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DIPLOMARBEIT Titel der Diplomarbeit Hans Christian Andersens Märchen als Vorbild für Oscar Wilde eine vergleichende Analyse Verfasserin Kathrin Schauer Angestrebter akademischer Grad Magistra der Philosophie (Mag.phil.) Wien, 2013 Studienkennzahl lt. Studienblatt: A 394 Studienrichtung lt. Studienblatt: Skandinavistik Betreuer: emer. o. Univ.-Prof. Dr. Sven Hakon Rossel

DIPLOMARBEIT - univie.ac.atothes.univie.ac.at/26689/1/2013-03-04_0305867.pdf · In England war Andersen bereits eine Berühmtheit. Mary Howitt bildete in ihrem Journal, Howitt‘s

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DIPLOMARBEIT

Titel der Diplomarbeit

Hans Christian Andersens Märchen als Vorbild für Oscar

Wilde – eine vergleichende Analyse

Verfasserin

Kathrin Schauer

Angestrebter akademischer Grad

Magistra der Philosophie (Mag.phil.)

Wien, 2013

Studienkennzahl lt. Studienblatt: A 394

Studienrichtung lt. Studienblatt: Skandinavistik

Betreuer: emer. o. Univ.-Prof. Dr. Sven Hakon Rossel

Für meine Familie und Freunde,

die nie die Geduld mit mir verlieren

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 1

2. Kurze Biografien und Werkübersichten 2

2.1. H.C. Andersen (1805-1875) in England 2

2.2. Oscar Wilde (1854-1900) als Märchenautor 5

2.2.1. Kurzbiographie 5

2.2.2. Oscar Wilde und seine Märchen 7

2.2.3. Die Märchen und die Kritik 8

2.2.4. Die Märchen und die Forschung 10

3. Andersen als Vorbild für Wilde – Motivanalyse 12

3.1.1. Gegensatz Natur – Kultur 12

3.1.1.1.Wahre Kunst versus Künstlichkeit 12

3.1.1.2.Natur versus Kultur 17

3.1.1.3.Sein und Schein 18

3.1.1.4.Naturidylle versus künstliche Welt 21

3.1.1.5.Künstlichkeit im literarischen Stil 25

3.1.2. Bedingungslose, unerfüllte und enttäuschte Liebe 26

3.1.3. Christliche Motive 29

3.1.3.1.Schuld und Sühne 29

3.1.3.1.1. Hochmut und Demut 29

3.1.3.1.2. Andere Hauptsünden 36

3.1.3.1.3. Verstoß gegen die Gebote 37

3.1.3.2. Die Seele 38

3.1.3.3. Opfermotiv 43

3.1.3.4. Das Gebet 45

3.1.3.5. Unschuld 46

3.1.3.6. Die höhere Erkenntnis – Die Liebe Gottes 47

3.1.3.7. Glaube oder Wissenschaft 48

3.1.4. Schönheit 49

3.1.5. Spiegelmotiv 51

3.1.6. Blumenmotiv 53

3.1.6.1. Erkenntnis und göttliche Vergebung 53

3.1.6.2. Der sprechende Blumengarten 54

3.1.6.3. Der paradiesische Garten 55

3.1.7. Armut und Reichtum 56

3.1.8. Ins Gegenteil verkehrt 59

3.1.8.1.Entgegengesetzte Figuren und Motive 59

3.1.8.1.1. Die Meerjungfrauen und die Poesie 59

3.1.8.1.2. Die Unterwasserwelten 60

3.1.8.1.3. Die Thematik des Außenseiters 61

3.1.8.2.Umkehrung eines Märchens 62

3.1.9. Charaktereigenschaften 64

3.1.10. Das Exotische – Verführung und Zuflucht 71

3.1.11. Motive aus der Volkstradition 72

3.1.11.1. Interaktion Mensch, Tier, Gegenstand 72

3.1.11.2. Bösewicht 72

3.1.11.3. Gegensätze und Extreme 73

3.1.11.4. Wanderschaft 74

3.1.11.5. Happy End? 75

3.1.12. Vergänglichkeit, Tod und Unsterblichkeit 76

3.1.13. Das Fazit des Künstlers 77

4. Konklusion 79

5. Bibliographie 85

6. Abstract 90

Sammenfatning på dansk 90

Deutsche Zusammenfassung 96

English Summary 98

Svensk Sammanfattning 100

Curriculum Vitae

1

1. Einleitung

Hans Christian Andersen (1805-75) und Oscar Wilde (1854-1900) sind die bedeutendsten

Autoren ihrer Zeit, deren Werke auf der ganzen Welt bekannt waren und auch heute noch

aus keinem Bücherregal mehr wegzudenken sind. Auch wenn beide Autoren auf den

ersten Blick wenig miteinander verbindet, so hatten sie doch eines gemeinsam: Sie beide

schrieben Märchen und fühlten sich in diesem Genre sichtlich zu hause.

Diese Diplomarbeit soll sich mit den Parallelen in den Märchen des irischen Autors Oscar

Wilde und den Märchen des Dänen Hans Christian Andersens beschäftigen. Es gibt zwar

Analysen der Märchen beider Autoren, die sich aber vor allem auf biographische

Einflüsse beziehen. Bisher wurde jedoch den Gemeinsamkeiten, die die Märchen beider

Autoren verbindet und der Frage, welchen Einfluss Andersen auf Wilde hatte, in der

Forschung kaum Beachtung geschenkt.

Nach einer kurzen Einführung über die Verbreitung von Andersens Märchen im

viktorianischen England und Wildes Schaffen als Märchenautor, werden im Hauptteil

dieser Diplomarbeit einige Märchen Andersens den Märchen Wildes gegenübergestellt,

um gemeinsame Motive herauszuarbeiten, die sowohl Andresens als auch Wildes Werke

durchziehen und charakteristisch prägen. Neben den Märchen beider Autoren werden

auch Prosagedichte, Erzählungen Wildes sowie der Roman The Picture of Dorian Gray

(1891) berücksichtigt. Auf zeitgenössische Kritiken über Wildes Kunstmärchen wird

ebenfalls Bezug genommen. Neben Motiven, die bereits Wildes Kritiker Andersen

zuordnen konnten, lassen sich ganze Themenkomplexe, wie den Kampf zwischen Natur

und Künstlichkeit oder die Frage nach der unsterblichen Seele, nachweisen und man

findet sogar für Andersens Märchen typische Charaktermerkmale, wie den Liebenden, der

erst in der enttäuschten Liebe seine Erfüllung findet. Je weiter man Wildes Märchen

analysiert, umso größere Gemeinsamkeiten mit Andersen lassen sich finden.

2

2. Kurze Biografien und Werkübersichten

2.1. Hans Christian Andersen und Großbritannien

Die Werke des dänischen Dichters Hans Christian Andersens (1805-75) hatten großen

Erfolg im viktorianischen England. Er selbst stattete dem Land sogar zwei Besuche ab, in

den Jahren 1847 und 1857. Besonders seine Märchen fanden bei der Kritik großen

Anklang und inspirierten andere Dichter wie z.B. Oscar Wilde.

Im Jahr 1845 wurden englische Übersetzungen von Andersens Romanen Improvisatoren

(1835; The Improvisatore), Kun en Spillemand (1837; Only a Fiddler) und O.T. (1836)

veröffentlicht. 1846 folgte das Reisebuch En Digters Bazaar (A Poets Bazar). Dank des

großen Erfolges seiner Werke in England plante Andersen nach England und Schottland

zu reisen. Die Reise nach Schottland unternahm er, um die Heimat seines Lieblingsautors

Walter Scott kennen zu lernen. Noch im Jahr 1846 erschienen auch die ersten Märchen

auf Englisch, Andersen´s Wonderful Stories for Children. Es kamen insgesamt fünf

Ausgaben von drei verschiedenen Übersetzern auf den Markt.1 Bereits 1847 erschienen

vier weitere Ausgaben. Andersens erste Übersetzerin Mary Howitt schrieb ihm im Juli

1845, sein Name würde in England geehrt und tasächlich fand Andersens Arbeit in der

englischen Presse großen Anklang. Besonderes Lob bekam er vom Herausgeber der

Literary Gazette, William Jerden, der Andersen einlud, England einen Besuch abzustatten

und Andersens Pläne für eine Englandreise begannen Gestalt anzunehmen. Im Winter

1846/47 nahm er Englischunterricht, um zumindest elementare Grundkenntnisse der

Sprache zu erlernen.2 Im Juni 1847 trat er schließlich seine Reise an, bei der er auch den

Schriftsteller Charles Dickens kennenlernen sollte.

In England war Andersen bereits eine Berühmtheit. Mary Howitt bildete in ihrem Journal,

Howitt‘s Journal, Andersens Porträt auf der ersten Seite ab und schrieb selbst einen

Artikel dazu, „Memoir of Hans Christian Andersen“, in dem sie Andersen als einen der

bedeutendsten und interessantesten Männer seiner Zeit preist. Das Verhältnis des Autors

und seiner Übersetzerin war zu Beginn des Aufenthalts noch entspannt und Mary Howitt

zu diesem Zeitpunkt äußerst angetan von Andersen. Doch dies sollte sich bald ändern.

1 Siehe in: Elias Bredsdorff. Hans Christian Andersen: The Story of his Life and Work 1805-75. London:

Souvenir Press, 1993, 184-218. 2 Elias Bredsdorff. Hans Christian Andersen: The Story of his Life and Work 1805-75. London: Souvenir

Press, 1993, 185.

3

Mary Howitt hatte eine sehr starke Persönlichkeit. Sie war willensstark und

besitzergreifend und pochte auf ihr Monopol für Übersetzungen von Andersens Arbeit.

Mary Howitt selbst war Kinderbuchautorin. Sie übersetzte Andersens Märchen aus dem

Deutschen, auch wenn sie selbst auf der Titelseite angab, sie würde diese aus dem

Dänischen übersetzen.3 Ihre Übersetzung lässt sehr zu wünschen übrig. Sie zwingt

Andersens Texten ihren eigenen Stil auf, verkürzt einige Märchen und zensuriert nach

ihrer persönlichen Meinung anstößige Stellen. Teilweise passieren ihr auch

Übersetzungsfehler, was vermutlich auch mit Verwechslungen ähnlich aussehender

Worte im Dänischen und Deutschen zu tun hatte.4 Der eigentliche Bruch zwischen

Andersen und Mary Howitt geschah aber aus anderen Gründen. Ein Besuch Andersens im

August 1847 beim Ehepaar Howitt endete in einer Katastrophe. Es war heiß und

Andersen wurde mit ihm völlig unbekannten Personen konfrontiert, deren Konversation

er nicht folgen konnte. Mary Howitt jedoch gab seiner übersensiblen und egoistischen

Persönlichkeit die Schuld an diesem Fiasko. Doch der endgültige Todesstoß für das

Verhältnis zwischen beiden sollte noch folgen. Noch während Andersens Aufenthalt in

England kam die Übersetzung seiner Autobiografie, The true Story of my Life5 heraus,

natürlich eine Arbeit Mary Howitts. Ohne die Erlaubnis Andersens einzuholen, widmete

sie das Buch im Vorwort der schwedischen Opernsängerin und Andersens unglücklicher

Liebe, Jenny Lind. Außerdem erwähnte sie, er hätte ein persönliches Interesse an der

Veröffentlichung dieser englischen Version. Zusätzlich gäbe es Vereinbarungen,

insbesondere finanzieller Natur, für die Zusammenarbeit an zukünftigen Werken

Andersens. Diese Behauptungen brachten Andersen dazu einen anderen Übersetzer und

Herausgeber, Richard Bentley, mit der Arbeit zu autorisieren. Mary Howitts Stolz war

verletzt und sie ließ Andersen ihre Rache spüren, indem sie ihn in ihren weiteren Werken

verunglimpfte.

Zurück in Dänemark schrieb Andersen fünf neue Märchen, die zuerst in Englisch

veröffentlicht wurden. Diese Sammlung, mit insgesamt sieben Märchen erschien im

November 1847 unter dem Titel A Christmas Greeting to my English Friends. Gewidmet

war dieser Band Charles Dickens, den Andersen während seines Englandaufenthaltes

3 H.C. Andersen. Wonderful Stories for Children. London and Edinburgh: W. & R. Chambers, 1897.

Translated from the Danish by Mary Howitt. Und: Jaqueline Banerjee: Hans Christian Andersen and his

Victorian Translators. http://www.victorianweb.org/genre/childlit/fairytales2.html (Zugriff: 1. März 2012) 4Jaqueline Banerjee: Hans Christian Andersen and his Victorian Translators.

http://www.victorianweb.org/genre/childlit/fairytales2.html (Zugriff: 1. März 2012) 5 Elias Bredsdorff. Hans Christian Andersen: The Story of his Life and Work 1805-75. London: Souvenir

Press, 1993, 184-218.

4

1847 traf. Seither verband die beiden eine enge Freundschaft. Der Band enthielt die

Märchen: „The Story of a Mother“ (Historien om en Moder), „The Happy Family“ (Den

lykkelige Familie), „The Drop of Water“ (Vanddraaben), „The old House“ (Det gamle

Huus), „The Old Streetlamp“ (Den gamle Gadeløgte) und „The False Collar“ (Flipperne),

„The Shadow“ (Skyggen). „The Shadow“ und „The Old Streetlamp“ sind bereits früher

erschienen.6 Herausgegeben wurden die Märchen von Richard Bentley und übersetzt von

Charles Beckwith Lohmeyer.

Im September 1848 vollendete Andersen den Roman De to Baronesser. Auch dieser

erschien bemerkenswerterweise bereits zwei Monate vor der dänischen Ausgabe auf

Englisch unter dem Titel The Two Baronesses.

Im Februar 1853 veröffentlichte Richard Bentley eine Sammlung von dreißig neuen

Märchen Andersens mit dem Titel A Poet’s Day Dreams. Auch dieser Band war wieder

Dickens gewidmet. Einige Übersetzungen waren von der eher unbekannten und kaum

angesehenen Kinderbuchautorin Anne S. Bushby. Über Bushbys Arbeit in diesem

Zusammenhang sind jedoch kaum Informationen überliefert. Einzig ist nachzulesen, dass

ihre Übersetzung sogar von Dickens kritisiert wurde.7 Die übersetzten Märchen sind:

”The History of the Year” (Aarets Historie), ”The World's Most Beautiful Rose”

(Verdens deiligste Rose), ”Sketch from the Ramparts of a Castle” (Et Billede fra

Castelsvolden), ”The Last Day” (Paa den Yderste Dag), ”It is very True” (Det er ganske

vist!), ”The Swans's Nest” (Svanereden), ”Good Humeur” (Et godt Humeur), ”There is a

Difference” (Der er Forskjel), ”A Good-for-Nothing” (Hun duede ikke), ”A Leaf from

Heaven” (Et Blad fra Himlen), ”Grief of Heart” (Hjertesorg), ”Everything in its right

Place” (Alt paa sin rette Plads), ”The Nis at the Cheesemonger's” (Nissen hos

Spekhøkeren), ”The Flax” (Hørren), ”The Old Tombstone” (Den gamle Gravsteen), ”The

Five Peas” (Fem fra en Ærtebælg), ”The Old Maid” (Fra et Vindue i Vartou), "A

Thousand Years Hence” (Om Aartusinder), ”The Last Pearl” (Den sidste Perle) und

”Under the Willow-Tree” (Under Piletræet). ”A Leaf from Heaven” und ”The Last Pearl”

waren Erstveröffentlichungen. Auf Dänisch erschienen diese beiden Märchen erst später.

”Et Blad fra Himlen” kam im April 1855 heraus und „Den sidste Perle” zuvor im

November 1853.

6 Zuerst erschienen im April 1847 in: Nye Eventyr. Andet Bind. Første Samling, 1847.

7 Vgl. Elias Bredsdorff. Hans Christian Andersen: The Story of his Life and Work 1805-75. London:

Souvenir Press ,1993, 184-218.

5

Im Mai 1853 wurde Andersens Roman At være eller ikke være gleichzeitig in Dänemark

und in England veröffentlicht, auf Englisch unter dem Titel To Be, or Not to Be? Ab Juni

1857 verbrachte Andersen fünf Wochen bei Charles Dickens. An diesem Aufenthalt sollte

aber die Freundschaft der beiden zerbrechen. Der wesentliche Grund war die Länge des

Aufenthaltes und Andersens launisches Verhalten. Diese Laune wurde von der schlechten

Kritik von To Be or Not to Be? getrübt, denn der Roman wurde von der Kritik zerrissen.

