig unterrichtet werden soll, was offenbar nur nacheinander erworben werden kann, dann tun wir dies eben gerade, weil wir _______________

250 Vgl. Tab. 55: Erwerbssequenzen. 251 Selbstverständlich darf und soll der implizite Input die betreffenden Formen ent-

halten – je mehr, desto besser. 252 Auch sollte nicht verdrängt werden, dass die bisher geltenden höher gesteckten

Lernziele – nicht nur in Genf – nicht zum gewünschten Erfolg führen, da sie gros-senteils von den SchülerInnen ganz einfach nicht erreicht werden.

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uns letztlich davon raschere Fortschritte und bessere Ergebnisse versprechen. Im Übrigen sollte man auch nicht vergessen, dass die Lernenden im Bereich der Deklination ja keineswegs untätig sind, denn mit Genus und Pluralformen beschäftigen sie sich praktisch von Anfang an; fraglich ist höchstens, inwiefern (bzw. ob überhaupt) dabei Wörterlisten mit Angabe von Genus und Pluralform nützlich sind.

Für die Etablierung von Unterrichtsplänen, die der natürlichen grammati-schen Progression nicht zuwiderlaufen, ist also die Kenntnis der oben ge-nannten Prinzipien und Gesetzmässigkeiten, die den Erwerb der Nominalfle-xion zu einem guten Teil lenken und regeln, eine unumgängliche Vorausset-zung. Dasselbe gilt nun auch für die Bestimmung des Sprachniveaus der ein-zelnen Schülerinnen und Schüler (als unverzichtbare Voraussetzung für die Verwirklichung eines binnendifferenzierten Unterrichts) sowie in Bezug auf die Fehlerbewertung und die damit verbundene Notengebung. Aus unseren Untersuchungen folgt, dass für die Erwerbstandsbestimmung Kasus und Ad-jektivflexion herangezogen werden können und müssen, nicht jedoch Genus und Pluralformen, da deren Erwerb nicht in interindividuell gleichen Phasen verläuft. Insbesondere ist bei der Sanktionierung von Genus- und Pluralfeh-lern zu bedenken, dass mit der Zunahme des Wortschatzes naturgemäss auch die Risiken zunehmen, sich in Genus und Plural zu irren. Werden nun solche Abweichungen bei schreibfreudigen Lernenden konsequent geahndet, kann sich dies kontraproduktiv auswirken: etwa in der Weise, dass die SchülerIn-nen ihre Textproduktion auf ein Minimum einschränken, um möglichst wenig fehleranfällige Formen zu erzeugen. Auf der andern Seite werden sich Unterrichtende wohl auch die Frage stellen müssen, ob eine Art Fundus an Substantiven zu etablieren wäre, für den Genus und Plural gelernt und ver-langt werden könnten. – Was die Kasus anbelangt, so sollte auch hier eine differenzierte Haltung eingenommen werden. Kasusabweichungen sind wäh-rend langer Zeit in vielen – wenn auch dank der morphologischen Eigen-schaften des Deutschen längst nicht in allen Nominal- und Präpositionalphra-sen – unausweichlich, so dass es wenig Sinn macht, die SchülerInnen für „Fehler“ zu bestrafen, die sie gar nicht vermeiden können. – In Bezug auf die Adjektivdeklination schliesslich ist festzuhalten, dass es sich dabei um so et-was wie eine „höhere Kunst“ handelt, die nur wenigen sehr fortgeschrittenen Lernenden zugänglich ist. Vorstellbar ist allerdings, dass gute SchülerInnen, d. h. nur solche, die über ein ausgebautes Kasussystem verfügen, angeleitet werden, beim Schreiben Adjektivdeklinationstabellen zu verwenden.253 In der Tat scheint uns gerade die Adjektivflexion ein Bereich zu sein, wo die „grammatische Nachschlagefähigkeit“, für deren Förderung sich Kwakernaak

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253 Die Adjektivflexion ist ohnehin nur in der schriftlichen Kommunikation ein Prob-lem; in der gesprochenen Sprache sind attributive Adjektive ausgesprochen selten.

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(1996: 284ff.) – in Analogie zu der viel öfter trainierten lexikalischen Nachschlagefähigkeit – ausspricht, mit einiger Aussicht auf Erfolg eingesetzt und geübt werden könnte.254

Abschliessend muss nun allerdings nuancierend eingeräumt werden, dass eine wirklich gerechte Beurteilung des Könnens von Schülerinnen und Schülern – so wünschenswert und notwendig sie auch ist – sich in der Praxis nicht immer als einfach erweist. Denn wenn die nominale Morphologie in den Schülerarbeiten zu weiten Teilen auch nur scheinbar beliebig ist, so bleibt dennoch die Tatsache bestehen, dass es oft schwer fällt, die Regelhaftigkeit, die dahinter steckt, zu erkennen. Ausserdem sollte man nun auch nicht in die entgegengesetzte Extremposition verfallen und davon ausgehen, dass Lernersprache stets und in jeder Hinsicht systematisch sei. Dass dies ga-rantiert nicht zutrifft, wissen alle, die je mit Deutschlernenden zu tun hatten. Das Problem ist vielmehr, dass man oft nicht weiss – und auch nicht wissen kann –, ob eine Form auf Grund irgendeiner Systematik oder durch Auswen-diglernen (das kann z. B. die Genera und die Pluralformen betreffen, aber auch grössere Einheiten, die als Chunks memorisiert werden) oder eben doch aus purem Zufall entstanden ist. _______________

254 Ein brauchbares Instrument ist hierfür der vom Verlag Durr + Kessler herausgege-

bene Grammaticus, eine Art „Rechenschieber“, der Verbal- und Nominalmorpho-logie in kompaktester Form präsentiert.

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XXX

Teil III: Bilanz

6 Individuelle Unterschiede Erika Diehl In den Kapiteln 4 und 5 ging es in erster Linie um die Identifikation von all-gemeingültigen Gesetzmässigkeiten, denen die Schülerinnen und Schüler alle gleichermassen unterworfen sind. Es zeigte sich aber dort schon, dass sich die einzelnen Schülerindividuen ganz wesentlich voneinander unterscheiden – nicht in der Abfolge der Erwerbssequenzen, wohl aber in der Art und Weise, wie sie sich im Erwerbsprozess verhalten und wie erfolgreich sie im Ausbau ihrer L2-Kompetenz sind. Es lohnt sich umso mehr, den Ursachen für diese individuelle Variation nachzugehen, als wir versucht hatten, Schüler mit zusätzlichen ausserschulischen Deutschkontakten aus der Untersuchung auszuklammern, um die Variable des L2-Inputs möglichst niedrig zu halten. Über die Rolle der Lehrervariable können wir uns nicht äussern; es fehlen uns die entsprechenden Unterlagen. Wir versuchten sie immerhin insofern zu relativieren, als wir auf jedem Niveau mindestens zwei Parallelklassen unter-suchten. Und auf die Gesamtheit des Korpus gesehen, das 30 Klassen ver-schiedener Deutschlehrer umfasst, schien uns die Lehrervariable hinsichtlich der uns interessierenden Phänomene nicht wesentlich ins Gewicht zu fallen. Wo dies doch der Fall zu sein schien – wie etwa bei der in Kapitel 4.4.2.3 erwähnten Primarschulklasse mit ihren überdurchschnittlichen Leistungen –, war der Trainingserfolg offensichtlich nur von kurzer Dauer. Da zudem ja auch innerhalb ein und derselben Klasse erhebliche Unterschiede zu beob-achten sind, ist es sicher nicht abwegig, die Ursachen dafür bei den Schüle-rinnen und Schülern selbst zu suchen.

Es sind uns dabei allerdings durch unsere Daten Grenzen auferlegt. So können wir keine Aussagen machen über die Rolle der verschiedenen Per-sönlichkeitsfaktoren, die von der umfangreichen ID-research, den For-schungsarbeiten zu den individuellen Unterschieden, als mögliche Einfluss-faktoren von Sprachlernerfolg genannt werden (wie etwa Extravertiertheit vs. Introvertiertheit, Risikobereitschaft, allgemeine Intelligenz, Feldab- bzw. -unabhängigkeit).1 Ebenso müssen soziopsychologische und emotionale Fak-toren sowie kognitive Stile in unserer Analyse unberücksichtigt bleiben. Le-diglich die Korrelation zwischen Lernerfolg und Motivation – die im allge-meinen als die eindeutigste unter allen hypothetisierten Korrelationen gilt2 –

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1 Einen ausführlichen Überblick über die ID-Forschung bieten Skehan (1989) und Ellis (1994: 467–560).

2 „To sum up: integrative motivation has been shown to be strongly related to L2 achievement. It combines with instrumental motivation to serve as a powerful pre-

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können wir auf Grund der Schülerfragebögen vorsichtig bestätigen. Auch wenn wir hier keine statistisch abgesicherten Aussagen machen können, so zeigen doch punktuelle Überprüfungen bei unseren erfolgreichsten Testper-sonen, dass diese in der Tat eine Einstellung erkennen lassen, die in die Richtung einer „instrumentellen“ oder „integrativen“ Motivation weist.3

Wir werden uns also in diesem Kapitel auf denjenigen Aspekt der indivi-duellen Unterschiede beschränken, für den sich unsere Daten anbieten: die Art und Weise, wie die Schülerindividuen mit dem schulischen Input umge-hen, in welcher Weise sie ihn aufnehmen, bearbeiten und zu integrieren ver-suchen – also mit dem, was in der Literatur mit dem Begriff „Strategien“ bzw. „Verfahren“ bezeichnet wird. 6.1 Zum Terminus „Strategie“ Nun ist freilich die Crux, dass über die Definition und den Status des Begriffs „Strategie“ in der Erwerbsforschung keine Einigkeit besteht. Für Naiman et al. (1978), Skehan (1989) und Ellis (1994) beispielsweise sind Strategien bewusst einsetzbar zur Effizienzsteigerung des Lernvorgangs; für sie kann der Lerner je nach seinen persönlichen Präferenzen oder Erfahrungen und je nach Situation die angemessenste Strategie wählen.4 Im Rahmen der kognitiven Erwerbstheorie hingegen werden Verfahren wie L1-Transfer, Vereinfachung und Übergeneralisierung als „Strategien“ bezeichnet – also genau jene, die Naiman et al. (1978) zu den unconscious processes rechnen. In den ZISA-Forschungsarbeiten sind Strategien definiert als Umsetzung der allgemeinen ________________

dictor of success in formal contexts“. (Ellis 1994: 513) Auch O’Malley/Chamot (1990) betonen nachdrücklich die Wichtigkeit der Motivation (1990: 160f.).

3 Siehe Kapitel 2.5. Als „integrative Motivation“ gilt das Interesse und die Sympa-thie, die für die Sprecher und die Kultur der L2 bekundet werden; als „instrumentell motiviert“ gilt, wer sich vom Beherrschen der L2 einen konkreten Nutzen verspricht. Näheres bei Wode (1989: 298).

4 Naiman et al. (1978) unterscheiden in ihrem „good language-learner“-Modell unbewusste Prozesse (wie Generalisierung, Transfer und Vereinfachung) und bewusste Prozesse, die sie mit „Strategien“ gleichsetzen (dargestellt in Skehan 1989: 4). Skehan nennt als Definiens von Lernerstrategien „the possibility of the learner exerting control over the learning process“. (Skehan 1989: 73) Auch nach Ellis sind Lerner „generally aware of the strategies they use and can identify what they consist of if they are asked to pay attention to what they are doing/thinking“. (1994: 532) Und auch Tönshoff definiert Strategien als „Verfahren, mit denen der Lerner den Aufbau, die Speicherung, den Abruf und den Einsatz von Informatio-nen steuert und kontrolliert“ (1995: 240).

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Erwerbs-Prinzipien (wie etwa Wodes „Dekomposition von Zielstrukturen“) in konkrete Verhaltensmuster beim Auftreten spezifischer Erwerbsprobleme – wie eben Übergeneralisierung, Simplifizierung und Vermeidung; und diese Strategien spielen nach Aussage der ZISA-Forscher im L1-Erwerb ebenso eine Rolle wie im (natürlichen) L2-Erwerb (Clahsen/Meisel/Pienemann 1983: 92). Von bewusster Kontrolle und gezieltem Einsatz kann bei diesem Strategien-Verständnis wohl keine Rede sein.

Die definitorische Unklarheit des Strategie-Begriffs mag man beklagen wie etwa Wode (1988),5 man mag sogar grundsätzlichen Zweifel an der bisher vorgelegten Strategien-Forschung anmelden, wie Skehan.6 Man kann sich dieses Terminus’ aber auch als eines heuristischen Instruments bedienen und den definitorischen Dissens erst einmal auf sich beruhen lassen. Der Be-wusstheitsgrad von Erwerbsstrategien wird ohnehin nicht in jedem Einzelfall mit Sicherheit zu bestimmen sein. Wenn beispielsweise die Schüler ein Le-xem ihrer L1 als „Lückenbüsser“ in ihre L2-Lernersprache transferieren, so sind sie sich dessen sicher bewusst (sie signalisieren dies sogar oft durch An-führungszeichen); verwenden sie hingegen ihr L1-Satzmodell S-V in Inver-sionskontexten, so handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine un-bewusste Transfer-Strategie. Was wir im Folgenden untersuchen, sind – um Wodes Definition zu benützen – „die systematischen Verfahrensweisen, mit denen sich Lerner eine Sprache erschliessen oder sich bei noch ungenügender Beherrschung behelfen“ (Wode 1988: 81), ausgehend von der Arbeitshy-pothese, dass die individuellen Unterschiede auf unterschiedlichen Strate-giengebrauch zurückführen sind. Die Bezeichnungen „Verfahren“ und „Strategie“ gebrauchen wir als Äquivalente, mit einer Präferenz für den letz-teren Terminus. 6.2 Erwerbsstrategien im DiGS-Korpus Dass unsere Probanden auch unter gesteuerten Erwerbsbedingungen auf be-stimmte Strategien rekurrieren, haben wir in den vorangegangenen Kapiteln zur Genüge nachweisen können. Es sind dieselben Verfahren, die im L1-Er-_______________

5 „So intuitiv attraktiv das Strategiekonzept im allgemeinen und das der Kommuni-

kationsstrategie im besonderen auch ist, es ist derzeit wenig klar. [...] Das Krite-rium der bewussten Kontrolle bereitet Schwierigkeiten“. (Wode 1988: 95)

6 „If we review the whole of the learner-strategies research, we have to say that the area is at an embryonic stage. Conflicting results and methodologies proliferate. There are few hard findings. Even the causal role and intervention potential of strategies could be disputed“. (Skehan 1989: 98)

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werb und im natürlichen L2-Erwerb beobachtet wurden: Vereinfachungen (d. h. Reduzierung des Morphem- bzw. Strukturinventars), Vermeidungen (d. h. Umgehen einer noch nicht beherrschten Form bzw. Struktur und Ersatz durch eine einfachere, bereits bekannte), Generalisierungen (d. h. Erweiterung des Anwendungsbereichs einer Form bzw. Struktur),7 der Einsatz von Chunks (d. h. von memorisierten, unanalysierten „Fertigteilen“), und Transfer aus L1.8 Ausserdem kann auf den „Monitor“ rekurriert werden, jene Instanz, die die eigene Sprachproduktion bewusst kontrolliert, sei es über den Abruf von L2-Regelwissen, sei es über einen geplanten Einsatz der oben erwähnten Strate-gien.9

Nun ist zwar die Existenz bestimmter Strategien in bestimmten Einzelfäl-len eindeutig nachweisbar; doch wird schnell deutlich, dass die Präferenz für die eine oder andere Strategie als Kriterium für guten oder geringen Er-werbserfolg untauglich ist. Denn das Auftreten einer Strategie für sich ge-nommen besagt nicht viel; entscheidend ist offensichtlich der Stellenwert, der ihr innerhalb des gesamten komplexen Geflechts des Lernprozesses einge-räumt wird. Mit anderen Worten: ein und dieselbe Strategie kann sich auf den Lernprozess förderlich oder hemmend auswirken.10 6.2.1 Transfer aus L1 Transferstrategien können sehr effizient und kreativ dann eingesetzt werden, wenn das Inventar an beherrschten L2-Ausdrucksmitteln nicht ausreicht. Ein Ausweg besteht darin, die entsprechende L1-Regel heranzuziehen und diese mit der Lexik der L2 zu besetzen. So verfährt Sophie R bei ihrem Versuch, Vergangenheit auszudrücken: sie „kopiert“ das französische passé composé (nous sommes allés, wobei das Partizip phonetisch mit dem Infinitiv identisch ist): _______________

7 Wir verwenden den Terminus „Generalisierung“ anstelle des sonst in der Spracher-

werbsliteratur oft gebrauchten Begriffs „Übergeneralisierung“, weil wir meinen, dass „Generalisierung“ den gemeinten Sachverhalt hinreichend deutlich ausdrückt. – Vereinfachungs- und Generalisierungsstrategien gehen meist Hand in Hand und sind nicht immer eindeutig voneinander zu trennen.

8 Auf die intensive Diskussion über die Rolle der L1 im L2-Erwerb braucht nicht mehr eingegangen zu werden; die Existenz von L1-Transfer wird inzwischen nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt. Einen Überblick über die Auseinandersetzungen der 70er Jahre (Stichwort: Identitätshypothese vs. Kontrasthypothese) bieten u.a. Wode (1988: 97ff.) und Ellis (1994: 299ff.). Einen Einblick in den Diskussions-stand vermitteln Corder (1992) und Gass/Selinker (1992).