Nachdem Andersen nach Dänemark zurückgekehrt war, brach Dickens den Kontakt

endgültig ab.

Danach erschienen immer wieder Ausgaben von Andersens Werken in England. Eine

weitere Übersetzerin war Caroline Peachey. Sie versucht Andersens Stil an die

viktorianische Weltanschauung und Standards für Kinderbücher anzupassen und

moralische und religiöse Ansichten überwiegen. Peacheys Stil ist ”wordy and awkward”.8

Sie zensuriert Andersen, um seine Märchen den Bedürfnissen victorianischer Kinder

anzupassen. Die Übersetzung kommt einer Bearbeitung der Märchen gleich und ist

schwerfällig zu lesen. Jedoch wurden Peacheys Übersetzungen bis in die 1970er Jahre

genutzt, so erschien Danish Fairy Legends and Tales im Jahr 1907.

Es ist wahrscheinlich, dass Oscar Wilde Zugang zu den Übersetzungen von Mary Howitt

und Anne S. Bushby hatte.

2.2. Oscar Wilde als Märchenautor

2.2.1. Kurzbiografie

Oscar Wilde (1854-1900) wurde am 16. Oktober 1854 in Dublin geboren. Das

Schriftstellertum wurde ihm praktisch in die Wiege gelegt. Sein Vater war Arzt, schrieb

aber Bücher über Archäologie und Folklore während seine Mutter als Übersetzerin

arbeitete und Lyrik verfasste. Wilde studierte klassische Literatur am Trinity College in

Dublin und später in Oxford und unternahm 1875 eine Studienreise nach Italien. Im

November 1878 brachte das Gedicht „Ravenna“ Oscar Wilde die erste literarische

Anerkennung.

8 Jaqueline Banerjee: Hans Christian Andersen and his Victorian Translators.

http://www.victorianweb.org/genre/childlit/fairytales2.html (Zugriff: 1. März 2012)

6

Nach Beendigung seines Studium zog Wilde 1879 nach London, wo er sich bis 1881 mit

einem anderen Künstler eine Wohnung teilte. 1882 hielt Oscar Wilde einige Vorlesungen

in den Vereinigten Staaten und Kanada. 1884 heiratete Wilde Constance Lloyd und 1885

wurden der Sohn Cyril und im darauffolgenden Jahr der Sohn Vyvyan geboren. In den

Jahren von 1887 bis 1889 arbeitete Wilde für die Pall Mall Gazette und danach als

Herausgeber der Zeitschrift Woman’s World. In dieser Zeit erschienen auch die Erzählung

The Canterville Ghost (1887), seine erste Märchensammlung The Happy Prince and

other Tales (1888) und die Kriminalgeschichten und Erzählungen in Lord Arthur

Saville’s Crime and Other Stories (1891). Die Jahre von 1891 bis 1895 zählen zu den

produktivsten in Wildes Schaffen. Er veröffentlichte den Roman The Picture of Dorian

Gray und auch seine Gesellschaftskomödien, darunter The Duchess of Padua (1891 in

New York) und Lady Windermere’s Fan (1892 in London) wurden aufgeführt. Das Stück

Salomé fiel allerdings wegen seines biblischen Inhalts der Zensur zum Opfer und fand

keinen Verleger in England, wurde aber 1893 in Paris uraufgeführt und erschien

schließlich 1894 in englischer Übersetzung.

Doch dann wurde Oscar Wildes Privatleben ihm zum Verhängnis. Seine Homosexualität

war ein offenes Geheimnis. Sein langjähriges Verhältnis zu Lord Alfred Douglas endete

in einem Skandal, als dessen Vater Wilde offen provozierte. Wilde strengte eine

Verleumdungsklage an, die in zwei Strafprozessen gegen ihn selbst endete. Er wurde am

25. Mai 1895 zu zwei Jahren Zuchthaus mit schwerer körperlicher Zwangsarbeit

verurteilt. Die Zeit in Haft ruinierte Wildes Gesundheit. Seine Frau Constance verstarb

kurz bevor Wilde aus der Haft entlassen wurde. Sie hatte mit den Kindern das Land

verlassen und ihren Namen in Holland geändert, aber nie die Scheidung eingereicht. Aus

der Haft entlassen und gesellschaftlich geächtet floh Wilde 1897 nach Paris. Die letzten

drei Lebensjahre verbrachte er in völliger Armut und Isolation unter dem Namen

Sebastian Melmoth. Am 30. November 1900 starb Oscar Wilde in Paris. Er wurde am 3.

Dezember in Paris beigesetzt.

7

2.2.2. Oscar Wilde und seine Märchen

Allgemein ist Oscar Wilde vor allem als Dramatiker, Dichter und Autor des Romans The

Picture of Dorian Gray bekannt. Sein Werk ist jedoch von weit größerer Vielseitigkeit

geprägt. Desweiteren war er Essayist, Rezensent, Herausgeber einer Frauenzeitschrift und

verfasste einige Kunstmärchen. Dieses Genre war im viktorianischen England eine relativ

neue Gattung und hatte in der englischen Tradition kaum Beachtung gefunden. Bekannt

waren vor allem ausländische Autoren, wie z.B. Hans Christian Andersen. Wilde fühlte

sich vom Kunstmärchen herangezogen, da diese Gattung für ihn die perfekte

Angriffsfläche für Kritik an der Gesellschaft bot. Ferner tragen wie auch bei Andersen

einige Figuren und Geschichten autobiographische Züge, wie z.B. in den Märchen „The

Remarkable Rocket“ und „The Devoted Friend“.

1888 erschien Wildes erste Märchensammlung mit dem Titel The Happy Prince and

other Tales. Darin enthalten waren die Märchen „The Happy Prince“, „The Nightingale

and the Rose“, „The Selfish Giant“, „The Devoted Friend“ und „The Remarkable

Rocket“. Alle Märchen wurden hier zum ersten Mal veröffentlicht. Ebenfalls im selben

Jahr erschien ein weiteres Märchen, „The Young King“. Im Jahr 1889 veröffentlichte

Wilde das Märchen „The Birthday of the little Princess“ zeitgleich in englischer und

französischer Sprache und nahm es 1891 zusammen mit unter dem Titel „The Birthday

oft he Infanta“ in die Sammlung A House of Pomegranates auf.

1891 folgte die zweite Märchensammlung, A House of Pomegranates, die „The Young

King“, „The Birthday oft he Infanta“, „The Fisherman and his Soul“ und „The Star

Child“ enthielt. Die beiden letztgenannten Märchen wurden in dieser Sammlung zum

ersten Mal veröffentlicht. A House of Pomagranates erschien in einer limitierten Auflage

von nur 250 Exemplaren. Illustriert wurden sie von namenhaften Künstlern jener Zeit,

nämlich Walter Crane, Jacomb Hood, Charles Ricketts und C.H. Shannon.9

9 Norbert Kohl. Oscar Wilde - Leben und Werk. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel, 2000, 76.

8

2.2.3. Die Märchen und die Kritik

The Happy Prince and Other Tales fand bei der Kritik großen Anklang. Wilde wurde

erstmals als ernsthafter Schriftsteller anerkannt.10 Im Mai 1888 schrieb Walter Pater:

I am confined to my room, but have been consoling myself with The Happy

Prince, and felt it would be ungrateful not to send a line to tell you how delightful

I have found him and his companions. I hardly know whether to admire more the

wise wit of ‚The Wonderful [Remarkable] Rocket‘, or the beauty and tenderness

of ‚The Selfish Giant‘: the latter certainly is perfect in ist kind.11

Einige Rezensenten verglichen Wilde mit Andersen: „Though with a distinct character of

their own, they are nor unworthy to compare with Hans Andersen, and it is not easy to

give higher praise than this.“12 Doch auch ein anderer Tenor war in den Rezensionen zu

vernehmen. Es wurde darauf hingewiesen, dass Wildes Märchen im Gegensatz zu

Andersens bittere Satiren wären, was es natürlich für Kinder ungeeignet mache, da diese

das nicht verstehen würden:

No child will sympathize at all with Mr. Wildes Happy Prince when he is melted

down by order oft he Mayor and Corporation in obedience to the dictum oft he art

professor at the University that, since ‚he is no longer beautiful, he is no longer

useful.‘ Children do not care for satire, and the dominant spirit of these stories is

satire – a bitter satire differing widely from that of Hans Andersen, whom Mr.

Wilde’s literary manner so constantly recalls us to.13

Wildes Stil und insbesondere sein Humor gefielen. Die Illustrationen wurden ebenfalls

positiv bewertet: „The illustrations are charming.“14

A House of Pomegranates wurde von der Kritik negativ rezensiert. Die Illustatoren C. H.

Shannon und Charles Ricketts hätten hier keine gute Arbeit geleistet. Der

Granatapfelbaum erinnere eher an einen Pfau. Die Einzelheiten wären kaum zu

erkennen.15 Während die Märchen aus The Happy Prince and Other Tales bei der Kritik

10

Barbara Belford: Oscar Wilde. A Certain Genius. New York: Random House, 2000, 265. 11

Karl Beckson ed. Oscar Wilde: The Critical Heritage. London: Routledge, 1998, 59f. 12

Karl Beckson ed. Oscar Wilde: The Critical Heritage. London: Routledge, 1998, 60. 13

Karl Beckson ed. Oscar Wilde: The Critical Heritage. London: Routledge, 1998, 61. 14

Karl Beckson ed. Oscar Wilde: The Critical Heritage. London: Routledge, 1998, 60. 15

Vgl. Karl Beckson ed. Oscar Wilde: The Critical Heritage. London: Routledge, 1998, 114f.

9

weitestgehend großen Anklang fanden, nahm sie die einzelnen Märchen aus A House of

Pomagranates mit gespaltener Meinung auf. Einige Märchen gefielen, die anderen nicht.

Liebte man bei The Happy Prince and Other Tales noch Wildes Stil, so wurde dieser nun

kritisiert. A House of Pomegranates wurde ebenfalls wieder mit Andersens Märchen

verglichen, doch die Weiterentwicklung von Wildes Märchenstil fand hingegen weniger

Anklang: „The stories are somewhat after the manner of Hans Andersen – and have pretty

poetic and imeginative flights like his; but then again they wander off too often into

something between a ‚Sinburnian‘ ecstasy and the catalogue of a high art furniture

dealer.“16 Nach der Meinung eines Kritikers wäre der Pathos in „The Birthday oft he

Infanta“ meisterhaft.17 Andernorts wird bemängelt, dass Wildes Art diese Geschichte zu

erzählen passend bzw. „quite the right way“ sei. Einig ist sich die Kritik hingegen bei

„The Fisherman and his Soul“. Seine weitreichende Thematik und die hervorragenden

Beschreibungen finden großen Anklang: „ ‚The Fisherman and his Soul‘, is much longer,

as long, indeed, as any two oft hem, and to our fancy a good deal better.“18 Einigkeit im

negativen Sinne herrscht bei dem ersten und dem letzten Märchen der Sammlung, so

beschäftigten „The Young King“ und „The Star-Child“ sich zu sehr mit moralischen

Themen. Wildes „Antwort“ auf diese Art der Kritik lässt sich aber schon in einem viel

früheren Märchen finden, nämlich in „The Devoted Friend“, als die Wasserratte

folgendermaßen reagierte: „Do you mean to say that the story has a moral? […] I think

you should have told me that before you began. If you had done so, I certainly would not

have listened to you; in fact I should have said ‚Pooh,‘ like the critic.“19 Das Märchen

schließt folgendermaßen: „‚I am rather afraid that I have annoyed him,‘ answered the

Linnet. ‚The fact is, that I told him a story with a moral.‘ – ‚Ah that is always a very

dangerous thing to do,‘ said the Duck. And I quite agree with her.“20

16

Karl Beckson ed. Oscar Wilde: The Critical Heritage. London: Routledge, 1998, 113. 17

Karl Beckson ed. Oscar Wilde: The Critical Heritage. London: Routledge, 1998, 114. 18

Vgl.Karl Beckson ed. Oscar Wilde: The Critical Heritage. London: Routledge, 1998, 114-115. 19

Oscar Wilde. The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin Popular Classics. London, 1994, 55. 20

Oscar Wilde. The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin Popular Classics. London, 1994, 55.

10

2.2.4. Die Märchen in der Forschung

In der Forschung gibt es viele Theorien zur Frage darüber, warum Wilde überhaupt

begann Märchen zu verfassen. Am häufigsten wird seine veränderte Lebens-

beziehungsweise Familiensituation genannt. Schließlich war Oscar Wilde zweifacher

Vater geworden und der jüngere Sohn Vyvyan beschreibt, dass der Vater ihnen viele

Geschichten erzählte, unter anderen The Happy Prince.21 Märchen wurden meist und

werden auch noch heute als Kinderliteratur abgetan. Für einige trifft das sicher auch zu,

doch Wildes Märchen richten sich nicht nur an Kinder. Bereits die Brüder Grimm

veröffentlichten Kinder- und Hausmärchen (1812-15), was bereits aussagt, dass sie an die

gesamte Familie gerichtet sind. Auch wenn Andersen anfangs seine Märchen noch mit

dem Untertitel fortalte for børn versah, richteten sich die meisten seiner Texte an

Erwachsene.

Wie für viele dieser Märchen gilt auch für die von Wilde, dass einige für Kinder

ungeeignet sind. Wilde selbst erwähnte auch in einem Brief, dass seine Geschichten

geschrieben wären für kindliche Personen von achtzehn bis achtzig.22 Bereits einige von

Wildes Rezensenten stellten fest, dass nicht alle Märchen für Kinder geschrieben wären

und sie nur schwer Sympathie für einige empfinden könnten, geschweige denn sich mit

ihnen identifizieren. Andere wiederum meinten die Illusionen der kleineren Kinder

würden nicht zerstört und das Schicksal der Figuren würde sie nicht beunruhigen, aber

ältere Kinder könnten sie genießen und von ihnen profitieren.23 Bei A House of

Pomegranates wurde die Diskussion um die Eignung von Wildes Märchen für Kinder

aufs Neue entfacht: „Is A House of Pomegranates intended for a child’s book? We

confess that we do not exactly know. The ultra-aestheticism oft he pictures seems

unsuitable for children – as also the rather ‚fleshly‘ style of Mr. Wilde’s writing.“24 Die

Märchen wären zu poetisch, künstlerisch, viel zu lang aber vor allem zu moralisch

geraten. Als Antwort auf eine dieser Rezensionen erschien schließlich noch eine Art

Gegendarstellung, die dieser Diskussion um die Eignung für Kinder ein Ende setzen

sollte: „Mr. Oscar Wilde has been good enough to explain, since the publication of his

book that it was intended neither fort he ‚British Child‘ nor for the ‚British Public‘, but

21

In: Barbara Belford. Oscar Wilde. A Certain Genius. New York: Random House, 2000, 264. 22

In: Norbert Kohl. Oscar Wilde - Leben und Werk. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel, 2000, 76. 23

Vgl. Karl Beckson ed. Oscar Wilde: The Critical Heritage. London: Routledge, 1998, 60. 24

Karl Beckson ed. Oscar Wilde: The Critical Heritage. London: Routledge, 1998, 113.

11

fort he cultured few who can appriciate its subtle charms.“25 Andernorts wurde

festgestellt: „But all of Mr. Wilde‘s stories, whether intended for children or not, have a

deep meaning which ‚he who runs may read.‘“26

Neben der Frage der Eignung von Wildes Märchen für Kinder ist in der Forschung ein

weiteres Thema umstritten, nämlich die scheinbar deutlichen stilistischen und

thematischen Unterschiede zwischen Wildes beiden Märchenbänden. Es gibt die Tendenz

die beiden Bände in eine Früh- und Spätphase zu unterteilen. The Happy Prince and

Other Tales wäre dabei die Phase, in der Oscar Wilde während der Produktion noch

glücklich gewesen wäre. A House of Pomegranates würde hingegen schon auf sein

Privatleben und die anschließenden Probleme hindeuten. Da aber zwischen den beiden

Bänden nur drei Jahre liegen und zwei der Märchen aus A House of Pomegranates,

nämlich „The Young King“ und „The Birthday of the Infanta“, bereits früher

veröffentlicht wurden, scheint die Erklärung unwahrscheinlich. Oscar Wilde hat sich

natürlich weiterentwickelt und die Wahl der Themen verlagerte sich.27 Auch die

Unterteilung in „glückliche und unglückliche“ Phase ist nicht sehr plausibel. Die Märchen

in The Happy Prince and Other Tales enden genauso wenig mit einem Happy End wie

die in A House of Pomegranates. Auch thematisch zieht sich ein roterer Faden durch

beide Märchensammlungen: das Thema der Selbstfindung, mag sie nun geglückt sein

oder nicht.

Womit man sich in der Forschung bisher kaum beschäftigt hat, ist etwas, das in

zahlreichen Rezensionen von Wildes Märchen angedeutet wurde, mit Hinweisen auf

Hans Christian Andersens Märchen: in wie fern sich Wilde eindeutig von ihm inspirieren

ließ. Zwar gibt es kleinere Artikel die einzelnen Märchen Wildes einen Einfluss

Andersens zugestehen, aber eine Gesamtanalyse gibt es nicht. Das Ergebnis der

folgenden Analyse ergibt eindeutig, dass sich in beinahe jedem Märchen eine Spur von

Andersen verfolgen lässt. Die nachfolgenden Kapitel werden diesen Ähnlichkeiten oder

Übereinstimmungen auf den Grund gehen.

25

Karl Beckson ed. Oscar Wilde: The Critical Heritage. London: Routledge, 1998, 117. 26

Karl Beckson ed. Oscar Wilde: The Critical Heritage. London: Routledge, 1998, 114. 27

Vgl. Regina Gentz. Das erzählerische Werk Oscar Wildes. Literarische Studien. Band 3. Frankfurt am

Main: Peter Lang – Europäischer Verlag der Wissenschaften, 1995, 45f.

12

3. Andersen als Vorbild für Wilde – Motivanalyse

Wilde ließ sich vor allem in seinen Märchen von Andersen inspirieren. Er schöpft aus

einem breiten Repertoire an Figuren und Motiven, von denen er einige ausgewählte in

seine Märchen und gelegentlich auch in andere Erzählungen und Prosagedichte

aufnimmt. Insbesondere in „The Happy Prince“ finden sich bereits an der Oberfläche

zahlreiche Hinweise auf Andersen. „Den lille Pige med Svovlstikkerne“ (1848, Das

kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern) findet einen Platz in diesem Märchen. Die

Beschreibung der Mutter und ihres kranken Kindes erinnern unweigerlich an „Historien

om en moder“ (1848, Die Geschichte einer Mutter). Doch besonders das Ende zeigt

Parallelen zu Andersen. Das Herz des Prinzen schmilzt nicht im Feuer, wie das von

Andersens „Den standhaftige Tinsoldat“ (1838, Der standhafte Zinnsoldat).

Auf den ersten Blick findet man somit bei Wilde etliche Hinweise auf Andersen, doch je

gründlicher man seine Texte analysiert, umso mehr Parallelen lassen sich finden, wie die

nachfolgenden Kapitel zeigen.

3.1. Gegensatz Natur - Kultur

Andersen stellt in einigen seiner Märchen Natur und Kultur gegenüber. In ihren

unterschiedlichen Gestalten symbolisiert die Natur die wahre, echte Kunst, die sich gegen

die artifizielle in der Gesellschaft meist anerkanntere Kunst durchsetzen muss, ein

Thema, das auch Wilde zu faszinieren schien. Bei ihm spiegelt die Natur nicht nur die

Kunst an sich wider, sondern auch die wahre Schönheit und die echten Werte, die durch

die Gesellschaft und ihre Konventionen zerstört zu werden drohen.

3.1.1. Wahre Kunst versus Künstlichkeit

Die Nachtigall als Symbol in der Dichtkunst weist eine lange Geschichte auf.28 Bereits in

der Antike erwähnen Homer, Sophokles oder auch Ovid die Nachtigall. Das (Klage-)

Lied der Nachtigall bleibt über die Jahrhunderte bei zahlreichen Autoren, wie z.B.

28

T.A. Shippey. Listening to the Nightingale. In: Comparative Literature (Duke University Press) XXII (1),

1970, 46–60.

13

Chrétien de Troyes, Walther von der Vogelweide, Geoffrey Chaucer und William

Shakespeare lebendig. Die Nachtigall als Symbol für Dichter und ihre Dichtkunst ist

ebenfalls bereits in der Antike zu finden, wo Vergil in der Georgica den wehklagenden

Orpheus mit der Nachtigall vergleicht. Jedoch entwickelt sich die Symbolik mit der

Romantik noch weiter. Die Nachtigall und ihr spontaner, kreativer und wunderschöner

Gesang symbolisieren nicht nur den Dichter, sondern auch eine höhere Kunst, die den

Menschen als Muse inspirieren oder sogar heilen kann. Andersen vereint in seinem

Märchen „Nattergalen“ (1844, Die Nachtigall) diese Eigenschaften in seiner Titelgestalt.

Auch Wildes Nachtigall im Märchen „The Nightingale and the Rose“ (1888) ist als

Symbol für die Dichtkunst zu deuten.

In Verbindung mit der Rose ist die Nachtigall auch ein Symbol der Liebe, eine Thematik,

die besonders in der persischen Volkstradition weit verbreitet ist.29 Die Nachtigall erfüllt

dabei nicht nur die Rolle des Dichters, sondern auch die der liebenden Person. Die Rose

ist Synonym für Perfektion und Schönheit, sie repräsentiert den Geliebten, sie ist schön,

stolz und sehr oft grausam, denn jede Rose besitzt Dornen, während die Nachtigall

unaufhörlich von ihrer Sehnsucht, Hingabe und Sehnsucht singt.30 Doch auch Andersen

und Wilde nutzen Nachtigall und Rose als Symbol für die Liebe. Der Prinz in Andersens

Märchen „Svinedrengen“ (1842, Der Schweinehirt) wirbt mit Nachtigall und Rose um das

Herz der Prinzessin. In „The Nightingale and the Rose“ will Wildes Professorentochter

nur mit dem Studenten tanzen, wenn dieser ihr eine rote Rose bringt, die die Nachtigall

jedoch erst unter traurigen Umständen erschaffen muss.

Andersen stellt in seinem Märchen „Die Nachtigall“ das Wesen der Kunst zur

Diskussion.31 Die echte Nachtigall symbolisiert nicht nur die Kunst an sich, auch

Andersens Dichtung, sondern auch die Lebenskraft selbst, als sie den sterbenden Kaiser

von China wieder ins Leben zurückruft. Nur Wenige schätzen die wahre Kunst. So kennt

zu Beginn von Andersens Märchen nur das kleine Küchenmädchen die Nachtigall und

ihren schönen Gesang. Der Kaiser und seine Gelehrten erfahren erst auf Umwegen von

ihr. Der Kaiser lässt nach der Nachtigall, dem prunklosen, kleinen, grauen Vogel suchen,

der bei Hofe für ihn singen soll. Der seelenvolle Gesang der Nachtigall vermag den

29

Layla S. Diba:

http://web.archive.org/web/20080122005248/http:/www.iranica.com/articles/v11f1/v11f1034.html (Zugriff:

5. Mai 2012). 30

Vgl. Layla S. Diba:

http://web.archive.org/web/20080122005248/http:/www.iranica.com/articles/v11f1/v11f1034.html (Zugriff:

5. Mai 2012). 31

Sven Hakon Rossel: Hans Christian Andersen und seine Märchen heute. Wien: Picus, 1995, 12.

14

Kaiser zu Tränen zu rühren. Im Gegensatz dazu steht eine mechanische Nachtigall. Sie

symbolisiert die Oberflächlichkeit, das Gekünstelte. Zwar ist sie schön anzusehen mit

ihrem mit Diamanten, Rubinen und Saphiren besetzten Federkleid in ihrem goldenen

Käfig. Einmal aufgezogen, ahmt sie die echte Nachtigall nach und vermag nur ein

einziges Lied zu singen. Diese seelenlose Routine und rasselnde Mechanik vermag jedoch

nichts Eigenständiges von sich zu geben. Ihr Gesang ist vorhersagbar. Dieses

Vorhersagbare liebt auch der König in Wildes Märchen „The Remarkable Rocket“, als er

der Prinzessin beschreibt, was ein Feuerwerk ist: „'They are like the Aurora Borealis,'

[…]only much more natural. I prefer them to stars myself, as you always know when they

are going to appear, and they are as delightful as my own flute-playing.‘“32

Am Hof von Andersens chinesischem Kaiser lässt man sich von der Vorhersagbarkeit

blenden. Der Glanz und die immer gleiche Musik der künstlichen Nachtigall lassen die

echte Nachtigall, den wahren Künstler, verblassen. Ihre spontane, ungekünstelte Musik

ohne Bindung an starre Regeln und Konventionen wird, außer beim einfachen Volk, nicht

mehr geschätzt und bleibt unverstanden. Dieses Schicksal teilt auch Wildes Nachtigall im

Märchen „The Nightingale and the Rose“. Nur eine Rose, erschaffen aus dem Lied der

Nachtigall in Verbindung mit ihrem Herzblut, kann dem Studenten die Liebe der Tochter

des Professors sichern. Einzig der Eichbaum versteht Lied und Leid der Nachtigall. Der

Student jedoch, für dessen Glück und Liebe die Nachtigall singt, hört zu „but he could not

understand what the Nightingale was saying to him, for he only knew the things that are

written down in books.“33 Der Student spricht der Nachtiall aber keineswegs

künstlerisches Talent ab, im Gegenteil, er setzt sie sogar mit den Künstlern gleich:

„She has form,“ he said to himself, as he walked away through the grove – „that

cannot be denied to her; but has she got feeling? I am afraid not. In fact, she is like

most artists; she is all style, without any sincerity. She would not sacrifice herself

for others. She thinks merely of music, and everybody knows that the arts are

selfish. Still, it must be admitted that she has some beautiful notes in her voice.

What a pity it is that they do not mean anything, or do any practical good.“34

32

Oscar Wilde.The Remarkable Rocket. The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 59. 33

Oscar Wilde. The Nightingale and the Rose. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 27. 34

Oscar Wilde. The Nightingale and the Rose. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 28.

15

Der Student beschreibt die Nachtigall als weltfremden Künstler mit der Begabung Töne

wie Formeln aneinanderzureihen, ohne Sinn für echte Gefühle, so wie er sie versteht.

Zweifelsfrei hat der Student, der gebildete Analytiker, nicht die höchste Meinung von der

Nachtigall oder Künstlern und ihrer Kunst an sich, die nichts ernst nehmen, keinerlei

Bedeutung haben und niemandem nützen. Ohne ausführliche Nachschlagewerke bleibt

dem Studenten jegliche Bedeutung verborgen. Der Student wäre sicherlich dankbar über

eine der zahlreichen Abhandlungen über Form und Stil der künstlichen Nachtigall, die die

Gelehrten am Hof des chinesischen Kaisers aus Andersens Märchen verfassten, auch

wenn diese ihm keine Hilfe wären. Andersen und Wilde üben Kritik an ihrer Umgebung.

Andersen fühlte sich selbst nicht in Dänemark, insbesondere den höheren Kreisen der

Gesellschaft anerkannt. Anerkennung fand er zu Beginn seiner Karriere meist nur im

Ausland. Es ist also kein Zufall, dass nur das einfache Volk, dem er selbst entstammt, die

echte Nachtigall, also seine Kunst würdigen kann. Wilde geht in seiner Kritik sogar noch

weiter. Seine Nachtigall, die eindeutig ihn und seine Kunst repräsentiert, wird von

niemandem verstanden, nur dem Eichbaum, einem weiteren Natursymbol. Im

Umkehrschluss ließe dies die Interpretation zu, dass nur ein Künstler einen anderen

Künstler verstehen kann. Diese sind sehr selten und keiner seiner Kritiker, die

sogenannten Gelehrten, zählt zu ihnen. Es darf also bezweifelt werden, dass der Student

aber auch die Gelehrten wissen, wovon sie sprechen.

In Andersens Märchen „Der Schweinehirt“ möchte der Prinz die Prinzessin mit zwei

besonderen Dingen zu erobern: einer seltenen Rose und einer Nachtigall.

Paa Prindsens Faders Grav voxte der et Rosentræ, o saadant et deiligt Rosentræ;

det bar kun hvert femte Aar Blomst, og det kun een eneste, men det var en Rose,

der duftede saa sødt, at man ved at lugte til den glemte alle sine Sorger og

Bekymringer, og saa havde han en Nattergal, der kunde synge, som om alle

deilige Melodier sad i dens lille Strube. Den Rose og den Nattergal skulde

Prindsessen have; og derfor kom de begge to i store Sølv-Foderaler og bleve saa

sendte til hende.35

35

H. C. Andersen: Svinedrengen. 1842. http://www.hcandersen-homepage.dk/?page_id=1802 (Zugriff: 7.

Juni 2012). (Übersetzung: Auf dem Grabe des Vaters des Prinzen wuchs ein Rosenstock, ein wahrhaft

herrlicher Rosenstock! Nur alle fünf Jahre blühte er und trieb dann auch nur die einzige Rose; aber diese

duftete auch so herrlich, dass man bei ihrem Geruche alle seine Sorgen und Bekümmernisse vergaß. Auch

hatte er eine Nachtigall, die zu singen verszand, als ob alle lieblichen Melodien in ihrer kleinen Kehle

wohnten. Diese Rose und diese Nachtigall sollte die Prinzessin bekommen. Deshalb wurden sie beide in

große silberne Behälter gesetzt und dann der Prinzessin übersandt. aus: H.C. Andersen: Märchen. Stuttgart:

Reclam, 2006, 262).

16

Die Tochter des Professors aus Oscar Wildes „The Nightingale and the Rose“ verspricht

dem Studenten einen Tanz im Gegenzug für eine rote Rose, die sich aber nirgendwo

finden lässt, da ausgerechnet der Rosenstock mit den roten Rosen keine einzige Blüte

trägt. Das Werben des Studenten droht zu scheitern, wäre da nicht die an die wahre Liebe

glaubende Nachtigall. Sie muss die Rose aus Mondlicht erschaffen und mit ihrem eigenen

Herzblut färben: „And the marvellous rose became crimson, like the rose oft he eastern

sky. Crimson was the girdle of petals, and crimson as a ruby was the heart.“36 Jede der

beiden Rosen ist also auf ihre Art einzigartig und besonders und beide haben sie einen

gemeinsamen Fehler: sie sind natürlich und echt. Als die Prinzessin und die Hofleute in

„Der Schweinehirt“ die Rose aus ihrem silbernen Behälter nehmen, bezeichnen sie diese

noch als niedlich und wunderschön. „Men Prindsessen følte paa den og saa var hun

færdig at græde. "Fy Papa!" sagde hun, "den er ikke kunstig, den er virkelig!" "Fy!"

sagde alle Hoffolkene, "den er virkelig!"“37 Die natürliche Nachtigall, die an eine

Spieldose erinnert: „"Hvor den Fugl minder mig om salig Keiserindens Spilledaase,"

sagde en gammel Cavaleer; "ak ja! det er ganske den samme Tone, det samme

Foredrag!"“,38 erfährt ähnliche Reaktionen. Die Prinzessin verschmäht beide Geschenke.

Als Schweinehirt verkleidet tritt der Prinz nun in den Dienst des Königs. Er fertigt einen

kleinen Topf, der die Melodie „Ach du lieber Augustin, Alles ist weg, weg, weg!“ spielt

und dessen Dampf nach den Speisen der ganzen Stadt riecht. Danach fertigt er eine

Ratsche und „naar man svingede den rundt, klang alle de Valse og Hopsaer, man kjendte

fra Verdens Skabelse.“39 Empfand die Prinzessin für die natürliche Rose und Nachtigall

nur Ekel, so würde sie für die künstlich gefertigten Gegenstände alles tun, sogar sich

prostituieren: für den Topf schenkt die Prinzessin dem Schweinehirten zehn und für die

Ratsche sogar einhundert Küsse. Der Student in „The Nightingale and the Rose“ trifft es

mit der Tochter des Professors nicht besser. Als er mit der roten Rose, die aus viel Leid

36

The Nightingale and the Rose. In: Oscar Wilde: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 29. 37

H.C. Andersen. Svinedrengen: http://www.hcandersen-homepage.dk/?page_id=1802 (Zugriff: 7. Juni

2012).(Übersetzung: „Aber die Prinzessin befühlte sie und wäre fast in Tränen ausgebrochen. „Pfui, Papa!“

rief sie aus, „es ist keine künstliche Rose, sondern eine natürliche!“ „Pfui!“ stimmten alle Hofleute ein, „es

ist eine natürliche!““ aus: H.C. Andersen: Märchen. Stuttgart: Reclam, 2006, 262). 38

H.C. Andersen. Svinedrengen. http://www.hcandersen-homepage.dk/?page_id=1802 (Zugriff: 7. Juni

2012) (Übersetzung: „Wie mich dieser Vogel an die Spieldose der hochseeligen Kaiserin erinnert!“

versetzte ein alter Kavalier. „Ach ja, es ist genau der selbe Ton, der selbe Vortrag!“ aus: H.C. Andersen:

Märchen. Stuttgart: Reclam, 2006,263.) 39

H.C. Andersen. Svinedrengen. http://www.hcandersen-homepage.dk/?page_id=1802 (Zugriff: 7. Juni

2012) (Ubersetzung: „[…] wenn man diese drehte, so erklangen alle Walzer, Hopser und Polkas, die man

seit der Schöpfung der Welt kannte.“ aus: H.C. Andersen: Märchen. Reclam, 2006, 265).