9 Nach Ellis: „Speakers may monitor their output (i.e. pay conscious attention to speci-fic elements of the utterance in order to correct or improve them).“ (1994: 131)

10 Vgl. dazu auch Kapitel 4.4.3.3.

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(1) Dann, sind wir [K: wir sind] fahren mit dem Bus ins Kino [...] In drüben, sind wir [K : wir sind] gehen essen Schnitzell. Wir sind fahren mit der U-Bahn rei-ten. (Sophie R 7/8, 3)

Eine andere „Behelfsstrategie“ besteht darin, die Wendungen der L1 zum Teil wörtlich ins Deutsche zu übernehmen. Im Extremfall – wie dem folgenden – sind solche Texte nur verständlich, wenn man sie in die L1 zurückübersetzt: (2) Vor eine Jahre, dass wir uns nicht gesehen haben und ich frage mich wie du

geht es. Ich möchte wissen, ob du Dir in America gefällst. Also ich gehe Dich einige Fragen stellen [...] Verpasst nicht das Essen von Schweiz? Dann in Ame-rica muss er als die „Hambourger“ haben und nichts anderes (Céline M ESC 11/12, 2)

[„Übersetzung“: Il y a une année que nous ne nous sommes pas vues et je me demande comment tu vas. J’aimerais savoir si tu te plais en Amérique. Alors je vais te poser quelques questions [...] La nourriture de Suisse ne te manque pas? Car en Amérique il ne doit y avoir que des „Hamburger“ et rien d’autre]

Wenn hingegen in postobligatorischen Klassen Texte geschrieben werden wie: (3) Der Einbrecher töten Meyer und a pris la fuite. Der Inspecteur macht son en-

quête und findet der Einbrecher. Er interrogiert der Einbrecher und er geht in Gefängnis, Er passiert devant le juge, er hat einen peine de fünf monate auf Ge-fängnis (Bruno C ECG 10, 3)

oder: (4) soudain Eine Frau hat frappé à la porte, c’était sein [K aus: ça] freundine Petra.

Sie hatten commençent à dischutieren. und was c’est elle qui là kaputte wann sie hat getrunken Alcool mit Freundinnen. Sie lui hat gesagt was er allait payer die reparations (Liliane N ECG 10, 2)

so ist der L1-Transfer in diesem Flickwerk aus französischen und deutschen Fragmenten wohl kaum mehr als „Erwerbsstrategie“ zu bezeichnen, sondern als Kapitulation. Texte dieser Art sind vorwiegend in den Schul- und Klas-senstufen anzutreffen, in denen nur noch das Ende der Schulzeit abgewartet wird. Immerhin ist auch noch in solchen Texten ein Minimum an deutscher Morphologie anzutreffen; die lexikalischen und grammatischen Bestandteile ein und desselben Wortes werden fast nie in die Sprachmischung hineingezo-gen. Kombinationen wie sie disen (= ils disent, vgl. Kapitel 5.2.5.2, S. 164) sind die Ausnahme; und interrogiert und passiert aus Beispiel (3) sind ver-mutlich als deutsche Fremdwörter gemeint.

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Somit bestätigt sich auch bei unseren Testpersonen, dass Transfer im Be-reich der Morphologie äusserst selten ist; L2-Lerner begreifen Flexive offen-sichtlich als integrierenden Bestandteil der L2.11 In unserem Korpus war morphologischer Transfer sonst nur beim Plural-s zu beobachten, und dies nur in den Frühstadien des Erwerbs, solange die deutschen Pluralflexive weitgehend noch unbekannt sind (vgl. Kapitel 5.4.3.2, S. 206). Zudem kön-nen auch schon die Primarschulkinder bemerkt haben, dass es im Deutschen tatsächlich ein Pluralallomorph s gibt (wie etwa in Autos), was die Hypothese des Morphologietransfers noch weiter relativiert.

Ganz anders verhält es sich beim Satzmodellerwerb, bei dem Transfer-strategien von allen unseren Testpersonen ausgiebig in Anspruch genommen werden. Bei Wortstellungsregeln gibt es offensichtlich keine Transferhem-mung; individuelle Unterschiede treten nur in der Ausdauer und in dem Ausmass zutage, mit der an der Transferstrategie festgehalten wird.12 6.2.2 Chunks Dass alle unsere Testpersonen überaus häufig von Chunks Gebrauch machen, geht aus unseren Analysen deutlich hervor und ist auch keineswegs erstaun-lich; die Bedeutung des Lernens fester Formeln ist inzwischen für sämtliche Formen des Spracherwerbs, einschliesslich des L1-Erwerbs, hinlänglich nach-gewiesen worden,13 wenn sich auch für die Bezeichungen dieses Phänomens in der Literatur noch keine einheitliche Terminologie durchgesetzt hat.14 Entscheidend ist jedoch, ob und wie die Chunks für die Zwecke des Sprach-erwerbs eingesetzt werden.

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11 Vgl. Kapitel 5.2.5.2, S. 164. 12 Vgl. dazu Kapitel 4.4.3.3, zum Transfer beim Satzmodellerwerb. 13 Vgl. etwa Wode (1988: 101); Bolinger (1975), Peters (1983) und Pawley/Syder

(1983), alle zitiert in Skehan (1989: 37ff.); ausserdem Wong-Fillmore (1979: 242) und Bialystok (1984: 107).

14 In der Spracherwerbsforschung findet sich eine Fülle von Bezeichnungen und Pa-raphrasierungen für diese Strategie. Hakuta, der als erster auf dieses überaus häu-fige und zentrale Phänomen im Spracherwerb aufmerksam gemacht hat, bezeich-nete es als „prefabricated patterns“, als „regular, patterned segments of speech used without knowledge of their underlying structure, but with the knowledge as to which particular situations call for what patterns“. (Hakuta 1976: 331, zitiert nach Tarone 1988: 94) Wong-Fillmore gebraucht die Wendung „formulaic expressions“ und definiert sie als „expressions which were acquired and used as unanalyzed wholes“ (1979: 211). Bialystok gebraucht „chunk“ und „schemata“ als Synonyme (1984: 107); Ellis spricht von „formulaic knowledge“, bestehend aus „ready-made chunks of language“ (1994: 355), Tracy von „expressions of more or less formulaic and idiomatic character“ (1994: 5), und Wode schlägt für das Deutsche

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Vor allem die Kinder in den Primarschulklassen sind in ihren Produktionen fast ausschliesslich auf Chunks angewiesen. Und schon auf dieser Ebene treten die unterschiedlichen Fähigkeiten im Umgang mit diesen formelhaften Wendungen drastisch zutage. Einige Beispiele:

(5) Es war einmal dans les montagnes vivait ein bauer et une payssane (Daniel M

5/6, 7) Zum Vergleich eine Schülerin am Ende der 4. Klasse, also zwei Klassen unter dem oben zitierten Schüler: (6) Es war einmal ein Papagei. Er heisst Calin (Sophie V 4/5, 4) Noch am Ende einer 12. Klasse schreibt eine Schülerin: (7) Es war einmal, eine Hexe hat der König verwandeln (Sandra M ECG 11/12, 8) Auf die Rolle des Chunk-Lernens beim Erwerb der Präpositionalphrasen, seine Vorteile und Gefahren wurde oben in Kapitel 5.6.5.2, S. 296 und 5.6.6.3, S. 319 eingegangen.

Was erfolgreiche Chunk-Benutzer von erfolglosen unterscheidet, ist of-fensichtlich die Fähigkeit, die in diesen formelhaften Wendungen enthaltenen grammatischen Beziehungen zu erkennen und sie adäquat in den sprachlichen Kontext einzugliedern. Die Chunks liefern ihnen somit Daten, die sie für ihre Hypothesen über die Regeln der L2 einsetzen können, sobald sie das hierfür erforderliche Sprachwissen erworben haben. So gesehen kann den Chunks im Spracherwerb eine überaus nützliche Funktion zukommen, wie es Wong-Fillmore schon 1979 im natürlichen L2-Erwerb beobachtet hat:

[...] the strategy of acquiring formulaic speech is central to the learning of lan-guage. Indeed, it is this step that puts the learner in a position to perform the ana-lysis which is necessary for language learning. [...] the formulas the children learned and used constituted the linguistic material on which a large part of the analytical activities involved in language learning could be carried out. [...] Their function in the language learning process, then, is not only social, but cognitive too, since they provided the data on which the children were to perform their ana-lytical activities in figuring out the structure of the language. (1979: 212)15

________________ die Bezeichnung „Formeln und Rahmen“ vor, wobei unter „Rahmen“ Struk-turformeln zu verstehen sind, die aus einem invarianten Teil und einer Leerstelle bestehen (Beispiele aus dem Englischen: what’s, gimme; wir nannten dieses Phä-nomen Pattern – siehe Kapitel 4.4.3.3, S. 90). Einen Überblick bietet Skehan 1989 im Zusammenhang mit der „Language aptitude“-Forschung, insbesondere S. 36f.

15 Ähnlich formuliert auch Bialystok: „The movement from the use of these [sc. the

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Nun zeigen aber die oben aufgeführten Beispiele – die noch beliebig hätten erweitert werden können –, dass offensichtlich längst nicht alle unsere Pro-banden diese Chunks nur als vorläufigen „Vorrat“ auffassen, der zu einem späteren Zeitpunkt der Analyse unterzogen wird. Oft bleiben die Chunks wie erratische Blöcke in ihren Produktionen stehen, offensichtlich immun gegen „besseres Wissen“, das sie sich inzwischen angeeignet haben. Sie scheinen sich an die Maxime analyse only if you have to zu halten16 und nehmen lieber die unökonomische Überlastung ihres Gedächtnisses in Kauf, anstatt sich der Mühe einer sprachlichen Analyse zu unterziehen. Damit bilden unsere Pro-banden offenbar keine Ausnahme: Skehan berichtet von den Ergebnissen ei-nes breit angelegten Forschungsprogramms zum Strategiengebrauch von Fremdsprachenschülern, geleitet von O’Malley et al. (1985). Hauptsächlich ge-stützt auf „self-report“-Daten gelangte das Forschungsteam zu dem Schluss:

The most frequently used strategies tend to be concerned with rote learning, and not transformation or engagement with the learning material, a disappointing fin-ding in that evidence from cognitive psychology suggests that depth of processing [...] is an important influence upon effective learning, as is the reorganization and transformation of material. (Skehan 1989: 89)

6.2.3 Generalisierung Wenn es tatsächlich zutrifft, dass sich Lerner mehrheitlich auf ihr Gedächtnis und nicht auf ihre Analysefähigkeit verlassen, so würde dies auch erklären, warum es uns so schwer fiel, bei unseren Probanden eindeutig jene Erwerbs-strategie nachzuweisen, die nach der kognitiven Erwerbstheorie zentral für den ganzen Erwerbsprozess ist: die Generalisierung als Indiz für bestimmte Lernerhypothesen über L2-Regeln. Zwar kommt es bei einzelnen Schülerin-

________________ prefabricated patterns] as chunks, or schemata, to an understanding of their con-stituent structure frees the learner both to apply these to new contexts and possibly to understand a new organizing principle of the language. Although the analysis of chunks proceeds continually, chunks remain an important part of the repertoire, even for native speakers“ (1984: 107); und Tarone: „Larger stretches of language are memorized as chunks, or even long lexical items, and used to express the ap-propriate functions long before those chunks become ‘analysed’ into their compo-nent structures. As the prefabricated pattern is gradually replaced by a more analy-sed form, variability may be observed in the learner’s interlanguage“. (1988: 95)

16 So formuliert von Peters (1983), referiert in Skehan (1989: 37). Dort auch die Dar-stellung der Position von Pawley/Syder (1983) „(who) propose that language per-formance is often based on heavily lexicalized sentence stems which draw upon a very large memory bank, rather than on a fully generative linguistic model.“ (Skehan 1989: 37)

343

nen und Schülern in manchen Arbeiten durchaus zu massiven Generalisierun-gen einzelner Formen oder Strukturen, wie beispielsweise bei der Präposition: (8) Ich bin im Ferien. Im Auto sitze ich linxt von Adriano. [...] Wir gehen im Sar-

daigne. Im Juni ich gehe im Schule (Christinele M 4/5, 4) bei der Adjektivflexion (-es): siehe das bereits in Kapitel 5.3.6.2, S. 193 er-wähnte Beispiel: (9) Helmut ist ein grosses Mann. Er hat braunes Haar und braunes Augen. Er hat

ein blaues Hemd, ein oranges Kravate, ein schwarzes Hose und ein oranges Jacke. Er hat einen braunes Schuhen. [...] Sie hat blondes Haar und blaues Au-gen. Sie hat ein rotes Hemd, ein schwarzes Rock, ein grunes Handtasche und schwarzes Schuhen. Sie essen ein schones Pizza (Jeannette C ECG 10/11, 4)

oder auch die Generalisierung von -en in (komplexen) Nominalgruppen im Plural: (10) Um Mittagessen esse ich Grilladen und auch vielen bunten Fruschten. Am

Nachmittag mache ich eine schöne Spaziergang [...] ich esse vielen guten süs-sen und kleinen Kometen aus Schokoladen. Ich gehe [...] einigen Sachen ein-kaufen (Céline T C 10/11, 1)

beim Partizip (ge-...-en, auch nach Modalverb): (11) Seine Eltern [...] hatten Peter gesagen warum er mit grünen Haaren gekommen

ist. „Ich war am Freitag in Diskotek gegangen. Es gab meinen Freund mit Fär-bung grün“. Hat Peter gesagen. „Ja, aber warum hat du deinen Haaren gefär-ben?“ [...] Peter musste in seine Zimmer zwei Woche lang geblieben. Nach eine Woche, die Eltern haben Peter von seine Zimmer herausgegangen lassen. Aber nach drei Tag, Peter hat noch mit grünen Haaren gegangen (Yvan B 8/9, 7)

Doch sind derartig eindeutige Generalisierungen nur bei wenigen Schülern nachzuweisen, und auch bei ihnen kommen sie nur sporadisch vor und be-treffen ein spezifisches grammatisches Problem. Um jedoch von einer Er-werbsstrategie sprechen zu können, müssten derartige Generalisierungen konstant über die beiden Beobachtungsjahre hinweg und in verschiedenen Grammatikbereichen beobachtbar sein. Hierfür liessen sich aber nur in Aus-nahmefällen Indizien finden.

Laurent M (9/ESC10) generalisiert wenigstens im Bereich der Nominal-phrasen relativ konstant über alle acht Arbeiten hinweg: von den 14 insgesamt verwendeten Adjektiven (Singular und Plural) markiert er 13 mit -e (die einzige Ausnahme ist in der 5. Arbeit einen weisses Mutze), und unter den Pluralmarkierungen bevorzugt er das Nullmorphem (bei Nomen mit Singu-

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larendung -e wie Kusine, Flasche oder Tomate, aber auch bei Programm und Film). Von einem „Testen“ verschiedener Hypothesen kann hier keine Rede sein; für die Bearbeitung der Adjektivflexion und der Pluralmorphologie ist der Zeitpunkt offensichtlich noch nicht gekommen. Einstweilen behilft er sich mit einer Vereinfachung.

Zu einem effizienten Instrument im Spracherwerb wird die Generalisierung erst dann, wenn die der Generalisierung zugrundeliegende Hypothese revidiert wird.17 Dies ist zum Beispiel bei Philippe B (5/6) der Fall: In seiner ersten Arbeit in der 5. Klasse verwendet er konsequent als Pluralflexiv s:

(12) [...] ich abbé eins chwester unt tsway bruders [...] – ich abbé tsway hunds – Ich

maré Tennis und skis – ich abbé funf tantes unt fir oncles (5/6, 1) In der zweiten Arbeit erscheint noch ein letztes Mal ein generalisiertes Plural-s; in den späteren Aufsätzen verwendet Philippe überwiegend normkonform -e- und -en-Flexive (Franken – Grüsse – die Tomaten – die Kartoffeln – Oliven). Als Nächstes scheint er sich die Genusmarkierung vorzunehmen. Nachdem schon der erste Aufsatz eine Sensibilität für Genus erkennen liess (vgl. maïn vater vs. maïné muter – (ich abbé tsway hunds) ein chwar unt ai-née wice – main hund chwar ist Beelzebuth unt mainée hund wice ist Danaé – maineé chwester vs. maïn best friend ist Bernard), „experimentiert“ er im zweiten Aufsatz mit dem Neutrum: (13) ich mache das Sport, das Tennis, [...] das Basket-Ball, das Ski, das hockey, ich

liebe das spile das monopoly das Taboo. Ich liebe viele das hunds (5/6, 2) Auch diese Generalisierung ist in der nächsten Arbeit verschwunden; nun verwendet Philippe alle drei Genera. Jetzt arbeitet er mit der Präposition im: (14) Ich bin im Genf im die Placette [...] Ich gehe im der Kasse das macht 6 franken Ich gehe im die Bäckerei Kaufen das Brot und das Nussgipfel. Im der Kasse vir

franken bitte. Dann ich gehe im Coop kaufen ein Messer und das Papier. [...] Dann ich gehe im Migros fur kaufen die Fruch die Banane die Apfel und die Ananas (5/6, 3)

In der fünften Arbeit „entdeckt“ Philippe die Präposition auf. Zusätzlich hat er eine neue Hypothese für den Konjugationsbereich: die 3. Person Singular flektiert er meistens auf e:

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17 Weitere Beispiele für Lernerhypothesen, die sich Generalisierungen im Bereich der Präpositionalphrasen entnehmen lassen, siehe Kapitel 5.6.6.1, S. 307.