17

erschaffen wurde, den versprochenen Tanz einfordern möchte, weist ihn seine

Auserwählte zurück. Die Rose passe schließlich nicht zu ihrem Kleid und „the

Chamberlain’s nephew has sent me some real jewels, and everybody knows that jewels

cost more than flowers.“40 Außerdem hat der Student nicht einmal Schuhe mit

Silberschnallen und ist somit unter ihrer Würde. Die Rose, die ein Leben gekostet hat,

landet auf der Straße und wird von einem Wagenrad kaputt gefahren. Der Student denkt

nicht mehr an Nachtigall und Rose und widmet sich wieder seinen alltäglichen Studien.

Während die Prinzessin in „Der Schweinehirt“ für ihre Ignoranz die gerechte Strafe

bekommt, sie wird vom Vater und vom Prinzen verstoßen, nimmt Wildes Märchen ein

tragisches Ende. Die wahre Kunst, die Nachtigall, stirbt als Märtyrer und ihr Opfer für die

wahre ewig andauernde Liebe, wird nicht in Ehren gehalten, sondern wird verschmäht

und landet in der Gosse. Im Gegensatz zu Andersen, wo die wahre Kunst am Ende noch

zu Ehren kommt, hat sie nach Wildes pessimistischer Sicht keinen Platz mehr in der Welt,

da es niemanden gibt, der sie zu schätzen weiß und ihren Verlust beklagt.

3.1.2. Natur versus Kultur

Bei Andersen findet man die Kunst beziehungsweise Dichtung nicht nur repräsentiert

durch Symbole, sondern auch in personalisierter Form, die Poesie als leibhaftige Frau im

Märchen „Skyggen“ (1847, Der Schatten). Die Poesie lebt im Haus gegenüber dem

Gelehrten. Er müsste nur hinübergehen, um Inspiration für alle Zeit zu finden. Der

Gelehrte findet nicht den Mut ihr persönlich gegenübertreten. Er schickt seinen Schatten,

der sich dann von ihm löst. Der Gelehrte selbst schreibt vom Wahren, Schönen und Guten

und hat doch keine Ahnung davon, hat er doch den Kontakt mit der wahren Kunst und

allem Wissen verweigert. Er degeneriert und geht am Ende zu Grunde. Der Schatten

hingegen bleibt drei Wochen bei der Poesie, wenn auch nur im Vorzimmer. Dieser

Kontakt gibt ihm Stärke und das Wissen in der Welt ohne den Gelehrten zu überleben,

ihn sogar zu überstrahlen. Die Poesie ist eine Vertreterin der Natur in ihrer höchsten

Form. Sie umfasst alles, das Gute und Böse, das Schöne und Hässliche und natürlich

Wahrheit und Lüge. Der Schatten nimmt nur die negativen Seiten für sich an.

Folgerichtig hätte der Gelehrte, wenn er die Poesie aufgesucht hätte, nicht nur über das

40

The Nightingale and the Rose. In: Oscar Wilde: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 31.

18

Wahre, Schöne und Gute schreiben müssen, er hätte es erlebt und wahrscheinlich sogar

verstanden. In Wildes Märchen „The Fisherman and his Soul“ (1891) lernt der Fischer

durch die Meerjungfrau das Schöne kennen. Die Meerjungfrau verkörpert im Gegensatz

zur Poesie nur das Positive, die Unschuld. Sie hat keinen Kontakt zur dunklen Seite des

Lebens. Im Gegensatz zum Gelehrten, der sich von der Natur, der Poesie, abwendet,

taucht der Fischer in die Welt der Natur ein und entscheidet sich für ein Leben mit der

Meerjungfrau, auch wenn er sich dafür von seiner Seele trennen muss. Der Schatten hat

Kontakt mit der Natur, nutzt dies aber nur um in sich in der Gesellschaft einen Platz zu

sichern. Der Seele des Fischers fehlt jeder Kontakt zur Natur, was ihn nicht nur grausam

macht, vergleichbar mit dem Schatten, sondern trotz allem auch lebensunfähig, wie der

Gelehrte. Der Schatten braucht den Gelehrten nicht um zu überleben, die Seele aber sehr

wohl den Fischer und umgekehrt.

Wilde schien fasziniert von Andersens Märchen „Der Schatten“, das großen Einfluss auf

sein Märchen „The Fisherman and his Soul“ hatte. Eine genauere Analyse erfolgt in

Kapitel 3.3.2.

3.1.3. Schein und Sein

Andersen und Wilde thematisieren in einzelnen Märchen in den Unterschied zwischen

Glück und Vergnügen. Dabei wird Glück immer mit Natur assoziiert, während künstliche

Gegenstände und Räume mit Vergnügen in Verbindung gebracht werden.

Im Märchen „Keiserens nye Klæder“ (1837, Des Kaisers neue Kleider) thematisiert

Andersen den Gegensatz von Schein und Sein. Zu Beginn introduziert Andersen einen

Kaiser, der ohne jedes Bewusstsein für Verantwortung herrscht, sich im Gegenteil sogar

von seinen Kleidern beherrschen lässt. Darüber hinaus zeigt er keinerlei Interesse an

seinem Volk, noch hat er eine eigene Meinung. Er verlässt sich auf Fremde, die ihn

belügen und täuschen. Der Kaiser lebt in seiner kleinen künstlichen Welt, von Reichtum

und dem schönen Schein seiner Kleider und der Falschheit seiner Höflinge geblendet. Er

hat keinen Sinn für wahre Werte, da das Echte und Natürliche in seiner Umgebung fehlt.

Auch die neuen Kleider, die über Befähigung oder Unfähigkeit der Höflinge und des

Kaisers für ihr Amt entscheiden sollen, kratzen kaum am äußeren Schein. Zwar ist

niemand fähig diese Kleider zu sehen, es gibt sie ja nicht, aber zugeben will es niemand.

19

Ein jeder wahrt den Schein und baut die Lüge weiter aus. Auch als der Kaiser, wie Gott

ihn schuf, vor sein Volk tritt, enttarnt niemand die Wahrheit. Auch das Volk erhält den

Schein. Erst kindliche Unschuld, ein kleines Kind, enttarnt diesen Missstand. Am Ende

siegen doch Ursprünglichkeit, natürliche Unverdorbenheit und Spontanität, genau das

was bei Andersen die Natur und die wahre Kunst ausmachen. Der Kaiser lässt sich,

obwohl sichtlich in seiner Weltanschauung erschüttert, nach außen hin nicht davon

beeindrucken. Er ist so in seiner künstlichen Scheinwelt gefangen, dass er sich weiter

dem Schein hingibt und verbissen seine Prozession weiterführt. Dabei verliert er den Rest

an Würde und Respekt.

Ähnlich wie Andersens Kaiser sind auch einige Protagonisten bei Wilde in einer

Scheinwelt gefangen. Im Leben verbringt „ The Happy Prince“ (1888) sein Leben fern ab

jeder Realität in seinem Palast. Umgeben von Künstlichkeit, Prunk und hohen Mauern

kennt er kein Leid, nur Vergnügen aber auch kein wahres Glück. Im Leben wird der

glückliche Prinz nie mit etwas anderem Konfrontiert als der künstlichen Scheinwelt, die

um ihn geschaffen wurde. Nach seinem Tod thront er als Statue über der Stadt und sieht

nun Armut und Leid. Doch anders als Andersens Kaiser erkennt der glückliche Prinz die

Missstände und wendet sich nicht ab. Er gibt all seinen Prunk, die Verzierung aus Gold

und Edelsteinen, um anderen zu helfen. Der glückliche Prinz lässt seine Scheinwelt

zurück und erfährt dadurch wahres Glück. Dies bleibt der Masse jedoch verborgen.

Niemand erfährt, dass er den äußeren Reichtum geopfert hat, um inneren zu erlangen. Die

Würdenträger der Stadt lassen die Statue des glücklichen Prinzen niederreißen und

einschmelzen, um einen von sich in voller Größe über der Stadt thronend sehen zu

können. Der glückliche Prinz hat seine Scheinwelt verlassen, dies hatte aber keinerlei

Auswirkung auf die Würdenträger, die weiter in ihrer starren, künstlichen Scheinrealität

verweilen. Aber anders als Andersens Kaiser werden sie nicht einmal auf ihren Missstand

hingewiesen.

In „The Young King“ (1888) behandelt Wilde eine ähnliche Thematik. Der junge König

ist in einer Scheinwelt gefangen, aus der auszubrechen große Opfer erfordert. Zu Beginn

wird der junge König wie Andersens Nachtigall im gleichnamigen Märchen aus seiner

natürlichen Umgebung, dem Wald gerissen und in einen Palast, der wie Wilde es

bezeichnet „The Triumph of Beauty“41 ist, gebracht, um die Erbschaft seines Vaters, des

Königs, anzutreten. Der junge König lässt sich in seiner neuen Welt von dem künstlichem

41

The Young King: In: Wilde, Oscar. The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 82.

20

Glanz blenden. Anders als der glückliche Prinz tauscht der junge König wahres Glück

gegen Vergnügen, Natur gegen Kultur.

And it seems that from the very first moment of his recognition he had shown

signs oft hat strange passion for beauty that was destined to have so great an

influence over his life. Those who accompanied himto the suite of rooms set apart

for his service, often spoke oft he cry of pleasure that broke from his lips when he

saw the delicate raiment and rich jewels that had been prepared for him, and oft he

almost fierce joy with which he flung aside his rough leathern tunic and coarse

sheepskin cloak.42

Die Faszination des jungen Königs für Prunk und Künstlichkeit kommt fast einer

Götzenverehrung gleich. Zwar wird ihm im selben Absatz zuerkannt, dass er seine alte

Naturheimat vermisst, besonders wenn ihn die höfischen Verpflichtungen einholen, aber

die „Joyeuse […] seemed to him to be a new world fresh-fashioned for his delight.“43

Ähnlich wie für Andersens Kaiser wird für Wildes jungen König die Kleiderfrage

lebensbestimmend. Sein Krönungsgewand bekommt oberste Priorität: „[…] the robe of

tissued gold, and the ruby-studded crown, and the sceptre with its rows and rings of

pearls“.44

Doch im Gegensatz zu Andersens Kaiser ist der junge König noch nicht

festgefahren in seiner künstlichen Welt. Er kennt auch eine andere Realität. Rettung ist

demnach nicht ausgeschlossen. Die Läuterung des jungen Königs wird eingeleitet durch

unterschiedliche Träume, die ihm das schwere Schicksal derer, die das Material für sein

Krönungsgewand beschaffen und es fertigen. Ihm begegnen Grausamkeit, Habgier und

Tod, die er laut seiner Träume über die Menschen bringt, indem er sich selbst im Spiegel

sieht, als er nach dem Verursacher des Leides fragt. Dem jungen König wird vor Augen

geführt, dass eine Welt aus Vergnügungen, Künstlichkeit und Prunk immer nur seinem

Bewohner dient, den Rest der Welt aber versklavt und ins Unglück stürzt. Die einzig

logische Konsequenz ist also eine Rückkehr zum Ursprung. Der junge König muss aus

dieser Scheinwelt ausbrechen und seine alte Welt des Seins zurückbringen. Er tritt nicht

als prunkvoller König vor sein Volk sondern als Bettler, genauer gesagt in der Kleidung

eines Hirten. Die Vertreter des Hofes und der Bischof verweigern ihm nun, da er die

42

The Young King: In: Wilde, Oscar. The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 79. 43

The Young King: In: Wilde, Oscar. The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 79. 44

The Young King: In: Wilde, Oscar. The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 81.

21

Wahrheit erkannt hat, die Krönung. Man kann es ihnen nicht verübeln, gehören sie doch

seit jeher zum Palast und somit in die künstliche Scheinwelt ohne Kontakt zur

Wirklichkeit. Die Edelleute drängen darauf den jungen König zu erschlagen, also jede

Störung ihrer Weltordnung auszulöschen. Doch eine Macht höher als jede Wirklichkeit,

sei es nun Schein oder Sein, belohnt den jungen König für seine Einsicht. Gott selbst

krönt ihn zum König.

In „The Happy Prince“ und „The Young King“ nimmt das Ende, zumindest für die

Protagonisten, einen positiven Verlauf. Sowohl der glückliche Prinz als auch der junge

König sind in der Lage aus ihrer Scheinwelt auszubrechen und jeder auf seine Art

Erlösung zu erlangen, auch wenn das nicht unbedingt Auswirkungen auf die Umgebung

haben muss. Andersen gesteht seinem Kaiser nicht so viel Glück zu. Er bleibt ein

Gefangener in seiner eigenen Welt. Nicht ganz so positiv sieht Wilde das Schicksal seines

Protagonisten in „The Birthday of the Infanta“ (1891). Die festgefahrene, erstarrte

Scheinwelt des spanischen Palastes ist Gift für den naturverbundenen kleinen Zwerg, der

an der Erkenntnis, dass seine Realität von anderen nicht so wahrgenommen wird wie von

ihm selbst, zerbricht. Die künstliche Prunkwelt bestraft jede Störung mit dem Tod. Wilde

geht sogar so weit Sein- und Scheinwelt zu vertauschen, siehe im folgenden Kapitel.

3.1.4. Naturidylle versus künstliche Welt

Unbehelligt von störenden Einflüssen lebt Andersens Nachtigall im Wald, in ihrer

einfachen, aber auch schönen Welt. Dieses Idyll wird durch die Gesandten des

chinesischen Kaisers gestört, die die echte Nachtigall an den Hof holen. Dort begegnet

die Nachtigall einer künstlichen Welt. Anstatt wie gewohnt von grünen Blättern umgeben

zu sein, schließen sie nun Wände und Fußböden aus Porzellan ein. Die Sonne ersetzt der

Schein vieler goldener Lampen. Das Rauschen der Blätter und das Quaken der Frösche

weichen dem Lärm und dem Klingeln der Blumen, die mit Glöckchen auf sich

aufmerksam machen müssen um gehört zu werden. Zu guter Letzt wird die Nachtigall

anstatt auf einen Baum auf eine goldene Säule gesetzt. Für ihren Gesang bekommt sie

einen goldenen Pantoffel um den Hals. Sie wird endgültig ihrer Freiheit beraubt und in

einen Käfig gesperrt. In dieser künstlichen Welt vermag die Nachtigall aber etwas, das all

dieser Prunk dem Kaiser und seinen Höflingen nicht geben kann. Sie macht glücklich und

spendet Zufriedenheit. Ersetzt durch die künstliche Nachtigall, verlässt die echte

22

Nachtigall den Hof. In seinen prunkvollen Palast, umgeben von Reichtum und

Künstlichkeit, ringt der Kaiser mit dem Tod. Alle Kostbarkeiten helfen dem Kaiser

nichts, nur die echte Nachtigall kann ihn vom Tod erlösen. Der Kaiser erwacht gesund,

aber nicht im Schein goldener Lampen, sondern in den Sonnenstrahlen, die durchs

Fenster scheinen. Die wiedergewonnene Liebe und Verehrung der Nachtigall und somit

der Natur kann das schlimme Schicksal des Todes abwenden. Bei Andersen trägt am

Ende die Natur den Sieg über die Kunst davon.

Wilde sieht den Ausgang des Kampfes Natur gegen Kultur nicht so positiv. Künstlichkeit

steht vor allem für Dekadenz und Degeneration, die unweigerlich zum Niedergang des

Protagonisten führen. Im Märchen „The Birthday of the Infanta“ wird dies deutlich. Der

spanische Königshof ist eine einzige in sich erstarrte, „autotelische Kunstwelt, deren

hochreglementiertes Sozialgefüge durch die Ausklammerung sämtlicher Außenkontakte,

strenges Protokoll und die bedingungslose Einhaltung der hierarchischen Ordnung seitens

der Titelträger aufrechterhalten wird.“45 Zu Beginn beschreibt Wilde den prunkvollen

Palastgarten, ein trügerisches Idyll, in dem die roten Tulpen Soldaten gleich in Reih und

Glied stehen und nichts dem Zufall überlassen ist. Den Kontrast dazu bildet die wild-

romantische Waldheimat des Zwerges, in dem schiefgewachsene Bäume, schattige Auen,

Wildblumen und Gräser von echter Natur zeugen. Während im Wald des Zwerges Leben

herrscht, hängt über dem Palastgarten ein lebensfeindlicher Hauch. Süßer, schwerer

Magnolienduft liegt in der Luft und der König gedenkt seiner kurz nach der Geburt der

Infantin verstorbenen Frau, die „had withered away in the sombre splendour oft he

Spanish court.“46 Verstärkt wird dies noch dadurch, dass die Königin einbalsamiert wurde

und in einem offenen Grab liegt, wo der König regelmäßig um sie trauert. Doch auch die

spielenden Kinder wirken eher wie leblose Statuen, die in ihre Kleidung eingezwängt und

dadurch in ihrer Bewegung äußerst eingeschränkt sind. Jedes der kleinen Kinder selbst ist

für sich ein eigenes Kunstwerk, ohne nur die geringste Natürlichkeit auszustrahlen. Mit

dieser im Prunk erstarrten Welt wird der Zwerg konfrontiert. Neben zahlreichen anderen

Unterhaltungsprogrammen, tritt er als Hauptattraktion vor die Infantin:

45

Regina Gentz. Das erzählerische Werk Oscar Wildes. Literarische Studien. Band 3. Frankfurt am Main:

Peter Lang – Europäischer Verlag der Wissenschaften, 1995, 197. 46

The Birthday of the Infanta. In: Wilde, Oscar. The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 101.

23

But the funniest part of the whole morning’s entertainment, was undoubtedly the

dancing of the little Dwarf. When he stumbled into the arena, waddling on his

crooked legs and wagging his huge misshappen head from side to side.47

Der gesamte Hof ist fasziniert von dem Zwerg, vor allem von seiner einzigartigen

Hässlichkeit, der nur für den Geburtstag der Infantin aus dem Wald geholt wurde, um sie

zu unterhalten. Das Verhalten und der Tanz des Zwerges werden mit dem einer

Marionette gleichgesetzt, auch wenn er nicht so natürlich wirkt, eine Reaktion, die an

Andersen und die Reaktion der Prinzessin auf Nachtigall und Rose in „Der Schweinehirt“

erinnert. Auch Parallelen zu „Die Nachtigall“ sind augenscheinlich.

Am meisten Unterhaltung bietet dem Publikum allerdings, „his complete unconsciousness

of his own grotesque appearance. Indeed he seemed quite happy and full oft he highest

spirits“.48 Er lacht mit den Kindern, als sei er einer von ihnen und keine groteske Laune

der Natur, die von den anderen zu einer unfreiwilligen „Hanswurst“-Gestalt gemacht

wird. In Wahrheit ist er sich dessen nicht bewusst. Im Wald, seiner natürlichen

Umgebung, die Geborgenheit und Glück symbolisiert, war der Zwerg nie mit Ablehnung

konfrontiert. So entwickelte sich ein makelloses Selbstbild ohne jeglichen Selbstzweifel.

Die Interpretation des Zwerges des Verhaltens der Höflinge und insbesondere der

Infantin, als sie ihm die Rose zuwirft, verwundert also nicht. Er fühlt sich als anerkanntes

Mitglied der neuen Umgebung, in der ihm scheinbar auch die Liebe der Infantin zu Eigen

wird. Sie wirft ihm nach dem Tanz eine weiße Rose zu, um ihre Kammerzofe zu ärgern.

Die Infantin verletzt bewusst die höfische Etikette, während der Zwerg sich mit deinem

ungezwungenen Verhalten und seiner vermeintlichen Respektlosigkeit einer Verletzung

der Etikette zu keiner Sekunde bewusst ist. Der Zwerg ist ein naives Naturkind, das aus

seiner natürlichen Umgebung gerissen wurde und in eine völlig fremde, gekünstelte Welt

gestoßen wird. Seine Spontanität und Lebensfreude stehen in völligem Kontrast zum

Verhalten des gesamten spanischen Königshofs. Ein Scheitern des Zwerges scheint

dadurch vorprogrammiert.

Während der Zwerg auf seinen zweiten Auftritt wartet, wird er auf brutale Weise mit der

Wahrheit konfrontiert. Die Blumen weisen ihn auf seine Hässlichkeit hin. Ablehnung und

Ausgrenzung des Zwerges durch den Hof werden in dieser Blumenszene noch deutlicher.

47

The Birthday of the Infanta. In: Wilde, Oscar. The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 109-110. 48

The Birthday of the Infanta. In: Wilde, Oscar. The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 110.

24

Nicht nur, dass die Selbsteinschätzung des Zwerges in Frage gestellt wird, wird auch

seine Fehleinschätzung über das Verhalten der Infantin entlarvt und seine Illusion über

ein gemeinsames Leben mit der Infantin ad absurdum geführt. Vor allem ärgern sich die

Blumen darüber, dass der Zwerg sich seiner Andersartigkeit nicht bewusst ist und seine

Außenseiterrolle nicht ausfüllt. Seine unbekümmerte Art wird als Angriff auf die strenge

Hierarchie des Hofes gewertet und seine Lebensfreude sogar als Bedrohung gedeutet.

Alleine die Anmaßung, dass ein verkrüppelter, minderwertiger Außenseiter in Betracht

zieht, dass die Infantin ihn beachten könnte, wird als Verletzung des sozialen Gefüges

gewertet. Als Außenseiter ist es ihm nicht möglich diese ihm angedachte Rolle

abzulehnen.

Die ganze Wahrheit wird dem Zwerg aber erst in der Spiegelszene bewusst, als er mit

seinem eigenen Aussehen konfrontiert wird. Auf der Suche nach der Infantin betritt der

Zwerg den Palast und kommt in einen prunkvoll ausgestatteten Raum. Dort sieht er sich

in einem Spiegel zum ersten Mal selbst. Es dauert eine Weile bis ihm die Wahrheit

bewusst wird, denn erst als die Gestalt ihm gegenüber dieselbe weiße Rose, das Geschenk

der Infantin, in Händen hält, dämmert ihm die grausame Wahrheit:

When the truth dawned upon him, he gave a wild cry of despair, and fell sobbing

to the ground. So it was he who was misshapen and hunchbacked, foul to look at

and grotesque. He himself was the monster, and it was at him that all the children

had been laughing, and the little Princess who he had thought loved him -- she too

had been merely mocking at his ugliness, and making merry over his twisted

limbs.49

Über dieser Selbsterkenntnis bricht der Zwerg zusammen und stirbt. In seinem

Todeskampf kommen die Kinder, allen voran die Infantin, in den Raum. „His dancing

was funny,“ said the Infanta; „but his acting is funnier still. […]“50 kommentiert sie die

Sterbeszene. Die Infantin lacht, applaudiert und möchte, dass er wieder für sie tanzt.

Doch der Zwerg wird nie wieder tanzen. Sein Herz ist gebrochen. Ihre Reaktion darauf ist

bitter: „And the Infanta frowned, and her dainty rose-leaf lips curled in pretty disdain.

„Fort he future let those who come to play with me have no hearts,“ she cried, and she ran

49

Oscar Wilde: The Birthday of the Infanta. The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 124-125. 50

The Birthday of the Infanta. In: Wilde, Oscar. The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 125.

25

out into the garden.“51 Für die Infantin war der Zwerg letztlich nur ein Spielzeug, aber nie

ein Lebewesen. Die Künstlichkeit ist am Ende der Inbegriff des Bösen, der den Tod des

Vertreters der Natur verursacht.

3.1.5. Künstlichkeit im literarischen Stil

Die Künstlichkeit spiegelt sich auch in Wildes Stil nieder. Besonders in jenen Märchen,

in denen Wilde die Kontroverse zwischen Natur und Kultur diskutiert, wird auch Wildes

Sprache komplexer, aufgeblasener absichtlich gekünstelt. Das spiegelt sich auch im

Seitenumfang wieder. Bereits in „The Happy Prince“ nutzt Wilde eine Fülle von

Adjektiven und schmückt das Erzählte immer mehr aus. So laufen Tränen über die

goldenen Wangen. Auch in „The Nightingale and the Rose“ wird dies deutlich. Wilde

beschreibt den Studenten nicht nur als dunkelhaarig und blass, sondern schmückt die

Beschreibung folgendermaßen aus: „His Hair is dark as the hyacinth-blossom, and his

lips are red as the rose of his desire; but passion has made his face like pale ivory, and

sorrow hass et her seal upon his brow.“52 In „The Young King“ geht Wilde sogar noch

weiter. Alles wird im Einzelnen geschildert, die Vorgeschichte des jungen Königs,

weshalb er nicht im Palast aufgewachsen ist, jeder einzelne Traum, deren Schilderung

mehr Platz einnehmen als sie eigentliche Erzählung. Aber kaum ein Märchen ist so mit

Beschreibungen, barocken Ausschmückungen und so ausschweifend überladen wie

„Birthday of the Infanta“. Neben der umfangreichen Schilderung zum Tod der Mutter der

Infantin, übertrifft sich Wilde beinahe selbst bei den Beschreibungen über sechs Seiten

zu den Geburtstagsvergnügungen der Infantin.

Die Blumenszene nimmt ebenfalls einen sehr großen Platz im Märchen ein, ähnlich wie

in Andersens „Snedronningen“ (1845, Die Schneekönigin). Anders als bei Andersen

bringen sie die Handlung aber weiter, indem sie den Zwerg über den Irrglauben seines

Selbstbildes aufklären. Bei Andersen geben die Blumen im Abschnitt „Der Blumengarten

der Frau die zaubern konnte“ keine Antworten. Sie erzählen nur Geschichten, die Gerda

aufhalten sollen, sie aber nicht weiterbringen. Auch Andersen schmückt seine Märchen

mit kunstvollen Beschreibungen aus, er übertreibt es jedoch kaum so wie Wilde. Die

51

The Birthday of the Infanta. In: Wilde, Oscar. The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 127. 52

The Nightingale and the Rose. In: Wilde, Oscar. The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 23-24.

26

Märchen, die Kunst und Natur zum Thema haben, sind trotzdem noch in einfacher

Sprache gehalten und wirken keineswegs überladen. Einzig ein paar Märchen, in denen er

Stoff aus der Volkstradition bearbeitet, schmückt Andersen durch Beschreibungen und

Wiederholungen so stark aus, dass sie in einzelnen Textpassagen regelrecht überladen

sind. In der „Den lille Havfrue“ (1837, Die kleine Meerjungfrau), zum Beispiel,

beschreibt Andersen detailliert den Geburtstag jeder einzelnen der sechs Schwestern, bis

er zur eigentlichen Protagonistin übergeht.

3.2. Bedingungslose, unerfüllte und enttäuschte Liebe

Kaum ein Thema durchzieht die Weltliteratur von der Antike bis in die heutige Zeit so

konstant wie die Liebe in all ihren Facetten. Ihre Bandbreite reicht von der

bedingungslosen, ewigen, unerschütterlichen und romantischen Liebe, die alles

überdauert oder auch erst im Tod zur wahren Erfüllung kommt, über die selbstlose Liebe,

bis hin zur unglücklichen, unerwiderten und qualvollen Liebe, die nur Enttäuschung und

Leid zurücklässt. Im Volksmärchen hat die Liebe klassischerweise nicht viel mit Leid zu

tun. Obgleich zu Beginn des Märchens ein Liebes-Happy-End für Held oder Heldin

manchmal unmöglich scheint, wendet sich doch alles zum Guten. „Aschenputtel“ findet

ihren Prinzen und entkommt so der bösen Stiefmutter, „Dornröschen“ wird von ihrem

Prinzen wachgeküsst und auch „Jorinde und Joringel“ finden zueinander, nachdem jeder

Versuch sie zu trennen gescheitert ist. Es wäre schließlich undenkbar, dass der

Protagonist oder die Protagonistin im Volksmärchen am Ende alleine und unglücklich

zurückbleibt. Das liebende Paar findet zueinander und sie lebten glücklich bis ans Ende

aller Tage. Anders verhält es sich in einigen Märchen von Hans Christian Andersen und

Oscar Wilde. Sie lassen die romantische Liebe des Volksmärchens hinter sich. Die Liebe

des Protagonisten wird oft enttäuscht oder bleibt unerfüllt. Oft scheint es sogar so als

würden sie ihre Erfüllung erst in der Enttäuschung und dem Selbstmitleid finden. Wilde

lässt in „The Remarkable Rocket“ die Feuerwerkskörper über die Liebe und die Romantik

diskutieren:

‘Any place you love is the world to you,’ exclaimed a pensive Catharine Wheel,

who had been attached to an old deal box in early life, and prided herself on her

broken heart; ‘but love is not fashionable any more, the poets have killed it.’ They

wrote so much about it that nobody believed them, and I am not surprised. True

27

love suffers, and is silent. I remember myself once - But it is no matter now.

Romance is a thing of the past.

‘Nonsense!’ said the Roman Candle, ‘Romance never dies. It is like the moon, and

lives for ever.‘53

Wildes erstes Märchen „The Happy Prince“ schildert gleich zu Beginn die Liebe von

einem Schwälberich zu einer Schilfrispe. Den ganzen Sommer umwirbt er sie, auch wenn

sich die anderen Schwalben darüber lustig machen. Auch im Herbst, als sich alle

Schwalben bereits auf den Weg in den Süden gemacht haben, hält er noch an seiner

chancenlosen Liebe fest. Doch mit der Einsamkeit beginnen auch seine Zweifel an dieser

Liebe: „ ‘She has no conversation‘, he said, ‘and I am afraid that she is a coquette, for she

is always flirting with the wind.‘ […] ‘I admit that she is domestic,‘ he continued, ‘but I

love travelling, and my wife, consequently, should love travelling also.‘“54 Und als die

Schilfrispe sich weigert mit dem Schwälberich zu kommen, wirft er ihr vor nur mit ihm

gespielt zu haben, fliegt davon und verschwendet keinen Gedanken mehr an die

Verflossene. Die Reaktion des Schwälberichs erinnert sehr an Hans Christian Andersens

Kreisel aus dem Märchen „Kjærestefolkene“ (1844, Die Brautleute). Seine Liebe zu

einem Saffianball bleibt unerwidert. Lange trauert der Kreisel seiner Liebe hinterher und

spricht nur von ihr, bis er ihr eines Tages wieder begegnet. Der nun hässliche Saffianball

entspricht so gar nicht mehr den Vorstellungen des Kreisels, sodass seine Liebe vergeht

und er nie wieder von ihr sprechen oder daran zurückdenken muss. Wildes Schwälberich

zeigt aber auch Ähnlichkeit mit Andersens Schmetterling aus dem gleichnamigen

Märchen, „Sommerfuglen“ (1862, Der Schmetterling). Dieser fliegt von Blume zu

Blume, kann sich aber für keine entscheiden. Schließlich landet er auf einem Spieß in

einem Raritätenkasten, wo ihn jeder bewundern kann. Auf den ersten Blick haben Wildes

Schwälberich und Andersens Schmetterling nicht viel gemeinsam, außer, dass beide

flatterhafte Wesen sind, aber sie teilen vergleichbare Ansichten über die Ehe. Der

Schwälberich müsste für die Schilfrispe seine Freiheit und das Reisen aufgeben und wäre

somit genauso gefangen wie der Schmetterling, der sein Schicksal, das er nicht als

angenehm empfindet, mit dem Verheiratet Sein vergleicht. Er sitzt fest. Aber im

Gegensatz zum Schmetterling ist der Schwälberich mit der Enttäuschung

davongekommen und kann seinem eigentlichen Schicksal entgegenfliegen.

53

Oscar Wilde: The Remarkable Rocket. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 60. 54

Oscar Wilde: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin Popular Classics, 1994, 11.