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(15) Im die Küche auf der Tisch, Paul schneidst ein Gurke. Draussen die Mütter zahle das taxi. Lulu mische der milch mit Mehl und der Zucker. Auf der back-ofen koche ein Kotellet. Der vater (der chef.) lese ein Buche. Der hund klaue ein grosse Poulet. Der Erbsen auf der bauden. Auf die Kasserole die Spagehtti kochen. Auf der Kulschranke es gibt das Milch der Ei das essig. Auf die Tisch es gibt [...] Es gibt der wein auf das Glas (5/6, 5)

Im 7. Aufsatz korrigiert er seine Interimsregel „3. Person Singular auf -e“ und gebraucht durchweg zielsprachenkonformes -t (er wohnt – der Hund heisst – er geht), ausser treffen, das – vermutlich als ein neues Lexem in Philippes Wortschatz – im Infinitiv verwendet wird. Zudem hat er nun erkannt, dass im ein Amalgam aus Präposition und Artikel ist; möglicherweise hat ihm die Präposition auf zu dieser Einsicht verholfen: (16) Er wohnt in dem Strasse in der stadt – er geht auf der Strasse (5/6, 7) Im letzten Text erscheint wieder im, nun allerdings überwiegend auf geogra-phische Ortsbezeichnungen beschränkt (das im Input häufige im Kanton X dürfte Philippe darin bestärkt haben): (17) Ich wonne im Vésenaz im Kanton Genf. Im Ferien ich fahre mit meine Familie

im Kanton Graubünden [...] Im Graubünden wir spielen [...], im Frankreich; daneben aber: in der See (5/6, 8)

Im selben Text unternimmt Philippe die ersten Versuche mit zweigliedrigen Prädikaten: (18) Ich liebe nichts singen [...] Im Graubünden wir können schwinen [...] Ich liebe

male und ich liebe Paris (5/6, 8) Man wäre geneigt, einem solchen Schüler effektiv gute Prognosen für seine Deutschkarriere in der Schule zu stellen, zumal er seine Erkundungszüge in die deutsche Grammatik zu einem Zeitpunkt unternimmt, zu dem er noch kaum mit explizitem Grammatikunterricht konfrontiert ist. Er benützt den schulischen Input in eben der Weise, wie es von den good language learners angenommen wird:

Good language learners show active involvement in language learning. They ap-preciate teachers who are systematic, logical, and clear, but prefer to treat them as „informants“ rather than to rely on them. (Ellis 1994: 549, unter Hinweis auf Pickett 1978)

Relativ konsequent ist Delphine F (9/ESC 10) in ihren Generalisierungen des Partizips. Die Partizipien ihres zweiten Textes sind alle zielsprachenkonform und, mit einer Ausnahme, alle unregelmässig (abgefahren – geblieben – ge-

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gangen – getroffen – eingeladen; Ausnahme: gebräunt). Auch im dritten Text dominieren die unregelmässigen Partizipien (gesehen – gegessen – ge-sprochen – beschlossen – gegangen), was sie dazu veranlasst, auch bei re-gelmässigen Verben unregelmässige Partizipien zu bilden; sie erfindet sogar Ablaute: (19) Sie haben die Vorräte in die Karton gestollen [= gestellt]. Aber haben sie leider

nicht die Vorräte geschocken [= geschickt]. Sie haben in der Schrank gestollen (9/ESC 10, 3)

Sie bleibt bei ihrem ge- ... -en-Modell auch noch in der 5. und 6. Arbeit (gewohnen, gesuchen, gespielen neben angekommen, gefunden). Im 7. Text hingegen hat sie ihre Generalisierungsstrategie offensichtlich revidiert; jetzt verwendet sie normkonform sowohl regelmässige als auch unregelmässige Partizipien: (20) [...] weil sie wie ein Punk ausgesehen hat – Petra hat gesagt – seinen Freunden

haben sie gelacht – dass sie zum Frisör gegangen ist (9/ESC 10, 7) In der achten Arbeit verwendet Delphine ausgiebig Präteritumsformen, die meisten korrekt gebildet, sei es von Modalverben (ich wollte – ich konnte – sie wollte), sei es von unregelmässigen Verben (wir gingen – es gab). Bei letzteren allerdings kommt es zu phantasievollen Kombinationen zwischen Ablaut und Präsensflexion: (21) Aber ich trieffe eine Freundin – [...] wo wir die Freunden dachen zu finden

(9/ESC 10, 8) Von Suzanne T (ECG 10) liegen uns bedauerlicherweise nur die ersten vier Arbeiten vor; sie ging uns dann durch Schulwechsel verloren. Innerhalb die-ses einen Jahres bearbeitet sie mit eindrucksvoller Konsequenz die Satzmo-delle. Ihr erster Text besteht ausschliesslich aus S-V-Sätzen: (22) Jetzt ich bin 16 Jahre alt, und in 10 Jahren ich bin eine Frau mit viele Kinder

[...] Jetzt ich bin in die Schule, aber in 10 Jahren ich bin fertig Ich möchte, dass meine Famillie ist glücklich mit mich. [...] Ich glaube dass in 10 Jahren mein Leben ist nicht egal (ECG 10, 1)

In ihrem zweiten Text gibt es neben dem S-V-Modell drei normkonforme W-Fragen (also mit Inversion), dazu einmal Inversion in Nebensatzkontext: Ich

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glaube dass fahre ich mit meine Famillie. Im dritten Text „entdeckt“ Suzanne die Verb-Endstellung und wendet sie unbeirrbar in sämtlichen Hauptsätzen, Nebensätzen und sogar im Fragesatz an:18 (23) Jeden Tag in Mainz, ein Mann getöt war. [...] Am Monttag, um 19 Uhr er sein

Arbeit vertig gehabt. Um 19h15 Er nach Hause gekommen ist. Er sehr müde war. [...] Wann er gekommen ist, er nimmt die Abendessen und eine Flasche Wein getrunken hat. Nach dem drei Stunden, zwei Einbrecher bei Helmut ge-kommen sind. Was passiert ist nach dem 23 Uhr? Die Einbrechern Helmut ge-töt war und sie weckgegangen sind [...] (ECG 10, 3)

In ihrem vierten und letzten Text kommt leider kein Nebensatz vor. Hingegen hat Suzanne zum Hauptsatzmodell S-V zurückgefunden und kann nun auch die Inversion mehrheitlich korrekt einsetzen: (24) Helmut Müller ist ein dicker Mann. Seine Haare sind schwarz. [...] Neben, er

hat ein kleiner Koffer, zwischen Helmut und Koffer legt seine orangen Jacke. Auf die Jacke legt die Cigaretten. In Flughafen diskutiert er mit seine Serkräte-rin [...] (ECG 10, 4)

Wenn wir die Beispiele in ihrem Kontext wiedergegeben haben, so deshalb, um einen Eindruck von der sprachlichen Kompetenz dieses Typs von gene-ralisierenden Schülerinnen und Schülern zu vermitteln. Nicht nur auf dem Gebiet der Grammatik, sondern auch dem der Lexik und der Textkohärenz liegen sie über dem Durchschnittsniveau. Dabei ist es nicht das Vorhanden-sein generalisierter Formen oder Strukturen an sich, was sie offensichtlich zu good language learners macht, sondern zugleich die Fähigkeit, ihre Genera-lisierungen zu revidieren. Gerade an diesen Schülern wird deutlich, wie ab-wegig die übliche Evaluierungspraxis ist, rein quantitativ „Fehler“ zu zählen, ohne deren Funktion im Erwerbsprozess zu berücksichtigen. 6.2.4 Vermeidung Eine weitere, ebenfalls oft in der Literatur genannte Strategie, die Vermei-dung,19 ist aus unserem Material noch schwerer zu erschliessen. Um diese Strategien identifizieren zu können, brauchen wir relativ eindeutige Signale, dass und was die betreffende Testperson tatsächlich zu vermeiden suchte. _______________

18 Sie ist die bereits in Kapitel 4.4.4.1 erwähnte Schülerin, die als Einzige die Verb-

Endstellung in so konsequenter Weise generalisiert (vgl. Beispiel 118, S. 104). 19 „[...] avoidance of ‘difficult’ structures is a familiar phenomenon in SLA. It con-

forms with similar results reported by the ZISA researchers for many of their sub-jects.“ (Ellis 1989: 317)

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Solche Signale sind selten; wo sie erkennbar sind, zeigt sich wieder, dass auch diese Strategie sowohl effizient als auch ineffizient eingesetzt werden kann.

Die oben bereits genannte Schülerin Sophie R (7/8), die in ihrem 3. Text (fast) alle abweichend realisierten Inversionskontexte korrigiert (siehe oben Beispiel 1), scheint erkannt zu haben, dass inversionsfordernde Kontexte eine Gefahrenzone für sie sind. In ihrem 5. Text – einer Bildbeschreibung, die eben Inversionskontexte elizidieren sollte durch vorangestellte Lokalbestim-mungen – geht sie der Herausforderung konsequent aus dem Weg und reiht ausschliesslich S-V-Sätze aneinander; Adjektive verwendet sie nur prädikativ, auch wenn auf diese Weise ein etwas befremdlicher Text entsteht, der nicht unbedingt für eine Bildbeschreibung typisch ist:

(25) Der Kühlschrank ist offen. Die Tomate sind rot. Er liest der Kochbuch. Der

Hund laüft. Das Milch ist im der Kühlschrank. Es ist warm. Er schneidet die Wurst. Die Pfanne ist gelb. Die Mutter kommt. Der Vater ist dick. Der Hund ist braun. Die Schwester ist gesund. Der Bruder ist nicht schöner als seine Schwes-ter. Das Kotellett schmekt gut. (7/8, 5)

Ein noch deutlicheres Indiz liefert der 7. Text. Sophies dritter Satz präsentiert sich so: (26) Zum Früst [durchgestrichen] Frühstück [durchgestrichen] Petra geht zum Früh-

stück mit grünen Haaren (7/8, 7) Es ist also wohl nicht die Schwierigkeit der Orthografie, die Sophie von ei-nem Satzanfang mit der Lokalangabe zurückschrecken lässt, sondern (vermutlich) der inversionsfordernde Kontext. Sie richtet es so ein, dass sie nur Formen und Strukturen verwendet, deren sie sicher ist, wobei sie offen-sichtlich die Grenzen ihrer Kompetenz recht genau einzuschätzen vermag; ein Verhalten, das sich nach den heutigen Evaluierungskriterien des Fremd-sprachenunterrichts sicher bezahlt macht.

Wie Vermeidungsstrategien aber auch den Erwerbsprozess blockieren können, zeigt das Beispiel von Mélanie C (8/9). Ihre Schwierigkeit liegt beim Perfekt. In ihrem 4. Aufsatz kommen drei Perfektversuche vor, einer ist ge-lungen, bei einem korrigiert sie sich, eine Abweichung übersieht sie:

(27) Der Mann hat zu viel Bier getrunken. Er hat gut geschläfen [K: hatte gut schläfen] [...] weil er 50 km machen hat (8/9, 4) Im nächsten Text sind die Partizip-Ansätze wieder verschwunden; in den beiden einzigen Vergangenheitskontexten erscheint zweimal der Infinitiv anstelle eines Partizips. Die Aufgabe des 7. Textes – Mélanie ist inzwischen in der zweiten Hälf-

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te der neunten Klasse und muss laut Lehrplan intensiv Perfekt üben – ist eine Er-zählung in der Vergangenheit, angeregt durch einen Anfangssatz im Perfekt. Mé-lanie lässt sich nicht beirren und erzählt ihre ganze Geschichte im Präsens – ab-gesehen von einem einzigen Satz, in dem sie den Anfangssatz kopiert: Am Mitt-woch ist Peter mit blauen Haaren zum Frühstück gekommen (der „Stimulussatz“ war: Am Sonntag ist Peter mit grünen Haaren zum Frühstück gekommen). Und so kommt Mélanie ans Ende der 9. Klasse und damit der Schulpflicht, ohne Partizipien bilden zu können; noch in ihrem 8. Text schreibt sie: (28) [...] weil er seine Mouse verlieren hat und mein Hund auch seinen Knochen ge-

ben hat (8/9, 8) Ein möglicherweise noch drastischeres Beispiel liefert Cédric U von dersel-ben Klassenstufe für die Satzmodelle. In der 8. Klasse ist er offenbar noch willens, sich auf den Nebensatz einzulassen; er verwendet immerhin je einen dass- und einen weil-Satz (beide zunächst abweichend, dann korrigiert, wenn auch nur teilweise erfolgreich): (29) Weisst du, dass du [durchgestrichen: kann kommen] gehen nach New York

kannst (8/9, 3) (30) Paulo fährt in Italien weil er [durchgestrichen: sehen] sein Famille

[durchgestrichen: musst] sehen musst (8/9, 4) Im 5. Aufsatz erscheint noch ein (korrekter) Nebensatz, kein Kontext für Dis-tanzstellung; in der 6. und 7. Arbeit gibt es keinerlei Nebensatzkontexte, und im einzigen Distanzstellungskontext fehlt der infinite Prädikatsteil. Vergan-genheitsformen kommen in keinem seiner Texte vor, und die 8. Arbeit hat er sich geweigert mitzuschreiben. Am Ende der 9. Klasse befindet er sich somit sowohl bei den Satzmodellen als auch im Verbalbereich auf dem Niveau ei-nes durchschnittlichen Cycle-Schülers der 7. Klasse.

Eine Vermeidungsstrategie dürfte vermutlich auch dann vorliegen, wenn, wie oben ausgeführt (S. 284), Präpositionen über den ganzen Beobachtungs-zeitraum hinweg vermieden werden. Eine solche Abstinenz schränkt aller-dings die Kommunikationsmöglichkeiten drastisch ein, da beispielsweise für den Ausdruck von Zeit- und Raumverhältnissen kaum auf alternative Aus-drucksmittel ausgewichen werden kann. 6.2.5 Exkurs: Monitor-Einsatz Die Strategie des Monitoring, also der bewussten Kontrolle bzw. nachträgli-chen Korrektur der eigenen Sprachproduktion unter Einsatz des Regelwis-sens, ist nicht auf die gleiche Ebene zu stellen wie die bisher besprochenen,

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die ja, zumindest teilweise, unterhalb der Bewusstseinsstufe operieren. Von einer Untersuchung zum gesteuerten Grammatikerwerb darf jedoch erwartet werden, dass sie den Indizien nachgeht, die auf bewusstes Lernen hindeuten – zumal in der Fremdsprachendidaktik ja nach wie vor davon ausgegangen wird, dass (bewusstes) Regelwissen und (bewusste) Regelanwendung der di-rekteste Weg zur Beherrschung der L2-Grammatik sind. Es ist keineswegs erstaunlich, dass monitoring und attending to form nach Auskunft von Reiss (1985) als die häufigsten Strategien von Schülern genannt werden, die ihre Lehrer als „gut“ bezeichnen.20

Bei allen oben erwähnten Erwerbsstrategien kann der Monitor zum Einsatz kommen; in einigen Fällen – wie bei Sophie Rs Vermeidungsstrategien (siehe die Beispiele 25 und 26) – sind die Indizien für bewusste Steuerung der Produktion relativ deutlich. Meistens fehlen jedoch eindeutige Hinweise, es sei denn, die Schülerinnen und Schüler signalisieren durch Anführungs-zeichen (etwa bei Transfer), Einklammerungen (z. B. von Wörtern der L1) oder Selbstkorrekturen, dass sie sich ihrer Vorgehensweisen bewusst sind bzw. dass sie ihre Verstösse gegen ihren interimssprachlichen L2-Wissens-stand zu erkennen vermögen.

Wir beschränken uns im Folgenden auf die grammatischen Selbstkorrekturen als wohl eindeutigstem Indiz für Monitor-Einsatz im Grammatikerwerb. Ist das hohe Prestige des Monitoring als effizientester Erwerbsstrategie gerechtfertigt, so müsste sich dies auch an den Produktionen unserer Probanden ablesen lassen.

Nun zeigten schon die Selbstkorrekturen des soeben erwähnten Cédric (vgl. Beispiele 29 und 30), dass der Monitor-Einsatz keinesfalls generell als Garantie für erfolgreichen Spracherwerb gelten kann. Es kommt vielmehr darauf an, wie das Regelwissen beschaffen ist, das zur Kontrolle der Sprach-produktion herangezogen wird.

Ein aufschlussreiches Beispiel für die Grenzen des Monitor-Einsatzes bietet Sophie V (4/5). Sie verwendet schon von ihrem 2. Text an (in der vierten Primarschulklasse!) und durchgehend bis zum 8. Inversionen; und wo sie sie anzuwenden vergisst, wie etwa in der 4. und in der 8. Arbeit je einmal, korrigiert sie sich, so dass davon ausgegangen werden kann, dass Sophie – in eklatantem Widerspruch zur Erwerbssequenz im Satzmodellbereich – am Ende der 5. Klasse die Inversion beherrscht, weit vor Distanzstellung und Nebensatz. Wir sind diesem erstaunlichen Phänomen nachgegangen und ha-ben die Schülerin zwei Jahre nach Abschluss der Datenerhebung noch einmal

_______________

20 Zitiert bei Ellis (1994: 546). Ebenso gelten im Rahmen der good language lear-ner-Forschung attention to form und monitoring one’s own and other’s speech als Schlüsselstrategien (vgl. Ellis 1994: 546, mit Bezug auf die Arbeiten von Rubin 1975 und Naiman et al. 1978).

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einen Text redigieren lassen.21 Alle vier Sätze ihres Textes beginnen mit einer Zeitangabe, und in allen Sätzen verwendet Sophie die S-V-Struktur:

(31) Am Montag, ich gehe in der Stadt oder der Ciné. Heute Nachmittag, ich gehe

Mcdo und der Ciné. Am Samstag ich (reste) in der Haus mit mein klein Brüder. Am Sonntag, ich mache mein Hausaufgaben und ich mache meine Zimmer. (Sophie V, 7. Klasse)

Monitoring, so könnte man aufgrund dieses Befundes sagen, ist dem Erwerb nur dann förderlich, wenn es sich auf Formen und Strukturen bezieht, für die die erwerbsmässigen Voraussetzungen gegeben sind.

Diese Voraussetzungen sind zum Beispiel bei Yvan B (8/9) erfüllt, und zwar für den Erwerb des Partizips. Sein 4. Text zeigt, dass er das zweiglied-rige Prädikat Modalverb+Infinitiv beherrscht:

(32) Werner [...] will nach Italien fahren – er muss mit Auto stop fahren – er muss in

die Jugendherberge gehen – er müss zu fuss gehen In demselben Text gebraucht er seine ersten beiden Perfektformen (obwohl er sich ohne weiteres mit dem Präsens hätte begnügen können; es handelt sich um die Beschreibung einer Bilderfolge); beide sind das Ergebnis von Selbstkorrekturen: (33) Der Fahrer hat das Auto von vor nicht gesehen [K: sehen] und hat einer Unfall

gemacht [K: machen] Die Themen der nächsten beiden Aufsätze geben keine Gelegenheit zu Ver-gangenheitsformen; erst im siebten Text kann Yvan wieder Perfekt anbringen. Er tut das in jedem Satz (insofern er nicht Präterita wie war oder gab verwendet). Kein einziges Mal ist er versucht, Infinitive anstelle von Partizi-pien zu verwenden, und seine Partizipien weisen konstant die Form ge- ... en auf (siehe oben unter „Generalisierungen“ Beispiel Nr. 11). Seine Selbstkor-rekturen in der vierten Arbeit bilden offensichtlich den Auftakt zum Erwerb des Perfekts.

Es sei noch einmal darauf verwiesen: solche (relativ) eindeutigen Beispiele sind die Ausnahme. Die Schülerarbeiten vermitteln in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht den Eindruck, dass sich ihre Autoren konsequent an bestimmte Erwerbsstrategien halten. Von wenigen Einzelfällen abgesehen konnten wir auch keine Strategienpräferenzen ermitteln; alle Schüler reduzieren komplexe Formenparadigmen und generalisieren bestimmte Formen, alle greifen auf

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21 Vgl. dazu Kapitel 4.4.2.3, insbesondere Tab. 5 mit den Ergebnissen der Nachun-tersuchung der Primarschulklasse 4b/5b.