28

Der Student aus Märchen „The Nightingale and the Rose“ wird ebenfalls von der Liebe

enttäuscht. Unglücklich verliebt in die Tochter des Professors ist er der Verzweiflung

nahe. Für eine rote Rose verspricht sie ihm einen Tanz. Als er ihr die Rose voller

Hoffnung auch von ihr geliebt zu werden schenkt, weist sie ihn zurück. Völlig

desillusioniert schwört der Student der Liebe ab:

“What a silly thing Love is,“ said the Student as he walked away. “It is not half as

useful as Logic, for is does not prove anything, and it is always telling one of

things that are not true. In fact it is quite unpractical, and, as in this age to be

practical is everything, I shall go back to Philosophy and study Metaphysics.“ So

he returned to his room and pulled out a great dusty book, and began to read.55

Mit dem Pragmatismus des Studenten, den auch Andersens Kreisel, der Schmetterling

aber auch der Halskragen, aus dem Märchen „Flipperne“ (1848, Der Halskragen), den

alle von ihm gewählten Frauen ablehnten und daher das Freien aufgibt, an den Tag legen,

stirbt das letzte Ideal der Liebe, für das sich die Nachtigall geopfert hat. Ihr Tod ist völlig

sinnlos, das Symbol der wahren Liebe, die Rose, liegt im Staub und alle Beteiligten, der

Student und die Tochter des Professors, gehen zur Tagesordnung über, ohne jemals über

die Liebe und die Opfer, die sie fordert, nachzudenken.

Doch auch bei Andersen und Wilde gibt es die bedingungslose Liebe. Denn alleine die

bedingungslose, aber vor allem selbstlose Liebe lässt die kleine Gerda alle Hindernisse

überwinden, um ihren Kai vor der Schneekönigin zu retten. Genau von dieser Liebe singt

die heillos romantische Nachtigall in Wildes „The Nightingale and the Rose“. Die

Nachtigall ist eine wahre Romantikerin, die an die Liebe als Ideal glaubt: „Surely love is

a wonderful thing. It is more precious than emeralds […] nor can it be weighed out in the

balance for gold.“56 Für sie ist der Student ein wahrhaft Liebender, für dessen Glück sich

der Tod lohnt. Doch anders als Gerda wird der Student diesem Ideal nicht gerecht und

auch seine Auserwählte hat zu keiner Zeit diesem Ideal entsprochen. Die einzige

Bedingung, die die Nachtigall an den Studenten stellt, ist ewig an seiner Liebe

festzuhalten, allen voran sie in alle Ewigkeit zu Ehren und wie sie jedes Opfer dafür zu

bringen. Denn in den Augen der Nachtigall ist die Liebe stärker als Philosophie oder

Wissenschaft. Dass der Student sich wieder der Wissenschaft widmet, macht den Tod der

55

Oscar Wilde: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin Popular Classics, 1994, 31. 56

The Nightingale and the Rose. In: Oscar Wilde: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 24.

29

Nachtigall, dem Symbol für wahre und bedingungslose Liebe, noch tragischer. Doch auch

bei Wilde kann die Liebe als Sieger hervorgehen. In „The Fisherman and his Soul“

vereint am Ende die allumfassende christliche Liebe das scheinbar Unvereinbare, den

Fischer, seine Seele und die Meerjungfrau, im Herzen des Fischers und in der Ewigkeit.

3.3. Christliche Motive

Bei Andersen lassen sich zahlreiche religiös-christliche Motive finden. Wilde war an sich

kein Autor mit einer ausgeprägten christlichen Botschaft, dennoch kann man auch bei

ihm, insbesondere in den Märchen, religiöse Aspekte und Parallelen zu Andersen

feststellen.

3.3.1. Schuld und Sühne

Der Protagonist lädt bei Andersen und Wilde im Verlaufe einiger Märchen Schuld auf

sich. Er verstößt gegen eines oder mehrere der zehn Gebote und begeht somit Sünden, die

der klassischen Theologie nach aus sieben schlechten Charaktereigenschaften, den

Hauptlastern Hochmut, Geiz bzw. Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei bzw. Selbstsucht,

Neid bzw. Missgunst und Faulheit bzw. Ignoranz entstehen. Den Protagonisten ereilt

danach die gerechte Strafe, die je nach Schwere auch zum Tod führen kann. In einigen

Fällen bekommt er aber die Möglichkeit seine Schuld zu erkennen und so lange Buße zu

tun, bis seine Schuld aufgewogen und seine gepeinigte Seele erlöst ist. Ist dem

Protagonisten seine Schuld jedoch bis zur Aufdeckung nicht bewusst, fällt die Strafe

vergleichsweise gering aus. Erkennt er jedoch seine Verfehlung schon früh, und

versündigt sich erneut, erhöht sich die Schwere der Strafe.

3.3.1.1. Hochmut und Demut

Hochmut kommt vor dem Fall. So lautet indirekt das Leitmotiv in Andersens Märchen

„Boghveden“ (1842, Der Buchweizen), „Stoppenaalen“ (1847, Die Stopfnadel), „De røde

Sko“ (1845, Die roten Schuhe) oder auch „Pigen, som traadte paa Brødet“ (1859 Das

30

Mädchen, das auf Brot trat). Bei Wilde lässt sich in den Märchen „The Remarkable

Rocket“ und „The Star Child“ ein deutlicher Einfluss erkennen.

Unter Hochmut versteht man eine Haltung, die Wert, Rang oder Fähigkeiten der eigenen

Person über die aller anderen stellt. Hochmut ist der Mangel an Demut. Er gelangt zur

Vollendung, wenn der Mensch niemandem, auch keinem Gott, Anerkennung schenkt. Zu

Hochmut wird auch Anmaßung, Überheblichkeit oder Arroganz gezählt. Stolz wird oft

mit Hochmut gleichgesetzt. Ursachen, die Hochmut begünstigen, sind Eitelkeit und

Narzissmus.

Der Gegensatz zum Hochmut ist die Demut. Der Demütige anerkennt und akzeptiert aus

dem freien Willen, dass es etwas für ihn Unerreichbares gibt. Demut bedeutet die

Allmacht Gottes anzuerkennen. Im christlichen Glauben ist die Demut der Schlüssel zur

Erlösung. Nur der Demütige kann Gottes Segen empfangen. Die Demut ist die

Eigenschaft des wahrhaft Gläubigen, der mit Gott im Reinen ist.

Die Grenzen zwischen Eitelkeit und Hochmut sind fließend. Allgemein versteht man

unter Eitelkeit die übertriebene Sorge um die eigene körperliche Schönheit oder geistige

Vollkommenheit. Attraktivität und Wohlgeformtheit des eigenen Körpers aber auch

Charakters stehen im Vordergrund. Der Übergang von einem natürlichen Selbstbild zu

übertriebener Eitelkeit ist oft schwer zu erkennen und kann in Narzissmus, also

Selbstbewunderung und Selbstverliebtheit umschlagen. Ursprünglich hatte Eitelkeit aber

auch eine abweichende und heute veraltete Bedeutung: Vergänglichkeit.

Die reine Eitelkeit kritisiert Andersen nicht so scharf, solange sich der Protagonist seiner

eigenen Verfehlung nicht bewusst ist und diese nicht schwerere Sünden nach sich zieht.

Sein Kaiser im Märchen „Keiserens nye Klæder“ (1837, Des Kaisers neue Kleider)

vernachlässigt für seine Eitelkeit und daraus resultierende Genusssucht sein Volk. Dafür

lässt Andersen ihm die gerechte Strafe zukommen. Dem Kaiser wird vor allen

Anwesenden seine Verfehlung vorgeführt und er wird bloß gestellt. Er bleibt allerdings

unfähig seine Konsequenzen daraus zu ziehen. Auch Wildes junger König ist sich seiner

Verfehlungen nicht von Beginn an bewusst. Wilde führt seinem Protagonisten im

Märchen „The Young King“ (1888) vor Augen, welche Konsequenzen seine Eitelkeit und

die daraus resultierenden Verfehlungen nach sich ziehen. Die Träume des jungen Königs,

die Begegnung mit Ausbeutung, Grausamkeit und Tod sind Strafe und Läuterung

gleichermaßen.

31

Steigert sich Eitelkeit in maßlose Selbstliebe und Selbstüberschätzung und Hochmut

werden Andersen und Wilde kritischer. Andersens Buchweizen im gleichnamigen

Märchen weigert sich aus Stolz es den anderen Blumen und Getreiden gleich zu tun sein

Haupt zu neigen, als ein Gewitter aufzieht. Er steht stolz und steif da. Schließlich sei er

„vel så rig, som Axet“ und „desuden meget smukkere; mine Blomster ere skjønne, som

Æbletræets Blomster, det er en Lyst at se på mig og mine!“57 Er schlägt alle Warnungen

in den Wind und blickt in den Blitz um einen Blick in Gottes Reich zu werfen. Die Strafe

für die Anmaßung besser als alle Pflanzen und sogar die Menschen zu sein und sich sogar

auf eine Stufe mit Gott zu stellen folgt auf dem Fuße. Der Buchweizen wird vom Blitz

getroffen und völlig verbrannt. Er zeigt keine Demut, daher kann er auch keine Gnade

erwarten.

Mit mehr Humor erzählt Andersen das Märchen von der Stopfnadel, die sich für eine

Nähnadel hält. Sie kommandiert die Finger, die sie halten, der Faden ist ihr Gefolge und

einfache Stopfarbeiten sind niedere Arbeit, für die sie zu fein ist. Als sie bricht, wird sie

zur Anstecknadel der Köchin. Die Stopfnadel ist so stolz und hochmütig, dass sie sich zu

weit erhebt und im Abwasser landet. Dort trifft sie auf eine Glasscherbe, die sie für einen

Diamanten hält und unterhält sich mit diesem über die hochmütige Welt, frei nach dem

Motto: der Narzissmus des einen ist der Hochmut des Anderen. Die Stopfnadel

echauffiert sich über den Hochmut der Finger, insbesondere des Daumens, die doch nur

da waren, um sie zu halten. Die Prahlerei des Daumens sei der Grund für ihre Reise.

Doch die Glasscherbe wird vom Wasser weggetragen. Die Stopfnadel bleibt alleine

zurück, stolzer als je zuvor: „Jeg skulde næsten tro at jeg er født af en Solstråle, så fin er

jeg! synes jeg ikke også, at Solen altid søger mig under Vandet. Ak, jeg er så fin, at min

Moder ikke kan finde mig.“58 Ein paar Straßenkinder finden die Stopfnadel, deren Glanz

völlig abgeblättert ist. Die Kinder stecken sie in eine Eierschale. Die Stopfnadel freut sich

so von allen gesehen werden zu können. Aber ein Wagen fährt über sie und die

Stopfnadel bleibt einfach liegen.

57

H.C. Andersen: Boghveden. 1842. http://www.hcandersen-homepage.dk/?page_id=1198 (Zugriff: 4.

August 2012) (Übersetzung: […] genau so reich wie die Ähre und außerdem viel hübscher. Meine Blüten

sind schön wie die Blüten des Apfelbaumes, es ist ein Vergnügen, mich und die meinigen zu betrachten.

Aus: H.C. Andersen. Märchen. Stuttgart: Reclam, 2006, 268.) 58

H.C. Andersen. Stoppenaalen, 1847. http://www.hcandersen-homepage.dk/?page_id=1790 (Zugriff: 4.

August 2012) (Übersetzung: Ich möchte beinahe glauben, ich sei von einem Sonnenstrahl geboren, so fein

bin ich! kommt es mir doch auch vor, als ob die Sonne mich immer unter Wasser suchte. Ach, ich bin so

fein, dass meine Mutter mich nicht finden kann.aus: H.C. Andersen. Die Märchen – In drei Bänden.

Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Taschenbuch, 2009, 2. Band, 54.)

32

Mit ähnlichem satirischem Humor erzählt Wilde sein Märchen „The Remarkable

Rocket“. Das Schicksal der titelgebenden bedeutenden Rakete nimmt einen ähnlich tragi-

komischen Verlauf wie das von Andersens Stopfnadel. Bei Wilde soll diese zur Hochzeit

des Prinzen den Himmel erleuchten. Doch wie der Buchweizen und auch die Stopfnadel

platzt die Rakete vor Selbstüberschätzung, Hochmut und Stolz. Sie verdreht die

Tatsachen und so prahlt die Rakete damit, dass sich der Prinz glücklich schätzen könne,

dass er gerade am Tag ihres Abschusses heiraten dürfe. Eine gegenteilige Meinung wird

nicht akzeptiert. Wer es wagt ein anderes Gesprächsthema als die Rakete zu wählen,

zeuge bloß von schlechten Manieren. Das Feuerwerk beginnt, doch die Rakete kommt

nicht zu Ehren, da sie sich selbst zum Weinen gebracht hat und ganz nass ist. Aber die

Rakete tröstet sich schnell mit dem Gedanken an viel größere Gelegenheiten, „and he

looked more supercilious than ever.“59

Die Rakete ist so in ihrer Selbstüberzeugung

gefangen, dass sie nicht erkennt mittlerweile wertlos zu sein. Sie erwartet ihren großen

Auftritt und erleidet ein ähnliches Schicksal wie Andersens Stopfnadel. Die Rakete landet

in einem schlammigen Graben, wo sie auf allerlei Tiere trifft, denen sie davon erzählt,

wie Prinz und Prinzessin ihr zu Ehren vermählt wurden.

Doch die Rakete ist viel zu vornehm für ihre neue Umgebung, in der sich die Bewohner

durch dieselbe Selbstbezogenheit auszeichnen, so dass sie wie die Stopfnadel alleine

zurück bleibt. So wird die Rakete von zwei kleinen Jungen gefunden, die den „old stick“

als Brennholz nutzen. Sie versteht sich selbstverständlich als „gold stick“ und erwartet

ihren großen Auftritt: „‚This is magnificent‘, cried the Rocket, ‚they are going to let me

off in broad daylight, so that every one can see me.‘“60 Die Rakete will wie der

Buchweizen hoch hinaus, „higher than the stars, much higher than the moon, much higher

than the sun.“ Doch leider sieht oder hört niemand den großen Auftritt der Rakete, wie

sich auch niemand mehr für die alte Stopfnadel interessiert. Die kleinen Jungen schlafen

und niemand anders ist in der Nähe. Nur ein kleiner Stock bleibt übrig, der eine Gans

trifft, die sich erschreckt: „ ‚I knew I should create a great sensation‘, gasped the Rocket,

and he went out.“ Das wahre Aufsehen erregt die Rakete nur bei sich selbst. Buchweizen,

Stopfnadel und Rakete scheitern auf ganzer Linie. Mit dem Buchweizen nimmt es ein

tragisches Ende. Auch Wildes Rakete verpufft, die eigentliche Strafe ist aber das völlige

Fehlen von Aufmerksamkeit bei der Detonation. Wie die Stopfnadel hat die Rakete all

59

Oscar Wilde. The Remarkable Rocket. In: The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 67. 60

Oscar Wilde. The Remarkable Rocket. In: The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 72.

33

ihren Glanz verloren. Das eigentlich Tragische ist, dass weder Stopfnadel noch Rakete ihr

Scheitern wahrnehmen. Auch wenn beide einige Male auf ihre Verfehlung aufmerksam

gemacht werden, so bleiben sie in ihrer eigenen Welt, ihrem Hochmut gefangen und in ihr

alleine gelassen. Gerade dieser Hochmut macht sie in ihren Augen zu etwas Besonderem.

Er ist etwas Feines und Bürgerliches, das sie von dem einfachen provinziellen Volk

abgrenzt.

In „Die Stopfnadel“ und „The Remarkable Rocket“ wählen Andersen und Wilde

satirischen Zugang, um die Verfehlungen der Protagonisten und mit ihnen der

Gesellschaft anzukreiden. Beide Märchen lassen keinen Humor vermissen. Die

Protagonisten schaden sich in ihrem Hochmut vor allem selbst. Beflügelt der Hochmut

aber dazu sich auf eine Ebene mit Gott zu stellen, dann nimmt es mit dem Protagonisten

ein tragisches Ende wie mit dem Buchweizen.

Der Humor verschwindet, wenn aus Hochmut Verletzungen eines oder mehrerer Gebote,

wie Verleugnung der Eltern oder gar Gewalt, resultieren. Andersen macht dies deutlich in

„Die roten Schuhe“ und „Das Mädchen, das auf Brot trat“, die Einfluss auf Wildes „The

Star Child“ zeigen.

Die Protagonisten bei Andersen, Karen in „Die roten Schuhe“ und Inger in „Das

Mädchen, das auf Brot trat“, und Wildes Sternenkind zeichnen sich durch ihre Schönheit

aus, die sie zu Selbstliebe und Hochmut verleitet, die andere Verfehlungen nach sich

ziehen. Alle drei müssen Strafe erdulden, Prüfungen bestehen und Demut lernen, um

schließlich Erlösung zu finden.