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ihre L1 zurück, alle verwenden Chunks – allerdings wissen sie diese Strategien in mehr oder weniger effizienter Weise einzusetzen. Es trifft zwar zu, dass sich bei den erfolgreicheren Lernern eine Verlagerung im Strategiengebrauch beobachten lässt; L1-Transferstrategien werden mehr und mehr durch Generalisierungen von Formen und Strukturen der L2 ersetzt22 (vgl. Kapitel 4.4.3.3, S. 92); ausserdem geht der Anteil an Chunks zurück.23 Es trifft auch zu, dass bei den weniger Erfolgreichen verschiedene Verhal-tensweisen zu beobachten sind, mit denen sie auf den Druck des schulischen Grammatikunterrichts reagieren: bei den einen Resignation (so interpretieren wir Texte mit völlig chaotischer Struktur und willkürlich distribuierten grammatischen Flexiven), bei anderen Verweigerung (was sich in „Minimaltexten“ oder hingeworfenen Satzfragmenten, auch in extremen Vereinfachungen niederschlagen kann); wieder andere arbeiten sich unbeirrt im eigenen Rhythmus durch die Erwerbssequenz, immun gegen den Gram-matikinput des Unterrichts. Doch sind dies Lernerverhalten, die in den Zu-ständigkeitsbereich der Lernpsychologie fallen; und wenn wir auch genügend Indizien dafür zu haben glauben, dass grammatisches Erwerbsverhalten und Persönlichkeitsstruktur sehr wohl aufeinander bezogen werden können, so haben wir doch an dieser Stelle die Grenze unserer Kompetenz erreicht. 6.3 Language aptitude – Sprachlernfähigkeit Es muss also angenommen werden, dass die Gründe für die individuellen Unterschiede im Lernerfolg noch „unterhalb“ der Strategien zu suchen sind. Eine der Erklärungshypothesen, schon 1962 von John B. Carroll aufgestellt und bis 1983 immer wieder reformuliert, ist die „language aptitude“, die Sprachfähigkeit – vielleicht noch deutlicher: die Sprachlernfähigkeit,24 mit der L2-Lerner in unterschiedlichem Masse ausgestattet seien.

Nach Carroll setzt sich die Sprachlernfähigkeit aus vier Komponenten zu-sammen:25 _______________

22 Entsprechendes beobachten auch O’Malley/A. Chamot (1990, vor allem 127). 23 Vgl. etwa den Rückgang der Chunks bei Präpositionalphrasen, oben S. 297. 24 Wir ziehen diese Bezeichnung der sonst in der Literatur verwendeten Übersetzung

„Sprachlernneigung“ (Wode 1988: 295f.) vor. 25 Eine ausführliche kommentierte Darstellung der einschlägigen Arbeiten von Car-

roll ist bei Skehan (1989: 25ff.) nachzulesen; die Zusammenstellung der Veröf-fentlichungen zwischen 1965 und 1983 auf S. 152. Vgl. auch die eher kritische Darstellung bei Wode (1988: 295ff.).

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− Grammatical Sensitivity, d. h. die Fähigkeit, die grammatische Funktion von Wörtern in Sätzen zu erkennen. Untersuchungen haben gezeigt, dass die „grammatische Sensibilität“ weder durch verschiedene Unterrichts-methoden noch durch entsprechendes Training oder Sprachlernerfahrung wesentlich beeinflusst wird.

− Inductive Language Learning Ability führt noch einen Schritt weiter als die „grammatische Sensibilität“: sie befähigt dazu, im Input bestimmte Muster bzw. regelhafte Entsprechungen zu identifizieren und zu extrapo-lieren. Mit den Worten von Carrol: Inductive Language Learning Ability ist

the ability to infer linguistic forms, rules and patterns from new linguistic content itself with a minimum of supervision or guidance. (Carroll 1962: 130)

− Rote learning activity for foreign language materials, die dritte Kompo-nente der language aptitude, wäre in unserer Terminologie gleichzusetzen mit der Fähigkeit, eine möglichst grosse Anzahl von Chunks im Gedächt-nis zu speichern. So banal dies dem Laien erscheinen mag – im Kontext der Spracherwerbsforschung der 90er Jahre erscheint es doch in einem an-deren Licht. Nachdem der kognitive Aspekt des Regelerschliessens so sehr in den Vordergrund gerückt worden war, ist nun offenbar der Zeitpunkt gekommen, mit dem Verweis auf die notwendige Gedächtniskapazität wieder der Realität des (schulischen) Fremdsprachenlernens einen Schritt näher zu kommen. Auch good language learners kommen nicht ohne ei-nen grossen Vorrat sprachlicher Fertigteile aus, selbst wenn sie adäquater damit umgehen können als die weniger Begabten:

In reality language and language use are heavily dependent on memory systems, which in turn rely to a considerable extent on prefabricated and idiomatic lan-guage. If this second viewpoint is accepted, there is an even more enlarged role for memory, since it suggests that language development consists of the acquisition of, and control over, more and more language „chunks“, implying a retrieval system of enormous scale and complexity. (Skehan 1989: 41)

Auf die vierte Komponente, die Phonemic Coding Ability, brauchen wir hier nicht einzugehen. Caroll definiert sie als die Fähigkeit, Laute der L2 zu iden-tifizieren, mit bestimmten Funktionen bzw. Bedeutungen zu verbinden und in abrufbarer Form im Gedächtnis zu speichern.26 Diese Fähigkeit könnte zwar an den frühen Verschriftungsversuchen unserer Primarschulkinder überprüft werden; doch gehörte dies nicht zu unserem primären Forschungsinteresse.

Ob mit Carrolls „Sprachlernfähigkeit“ tatsächlich das letzte Wort zu den individuellen Unterschieden im Erwerbserfolg gesprochen ist, bleibt abzu-

_______________

26 Carroll (1962: 128).

354

warten. Wode (1988) äussert sich skeptisch;27 Skehan (1989)28 und Ellis (1994) hingegen halten die language aptitude für das zuverlässigste Krite-rium für die Voraussage von Sprachlernerfolg.29 Doch welchen Status man dieser Sprachlernfähigkeit auch immer einräumen mag – sei es als genetisch vorgegebene Begabung, sei es als Resultante eines ganzen Bündels von per-sönlichen und soziokulturellen Faktoren –, unsere Probanden scheinen in unterschiedlichem Masse darüber zu verfügen. Dabei sind die good language learners nicht nur am Erwerbserfolg zu erkennen, sondern auch an ihrem ak-tiven Engagement im Sprachlernprozess: sie schreiben längere Texte, setzen sich früh mit der Adjektivflexion auseinander (siehe S. 194), machen einen extensiven Gebrauch von Präpositionen und Präpositionalphrasen (vgl. S. 284) und verstehen es, Erwerbsstrategien effizient einzusetzen. Ihren erfolg-loseren Schulkameraden hingegen scheint es in erster Linie auf eine Mini-malisierung von Risiko und/oder Anstrengung anzukommen, ablesbar an der Kürze der Texte und an der Vermeidung fehlerträchtiger Formen und Struk-turen.

Wir können also zu keiner anderen „Typologisierung“ unserer Lerner ge-langen als zu der tautologischen Zweiteilung in „gute“ Sprachlerner – d. h. solche, die neben einem guten Gedächtnis auch über grammatische Sensibi-lität und Induktionsfähigkeit verfügen – und „schwache“ Sprachlerner, die diese Fähigkeiten nicht einsetzen (können). In Fremdsprachenklassen dürfte die grosse Mehrheit der Schülerinnen und Schüler auf einer breiten Skala von Übergängen zwischen den beiden Extremen angesiedelt sein, wobei die Fä-higkeit des Memorisierens und die des Analysierens in jedem Einzelfall un-terschiedlich gewichtet sein dürften.

_______________

27 Vgl. den kritischen Kommentar in 1988: 296f., den er mit folgenden Worten ab-schliesst: „[Es] ist noch immer nicht auszuschliessen, dass eine besondere L2- und FU-Lernneignung oder gar eine alle Spracherwerbstypen betreffende Sprachbega-bung nicht doch das Ergebnis einer günstigen Konstellation anderer Eigenschaften von Sprechern wie affektive Variablen und Merkmale der Persönlichkeitsstruktur ist.“ (1988: 297)

28 Vgl. Skehan: „aptitude is at least as important, and usually more important, than any other varaible investigated [...] aptitude is consistently the most successful predictor of language learning success.“ (Skehan 1989: 38)

29 Vgl. Ellis (1994: 498), dort auch das Zitat von Gardner/MacIntyre (1992: 215): „Research makes it clear that in the long run language aptitude is probably the single best predictor of achievement in a second language.“

355

6.4 Intraindividuelle Variation Nun sind die Verhältnisse aber insofern noch komplizierter, als neben den „interindividuellen Variationen“ (Wode 1988: 90), den Variationen zwischen den verschiedenen Lernern, auch mit „intraindividuellen“ Variationen ge-rechnet werden muss, d. h. mit Variationen bei den einzelnen Lernern. Prob-lematisch ist dabei nicht die „diachronische Variabilität“; diese widerspiegelt ja lediglich den individuellen Erwerbsverlauf – wohl aber die „synchronische Variabilität“ (Ellen Bialystok 1984: 110f.). Damit ist gemeint, dass in ein und demselben Text korrekte und abweichende Formen koexistieren, ohne er-kenntlichen Grund, weshalb im einen Fall die zielsprachenkonforme Norm angewendet werden konnte und im anderen nicht. Verschiedene Erklärungs-hypothesen wurden für dieses Phänomen angeboten. Von ihrer ursprünglichen These, dies sei mit dem unterschiedlichen Aufmerksamkeitsgrad zu erklären, den der L2-Lerner seiner Produktion zuwende,30 nahm Elaine Tarone später selber Abstand.31 Bialystok (1984) führt es auf die Schwierigkeit zurück, neues Regelwissen in das lernersprachliche System zu integrieren und anzuwenden.32 Ellis’ Variable Competence Model (1985) geht von derselben Annahme aus. Nach Ellis koexistieren in den Lernersprachen zu jedem Zeit-punkt konkurrierende Regeln: die bis zu diesem Zeitpunkt gebrauchten und die der neuen Erwerbsstufe. An Phasenübergängen werden beide in denselben Kontexten angewendet, teilweise in systematischer Variation (an bestimmte kontextuelle Bedingungen geknüpft), teilweise in freier Variation:

The natural route does not manifest itself in a series of clearly delineated stages. Rather each stage overlaps with the one that precedes and follows it. Each new rule is slowly extended over a range of linguistic contexts. Therefore, at any given stage of development, the learner’s interlanguage system will contain a number of competing rules, with one rule guiding performance at one occasion and another rule on a different occasion. In addition, each interlanguage system contains lin-guistic forms that are in free variation; that is, forms that are not guided by rules and whose use is not systematic at all. (Ellis 1985: 75)

Allmählich werden die abweichenden frei variierenden Elemente ausgeson-dert, oder es werden neue Form-Funktion-Zuordnungen geschaffen.33 Diese intraindividuelle Variabilität gilt als typisches Merkmal hauptsächlich von

_______________

30 „It is possible to range the styles of a speaker along a continuous dimension de-fined by the amount of attention paid to speech.“ (1982: 151)

31 Vgl. Tarone (1988: 100f.). 32 Bialystok (1984: 110f.). 33 Vgl. Ellis (1994: 366).

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L2-Sprechern;34 auch der Deutscherwerb der ZISA-Gastarbeiter, so Clah-sen/Meisel/Pienemann, sei „durch eine gewisse Instabilität“, hauptsächlich an Phasenübergängen, gekennzeichnet (1983: 140).

Nun ist aber diese synchrone intraindividuelle Variabilität, auch wenn sie bei allen unseren Testpersonen vorkommt, sicher nicht überall dieselbe. Bei den erfolgreichen Schülerinnen und Schülern tritt sie tatsächlich vorwiegend dort auf, wo der Erwerb einer neuen Regel im Gange ist; sie endet mit dem Abschluss des Erwerbs. Bei den schwächsten hingegen bewirkt jede Einfüh-rung einer neuen Regel eine Zunahme der Variabilität: da ihr Grammatiker-werb mit dem Grammatikunterricht nicht Schritt halten kann, sind ihnen die Anwendungsbedingungen der vorangegangenen Regel noch unklar (was sich in der Koexistenz konkurrierender Formen niederschlägt), während sie bereits mit neuen Regeln konfrontiert werden, auf die sie ebenfalls nicht anders re-agieren können als mit freier Variation. So entsteht der Eindruck, mit zu-nehmender Überforderung gehe auch das zuvor Erarbeitete wieder verloren. Im Extremfall wirken die Texte solcher Schüler wie die beliebige Folge freier Varianten, durchsetzt mit willkürlich verstreuten Chunks. Der Erwerb ist in solchen Fällen nicht nur zum Stillstand gekommen – „fossilisiert“, um Selinkers Ausdruck zu gebrauchen35 –, sondern er wird gewissermassen rückgängig gemacht. Als Beispiel der Text eines Schülers zu Beginn der 10. Klasse des Handelsgymnasiums:

(34) In 1602, die Savoyer hat Genf angegriffen. Aber die Genfer habt gewinnen.

Alles Jahre man ein Fest machen. Es gibt eine grossen Umzug in der Stadt. Man bracht ein topf in Schokolade. Man verkleidt sich. Gil sich in Fernsehen verkleiden letzte Jahre. In der Schule das ist lustig (Vincent C ESC 10/11, 1)

Eine Collège-Schülerin, die am Ende des 10. Schuljahres mit allen Satzmo-dellen, einschliesslich der Inversion, umzugehen wusste, schreibt am Ende des 11. Schuljahres folgenden Text: _______________

34 „(This kind of variation) is not restricted to the language of L2 learners, but occurs

also, albeit not always in the same linguistic areas, among L1 speakers. The diffe-rence, if any, between L1 and L2 speakers seems to be chiefly a quantitative mat-ter, variable phenomena being an outstanding characteristic of L2 speakers.“ (Hyltenstam 1985: 118)

35 „Fossilizable linguistic phenomena are linguistic items, rules and subsystems which speakers of a particular NL [native language] will tend to keep in their IL [interlanguage] relative to a particular TL [target language], no matter what the age of the learner or amount of explanation and instruction he receives in the TL“. (Selinker 1972: 215) Oder, einfacher formuliert von Ellis: „The term fossilization has been used to label the process by which non-target forms become fixed in in-terlanguage.“ (Ellis 1994: 353)

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(35) Ich denkte unterschreiben die Wichtige des Reise in Prag, wohin wir letzte Woche gefahren waren. Aber für eine bessere Verstandung ich werde sprechen wie wenn ich dächte auf eine Reise in Zukunft. So jetzt ich kann anfangen. Wir werden fliegen mit einem Flugzeug von Swissair. Wenn wir werden in Prag, wir können trinken Bier und essen einigen „Kolonada“. Wir werden viel lachen, weil, um besuchen eine Stadt wir mussen sein einigen Freunden wer haben zu lieben uns. Wir werden begrüssen neuen Personnen, so am endlich wir müssen küssen vielen Menschen (Céline T C10/11, 8)

Die Anweisung, eine bestimmte Anzahl von Infinitiven zu verwenden (wodurch Modalverbgebrauch elizidiert werden sollte), genügte, um Célines Satzstrukturen völlig zu desorganisieren.

Bei solchen Beobachtungen drängt sich wieder die Frage auf, ab wann, unter welchen Bedingungen, nach welchem Zeitraum eine L2-Regel als ef-fektiv erworben gelten kann. Wir müssen am Ende unserer zweijährigen Longitudinalstudie zugeben, dass auch diese Zeitspanne nicht genügt, um über Erwerbsverläufe definitive Aussagen machen zu können. Es kam vor, dass bei der einen oder anderen Testperson nach Ablauf des zweiten Beob-achtungsjahres nicht mit Sicherheit entschieden werden konnte, ob der Er-werb einer bestimmten Form über das blosse Chunk-Stadium hinausgelangt war.

Somit kann als Fazit dieses Kapitels festgehalten werden, dass die indivi-duellen Erwerbsverläufe den Rahmen der Erwerbssequenzen, wie sie in den Kapiteln 4 und 5 vorgeführt wurden, zwar nicht durchbrechen, wohl aber, dass bei den einzelnen Lernerindividuen der Erwerb keineswegs immer linear und unumkehrbar von einer Phase zur nächsten voranschreitet. Es kann zu plötzlichen „Erkenntnisschüben“ kommen, aber ebenso zu Stagnation und im schlimmsten Fall zu Regression, und auch diese braucht keineswegs definitiv zu sein. Auch regressive Erwerbsverläufe gehorchen der Erwerbsreihenfolge; Erwerbsverluste verlaufen spiegelbildlich zu Erwerbsgewinnen. Die Erwerbssequenzen bleiben somit die Richtschnur, die auch bei noch so chao-tischen individuellen Erwerbsverläufen als Orientierungshilfe herangezogen werden kann.

358

XXX

7 Schluss: Die Ergebnisse im Überblick Erika Diehl 7.1 Die Eigendynamik des Erwerbsprozesses Wir können nun auf die eingangs formulierten Fragen und Arbeitshypothesen zurückkommen: − Welchen Gesetzmässigkeiten unterliegt der gesteuerte Zweitsprachener-

werb? − Gibt es Analogien zum L1- und/oder zum natürlichen L2-Erwerb? − Welche Rolle spielt die schulische Grammatikinstruktion? In allen hier untersuchten Teilbereichen der Grammatik gelangten wir zu demselben Schluss: Die natürlichen Erwerbsformen und der Erwerb unter gesteuerten Bedingungen können zwar nicht gleichgesetzt werden; doch sind die Gemeinsamkeiten entschieden grösser als die Unterschiede. Im Einzelnen können wir folgende Ergebnisse als gesichert betrachten:

1. Der Erwerb der deutschen Grammatik unter gesteuerten Bedingungen verläuft anders, als üblicherweise in der Fremdsprachendidaktik angenommen wird. Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass eine Grammatikregel normgerecht angewendet werden kann, sobald sie erklärt und eingeübt worden ist. Der Grammatikerwerb unterliegt internen Gesetzmässigkeiten, die durch den Unterricht nicht kurzgeschlossen und nicht geändert werden können. Der Weg über Erwerbsstrategien ist unvermeidlich; lernersprachliche Abweichungen sind konstituierender Bestandteil des Erwerbsprozesses.

2. In drei der von uns untersuchten Grammatikbereichen erfolgt der Er-werb in einer festen Abfolge von Phasen: bei der Verbalflexion, der Verb-stellung und beim Kasus. Bei der Verbalflexion und beim Kasuserwerb gibt es deutliche Parallelen zur Phasenfolge unter natürlichen Erwerbsbedingun-gen; bei der Verbstellung gibt es zwar ebenfalls gewisse Parallelen, aber da-neben auch signifikante Unterschiede zum L1-Erwerb.

3. In keinem der drei Bereiche verläuft der Erwerb parallel zum schuli-schen Grammatikprogramm. Am grössten ist die Diskrepanz beim Kasuser-werb; dieser beginnt bei der Mehrheit unserer Probanden – wenn überhaupt – erst zwei bis drei Jahre nach der Behandlung im Unterricht und ist auf der Maturitätsstufe nur in Ausnahmefällen abgeschlossen. Bei den Satzmodellen ist die auffallendste Abweichung der ebenfalls um mehrere Jahre verzögerte Erwerb der Subjekt-Verb-Inversion, die von Anfang an im schulischen Input vorhanden ist und dennoch als letztes Satzmodell erworben wird. Im Verbal-bereich ist zwar nicht die Erwerbsfolge tangiert, wohl aber der Erwerbsrhyth-

360

mus, der weit hinter dem Schulprogramm zurückbleibt. Unterricht, der dieser natürlichen Reihenfolge gegenzusteuern versucht, kann zwar zu kurzfristigen Trainingserfolgen führen, doch setzt sich auf lange Sicht die natürliche Rei-henfolge wieder durch.

4. Auch beim Erwerb der Genera und der Pluralmarkierungen sind die Pa-rallelen zum Erwerb unter natürlichen Bedingungen offenkundig. Zwar lassen sich in diesen Bereichen keine implikationell angeordneten Phasen ermitteln; doch gilt auch hier, dass sich die Lerner über die Konstruktion überwiegend formaler, teilweise auch semantischer Regeln das Flexionssystem der Zielsprache zu erschliessen versuchen, indem sie ihre lernersprachliche Morphologie zunehmend ausdifferenzieren.

5. Der L2-Erwerb der DiGS-Probanden erfolgt vor dem Hintergrund einer voll ausgebauten L1-Kompetenz. Konzepte wie „Plural“ und „Genus“, Phä-nomene wie Verbal- und Adjektivflexion sind ihnen aus ihrer L1 vertraut; ebenso wie das Konzept „Satz“ und seine Konstituenten. Dieses mutter-sprachliche Wissen dürfte dafür verantwortlich sein, dass in jedem der beob-achteten Erwerbsverläufe die aus dem L1-Erwerb bekannten Frühphasen von den meisten „übersprungen“ werden können: verblose Sätze, endungslose Partizipien, fehlende Artikel, Pronomen oder Präpositionen sind in unserem Korpus die Ausnahme.

6. Über diese konzeptuelle „Vorarbeit“ hinaus ist L1-Transfer auf ganz bestimmte Anwendungsbereiche beschränkt. Im Bereich der Morphologie ist er äusserst selten und kommt nur in Frühphasen des Erwerbs vor; selbst dort, wo er sinnvoll wäre – natürlich nicht in direkter Übernahme von Oberflä-chenstrukturen, sondern als Parallele von Strukturregeln oder Kategorisie-rungen (wie etwa bei den komplexen Prädikaten) – scheint er wenig hilfreich zu sein. Die Flexive werden von den Lernern offensichtlich in hohem Masse als einzelsprachspezifisch und somit als nicht transferierbar erkannt. Ganz anders verhält es sich bei den Satzmodellen: die ersten Phasen des Wortstel-lungserwerbs stehen ganz im Zeichen der muttersprachlichen S-V-Struktur; der ganze weitere Erwerbsverlauf könnte interpretiert werden als zunehmende Entfernung von diesem Modell.

7. Eine sehr viel grössere Rolle, als wir ursprünglich angenommen hatten, spielt im Erwerbsprozess das Memorisieren von sprachlichen „Fertigteilen“, das chunk learning. Dass es in den frühen Erwerbsphasen dominiert, ist ein-leuchtend; im L1-Erwerb verhält es sich nicht anders. Bei unseren Probanden jedoch bleibt es während der ganzen schulischen Deutschkarriere präsent, verständlicherweise am massivsten in den Bereichen, die für unsere Proban-den am schwersten zu durchschauen sind (wie beim Kasuserwerb, insbeson-dere in Präpositionalphrasen). Der Einsatz von Chunks erweist sich somit als Alternative in den Situationen, in denen analysierende Verfahren nicht einge-setzt werden können. Schüler, die sich mit einem Minimum an „Sprachlernfä-

361

higkeit“ begnügen müssen, rekurrieren fast ausschliesslich auf memorisierte Chunks. Bei ihnen dürfte die „intraindividuelle Variabilität“ am grössten sein, da je nach Kontext ihre Chunks zufällig richtig oder zufällig falsch sind.

8. Der extensive Gebrauch von Chunks ist zwar auch im natürlichen Zweitsprachenerwerb anzutreffen, wie die ZISA-Untersuchung bei Gastar-beitern nachgewiesen hat. Wir betrachten ihn aber auch als Folge der gesteu-erten Erwerbssituation. Einerseits ist es den Schülern offensichtlich nicht möglich, das im Grammatikunterricht vermittelte Regelwissen direkt in ihrer Sprachproduktion anzuwenden. Andererseits werden durch den schulischen Kontext die natürlichen Erwerbsvorgänge, die eine Alternative zum schuli-schen Grammatiklernen bieten würden, geradezu abgeblockt, insbesondere durch die Sanktionierung jeder Fehlleistung. Es ist plausibel, dass viele Schüler in diesem Dilemma zu ad-hoc-Lösungen greifen: zu L1-Transfer, wo er ihnen möglich scheint, zum Einsatz eines Chunk, wenn sie einen „passenden“ zu kennen glauben, zu Vereinfachungsstrategien, wo sie das Formeninventar nicht durchschauen können, und zu Vermeidungsstrategien als dem sichersten Weg, sich durch Fehlervermeidung eine gute Note zu ver-schaffen. 7.2 Zur Frage der Korrelationen Nachdem sich für die Verbalflexion, die Satzmodelle und die Kasus (in NP) die Existenz von natürlichen Erwerbssequenzen hat nachweisen lassen, wäre nun die Frage wieder aufzugreifen, inwieweit sich zwischen diesen drei Be-reichen Korrelationen beobachten lassen, d. h. inwieweit der Erwerbsfort-schritt in einem Bereich den Fortschritt in einem anderen Bereich zwingend bedingt.

Tab. 55 fasst unsere Ergebnisse zusammen, sowohl die Erwerbsreihenfolge innerhalb der drei sequenziell geordneten Erwerbsbereiche als auch die Parallelen zwischen den Bereichen, wie sie aus unseren Analysen hervorge-gangen sind. Die Tabelle ist also sowohl vertikal als auch horizontal zu lesen: − Die Vert ikale zeigt die Erwerbssequenzen, die in den vorausgegangenen

Kapiteln für jeden einzelnen Bereich ermittelt wurden. Dieser Erwerbs-verlauf kann überindividuelle Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen; wir haben innerhalb unseres Korpus keine Ausnahmen gefunden.

− Die Hor izontale zeigt die Parallelen in den Erwerbsverläufen der drei Teilbereiche, die bei einer repräsentativen Mehrheit der Testpersonen be-obachtet wurden. Die unterschiedliche Länge der einzelnen Phasen ent-spricht der bei den Testpersonen mehrheitlich beobachteten Erwerbsdauer

362

pro Phase, bezogen auf die Phasen der anderen Erwerbsbereiche. Grosso modo situiert sich also jede unserer Testpersonen auf einer der möglichen Horizontalen in dieser Tabelle.

Bei der horizontalen Lektüre ist jedoch mehr Vorsicht geboten als bei der vertikalen. Hier kann es auch zu Verschiebungen kommen (dies soll mit den gepunkteten Linien angedeutet werden), und zwar nach unseren Beobachtun-gen nur auf Diagonalen von links unten nach rechts oben, m. a. W. in der je-weils linken Spalte kann es einen Vorsprung im Vergleich zur jeweils rechten Spalte geben, oder noch anders gesagt: manche Probanden kommen mit dem Erwerb der Verbalflexion schneller voran als mit dem der Satzmodelle, und mit diesem wiederum schneller als mit der Kasusflexion. Ein Beispiel: Test-personen, die im Verbalbereich (A) mit Phase IV (Auxiliar + Partizip) und bei den Satzmodellen (B) ebenfalls mit Phase IV (Nebensatz) beschäftigt sind, befinden sich üblicherweise in Kasusphase II. Es kann aber auch verein-zelt Schüler geben, die bei gleichem Stand in (A) und (B) noch nicht über Ka-susphase I hinausgekommen sind.

Ob es sich bei Beobachtungen dieser Art um blosse Parallelen handelt oder um erwerbstheoretisch begründbare, zwingende Korrelationen, wird, vor allem in den letzten Jahren, innerhalb der Erwerbstheorie intensiv debattiert, und zwar für den natürlichen wie auch für den gesteuerten Erwerb. Zwei mögliche Korrelationen stehen zur Diskussion: einmal zwischen Inversions- und Kasuserwerb, zum andern zwischen Verbstellung (insbesondere Verb-zweit- und Verbendstellung) und Verbalflexion. Auf beides soll hier kurz eingegangen werden, bevor wir unsere eigenen Ergebnisse daraufhin über-prüfen. 7.2.1 Korrelationen in der wissenschaftlichen Diskussion Auf die erste, von Harald Clahsen (1984a) für den L1-Erwerb formulierte Korrelation zwischen Inversions- und Kasuserwerb sind wir oben schon kurz eingegangen, ebenso auf die überzeugende Widerlegung durch Jürgen Meisel (1986; vgl. S. 253). Obwohl auch bei unseren Probanden tatsächlich eine Pa-rallele zwischen dem Erwerb der Inversion und der Klärung des Kasussys-tems zu beobachten ist, scheint uns die funktionalistische Erklärung Clahsens für unsere Probanden nicht zu greifen, aus denselben Gründen, die Meisel ins

363

Feld geführt hatte.1 Soweit wir sehen, wurde diese Hypothese in der weiteren Diskussion fallengelassen, auch Clahsen scheint Abstand davon genommen zu haben.

Auch die zweite Korrelation, diejenige zwischen Verbstellung und Verb-flexion, wurde oben bereits kommentiert.2 Es scheint in der gegenwärtigen Diskussion unbestritten, dass beim deutschen L1-Erwerb tatsächlich zwischen diesen beiden Phänomenen ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Ob allerdings die Verbbewegung (vom Satzende an die Erst- oder Zweitposition) mit der Subjekt-Verb-Kongruenz korreliert, wie Clahsen (1988b) meint, oder nur mit der Dichotomie Finitheit/Infinitheit, wie Verrips/Weissenborn (1992) einwenden, steht noch zur Debatte.

_______________

1 Zudem kann auf die Arbeit von Lise Klein-Gunnewiek verwiesen werden, die den gesteuerten Deutscherwerb niederländischer Schüler und Studenten beschreibt: sie bestätigt, dass niederländischen Lernern das deutsche Kasussystem genau diesel-ben Schwierigkeiten bereitet wie anderssprachigen, obwohl sich die niederländi-sche Syntax mit der deutschen in den einschlägigen Verbstellungsregeln deckt.

2 Siehe S. 60.

364 A Verbalbereich B Satzmodelle C Kasus (ohne Präposition) I Präkonjugale Phase (Infinitive; Personal-formen nur als chunks) ........................................ II regelmässige Konjugation der Verben im Präsens ........................................ III Konjugation der unregel- mässigen Verben im Präsens Modalverb + Infinitiv ........................................ IV Auxiliar + Partizip ........................................ V Präteritum ........................................ VI übrige Formen

I Hauptsatz (Subjekt-Verb) ........................................ II Koordinierte Hauptsätze W-Fragen Ja/Nein-Fragen ........................................ III Distanzstellung (Verbalklammer) ........................................ IV Nebensatz ........................................ V Inversion (X-Verb-Subjekt) ........................................ Erwerb der Satzmodelle I – V abgeschlossen

I Ein-Kasus-System (nur N-Formen) ....................................... II Ein-Kasus-System (beliebig verteilte N-, A-, D-Formen) ....................................... III Zwei-Kasus-System Nominativ + Objektkasus (N-Formen + beliebig verteilte A- und D-Formen) ....................................... IV Drei-Kasus-System Nominativ + Akkusativ + Dativ (N-Formen + A-Formen + D-Formen)

Tab. 55: Erwerbssequenzen

365

Die Frage nach entsprechenden Korrelationen im L2-Erwerb rührt wieder an die alte Kontroverse bezüglich der UG-Zugänglichkeit für Zweitsprachenler-ner (siehe S. 31). Clahsen (1988b) bestreitet als entschiedener Vertreter der No-UG-at-all-Position die Existenz von Korrelationen im natürlichen L2-Erwerb und sieht sich in seiner Annahme durch die Erwerbsverläufe der ZISA-Probanden bestätigt. Höchstens in ZISA-Phase IV (Verb-Endstellung im Nebensatz) ist nach Clahsen eine Interaktion zwischen beiden Bereichen denkbar, insofern als die Struktur des Nebensatzes das Konzept „Finitheit“ voraussetzt.3 Nach Peter Jordens (1988b) hingegen sind schon ab ZISA-Phase III (SEP = Distanzstellung) Verbalflexion und Verbstellung korreliert, wobei die erste die Voraussetzung für die zweite bildet;4 dies gilt seinen Be-obachtungen nach für den natürlichen und den gesteuerten L2-Erwerb des Deutschen (und des Niederländischen) ebenso wie für den L1-Erwerb (siehe S. 60).

Manfred Pienemann gelangt wieder zu anderen Ergebnissen. Analog zu den von Clahsen (1984b) formulierten Strategien für den Wortstellungser-werb der ZISA-Probanden konstruiert er eine entsprechende Rangfolge für den Verbalbereich, vom verarbeitungstechnisch Einfachen zum Komplexen aufsteigend. „Lokale Morpheme“ (was gleichbedeutend ist mit Booijs „inhärenter Flexion“, also etwa das Präfix ge- am Partizip, siehe S. 119) sind nach Pienemann leichter erwerbbar als „nicht-lokale“ (d. h. die „kontextuelle Flexion“),5 denn letztere setzen ein komplexes Wissen über das Beziehungs-gefüge im Satz voraus, das auf syntaktischer Ebene erst in der ZISA-Phase IV „INV“ erreicht ist. Somit ist nach Pienemann der Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz mit dem Inversionserwerb korreliert. Sein australischer Teststudent Guy verhält sich denn auch in seinem gesteuerten L2-Erwerb ge-nauso wie von Pienemann vorausgesagt; alle normgerechten Verbflexionen, die Guy vor der Inversionsphase gebraucht, sind nach Pienemanns Interpre-tation Chunks.6 Allerdings ist Guys Erwerbsverhalten offenbar nicht für aus-_______________

3 „[...] the notion of agreement is present from the beginning of the acquisition

process [...]. Moreover, the agreement paradigm is only gradually attained, and its acquisition is independant of the development of verb placement, at least up to Phase IV.“ (Clahsen 1988: 64)

4 „The acquisition of the distinction between the finite and the non-finite verb cate-gory is a prerequisite to the acquisition of the positioning of both verbal categories. Therefore L2 learners are now able to acquire the rule that the non-finite part of the predicate has to occur in sentence-final position. Above this has been referred to as the acquisition of the Particle Rule. As has been pointed out the use of the non-finite part of the predicate sentence-finally enables L2 learners to acquire OV as underlying word order instead of VO.“ (Jordens 1988b: 155)

5 Zu demselben Urteil kommt auch Booij, siehe oben S. 119. 6 „[...] the random occurence of the verbal inflectional morpheme -t varies within

the same range as the occurence of the same morpheme in contexts where it marks

366

tralische Deutschstudenten repräsentativ; die acht Testpersonen von Bettina Boss beherrschten die Verbformen der 1. und 3. Person (Singular Präsens) von Anfang an mit einem hohen Korrektheitsgrad und nachweislich nicht nur als Chunks (Boss 1998). Auch die Schülerpopulation des DiGS-Korpus er-wirbt die Subjekt-Verb-Kongruenz ganz eindeutig weit vor der Subjekt-Verb-Inversion (wenn auch der Erwerb der Verbflexion vielleicht etwas länger braucht als bei Boss’ Studenten), womit Pienemanns These zumindest der Boden des empirischen Nachweises entzogen ist.

Dass in der Frage der Korrelationen verschiedener Erwerbsbereiche so di-vergierende Positionen vertreten und zudem so unterschiedliche empirische Befunde vorgelegt werden, mag verschiedene Gründe haben. Jeansen (1991: 25) führt dies auf das Fehlen eindeutiger Definitionen und Analysekriterien zurück; sie zweifelt auch an der Vergleichbarkeit der verschiedenen Korpora. Wir meinen zudem, dass oft auch die Datenbasis viel zu schmal ist, um all-gemeingültige Aussagen daraus ableiten zu können. Nach unseren Erfahrun-gen mit dem DiGS-Korpus wird sich immer eine Testperson finden lassen, die – bei entsprechender Festlegung der Analysekriterien – Belege für die verschiedensten theoretischen Postulate liefern kann. 7.2.2 Die DiGS-Ergebnisse: Parallelen statt Korrelationen Zu Beginn des DiGS-Projektes war die Existenz von Korrelationen eine un-serer Arbeitshypothesen gewesen; wir waren davon ausgegangen, empirisch abgesicherte Grundlagen für diese These liefern zu können. Wir sind nun zu-rückhaltender geworden, denn die individuelle Variation scheint uns zu gross zu sein, um erwerbslogische Zusammenhänge zwischen den einzelnen Berei-chen postulieren zu können (siehe unseren Kommentar zu Tab. 55, S. 362). Es ist sicher kein Zufall, dass Clahsen, Pienemann und Jordens zu so diver-gierenden Schlüssen gelangt sind; jede ihrer Testpersonen repräsentiert eben einen möglichen Einzelfall, der sicher nicht verallgemeinert werden darf. Üb-rigens fanden wir keine dieser Korrelationen in unserem Korpus bestätigt: Die Subjekt-Verb-Kongruenz beherrschen unsere Probanden in grossen Zügen schon vor der Distanzstellung (= SEP), vor dem Nebensatz (= VEnd) und erst recht vor der Inversion (in Aussagesätzen).