Die kleine Karen lebt in ärmlichen Verhältnissen. Da sie keine Schuhe hat, näht ihr die

Schuhmacherin welche aus rotem Stoff, die Karen am Begräbnistag ihrer Mutter erhält

und trägt. Eine alte Frau wird auf sie aufmerksam und nimmt sie zu sich. Diese roten

Schuhe werden für Karen das Symbol für ihr persönliches Glück. Die alte Frau lässt sie

jedoch verbrennen. Karen wird von Tag zu Tag schöner, wie es ihr der Spiegel sagt. Zu

ihrer Konfirmation bekommt Karen neue Schuhe. Trotz Verbotes der alten Frau wählt sie

rote. Alle in der Kirche Anwesenden sehen nur auf Karens Füße. Sie fühlt sich von allen

bewundert. Während des gesamten Gottesdienstes denkt Karen nur an die roten Schuhe,

die nun Symbol für ihren Hochmut werden. Die alte Frau verbietet ihr die Schuhe jemals

wieder in der Kirche zu tragen. Trotzdem trägt Karen sie erneut und, anstatt das

Vaterunser zu beten, denkt sie nur an die Schuhe. Auf dem Heimweg beginnen Karens

Schuhe zu tanzen und hören erst auf als Karen sie auszieht. Die alte Frau wird krank,

doch anstatt sie zu pflegen, geht Karen mit den roten Schuhen auf einen Ball. Die Schuhe

34

beginnen unaufhörlich zu tanzen. Karen kann sie nicht ausziehen. Sie tanzt immer weiter,

bis sie den Scharfrichter bittet ihre Füße abzuhacken. Karen will ihre Sünden bereuen.

Doch das erste Mal will sie in die Kirche, um gesehen zu werden und die roten Schuhe

tanzen als Mahnmal vor ihr her. Auch beim zweiten Versuch hat sie ihren Hochmut noch

nicht abgelegt. Wieder tanzen die Schuhe vor ihr her, doch dieses Mal bereut Karen. Sie

beginnt fleißig zu arbeiten, die Bibel zu lesen und still für sich zu beten. Karen hat Demut

gelernt. Sie erfährt Gnade und ihre Seele fährt in den Himmel.

Andersen stellt Inger gleich zu Beginn als stolzes und hochmütiges Mädchen vor, das aus

Spaß Tiere quält. Je hübscher Inger wird, umso schlimmer wird ihr Verhalten. Sie tritt bei

einer reichen Familie in den Dienst. Dort wird sie gut behandelt, aber Ingers Hochmut

wird größer. Sie schämt sich für ihre Mutter, weil diese arm ist. Als Inger ihr Brot bringen

soll, nimmt das Übel seinen Lauf. Da Inger ihre schönen Kleider und Schuhe nicht

beschmutzen will, legt sie das Brot ins Moor und tritt darauf. Sie sinkt ein und kommt erst

zur Moorfrau und von dort aus direkt in die Hölle, wo sie ihrer Schönheit beraubt das

Brot immer vor Augen hungern muss und von den Tränen der Mutter gequält wird. Erst

als ein unschuldiges Kind, das von ihrer Geschichte gehört hat für sie weint, berührt dies

Ingers Herz. Als dieses Kind als Erwachsene auf dem Sterbebett für Inger betet, und

Inger nicht mehr an Gnade für sich glaubt, wird sie in eine Schwalbe verwandelt. Sie

sammelt auf Erden Brotkrumen, bis ihre Schuld aufwiegt und sie in die Sonne fliegt.

Diese beiden Märchen zeigen Einfluss auf „The Star Child“. Wildes Sternenkind fällt in

ein goldenes Tuch gehüllt vom Himmel. Ein armer Holzfäller nimmt es bei sich wie ein

eigenes Kind auf. Wie Karen und Inger wird es mit jedem Tag schöner. Wilde vergleicht

das Kind mit dem antiken Narkissos, der sich wegen eines Fluches in sein eigenes

Spiegelbild verliebt. Auch das Sternenkind liebt nur seine eigene Schönheit. Wie bei

Inger ist gerade diese Schönheit sein Verderben. Denn mit der wachsenden äußeren

Schönheit, nehmen auch bei ihm Kaltherzigkeit und Grausamkeit zu: „Yet did his beauty

work him evil. For he grew proud, and cruel, and selfish.“61 Es bringt wie Inger ihrer

Mutter seiner Ziehfamilie keinen Respekt entgegen, schämt sich für sie und stellt sich

über sie. Das Sternenkind terrorisiert sein Umfeld und quält neben den Tieren die Armen

und Kranken. Die Warnungen der Zieheltern und des Priesters missachtet es. Alle Kinder

folgen ihm wegen seiner Schönheit und führen jeden Befehl aus: „And in all things he

61

Oscar Wilde. The Star-Child. In: The Happy Prince and Other Tales. Penguin Popular Classics 1994.

London. 187.

35

ruled them, and they became hard of heart, even as he was.“62 Eines Tages kommt eine

Bettlerin ins Dorf, die das Sternenkind gemeinsam mit seinen Freunden mit Steinen

bewirft und beschimpft. Die Bettlerin entpuppt sich als die Mutter des Sternenkindes.

Doch es hat nur Hohn und Spott für sie übrig. Man habe es mit einem goldenen Tuch

gefunden, daher könne es nicht das Kind einer Bettlerin sein. Dank des goldenen Tuches

hält es sich für etwas Besonderes und Besseres wie Karen dank ihrer roten Schuhe und

Inger wegen ihrer schmucken Kleidung. Das Sternenkind weigert sich mit der Bettlerin

zu gehen und verstößt sie sogar. Doch es erhält wie Karen und Inger die gerechte Strafe

für sein Handeln. Sein Aussehen verändert sich. Wie Inger verliert es seine Schönheit.

Das Sternenkind hat nun das Gesicht einer Kröte und den Körper einer Natter. Die

Freunde, die es ehemals beherrschte, jagen das Sternenkind davon. Als es sein

Spiegelbild erblickt, erlangt das Sternenkind Klarheit über seine Verfehlungen: Die

Verleugnung der Mutter, seinen Stolz und seine Grausamkeit spiegeln sich in seinem

Äußeren wider. Zusätzlich hat es nie das Opfer seiner Zieheltern zu schätzen gewusst, die

es aufnahmen, als sie selbst kaum etwas zum Überleben hatten. Trotz alledem bringt ihm

seine Ziehschwester noch Großmut entgegen. Parallel dazu wissen auch Ingers

Dienstgeber trotz ihrer Verfehlungen nur Gutes über sie zu sagen. Das Sternenkind will

für seine Sünden büßen und sich bei der Mutter entschuldigen. Seine Wanderschaft

konfrontiert es mit seinen bösen Taten gegen die Tiere wie auch die Menschen. Die

Mutter bleibt für das Sternenkind jedoch unauffindbar. Wie Karen die roten Schuhe

verfolgen das Sternenkind all seine früheren Missetaten. Es läuft sich die Füße blutig,

während Karen ihre sogar verliert. Wie Karen die roten Schuhe verfolgen das Sternenkind

stetig seine Sünden. Die Tiere verweigern ihre Hilfe. Die Kinder anderer Dörfer bewerfen

es nun mit Steinen wie es selbst einst die Bettler. Niemand hat Erbarmen mit ihm. Die

Grausamkeit ihm gegenüber nimmt stetig zu, bis man das Sternenkind als Sklave an einen

Zauberer verkauft. Dieser wirft es bei schimmligem Brot und Salzwasser in den Kerker.

Im Wald sind drei Stücke Gold versteckt, die das Sternenkind für den Zauberer suchen

soll, ansonsten drohen ihm Hunger, Schläge und schließlich der Tod. Diese Strafe ist mit

Ingers vergleichbar. Sie landet in der Hölle, wo sie zur Strafe Hunger leiden muss.

Unterkunft und Bestrafung des Sternenkindes sind durchaus mit den Qualen der Hölle

vergleichbar. Bei seiner Suche nach dem Gold hilft dem Sternenkind ein Hase, den es vor

Jägern gerettet hat, womit es das einstige Quälen der Tiere wieder gut gemacht hat. Das

62

Oscar Wilde. The Star-Child. In: The Happy Prince and Other Tales. Penguin Popular Classics 1994.

London. 188.

36

Gold verschenkt das Sternenkind jedoch aus Mitleid an einen Aussätzigen, wofür der

Zauberer es mit Schlägen bestraft und hungern lässt. Das zweite Stück Gold schenkt das

Sternenkind ebenfalls dem Aussätzigen, obwohl es eine noch härtere Strafe erwartet.

Auch mit dem dritten und letzten Stück Gold verfährt das Sternenkind so. Das

Sternenkind hat in einem Akt von Nächstenliebe seine Sünden gegen die Armen und

Kranken aufgewogen. Anstatt wie erwartet dem Tode durch die Hand des Zauberers ins

Auge zu blicken, verneigen sich die Bürger der Stadt vor ihm, bewundern seine Schönheit

und ehren es als Sohn des Königs. Es findet Mutter und Vater in der Gestalt von Bettlern

und bittet sie um Vergebung. In diesem Moment stehen König und Königin vor ihm, die

sich als seine Eltern zu erkennen geben. Das Sternenkind hat seine Lektion gelernt. Es hat

seine Verfehlungen erkannt, den Hochmut abgelegt, die daraus resultierenden Sünden

gesühnt und Demut gelernt. Das Sternenkind wird König und erschafft ein Paradies auf

Erden. Von seiner Prüfung gezeichnet stirbt es jedoch früh. Während Karen im Tode und

Inger in ihrem zweiten Leben als Schwalbe wahre Vergebung und Erlösung erlangen,

werden diese dem Sternenkind bereits im Leben zu Teil.

3.3.1.2. Andere Hauptsünden

Die Habgier, das übersteigerte Streben nach materiellem Besitz, der Geiz, die

übertriebenen Sparsamkeit und der Unwillen zu teilen, und der Neid, also das Verübeln

der Besserstellung anderer, sind eng miteinander verbunden. In Andersens Märchen

„Fyrtøiet“ (1835, Das Feuerzeug) tötet der Soldat bereits zu Beginn die Hexe wegen der

Aussicht auf mehr Reichtum. Obwohl er bereits Gold und Silber aus dem Baum geholt

hat, verspricht er sich noch mehr von dem Feuerzeug. „Das Feuerzeug“ ist kein

christliches Märchen, sondern hat seinen Ursprung in der Volkstradition. Der Soldat ist

der Held des Märchens und wird daher nicht bestraft. Auch in einem weiteren Märchen

Andersens, das der Volkstradition entstammt, zeigt einer der Protagonisten eine Vorstufe

von Neid und Habgier, nämlich „Lille Claus og store Claus“ (1835, Der kleine Klaus und

der große Klaus). Der große Klaus missgönnt dem kleinen Klaus – beide sind Bauern –

die Freude an einem Tag so reich zu sein wie er, auch wenn er dem kleinen Klaus die

Pferde nur geliehen hat. Sobald der kleine Klaus sich durch List Reichtum erschlichen

hat, will der große Klaus mehr, was ihm zum Verhängnis wird. Er häutet all seine Pferde,

37

tötet seine Großmutter und versucht mehrfach den kleinen Klaus zu töten. Er erlangt aber

keinen Reichtum. Als er den kleinen Klaus mit einer Herde Vieh entdeckt und dieser ihm

erklärt, es wäre Seevieh, lässt sich der große Klaus ertränken um mehr zu erhalten. Die

Habsucht des großen Klaus wird bestraft.

Obwohl sich der kleine Klaus im Vergleich zum großen Klaus kaum ehrenhafter verhält,

geht er als Held dieses Märchens straffrei aus. Weniger humoristisch ist Wildes „The

Young King“. Der junge König lebt in einer Welt, die seine Genusssucht nach schönen

Dingen steigert. Wie bei Andersens Kaiser aus „Des Kaisers neue Kleider“ dreht sich sein

Leben vor allem um schöne Kleider, im Falle des jungen Königs um sein

Krönungsgewand, das nur aus den edelsten und besten Materialien gefertigt werden soll.

Die Konsequenzen für seine Genusssucht, sein Streben nach immer mehr Schönem,

führen dem jungen König drei Träume vor Augen. Im ersten Traum werden Arbeiter

gequält, die sein Krönungsgewand herstellen sollen. Im darauffolgenden Traum sterben

Sklaven, als sie nach Perlen für sein Zepter tauchen. Im dritten Traum wird ihm die

personifizierte Habgier vor Augen geführt, die einen Handel mit dem Tod eingehen soll.

Dieser will ihre Diener verschonen, wenn sie ihm nur eines der drei Getreidekörner gibt,

die sie vor ihm verbirgt. Doch die Habgier lehnt ab. Sie will nichts hergeben, nur immer

mehr erhalten. Nehmen ist jedoch nicht seliger als geben und so holt sich der Tod

nacheinander je ein Drittel ihrer Diener. Schließlich vernichtet er alles, ohne ein Korn zu

bekommen. Die Habgier flieht und der Tod reitet davon. Der junge König erfährt, dass

dies nur geschehen musste, weil die Diener der Habgier nach Rubinen für seine Krone

suchten. Er erkennt, dass er alleine die Ursache dieses Leides ist und seine Verblendung

durch immer mehr Schätze die Menschen in den Untergang treibt. Geläutert begibt er

sich, angezogen wie ein Hirte mit einer Dornenkrone auf dem Kopf zu seiner Krönung.

Der Hofstaat versteht den Wandel des jungen Königs nicht, aber Gott persönlich krönt ihn

und seine nun reine Seele.

3.3.1.3. Verstoß gegen die Gebote

In den meisten Fällen führen bei Andersen und Wilde die oben genannten Verfehlungen

zu Verstößen gegen eines oder mehrere der zehn Gebote. Am häufigsten vergessen die

Märchenprotagonisten Vater und Mutter zu ehren. Aber auch den Sonntag zu vergessen

38

ist, besonders bei Andersen, eine schwere Sünde. Im Fall von „The Young King“ und

„The Fisherman and his Soul“ thematisiert Wilde auch die Götzenverehrung. Lüge und

Mord kommen bei Wilde und Andersen vor, werden aber im Vergleich zu den Verstößen

gegen die Ehrung der Familie kaum geahndet.

Karen, Inger und das Sternenkind ehren aus Hochmut ihre Familien nicht. Karen geht

eher mit ihren roten Schuhen tanzen, anstatt sich um die Frau zu kümmern, die sie als

armes Mädchen aufgenommen hat. Inger schämt sich für ihre Mutter, da diese arm ist.

Das Sternenkind zollt seinem Ziehvater, der es im Wald gefunden und aufgezogen hat

wie sein eigenes Kind, keinen Respekt. Es schämt sich für seine Mutter, eine Bettlerin,

beschimpft und verstößt sie. Dafür werden alle drei bestraft und sie müssen ihre

Verfehlungen sühnen.

3.3.2. Die unsterbliche Seele

Der Begriff Seele hat vielfältige Bedeutungen abhängig von mythischen, religiösen,

philosophischen oder psychologischen Lehren. So kann Seele das gesamte Gefühlsleben

oftmals gleichgesetzt mit Psyche bedeuten, aber auch ein immaterielles Prinzip, das

Leben und Identität eines Individuums bestimmt, bezeichnen. Die Seele kann vom Körper

und dem physischen Tod unabhängig und somit unsterblich sein, aber auch die gesamte

Person ausmachen, womit der Körper zum eigentlichen Hindernis der Seele wird.

Seelenverlust führt zu ernsten Konsequenzen.

In den meisten Fällen ist die Seele bei Andersen und Wilde unsterblich im christlichen

Kontext. Nach dem Tode des Protagonisten kommt sie in den Himmel zu Gott.

Unschuldige Seelen, insbesondere die von Kindern, bringen Boten Gottes direkt zu ihm,

wie man bei Andersen am Beispiel des kleinen Mädchens mit den Schwefelhölzern und

dem Märchen „Englen“ (1844, Der Engel) sehen kann. Gefährden die Protagonisten ihr

Seelenheil, müssen sie sich den Platz im Paradies allerdings wieder erarbeiten. Karen,

Inger und das Sternenkind gefährden durch Hochmut und Selbstsucht ihre Seele, die sie

nur durch harte Prüfung retten können. Der glückliche Prinz und die Schwalbe verdienen

sich ihren Platz im Himmel durch Selbstaufgabe und Nächstenliebe. Der selbstsüchtige

Riese in Wildes „The Selfish Giant“ (1888) muss lernen sein Herz für andere zu öffnen,

damit seine Seele ins Paradies gebracht werden kann. Wenn die Höhe der Schuld aber so

39

groß ist wie bei Inger oder dem Geist von Canterville in Wildes „The Canterville Ghost“

(1887), braucht es die Fürbitte eines Unschuldigen, um das Seelenheil zu garantieren.