Dennoch kann das Erwerbsbild, das Tab. 55 zeigt, nicht zufällig sein; ab-gesehen von den oben erwähnten „diagonalen“ Verschiebungen trifft sie im-merhin auf über 200 französischsprachige Deutschlernende zu. Unsere Beob-achtungen legen uns folgende Interpretation nahe:

________________ SV-agreement. In other words, those cases of apparent SV-agreement can be ac-counted for simply ‘random hits’.“ (Pienemann 1987: 105)

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In jedem der drei Erwerbsbereiche macht sich eine bestimmte „Erwerbslo-gik“ geltend; in jedem sind verschiedene Erwerbsfaktoren unterschiedlich ge-wichtet. Aus Tab. 55 kann also nicht die Existenz irgendwelcher sprachinter-ner Korrelationen abgeleitet werden; aus ihr geht lediglich hervor, was für frankophone Lerner des Deutschen innerhalb der verschiedenen Grammatik-bereiche etwa den gleichen Schwierigkeitsgrad bzw. Komplexitätsgrad reprä-sentiert.

Mit der Verbalmorphologie setzen sich die Kinder schon von der Pri-marschule an auseinander; dem Ausdruck von Person, Tempus und Modalität (mittels Modalverben) wird offensichtlich eine hohe Relevanz zuerkannt. Zudem ist ihnen das Phänomen der Konjugation aus ihrer L1 vertraut, und wenn sie sich auch die Verbalflexive des Deutschen neu erarbeiten müssen, so sind diese doch relativ transparent. Die Erwerbsfolge ist dieselbe wie unter natürlichen Erwerbsbedingungen, allerdings auch dieselbe wie im Lehrbuch – jedenfalls verläuft sie in Richtung zunehmender Komplexität (vgl. S. 165).

Viel unzugänglicher ist für die DiGS-Probanden der Bereich der Nomi-nalf lexion, der mit seinen homonymen, plurifunktionalen und phonetisch nichtsalienten Allomorphen gleich gegen mehrere der Slobinschen Operating Principles verstösst.7 Aus dem Komplex von Genus, Numerus und Kasus isolieren sie zunächst Genus und Numerus, bezeichnenderweise die beiden Kategorien, die sie aus ihrer L1 kennen. Den Kasuserwerb hingegen stellen sie solange zurück, bis sie alle anderen kommunikativ relevanteren Formen und Strukturen im Verbal- und Satzmodellbereich erarbeitet haben. Erst dann wird Verarbeitungsenergie frei, um sich mit dem kommunikativ wenig rele-vanten und formal höchst komplexen Kasussystem auseinanderzusetzen. Sie verfahren dabei wie Lerner unter natürlichen Erwerbsbedingungen, indem sie das bis dahin verwendete Ein-Kasus-System ausdifferenzieren zu einem Zwei-, schliesslich zu einem Drei-Kasus-System (vgl. S. 263).

Im Bereich der Satzmodel le machen sich wieder andere Einflussfakto-ren geltend. In erster Linie ist es L1-Transfer; wie die romanischsprachigen ZISA-Gastarbeiter übertragen unsere Schulkinder die Basisstruktur ihrer L1 auf die L2,8 und zwar zu Beginn jeder Erwerbsphase auf das neu zu erwer-bende Satzmodell. Jede Phase führt einen Schritt weiter weg von der L1-Ba-

_______________

7 Vgl. S. 224; dazu Meisel (1986: 177). Zu Slobin vgl. S. 34. 8 Dies entspricht genau der „Initial Word Order Hypothesis“, die Zobl schon 1986

formulierte: „The initial word order stage in GSLA [= German Second Language Acquisition] reflects the word order of the learner’s L1: for learners whose L1 is SVO (head-initial) the first GSLA stage is predicted to be SVO; for learners whose L1 is SOV (head-final) the first stage is predicted to be SOV“ (zitiert nach Jeansen 1991: 26).

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sisstruktur: die Distanz zwischen Subjekt und Verb vergrössert sich (von S-V zu S-Vfin ... Vinfin bis zu S ... V), und schliesslich kehrt sich die Reihenfolge um in V-S.

Wenn allerdings die Satzstruktur eine eindeutige kommunikative Funktion signalisiert (wie die Inversion in Fragesätzen), dann wird die dominierende Rolle der L1 ausser Kraft gesetzt: in Fragesätzen wird die Inversion ohne grössere Schwierigkeiten schon von den Primarschulkindern angewendet (vgl. S. 84). Insgesamt gesehen bildet der Satzmodell-Erwerb kein unüber-windliches Problem; es ist der einzige der drei Bereiche, der von den Erfolg-reichsten bereits am Ende des Cycle d’orientation abgeschlossen werden kann.

Es sind also jeweils verschiedene Faktoren – kommunikative Relevanz, Verarbeitungskomplexität, L1-Transfer (konzeptionell oder strukturell) –, die sich in den drei Bereichen je unterschiedlich kombinieren und den Erwerb fördern oder verzögern. Gewiss spielt auch die jeweilige Beschaffenheit der L2 und der L1 eine Rolle; ein derart undurchschaubares morphologisches Geflecht wie das der deutschen Nominalflexion dürfte für alle Deutschlerner, gleich welcher Muttersprache, schwer zu erwerben sein; beim Satzmodeller-werb hingegen wird die Reihenfolge, wie schon nachgewiesen wurde, durch die strukturelle Ähnlichkeit bzw. Ferne der beiden Sprachen beeinflusst.

Tab. 55 gilt somit nur für frankophone Lerner des Deutschen und ist ge-wiss nicht unbesehen auf andere Sprachenpaare zu übertragen. Sie zeigt, wie sich die drei Erwerbsbereiche zeitlich einander zuordnen lassen, und kann in-sofern bei der Ermittlung von Erwerbsständen hilfreich sein, als der Stand in einem der Bereiche Hypothesen über den Stand in den anderen Bereichen ermöglicht, in denen vielleicht verlässliche Indizien fehlen. Wer zum Beispiel den Nebensatz bearbeitet (= Satzmodellphase IV), in seinem Text aber jede eindeutige Kasusmarkierung vermissen lässt, befindet sich mit einiger Wahrscheinlichkeit in Kasusphase II, möglicherweise auch noch in Phase I, aber sicher nicht in Phase III.

Mit diesen Ergebnissen glauben wir hinreichend glaubwürdig belegen zu können, weshalb wir einsträngigen theoretischen Modellen zum Zweitspra-chenerwerb gegenüber skeptisch sind. Wie oben (S. 43, insbesondere Fuss-noten 62 und 63) bereits ausgeführt, glauben auch wir – wie Wode (1988), wie Ellis (1994) –, dass beim Spracherwerb zu viele verschiedenartige kog-nitive Techniken zusammenwirken, als dass er mit einer der bisher vorge-legten Theorien vollständig erklärt werden könnte. Abschliessend zu dieser Frage sei noch einmal Ellis zitiert, der am Ende seiner monumentalen Dar-stellung zum gegenwärtigen Stand der L2-Erwerbsforschung zu folgendem Schluss gelangt:

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To sum up, we have seen that there is considerable disagreement among SLA scholars about theories. [...] We can detect two poles, with many shades of opinion in between. At one pole there is ‘a healthy and unusually polite acceptance of the possibility of pluralism in the answers proposed, a willingness to concede that dif-ferent models might be needed for different aspects of the problem, an acceptance that different points of view might lead to different theories’ (Spolsky 1990: 613). At the other there is the belief that research should follow the assumed methods of the hard sciences, with no room allowed for complementarity or personal prefe-rence (Griffiths 1990). At the moment the pluralists are winning out over the clo-surists. This is perhaps as it should be; those theories that are found useful by re-searchers and practitioners (such as teachers) for their varying purposes will conti-nue to flourish. (Ellis 1994: 685f.)

7.3 Erwerbsstand und Klassenstufe Dass ein bestimmter Erwerbsstand (vorstellbar als eine bestimmte Horizon-tale auf der Tabelle „Erwerbssequenzen“) nicht mit einer bestimmten Klas-senstufe gleichgesetzt werden kann, ist aus unseren Untersuchungen deutlich hervorgegangen. Aber es lässt sich doch in den meisten Fällen – wenn auch nicht immer – eine „repräsentative“ Mitte feststellen, mit einer schmalen Marge darüber und darunter, wie dies eben den Verhältnissen in den meisten Schulklassen entspricht. Wir zeigen auf den folgenden Tab. 56, Tab. 57 und Tab. 58, wie sich die Erwerbsstände der Schüler auf die verschiedenen Klas-senstufen verteilen. Um die Datenmenge überschaubar zu halten, beschränken wir uns auf die „Schnittstellen“, die Schulübergänge, also auf den Stand am Ende der 6. Primarschulklasse, am Ende der 9. Cycle-Klasse, was dem Ende der Schulpflicht entspricht, und bei der Maturität, also am Ende der 13. Klasse von Gymnasium und Handelsoberschule. Die Diplommittelschule, die mit der 12. Klasse endet, wurde hier nicht mit einbezogen.

Mit den Informationen, die aus diesen Tabellen zu gewinnen sind, kann eine Brücke zur Unterrichts- und vor allem zur Evaluierungspraxis geschla-gen werden. Die Tabellen zeigen, was realistischerweise eine Mehrheit von Schülern an diesen Schnittstellen zu leisten imstande ist; sie zeigen auch, welche grammatische Kompetenz (im schriftlichen Ausdruck) – oder welche Kompetenzenskala – auf der nächsthöheren Schulstufe bei der neuen Schü-lergeneration vorausgesetzt werden kann. Das DiGS-Lehrerteam insistierte nachdrücklich auf der Erstellung dieser Tabellen und hat auch bereits Konse-quenzen daraus gezogen (siehe unten in diesem Kapitel, 7.4.3).

370

Einige Präzisierungen zu Tab. 56–Tab. 58: − Die unterschiedliche Zahl der Testpersonen erklärt sich aus der Arbeits-

teilung bei der Analyse; die Autorinnen der einzelnen Kapitel bestimmten selbst den jeweiligen Umfang ihres Korpus. So war beispielsweise die Si-tuation beim Kasuserwerb in der Primarschule so offenkundig, dass auch bei der Analyse von mehr Testpersonen kein wesentlich anderes Ergebnis zu erwarten war. Erst in den höheren Klassenstufen erwies sich eine Ver-breiterung der Datenbasis als sinnvoll, weil sich erst dann Indizien für be-ginnenden Kasuserwerb ausmachen lassen.

− In der Rubrik „Kasus“ sind unter den Rubriken I/II, II/III und III/IV dieje-nigen Fälle aufgeführt, die nicht eindeutig einer der beiden Phasen zuzu-ordnen sind, sei es, weil die Vorkommen zu selten sind, sei es, weil die Formen selbst nicht eindeutig sind.

− Da in den Tabellen auf- bzw. abgerundete Zahlen präsentiert werden, weicht die Quersumme der Prozentzahlen zuweilen geringfügig von 100% ab.

Phase I Phase II Phase III Phase IV Phase V Ende EP (49 TP)

8 = 16% 41 = 83% - - -

Ende CO (61 TP)

- 4 = 7% 3 = 6% 54 = 88% -

Maturität (15 TP)

- - 1 = 7% 5 = 33% 9 = 60%

Tab. 56: Erwerbsstand im Verbalbereich Phase I Phase II Phase III Phase IV Phase V Ende EP (51 TP)

11 = 23% 40 = 77% - - -

Ende CO (60 TP)

- 1 = 2% 12 = 20% 22 = 37% 25 = 41%

Maturität (15 TP)

- - - 3 = 20% 12 = 80%

Tab. 57: Erwerbsstand im Bereich der Satzmodelle I I/II II II/III III III/IV IV Ende EP (13 TP)

12 = 92% 1 = 8% - - - - -

Ende CO (37 TP)

4 = 11% 1 = 3% 18 = 49% 3 = 8% 7 = 19% 2 = 5% 2 = 5%

Maturität (12 TP)

- - 3 = 25% 2 = 17% 5 = 42% 1 = 8% 1 = 8%

Tab. 58: Erwerbsstand im Bereich der Kasus in Nominalphrasen

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Tab. 56–Tab. 58 lässt sich entnehmen: 1. Das Gefälle zwischen den Erwerbsständen der Schüler ist am Ende des Cycle am grössten. Am Ende der Primarschule und auf der Maturitätsstufe ist die Streuung weniger breit. Die Erklärung hierfür liegt auf der Hand: Auf der Primarstufe kann auf Grund des eingeschränkten schulischen Inputs gar nicht über eine gewisse Erwerbsphase hinausgegangen werden, und zur Maturi-tätsstufe wurden die extrem schwachen Schüler schon gar nicht zugelassen. Das Ende des Cycle hingegen repräsentiert noch das ganze Spektrum der Schülerpopulation, bevor sie sich auf die verschiedenen weiteren Ausbil-dungswege verteilt. 2. Die Zahlen bestätigen, was aus den Analysen der einzelnen Grammatikbe-reiche (Kapitel 4 und 5) hervorging: Es gibt drastische Unterschiede im Be-herrrschungsgrad von Verbalflexion und Satzmodellen einerseits und der Ka-susflexion (in NP) andererseits. Während in den beiden erstgenannten Berei-chen eine Mehrheit auf Maturitätsebene bis zu den (vor-)letzten Phasen ge-langt, schafft dies im Kasusbereich nur eine schmale Minderheit. 3. An den Schnittstellen sind folgende Erwerbsstände repräsentativ: − Am Ende der Primarschule situiert sich eine Mehrheit der Absolventen auf

einer breiten Horizontalen, die durch die Phasen II von Verbalbereich (= A) und Satzmodellen (= B) und durch die Mitte von Phase I des Kasusbe-reichs (= C) verläuft. Einige Nachzügler haben noch mit den Phasen AI und BI zu kämpfen; bei einem besonders begabten Kind kann man sich fragen, ob es sich nicht bereits auf dem Weg zu Kasusphase II befindet.

− Am Ende des Cycle ist die überwiegende Mehrheit mit der Verbalphase IV beschäftigt. Wer sich dem Ende dieser Phase nähert, hat schon mit dem Inversionserwerb begonnen; wer erst am Anfang steht, hat noch mit der Distanzstellung zu tun, ein gutes Drittel setzt sich mit dem Nebensatz aus-einander. Die breiteste Streuung weist der Kasusbereich auf: alle Phasen von I bis IV sind vertreten, mit einer Konzentration auf Phase II (beliebig verteilte N-, A- und D-Formen).

− Auf der Maturitätsstufe beherrscht eine Mehrheit mehr oder weniger die Inversion und im Verbalbereich mindestens das Perfekt (Phase IV), knapp zwei Drittel auch mehr oder weniger das Präteritum (Phase V). Im Kasus-bereich bleibt die Streuung auch hier am breitesten, mit einer Konzentra-tion in den Phasen II und III.

Es sei noch einmal daran erinnert, dass zur Zeit der Datenerhebung in den Lehrplänen davon ausgegangen wurde, dass die Schülerinnen und Schüler den gesamten Grammatikstoff, der in Tab. 55 aufgeführt ist, bis zum Ende des Cycle beherrschten, ausgenommen die in den Verbalphasen V und VI ent-

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haltenen Tempus- und Modusformen, die zusammen mit dem Passiv und dem Genitiv dem Grammatikprogramm der 10. Klasse vorbehalten waren. Es sei ausserdem noch einmal betont, dass die ermittelten Erwerbsstände das Ergebnis eines Deutschunterrichts sind, in dem die Grammatikunterweisung und -übung einen grossen Stellenwert einnahm – zwar nicht vom Lehrwerk so vorgesehen, aber durch zusätzliche Grammatikbroschüren und -übungshefte von der Lehrerschaft entsprechend „korrigiert“.

Damit kehren wir zu der zentralen Frage zurück, die das auslösende Mo-ment des ganzen Projektes gewesen war: Wenn der gesteuerte L2-Erwerb tat-sächlich analog zu den natürlichen Erwerbsformen verläuft, welche Konse-quenzen sind dann für die Praxis des Deutschunterrichts, genauer: des Grammatikunterrichts zu ziehen? 7.4 Und die Rolle des Grammatikunterrichts? 7.4.1 Untersuchungen zur Effizienz des Grammatikunterrichts Auch wenn die Erkenntnisse der L2-Erwerbsforschung bislang noch nirgends, so weit wir sehen, zu grundsätzlichen Revisionen des institutionellen Fremdsprachenunterrichts geführt haben, so sind sich doch namhafte Vertre-ter des Faches der Brisanz dieser neuen Thesen und ihrer möglichen didakti-schen Konsequenzen durchaus bewusst.9 Um sicher zu gehen, dass die These von der Unumkehrbarkeit der Erwerbsphasen tatsächlich auch unter gesteu-erten Bedingungen gilt, überprüften Pienemann (1984, 1987, 1989), Ellis (1989) und Boss (1996), inwieweit sich auch bei Lernern, denen die deut-schen Wortstellungsregeln in der „falschen“ Reihenfolge unterrichtet worden waren, die natürliche Reihenfolge durchsetzt (wobei die ZISA-Phasen als natürliche Folge angenommen wurde). Alle Untersuchungen gelangten zu demselben Ergebnis: Auch wenn die Inversion in den ersten Unterrichtsstun-den eingeführt worden war, weit früher als die Distanzstellung, so wurde diese doch immer vor der Inversion erworben (in der ZISA-Terminologie:

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9 Ellis (1989) beispielsweise begründet seine Untersuchung zu natürlichen Er-werbssequenzen im Fremdsprachenunterricht explizit mit der didaktischen Rele-vanz solcher Fragestellungen. Sie seien, neben dem theoretischen Interesse, „of applied interest because it informs about the utility of form-focused instruction.“ (1989: 306)

373

SEP vor INV), von Kindern ebenso wie von Erwachsenen, so dass Pienemann sich in seiner Annahme bestätigt sehen kann: „The course of second language development cannot be altered by factors external to the learner“ (1989: 91).10

Was kann unter solchen Voraussetzungen der Grammatikunterricht über-haupt noch leisten?

Eine extreme Richtung innerhalb der Erwerbsforschung meint: nichts, und plädiert radikal für eine Abschaffung des expliziten Grammatikunterrichts. Es ist die Empfehlung derer, die die Non-interface-Position vertreten, die also davon ausgehen, dass zwischen „Lernen“, Regelwissen, metasprachlichem Wissen einerseits und „Erwerb“, praktischem Sprachgebrauch andererseits keinerlei Vermittlung stattfinden könne (so etwa Krashen – siehe S. 45). Ihnen zufolge kann Fremdsprachenunterricht im Klassenzimmer nur in Form von kommunikativem Unterricht erfolgreich sein.11

Dass es dazu eine ganze Reihe von Gegenpositionen gibt, wurde oben (S. 45) bereits ausgeführt. Sei es Butzkamm mit der gleitenden Skala von Be-wusstseinsgraden vom „ratiomorphen“ Wissen zum „aufmerksamen Be-wusstsein“, sei es Schmidt mit dem Begriffspaar intentional learning vs. in-cidental learning, sei es Mc Laughlins Konzeption von der Automatisierung des Wissens oder Bialystoks These von der gegenseitigen Durchlässigkeit von analysiertem und unanalysiertem Wissen – alle gehen davon aus, dass vorgängiges explizites Wissen – z. B. der Grammatikregeln – den impliziten Lernprozess fördern, beschleunigen und vertiefen kann.

An dieser Möglichkeit möchte auch Ellis festhalten. In seiner Übersicht über die Forschungsarbeiten zum gesteuerten Fremdsprachenerwerb (1994: 561–663) stellt er zusammen, was gegenwärtig über die Auswirkungen von Grammatikunterricht auf den L2-Erwerb an wissenschaftlichen Erkenntnissen vorliegt. Allerdings sind diese nicht dazu angetan, die Skepsis gegenüber der formal instruction abzubauen. Zwar meint Ellis in seiner eigenen Unter-suchung von 1989 zu beobachten, dass seine Deutschstudierenden schnellere Erwerbsfortschritte machen als die ZISA-Testpersonen.12 Da Ellis’ Beob-achtungszeitraum aber nur 22 Wochen betrug (ganz zu schweigen von dem soziokulturellen Gefälle zwischen Studenten und Gastarbeitern), hätten wir – nach den Erfahrungen mit unseren DiGS-Probanden vorsichtig geworden –

_______________

10 Insofern es sich bei diesen Untersuchungen nur um die Reihenfolge SEP-INV handelte (der Nebensatz, „VERB END“, blieb ausser Betracht) und insofern INV nur Inversion in Aussagesätzen betrifft, können wir diese Abfolge bestätigen.

11 Ellis bezeichnet diese Position als „zero option“ und erwähnt als ihre Vertreter ausser Krashen unter anderen auch Corder und Newmark (1994: 652).

12 „The classroom learners [...] did appear to be more successful than the naturalistic learners in that they reached higher levels of acquisition in a shorter period of time.“ (1989: 305)

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doch gerne überprüft, wie lange dieses „erworbene“ Wissen angehalten hat ... Dass dergleichen Lernerfolge sehr schnell wieder verloren gehen können, hat auch Pienemann (1984) nachgewiesen.

Was die Wirksamkeit von Fehlerkorrekturen im Unterricht betrifft, sind die vorliegenden Forschungsergebnisse widersprüchlich; wenn überhaupt, dann scheint „negatives Feedback“ nur unter genau definierten Bedingungen sinnvoll zu sein.13 Auch die Behauptung, Grammatikunterricht bewirke einen höheren Korrektheitsgrad, lässt sich nur mit vielen Einschränkungen auf-rechterhalten:

There is sufficient evidence to show that formal instruction can result in definite gains in accuracy. If the structure is „simple“ in the sense that it does not involve complex processing operations and is clearly related to a specific function, and if the formal instruction is extensive and well-planned, i t is l ikely to work. However, if the instruction is directed at a difficult grammatical structure which is substantially beyond the learners’ current interlanguage, it is likely that it will only lead to improved accuracy in planned language use, when learners can pay consci-ous attention to the structure. (Ellis 1994: 623f.; Hervorhebungen von mir)

Es könne aber auch, meint Ellis, mit einer „verzögerten Wirkung“ (delayed effect) von Grammatikunterricht gerechnet werden, in der Weise, dass das „auf Vorrat“ gesammelte Wissen erst zu einem späteren, dem erwerbsmässig „richtigen“ Zeitpunkt abgerufen werde (1994: 621). Dem tritt nun allerdings Pienemann entschieden entgegen:

[...] it can be shown that this „storing up treasures in heaven“ approach to learning, far from promoting acquisition, can actually produce disturbances in the acquisi-tion process. (1989: 72)

Und wenn L2-Lernern Sprachproduktionen abverlangt werden, mit denen sie von ihrem Erwerbsstand her überfordert sind, dann kann dies – wie bei Pie-nemanns italienischen Versuchskindern – zu Vermeidungsstrategien und im Endeffekt zu Erwerbsverweigerung führen (Pienemann 1989: 73). Dass Grammatikunterricht geradezu kontraproduktiv werden kann, weist auch Te-resa Pica (1985) in ihrer vergleichenden Untersuchung zum natürlichen und gesteuerten Englisch-L2-Erwerb nach. Sie stellte fest, dass die schulische Grammatikinstruktion den Erwerb komplexer Regeln geradezu behindert;14

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13 „[...] the effectiveness of corrective feedback depends on the particular aspects of language being corrected“; und ausserdem: „correction of oral utterances may not be sufficiently attented to by learners.“ (Ellis 1994: 641)

14 „[...] classroom instruction can accelerate natural sequences and processes of se-cond language acquisition for linguistically simple morphology such as plural -s, but can also retard these sequences and processes for the more linguistically com-plex progressive -ing. For highly complex grammatical items such as article a, in-struction appears to have little impact, as learners follow naturalistic processes and

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und Felix (1981), Lightbown (1983), Weinert (1987) und VanPatten (1990)15 machen den Grammatikunterricht für bestimmte Generalisierungen haftbar, die sie als Ergebnis des „didaktisch aufbereiteten“, artifiziellen Unterrichts-Inputs interpretieren.

Wenigstens könne, so Ellis, durch Grammatikunterricht Fossilisierung verhindert werden. Dieses Argument besticht insofern, als tatsächlich der Deutscherwerb der ZISA-Gastarbeiter teilweise sehr früh stagnierte. Nun ha-ben aber unsere Daten gezeigt, dass schulischer Unterricht Fossilisierungen auch geradezu verursachen kann, und zwar dann, wenn sich ein Schüler oder eine Schülerin vom Rhythmus der schulischen Grammatikprogression über-rollt fühlt. Auch unter solchen Bedingungen kann der Erwerb zum Erliegen kommen, auch wenn die Sprachproduktionen solcher Schüler ein anderes Bild zeigen als die der früh fossilisierten Gastarbeiter: sie wirken wie ein beliebig zusammengewürfeltes Mosaik aus (zufällig) richtigen und falschen Formen und Strukturen aller Erwerbsphasen; Erwerbsstrategien sind keine zu erkennen, ebensowenig Erwerbsfortschritte.

Was kann also der Grammatikunterricht vermitteln – ausser „einfachen“ Regeln, wie schon Krashen (1985) behauptete?16 Wie kann kontraproduktiver Grammatikunterricht verhindert werden; auf welche Weise kann Gramma-tikinstruktion den Erwerb vielleicht doch fördern, wenn er sich schon nicht steuern lässt?

Pienemanns Antwort lautet: indem der Grammatikunterricht sich nach den natürlichen Erwerbsphasen ausrichtet und nur solche Formen und Strukturen behandelt, für die die Lerner die erwerbsmässigen Voraussetzungen mitbrin-gen. Dies ist Pienemanns inzwischen vielzitierte „Teachability Hypothesis“ (1984, 1987, 1989):

The Teachability Hypothesis [...] predicts that instruction can only promote lan-guage acquisition if the interlanguage is close to the point when the structure to be taught is acquired in the natural setting (1989: 60). [...] the Teachability Hypothe-sis does not predict that teaching has no influence whatsoever on acquisition. Ra-ther, it maintains that the influence of teaching is restricted to the learning of items for which the learner is „ready“. This claim has at least one important consequence for teaching, namely, that teaching can only promote acquisition by presenting what is learnable at a given point in time. To put this another way, items in a syl-labus need to be taught in the order in which they are learnable. (1989: 63)

________________ sequences which appear to be unrelated to the ways in which articles are taught in their classrooms or presented in their textbooks.“ (Pica 1985: 140)

15 Alle referiert in Ellis (1994: 621). 16 Vgl. S. 45.

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Pienemann nimmt an, dass ein so verstandener Grammatikunterricht den na-türlichen Erwerbsverlauf beschleunigen könnte, wenn der Beweis hierfür auch noch aussteht. Immerhin ist Pienemanns „Unterrichtbarkeitshypothese“ – die zugleich auch eine „Lernbarkeitshypothese“ ist – der bisher vielver-sprechendste Vorschlag für eine Umsetzung der L2-Erwerbsforschungser-gebnisse in die Unterrichtspraxis.

Werden die didaktischen Implikationen der „Teachability Hypothesis“ ernstgenommen, so müsste dies auch zu einer Redimensionierung des schuli-schen Grammatikprogramms führen. Nicht nur die DiGS-Ergebnisse zeigen, dass an die grammatische Verarbeitungskapazität der Fremdsprachenschüler viel zu hohe Ansprüche gestellt werden. Erwin Tschirner (1996) bestätigt für den Deutsch-Anfängerunterricht an amerikanischen Universitäten:

[...] our present grammar sequences are far too ambitious for productive purposes, and are more likely to overwhelm than to help language learners. (1996: 10)17

Ellis kommt zu dem Schluss:

[...] there may be limits to what is achievable through classroom learning for the simple reason that there are limits regarding what most learners are capable of achieving under any conditions. (1994: 658)

Und Patsy Lightbown, die ebenfalls von der Ineffizienz gezielter Gramma-tikinstruktion überzeugt ist (1984: 181), sieht als eine der wichtigsten prakti-schen Auswirkungen der L2-Erwerbsforschung, dass eine informierte Leh-rerschaft ihre Erwartungen an L2-Schüler auf ein realistisches Mass zurück-schraubt:

[...] if teachers – especially new teachers – come to language teaching with some knowledge of the results of language acquisition research, they will have much more realistic expectations about what can be accomplished. (Lightbown 1985: 182)

Allen diesen Überlegungen und Vorschlägen liegt die Erfahrung zugrunde, dass die traditionelle Praxis des Grammatikunterrichts von den Lernern Er-werbsleistungen erwartet, die sie unter den Bedingungen gesteuerten Erwerbs gar nicht erbringen können. Die Vorschläge zu einer Reduktion des Gram-matikstoffes dürfen dabei sicher nicht missverstanden werden als ein Plädoyer für eine generelle Niveauabsenkung, sondern als Einsicht in das realistisch Machbare – in der Annahme, dass es sinnvoller ist, dieses Wenigere zu

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17 Tschirners schlägt vor, den Beginn des gezielten Grammatikunterrichts bis zum Übergang vom mittleren zum fortgeschrittenen Niveau hinauszuschieben (was auf Genfer Verhältnisse übertragen in etwa dem Übergang 9./10. Klasse entsprechen würde) und sich bis dahin zu begnügen mit einem „lexical or syntagmatic ap-proach to grammar, with a focus on collocations and rules of the thumb“ (Tschirner 1996: 10f.).

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konsolidieren und vor Destabilisierung zu bewahren.18 Zudem kann die ge-wonnene Zeit für didaktische Tätigkeiten eingesetzt werden, die dem Sprach-erwerb förderlicher sind als das Lernen von Regeln und Paradigmen, die oh-nehin keinen Eingang in die Sprachproduktion finden können.

Aus der „Unterrichtbarkeits-Hypothese“ von Pienemann ergibt sich als weitere Konsequenz, dass alle diejenigen Formen und Strukturen unterricht-bar und lernbar sind, die sich nicht in eine implikationelle Phasenfolge brin-gen lassen. Nach Pienemann sind dies die variational features,19 bei deren Erwerb individuelle Varianten auftreten; für uns wären es alle diejenigen Grammatikbereiche, die nicht in die Erwerbssequenzen-Tabelle einzuordnen waren: also unter den von uns untersuchten Bereichen Genuszuweisung, Plu-ralmorpheme und Infinitivsätze. Lernbar ist sicher auch, in angemessener Dosierung, die unregelmässige Verbalflexion, sobald das Sensorium für „Unregelmässigkeit“ entwickelt ist; und bei der Aneignung der Präpositio-nalphrasen bleibt wohl ohnehin bis zur Kasusphase IV keine andere Mög-lichkeit als das Memorisieren von sinnvoll ausgewählten Chunks. 7.4.2 Didaktische Konsequenzen: Vorschläge Zunächst sei noch einmal an zwei Sachverhalte erinnert, mit denen der Fremdsprachenuntericht nolens volens zu rechnen hat: − Weder die grammatische Sensibilität noch die induktive Sprachlernfähigkeit,

nach John B. Carroll die beiden zentralen Komponenten der language aptitude, sind durch Training oder durch Erfahrung beeinflussbar (vgl. S. 353). Sie können zweifellos gefördert werden, wo sie vorhanden sind, müssen aber durch andere Fähigkeiten kompensiert werden, wo sie fehlen.

− Implizite Lernmechanismen sind bei der Bewältigung komplexer Aufgaben (wie zum Beispiel Spracherwerb) effektiver als explizite. Verbale In-struktion (also zum Beispiel die Explizierung von Grammatikregeln) er-weist sich nach Auskunft der Lernpsychologie dabei als wenig hilfreich (vgl. S. 50).

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18 In dieselbe Richtung geht die Argumentation von E. Kwakernaak, mit der er eine Umorientierung des Deutschunterrichts in den Niederlanden bewirken möchte: „Die Lernzeit, die heute auf Strukturen verwendet wird, die im Erwerbsprozess der meisten Lerner wirkungslos bleiben, weil sie im unbewussten Sprachproduktions-apparat noch nicht verarbeitet und aufgenommen werden können, kann [...] auf eine geringere Anzahl Strukturen verwendet werden, von denen mehr als heute auf ein höheres Beherrschungsniveau gebracht werden können“ (Kwakernaak 1996: 283). Siehe auch S. 329.

19 „For variational features [...] there is no learning barrier of the kind predicted by the Teachability Hypothesis for developmental features.“ (Pienemann 1989: 61)

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Ausserdem sei auch zur Klärung vorausgeschickt, dass die Ergebnisse des DiGS-Projektes nicht für oder gegen die eine oder andere Unterrichtsmethode ins Feld geführt werden sollten. Wie Pienemann meinen wir, einige Erkenntnisse an die Fremdsprachendidaktik weitergeben zu können, die in jedweder Unterrichtsmethode mitbedacht werden sollten.20 Damit soll nicht gesagt sein, dass sich unsere Empfehlungen gleich mühelos in jede didakti-sche Konzeption integrieren lassen. Wir wollen nicht verschweigen, dass uns beispielsweise die vielerlei Schulversuche zum bilingualen Unterricht (bzw. der Immersion) in die richtige Richtung zu gehen scheinen. Die ungleich bes-seren Ergebnisse, die in diesen Formen der Sprachvermittlung im Vergleich zum üblichen Fremdsprachenunterricht erzielt werden können, sind kein Zu-fall. Sie beweisen besser als jedes theoretische Konzept, dass auf die impli-ziten Lernprozesse zumindest im Zweitsprachenerwerb mehr Verlass ist als auf die expliziten.21

Die didaktische Konsequenz, die wir aus unseren Ergebnissen ziehen, lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Fremdsprachenunterricht sollte so be-schaffen sein, dass die natürlichen Erwerbsmechanismen zum Zuge kommen können. Alle weiteren Punkte lassen sich aus diesem Postulat ableiten.

(1) Das schulische Grammatikprogramm sollte sich an der natürlichen Pha-senabfolge orientieren.

Wir stimmen mit Pienemann und seiner Teachability Hypothesis darin überein, dass neue Formen und Strukturen nur dann bearbeitet und integriert werden können, wenn die erwerbsmässigen Voraussetzungen dafür gegeben sind, m. a. W. wenn die Regeln der voraufgegangenen Phasen erworben sind. Die Tabelle „Erwerbssequenzen“ (Tab. 55) zeigt den Phasenverlauf für fran-kophone Lerner des Deutschen; sie kann für dieses Sprachenpaar dem Grammatikunterricht als Richtschnur dienen.

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20 Vgl. die Warnung von Pienemann, bezogen auf die „Nutzanwendung“ der Teach-ability Hypothesis: „What I want to point out here, however, is that the Teachabi-lity Hypothesis does not contain any built-in „recipes“ for teaching methodology. It is rather a set of psycholinguistic background information on which teaching methods should be based.“ (Pienemann 1989: 76)

21 Zum Immersionsunterricht, vor allem seinen Erfolgen in Kanada, siehe Wode (1988: 333). In der Schweiz wurde 1994 die „Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des mehrsprachigen Unterrichts in der Schweiz“ gegründet, ein Forum für den Er-fahrungsaustausch zwischen den zahlreichen verstreuten bilingualen (bzw. mul-tilingualen) Schulversuchen in der Schweiz. Die Arbeitsgemeinschaft berät bei der Planung und Durchführung entsprechender Projekte, fördert die Erarbeitung von Unterrichtsmaterialien, organisiert Lehrerfortbildungsveranstaltungen und leistet Öffentlichkeitsarbeit.

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(2) Die Schulkinder sollten mit der L2 in ihrer „natürlichen“ Form konfron-tiert werden und nicht mit einem reduzierten Input, aus dem alles ausgefiltert ist, was noch nicht im Unterricht behandelt wurde – vorausgesetzt natürlich, er ist ihrem Alter angemessen und vermittelt Inhalte, die ihren Interessen entgegenkommen. Die Auswahl der „bearbeitbaren“ Strukturen innerhalb dieses Inputs kann den impliziten Lernvorgängen überlassen bleiben; sie set-zen sich, wie wir gesehen haben, unter gesteuerten Erwerbsbedingungen oh-nehin ebenso durch wie unter natürlichen. Motivation und „reicher Input“ sind die beiden Grundvoraussetzungen für L2-Erwerb, ob natürlich oder ge-steuert: die Motivation, damit sich der L2-Erwerbsprozess überhaupt in Gang setzt, und der reichhaltige Input, damit er genährt wird. (3) Es müssen Modelle für einen differenzierenden Grammatikunterricht entwickelt werden. Frontaler Grammatikunterricht wird in dermassen hetero-genen Klassen, wie sie den Lehrerinnen und Lehrern heute zugemutet werden, zwangsläufig immer an den Bedürfnissen einiger Schüler vorbeigehen: die fortgeschritteneren werden unterfordert, die schwächeren fühlen sich überrollt. Die Erkenntnisse des DiGS-Projektes können nur dann im Gram-matikunterricht zum Tragen kommen, wenn mit den Mitteln der Binnendiffe-renzierung den jeweiligen Schülern bzw. Schülergruppen nur derjenige Lern-stoff vermittelt wird, den sie von ihrem Erwerbsstand her effektiv bewältigen können.

Dies wiederum setzt voraus, dass zuerst diese jeweiligen Erwerbsstände ermittelt werden. Ellis (1994) sieht hierin die Hauptschwierigkeit einer di-daktischen Umsetzung der Teachability Hypothesis:

It is [...] not at all clear what practical use teachers can make of the research which has examined the effects of instruction on the order/sequence of acquisition. How can they ensure that grammar instruction is timed to match individual learners’ stages of development? Clearly they would need information about which proces-sing operations learners had already mastered [...]. Even if a reliable method of diagnosing learners’ stages can be found, there is still the problem of how to cope instructionally with the inevitable variation in proficiency which exists within even a relatively homogeneous group of learners. (1994: 636)

Wir halten dennoch die Einführung einer solchen Praxis für möglich. Der Entscheidungsbaum auf S. 381 zeigt, wie die Erwerbsstands-Ermittlung mit einem zumutbaren Zeitaufwand durchgeführt werden kann, wobei die Satz-modelle als „Leitfaden“ dienen. Es ist durchaus denkbar, zum Schuljahresbeginn einen kurzen Text für eine erste (vorläufige) Standortbe-stimmung schreiben zu lassen, die dann freilich durch weitere Beobachtungen präzisiert, nuanciert und eventuell korrigiert werden muss. Der zweite Schritt bestünde dann darin – und hier ist noch viel Raum für die Kreativität und Erfindungsgabe der Lehrerschaft –, eine Skala von Übungsaufgaben be-

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reitzustellen, jeweils zugeschnitten auf die Bedürfnisse und Verarbeitungska-pazitäten der Schüler bzw. Schülergruppen. Mit der mehr und mehr verbrei-teten Praxis von Gruppenarbeit innerhalb der Klassen ist schon eine wichtige Voraussetzung geschaffen; was fehlt, ist differenzierend einzusetzendes Un-terrichtsmaterial, eventuell individualisierte Grammatikkarteien oder entspre-chende Computer-Lernprogramme. Die Lehrer und Lehrerinnen würden auf diese Weise verfügbar für punktuelle individuelle Hilfeleistungen und Zu-satzerläuterungen, in genauer Abstimmung auf die Bedürfnisse der einzelnen Schüler.

381

Gibt es koordinierte Sätze?

SM-Phase I entspricht i. allg.:

Verbalphase I (Infinitive + Chunks) Kasusphase I (nur Formen im Nominativ)

Ende SM-Phase II entspricht i. allg.:

Verbalphase II (regelmässige Konjugation im Präsens) Kasusphase I (Nur Formen im Nominativ)

SM-Phase III im Erwerb entspricht i. allg.:

Verbalphase III (Beginn der Modalverben und der unregelm. Konj. im Präsens) Kasusphase I (nur Formen im Nominativ); eventuell Beginn von Kasusphase II (beliebig verteilte N-, A- und D-Formen)

Gibt es Distanzstellung?

Gibt es Nebensätze?

Ende SM-Phase III entspricht i. allg.:

Verbalphase IV (Beginn des Perfekts) Kasusphase II (beliebig verteilte N-, A-, D-Formen)

SM-Phase IV im Erwerb entspricht i. allg.:

Verbalphase IV (Perfekt im Erwerb) Kasusphase II (beliebig verteilte N-, A-, D-Formen)

Gibt es Inversionen?

Ende SM-Phase IV entspricht i. allg.:

Verbalphase IV (Perfekt im Erwerb) Kasusphase II (beliebig verteilte N-, A-, D-Formen)

SM-Phase V im Erwerb entspricht i. allg.:

Verbalphase IV (Perfekt im Erwerb), eventuell Verbalphase V (Präteritum) Kasusphase II (beliebig verteilte N-, A-, D-Formen), eventuell Kasusphase III (N-formen und beliebig verteilte A- und D-Formen)

Mitte/Ende SM-Phase V entspricht i. allg.:

Verbalphase V (Präteritum) Kasusphase III (N-formen und beliebig verteilte A- und D-Formen)

Nein Ja

Nein Ja

Nein Ja

Nein Ja

+/-* +/-OK

+/-* +/-OK

+/-* +/-OK

+/-* +/-OK

SM-Phase II im Erwerb entspricht i. allg.:

Verbalphase II (Beginn der regelm. Konjug. im Präsens) Kasusphase I (nur Formen im Nominativ)

Die Einstufung von Schülerarbeiten nach der Erwerbssequenzen-Tabelle geht am einfachsten und schnellsten vor sich, wenn zuerst nach dem Erwerbsstand bei den Satzmodellen gefragt wird. Dieser erste Befund muss dann ergänzt und präzisiert bzw. korrigiert werden durch die Befunde in den entsprechenden Phasen im Verbalbereich und bei den Kasus.

Abkürzungen: SM: Satzmodell +/- OK: 75-95% der Formen und Strukturen sind zielsprachenkonform +/- *: 75-95% der Formen und Strukturen sind abweichend

Ermittlung von Erwerbsständen: Gebrauchsanweisung

382

(4) Die Anforderungen an die grammatische Kompetenz von Fremdspra-chenschülern sollten dem entsprechen, was sie unter gesteuerten Erwerbsbe-dingungen realistischerweise zu leisten vermögen. Wir halten es für sinnlos, Leistungsniveaus als Norm zu setzen, die nur eine begabte Minderheit errei-chen kann. Die Folge ist zwangsläufig Entmutigung, Motivationsverlust und im Endeffekt Kapitulation.

Dem könnte beispielsweise durch folgende Massnahmen vorgebeugt wer-den: − ein Überdenken der Grammatikstoffe, die sinnvollerweise Gegenstand von

Regelinstruktion sein können. Nicht nur unsere Untersuchung hat erwiesen, dass der Erwerb komplexer und ambiger Formen durch explizite Er-läuterungen nicht erleichtert oder beschleunigt wird; Grammatikinstruktion sollte also auf „einfache“ Regeln beschränkt bleiben;

− eine Entzerrung des Grammatikstoffes. Das schulische Grammatikpro-gramm um jeden Preis „durchziehen“ zu wollen, ohne Rücksicht auf die Verarbeitungskapazität der Schüler, ist kontraproduktiv. Erweist sich die Progression als zu steil, so ist es sicher sinnvoller, sich mit weniger zu be-gnügen und dieses Wenigere zu konsolidieren und für den Sprachgebrauch auch wirklich verfügbar zu machen;

− eine realistischere Evaluierung. Evaluiert werden sollte nur, was innerhalb oder unterhalb der Erwerbsphasen liegt, die gerade bearbeitet werden. Es scheint uns sinnlos, Schülerleistungen negativ zu beurteilen wegen Fehl-leistungen, die sie nach erwerbsmässigem Ermessen gar nicht vermeiden können. Es wäre ohnehin angemessener, Schülerleistungen nach Er-werbsphasen, nicht nach Fehlern zu beurteilen.

(5) Es sollte ein neues Verständnis für die Funktion von Fehlern im Sprach-erwerbsprozess entwickelt werden. Fehler sind Indizien für den jeweiligen Erwerbsstand der Schüler, für die Phasen, in denen sie sich befinden, und für die Prozeduren, auf die sie rekurrieren. Fehlerlose Texte sind eben nicht au-tomatisch ein Indiz für Sprachbeherrschung; sie können das Ergebnis einer geschickten Kombination von Vermeidungsstrategien, Chunks und morpho-logischen Homonymien sein. Das Fehlertabu der Schule ist für den Zweitsprachenerwerb verhängnisvoll; es könnte einer der Gründe sein, wes-halb so viele Schüler in Genf vor der deutschen Grammatik kapitulieren.22 _______________

22 Wir befinden uns hier völlig im Einklang mit dem Plädoyer von Peter Sieber und

Horst Sitta, die für die Evaluierung der muttersprachlichen Fähigkeiten fordern, von der „Defizit-Orientierung“ abzugehen und sich stattdessen eine „Entwicklungsperspektive“ zu eigen zu machen, „die versucht, nicht nur Defizite und Mängel in den Blick zu nehmen, sondern auch mögliche Qualitäten – oder einfach neue Lösungsversuche für neue Problemstellungen.“ (Sieber/Sitta 1994: 38)

383

7.4.3 Umsetzungsvorhaben in Genf Die Ergebnisse des DiGS-Projektes werden in Genf nicht toter Buchstabe bleiben; dafür sorgen die am Projekt beteiligten Deutschlehrerinnen und -lehrer. Die schulpolitischen Konstellationen sind in Genf für eine solche Umsetzung relativ günstig, denn die während der Projektzeit angelaufene Neuregelung der Schweizer Maturität sowie die Einführung neuer Lehrwerke an der Primarschule und am Cycle d’orientation schaffen ein gewisses Be-dürfnis nach Orientierungshilfe und seitens der Lehrerschaft die Bereitschaft, sich auf neue Ansätze einzulassen. Die Umsetzung der Projektergebnisse in die Unterrichtspraxis findet auf drei Ebenen statt: 1. Information: Die Deutschlehrerschaft aller Schulstufen wurde auf Vor-trägen und Informationstagen über das DiGS-Projekt, seine Ergebnisse und seine sprachdidaktischen Implikationen unterrichtet. Zudem redigierte das DiGS-Lehrerteam eine ausführliche Broschüre über das Projekt einschliess-lich spezieller Empfehlungen für jede Schulstufe; diese Broschüre wurde der Genfer Erziehungsdirektion sowie allen Genfer Deutschlehrerinnen und -lehrern zugestellt.23 2. Fortb i ldungsseminare: Hier wird in kleineren Arbeitsgruppen an Schülertexten gezeigt und geübt, wie der jeweilige Erwerbsstand identifiziert werden kann. Als Material steht der Lehrerschaft ausser der Erwerbssequen-zen-Tabelle eine Broschüre mit „Gebrauchsanweisungen“ für den Umgang mit der Tabelle zur Verfügung, ausserdem der „Entscheidungsbaum“, der die Ermittlungsprozedur wesentlich verkürzt. Zugleich dienen diese Seminare einem Erfahrungsaustausch bezüglich der „binnendifferenzierenden Pädago-gik“ und ihrem Einsatz im Sinne der DiGS-Ergebnisse. Verschiedene Unter-richtsexperimente sind bereits angelaufen und weitere geplant; es ist daran gedacht, Dossiers mit verschiedenen Modulen zu den einzelnen Grammatik-bereichen anzulegen. 3. Lehrpläne, Unterr ichtsmater ial ien: Bei Neuformulierungen von Lernzielen und Lehrplänen für den Deutschunterricht werden die DiGS-Er-gebnisse berücksichtigt. Als Massstab für Anforderungen zu Klassenbeginn oder -ende wird derjenige Erwerbsstand angesetzt, den nach den DiGS-Ana-lysen eine Mehrheit der Schüler zu diesem Zeitpunkt effektiv erreicht hat

_______________

23 Interessenten können diese „Recommandations“ beziehen bei: Département de l’Instruction Publique du Canton de Genève, Direction générale de l’enseignement secondaire, Case postale 425, 1211 Genève. Kontaktperson: Mme Chantal An-denmatten Gerber.

384

(siehe Kapitel 7.3, S. 369). Zudem wurde die Grammatikprogression der in Genf verwendeten Lehrwerke überprüft; wo sie den natürlichen Erwerbspha-sen zuwiderläuft, wurden den Lehrerinnen und Lehrern entsprechende Um-stellungen empfohlen.

Freilich hängt der Erfolg aller dieser Umsetzungsbemühungen davon ab, inwieweit sich die Lehrerschaft auf diese neue Sichtweise des Zweitsprachen-erwerbs einzulassen bereit ist. Dass sich ein solcher Perspektivenwechsel lohnt, haben die fünf Autorinnen dieses Buches in ihrer eigenen Unterrichts-praxis erfahren, das DiGS-Lehrerteam ebenso. Die Einstellung gegenüber den Schülern ändert sich, wenn die interimssprachlichen Produkte nicht mehr als Fehlleistungen gesehen werden, als Zeichen der Unfähigkeit oder mangelnder Kooperationsbereitschaft – oder vielleicht sogar als Beweis der eigenen didaktischen Unfähigkeit –, sondern als notwendige Umwege, die auf-schlussreiche Einblicke in das individuelle Erwerbsverhalten gewähren. Wir meinen mit Ligthbown:

Teachers who are aware of second-language acquisition findings may be more willing to expect adults and adolescents to be able to discover the underlying pat-terns of language without experiencing them in discrete item-by-item presentati-ons. [...] this may remove some of the anxiety associated with the fact that certain things which have been „covered“ by teacher or text have not been acquired. Tea-chers with knowledge of second-language acquisition research will not expect – of themselves or their students – that they can accomplish the task of language acqui-sition through repeated practice of correct forms. [...] They can expect that certain learners [...] will not noticeably alter their language behavior during a period of in-struction. They can accept this – without blaming their own poor teaching or the student’s laziness or lack of intelligence! (1984: 182f.)

Andererseits wissen es die Schülerinnen und Schüler zu schätzen, wenn ihre Bemühungen um die Grammatik gesehen und ernstgenommen werden; sie können unserer Erfahrung nach für ein aktives Arbeiten an ihrem Deutsch-erwerb durchaus gewonnen werden, vorausgesetzt, man lässt sie in ihren ei-genständigen Erkundungszügen gewähren und blockiert sie nicht durch ein undifferenziertes Fehlerverbot.

Die Autorinnen dieses Buches wagen zu hoffen, dass das DiGS-Projekt auf lange Sicht mithelfen kann, die Auseinandersetzung mit der deutschen Grammatik im Fremdsprachenunterricht zu entdramatisieren, für die Lehren-den wie für die Lernenden. Sollte es gelingen, ein breites Lehrerpublikum für die oben skizzierten Vorstellungen und Anregungen zu gewinnen, dann be-steht wohl die Aussicht, dass der Grammatikunterricht nicht mehr „für der Katz“ ist.

Anhang

386

Tabellen zu Fragen III 1, 2 − Frage III, 1 Si tu penses à tes premières leçons d’allemand – les aimais-tu

ou non? − Frage III, 2 Et maintenant qu’est-ce que l’allemand pour-toi? P 4

N1 = 41 P 5 N = 38

P 6 N = 58

CO 7 N = 55

CO 8 N = 53

C0 9 N = 77

Antworten Frage III, 1

oui 38 27 39 35 26 47

non 0 8 16 18 22 24

Antworten Frage III, 2

enrichissement 14 13 24 16 18 34

plaisir 37 17 14 14 5 15

exercice intellectuel 24 11 21 7 17 28

nécessité 4 18 29 25 27 45

corvée 1 6 13 20 20 21

autre 6 1 6 7 8 9

Tab. 59: Resultate aus den Klassen der obligatorischen Schulzeit Antworten

ECG 10 N = 34

ECG 11 N = 30

ESC 10 N = 30

ESC 11 N = 23

ESC 12 N = 22

C 10 N = 37

C 11 N = 20

C 12 N = 21

Frage III, 1

oui 15 11 28 10 15 21 10 13

non 17 14 10 13 6 12 8 7

Antworten Frage III, 2

enrichissement 13 14 22 8 15 30 15 16

plaisir 7 4 2 2 4 7 2 1

exercice intellectuel

3 7 12 6 3 12 5 6

nécessité 20 17 27 17 16 10 15 12

corvée 6 10 8 4 5 4 1 3

autre 6 4 2 14 4 10 Tab. 60: Resultate aus den Klassen der nachobligatorischen Schulzeit

_______________

1 N: Anzahl der Testpersonen

387 P

N = 137 CO N = 185

ECG N = 64

ESC N = 85

C N = 78

Antworten Frage III, 1 oui 104 108 26 53 44 non 24 64 31 29 27 Antworten Frage III, 2 enrichissement 51 68 27 45 61 plaisir 65 34 11 8 10 exercice intellectuel 56 52 10 21 23 nécessité 51 107 37 60 37 corvée 20 63 16 17 8 autre 13 24 10 2 28 Tab. 61: Zusammenfassung nach Schultyp Tabellen zu Fragen III 3, 4 − Frage III, 3 Si tu pouvais éliminer l’allemand du programme, tu le ferais? − Frage III, 4 Pour toi, l’allemand est... P 4

N = 41 P 5 N = 38

P 6 N = 58

CO 7 N = 55

CO 8 N = 53

CO 9 N = 77

Antworten Frage III, 3

oui 4 13 25 23 26 35

non 37 25 32 22 26 38

Antworten Frage III, 4

langue difficile 6 20 47 32 40 52

belle langue 26 5 8 6 2 7

langue utile 36 25 39 32 29 46

moyen de communication

21 26 39 29 29 46

accès à une culture 7 12 16 19 12 17

autre 1 3 3

Tab. 62: Resultate aus den Klassen der obligatorischen Schulzeit

388 ECG 10

N = 34 ECG 11 N = 30

ESC 10 N = 30

ESC 11 N = 23

ESC 12 N = 22

C 10 N = 37

C 11 N = 20

C 12 N = 21

Antworten Frage III, 3

oui 12 7 13 14 7 2 3 5 non 21 22 26 8 13 33 14 11 Antworten Frage III, 4

langue difficile

20 24 30 19 20 20 14 16

belle langue 4 2 6 0 4 9 3 2 langue utile 20 17 18 8 12 26 16 8 moyen de communi-cation

17 16 20 15 14 21 15 13

accès à une culture

10 10 11 10 10 9 8 10

autre 2 3 6 1 1 Tab. 63: Resultate aus den Klassen der nachobligatorischen Schulzeit P

N = 137 CO N = 185

ECG N = 64

ESC N = 85

C N = 78

Antworten Frage III, 3 oui 42 84 19 34 10 non 94 97 43 47 58 Antworten Frage III, 4 langue difficile 73 124 44 69 50 belle langue 39 15 6 10 14 langue utile 100 107 37 38 50 moyen de communi-cation

86 104 33 49 49

accès à une culture 35 48 20 31 27 autre 0 7 5 0 8

Tab. 64: Zusammenfassung nach Schultyp

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