Die „Erlösung“ der Seele vom Irdischen, das Symbol für die Auferstehung, geschieht bei

Andersen und Wilde auf sehr ähnliche Weise. Meist holt ein Engel die Seelen und bringt

sie zu Gott. Mit „Der Engel“ widmet Andersen diesem Thema ein ganzes Märchen. Das

Mädchen mit den Schwefelhölzern zeigt Variation, da es die über alles geliebte

Großmutter ist, die das Mädchen ins Paradies bringt, wohin auch das Jesuskind persönlich

Wildes eigensüchtigen Riesen mit sich nimmt. Das Herz des glücklichen Prinzen und die

Schwalbe bringt ein Engel zu Gott, als dieser verlangt: „Bring me the most precious

things in the city.“63 Zu Karen kommt ebenfalls ein Engel, der für sie die Himmelstür

öffnet und: „hendes Sjæl fløi på Solskin til Gud“.64 In die Sonne fliegt auch Ingers Seele

als Schwalbe, nachdem ihre Schuld endgültig aufgewogen ist. In „The Star-Child“ und

„The Fisherman and his Soul“ beschreibt Wilde nicht direkt, dass die Seelen seiner

Protagonisten in den Himmel kommen. Das Sternenkind erfährt seine Erlösung im Leben,

wie auch seine Seele. In „The Fisherman and his Soul“ blühen nach dem Tod des

Fischers, seiner Seele und der Meerjungfrau die schönsten Blumen auf ihrem Grab, was

laut Nassaar symbolisiert, dass sie im Himmel sind.65

Dem Begleitmotiv der Blumen zur

Reise der Seele in den Himmel bedient sich auch Andersen in „Der Engel“, wo dieser mit

jeder Kinderseele auch die schönsten Blumen zu Gott bringt:

Hver Gang et godt Barn døer, kommer der en Guds Engel ned til Jorden, tager det

døde Barn paa sine Arme, breder de store hvide Vinger ud, flyver hen over alle de

Steder, Barnet har holdt af, og plukker en heel Haandfuld Blomster, som de bringe

op til Gud for der at blomstre endnu smukkere end paa Jorden. Den gode Gud

trykker alle Blomsterne til sit Hjerte, men den Blomst, som er ham kjærest, giver

han et Kys, og da faaer den Stemme og kan synge med i den store Lyksalighed!66

63

Oscar Wilde. The Happy Prince. In: The Happy Prince and Other Tales. London. Penguin Popular

Classics, 1994, 22. 64

H.C. Andersen. Den røde sko. 1845. In: Samlede eventyr og historier. København: Høst og Søn, 2011,

264-278. (Übersetzung: „Ihre Seele flog auf den Sonnenstrahlen zu Gott“.) 65

Vgl. Christopher S. Nassaar. Andersen’s „The Shadow“ Wilde’s „The Fisherman and His Soul“: A Case

of Influence. In: Nineteenth-Century Literature, Vol. 50, No.2 Sep., 1995, 217-224. 66

H.C. Andersen. Englen. 1844. http://www.hcandersen-homepage.dk/samlede_eventyr.htm (Zugriff: 2.

September 2012) (Übersetzung: Jedesmal, wenn ein gutes Kind stirbt, steigt ein Engel Gottes auf die Erde

hernieder, nimmt das tote Kind auf seine Arme, breitet seine großen weißen Flügel aus, fliegt über alle

Stätten hin, die das Kind lieb gehabt hatte, und pflückt eine ganze Hand voll Blumen, die er zu Gott

hinaufbringt, um dort noch schöner als auf Erden zu blühen. Der liebe Gott drückt alle Blumen an sein

Herz, aber der Blume, die ihm am liebsten ist, gibt er einen Kuß, und dadurch erhält sie Stimme und

vermag in der großen Glückseeligkeit mitzusingen. Aus: H.C. Andersen. Märchen. Stuttgart: Reclam, 2006,

270.)

40

Die kleine Meerjungfrau möchte nach ihrem Tod nicht einfach aufhören zu existieren. Sie

wünscht sich daher nichts sehnlicher als eine unsterbliche Seele und damit verbunden ein

Leben nach dem Tod zu erlangen. Dafür muss sie allerdings Mensch werden und der

Prinz sie heiraten. Als dieser sich jedoch für eine Andere entscheidet und sie es nicht

übers Herz bringt ihn zu töten, um in ihr altes Leben zurückzukehren, stürzt sich die

Meerjungfrau ins Meer und löst sich in Meerschaum auf. Doch Andersen gewährt ihr eine

weitere Chance doch noch eine Seele zu erhalten. Die Meerjungfrau wird zu einer

Tochter der Luft, als die sie dreihundert Jahre über die Kinder wachen soll und sich so

selbst eine eigene unsterbliche Seele schaffen kann.

Dass der Besitz einer Seele nicht immer das höchste Ziel ist, zeigt Wilde in seinem

Märchen „The Fisherman and his Soul“Hier unternimmt der Fischer alles um seine Seele

los zu werden. Er verliebt sich in eine seelenlose Meerjungfrau. Diese sieht, anders als

Andersens Meerjungfrau, keinen Sinn im Besitz einer Seele. Daher muss der Fischer

seine Seele aufgeben, um mit der Meerjungfrau vereint zu sein und mit ihr ein

unsterbliches Leben unter Wasser führen zu können. Er bittet einen Priester und einen

Kaufmann ihn von seiner Seele zu befreien, doch nur eine Hexe verrät ihm, was zu tun

ist. Er muss seinen Schatten, der eigentlich seine Seele ist, von seinen Füßen abtrennen.

Der Fischer ist nun mit seiner Geliebten vereint und schickt seinen Schatten in die große

grausame Welt hinaus. Wilde orientiert sich hier an Andersens Märchen „Skyggen“

(1847, Der Schatten), wo ein Gelehrter seinen Schatten aussendet, um das

gegenüberliegende Haus und seine geheimnisvolle Bewohnerin auszukundschaften. Der

Schatten kehrt nicht zu ihm zurück, sondern erkundet die Welt und ähnelt von Tag zu Tag

mehr einem Menschen, nämlich dem Gelehrten.

Die Verbindung von Schatten und Seele lässt sich bereits in der Erzählung Peter

Schlemihls wundersame Geschichte (1813) des Dichters und Naturforschers Adelbert von

Chamisso (1781-1838) finden. Peter Schlemihl verkauft seinen Schatten für ein nie

versiegendes Goldsäckchen an einen Kaufmann, besiegelt damit aber auch seinen

Ausschluss aus der Gesellschaft. Ohne Schatten kann er auch nicht die Frau heiraten, die

er liebt. Da erscheint der Kaufmann wieder, der sich als Teufel entpuppt und ihm den

Schatten im Tausch gegen seine Seele zurückgeben will. Trotz des Versprechens von

großem Ansehen lässt sich Schlemihl nicht auf den Handel ein. Er wirft das

Goldsäckchen in einen Abgrund und kappt damit seine Verbindung zum Teufel.

41

Schlemihl kauft sich von seinem letzten Geld Siebenmeilenstiefel und verbringt den Rest

seines Lebens einsam als Naturforscher.

Chamissos Text diente als Vorbild für Andersens „Der Schatten“, was er auch selbst in

seinem Märchen andeutet. Aber auch Wildes „The Fisherman and his Soul“ weist

Parallelen zu Chamisso auf. Der Fischer möchte erst seine Seele an einen Kaufmann

verkaufen und hat kurz bevor er seinen Schatten abtrennt Kontakt mit dem Teufel.

Den größeren Einfluss auf Wilde hatte aber Andersen. Der Schatten wird zu einem

eigenen Individuum und bereist die Welt, wie auch die Seele, die der Fischer alleine

fortgeschickt hat. Beide, Schatten und Seele, wachsen in einer Welt, die böse, grausam

und voller Sünde ist, und werden ein Teil davon. Sowohl der Schatten als auch die Seele

sind nur Fragmente, die vom Menschen, seinen Gefühlen und der damit verbundenen

positiven Weltsicht abgeschnitten sind. Der Schatten dringt nie bis in das lichtdurchflutete

Zimmer, bis zur Poesie vor, sieht also auch nie ins tiefste Innere, das häufig das Gute

beherbergt. Die Seele bleibt ohne Herz zurück, ohne welches sie der Grausamkeit der

Welt ausgeliefert ist. Der Gelehrte schreibt vom Wahren, Schönen und Guten, der Fischer

lebt in der Unterwasserwelt, die das Wahre, Schöne und Gute repräsentiert. Beide lernen

das Böse erst durch ihre ehemaligen Weggefährten kennen.

Schatten und Seele kehren zu ihren ehemaligen Herren zurück und erzählen ihnen wie es

ihnen ergangen ist. Wie sich herausstellt, lebte die Poesie in dem Haus, in das der

Gelehrte bei Andersen den Schatten geschickt hatte. Der Schatten berichtet, wie er den

Vorraum betrat und in die Zimmer blickte und alles sah und nun alles wisse. Er wurde

Mensch, da er sein innerstes Wesen begriffen habe. Der Schatten blickt hinter die Fassade

der Menschen, beobachtet aus dem Verborgenen und imitiert sie. Durch Verleumdung

wurde er reich und gedenkt sich mit einer Prinzessin zu verheiraten, wofür er nun selbst

einen Schatten braucht. Der Gelehrte ordnet sich seinem Schatten unter und lässt sich von

ihm kontrollieren. Er wird zum Schatten seines eigenen Schattens, der um die Prinzessin

wirbt. Diese ist beeindruckt von dem klugen Schatten ihres Bräutigams. Der Gelehrte

erkennt zu spät, dass der Schatten selbstbezogen, materialistisch, machthungrig und

manipulativ ist. Er beschließt die Wahrheit über ihn aufzudecken, doch dieser kommt ihm

zuvor und lässt ihn noch vor der Hochzeit hinrichten.

Die Seele kehrt bei Wilde drei Mal zum Fischer zurück, um sich wieder mit ihm zu

vereinen. Auf ihren Reisen betet die Seele falsche Propheten an, ehrt falsche Götter, lügt,

stiehlt, verursacht Schmerz und Tod, Dinge die auch der Fischer tun soll, als die beiden

wieder vereint sind. Diese führt den Fischer in Versuchung die Meerjungfrau zu

42

verlassen. Macht und Reichtum lehnt der Fischer ab, aber der fleischlichen Verlockung

kann er nicht widerstehen. Doch der Fischer bereut seine Entscheidung, als er die

Falschheit seiner Seele entlarvt. Die Meerjungfrau ist verschwunden, als er zurückkehrt.

Der Fischer wartet. Als die Meerjungfrau tot angespült wird, bricht sein Herz und die

Seele findet einen Weg hinein: „And as through the fulness of his love his heart did

break, the Soul found an entrance and entered in, and was one with him even as before.“67

Das Liebespaar wird auf nichtgesegnetem Boden beerdigt, wo daraufhin die schönsten

Blumen blühen. Da die Seele einen Platz im Herzen des Fischers, das dieser

ausschließlich für die Meerjungfrau reserviert hat, findet, erhalten am Ende alle, auch die

Meerjungfrau, eine Seele.

Bei Andersen triumphiert das Böse über das Gute, während Wilde sein Märchen in einen

christlichen Rahmen bettet, an dessen Ende der Sieg der alles umfassenden christlichen

Liebe steht. Der Schatten war einst nur ein kaum vermisstes Beiwerk seines Herren, den

er schließlich beherrscht. Der Gelehrte versucht nicht seinen Schatten zu retten, sondern

stellt sich ihm entgegen, was ihn schließlich zerstört. Bei Wilde sterben alle, die

Meerjungfrau, der Fischer und die Seele, aber sie sind im Tode vereint. Die Meerjungfrau

erhält eine Seele, die Seele erhält ein Herz. Ihre Liebe ist so stark, dass die Blumen, die

auf ihrem Grab wachsen den Priester von Gottes Liebe sprechen lassen, anstatt von

dessen Zorn.

Andersens nihilistische Sicht im „Schatten“ wird bei Wilde in seinem Roman The Picture

of Dorian Gray (1891) deutlich. Dorian Gray wünscht sich nichts sehnlicher, als dass sein

Bild anstatt seiner altert. Die Konsequenzen seiner Verbrechen lassen sich nicht in

Dorians Äußerem, sondern in seinem Abbild, das er vor anderen verbirgt, erkennen. Es ist

als hätte Dorian seine eigene Seele in das Gemälde verbannt, das alle seine Taten

widerspiegelt. Er verkommt im Verlauf der Handlung mehr und mehr zu einem lügenden

und mordenden Monster frei von jeder Moral, schlimmer als es der Schatten je sein

könnte. Der Gelehrte muss sterben, da er eine Gefahr für den Schatten darstellt, entlarvt

zu werden. Dorian würde seine bösen Taten nie gestehen und doch würde sein Bildnis ihn

verraten. Die Freude, es anstatt seiner altern zu sehen, ist verflogen. Stattdessen ist das

Gemälde zu seinem Gewissen geworden. Das Messer, mit dem er den Maler getötet hat,

soll auch das Bild zerstören: „As it had killed the painter, so it would kill the painter’s

work, and all that that meant. It would kill the past, and when that was dead he would be

67

Oscar Wilde: The Fisherman and his Soul. In: The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin

Popular Classics, 1994,176.

43

free. It would kill his monstrous soul-life, and without ist hideous warnings, he would be

at peace.“68 Danach findet man Dorians Körper, mit entstelltem Gesicht und dem Messer

im Herzen. Das unversehrte Bild zeigt den makellosen und wunderschönen Dorian.

3.3.3. Opfermotiv

Entbehrungs- und Opferbereitschaft bis hin zur völligen Selbstaufgabe ist zentrales

Thema in Andersens „Historien om en moder“ (1848, Die Geschichte einer Mutter). Der

Tod holt das kranke Kind einer Mutter. Ein Kind sollte jedoch nicht vor der Mutter

sterben. Diese will ihr Kind um jeden Preis zurück bekommen. Doch sie muss viele Opfer

bringen, um zu erfahren wohin der Tod ihr Kind bringt. Der Nacht muss sie alle Lieder

singen, die sie kennt. Den Dornenbusch muss sie mit ihrem Herzblut wärmen, bis er

blüht. Schließlich opfert sie noch ihre Augen und ihre Jugend und Schönheit, bis sie dem

Tod gegenübersteht. Die Mutter bekommt ihre Augen zurück, doch ihr Kind bringt der

Tod ins Paradies. Denn dafür müsste ein anderes sterben und die Mutter möchte dasselbe

Leid, das sie fühlt, niemand anderem zumuten.

Dieses Märchen inspirierte Wilde insbesondere für „The Nightingale and the Rose“. Die

Nachtigall opfert ihr Leben für ihre höchste Überzeugung, die wahre Liebe. Die Art des

Opfers ist nahezu identisch zu Andersen. Der Student soll seiner Angebeteten eine rote

Rose schenken, damit diese im Gegenzug mit ihm tanzt. Da jedoch keine blüht, muss die

Nachtigall sie durch ihren Tod erschaffen:

If you want a red rose […] you must build it out of music by moonlight, and stain

it with your heart’s-blood. You must sing to me with a breast against a thorn. All

night long you must sing to me, and the thorn must pierce your heart, and your

life-blood must flow into my veins, and become mine.69

Wilde hat hier die beiden Prüfungen, die Andersens Mutter bestehen muss,

zusammengebracht. Zum ersten der Gesang in der Nacht, zum Anderen folgende Szene

bei Andersen:

68

Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray. London: Penguin Popular Classics, 2000, 212. 69

Oscar Wilde. The Nightingale and the Rose. In: The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 26.

44

Og hun trykkede Tornebusken til sit Bryst, saa fast, for at den ret kunde opvarmes,

og Tornene gik lige ind i hendes Kjød, og hendes Blod flød i store Draaber, men

Tornebusken skjød friske grønne Blade og der kom Blomster paa i den kolde

Vinter-Nat.70

Die Mutter bei Andersen und die Nachtigall bei Wilde bezahlen mit ihrem Herzblut und

schenken dem Dornen- bzw. dem Rosenbusch ihr leben, damit diese blühen. Bei Wilde

entsteht im Gegensatz zu Andersen, wo der gesamte Busch Blätter und Blüten trägt, nur

eine einzige rote Rose, aber mehr benötigt der Student nicht.

Mutter und Nachtigall teilen noch ein weiteres Schicksal. Ihr Opfer war völlig umsonst.

Beide haben alles gegeben, was sie hatten, erhalten aber im Gegenzug dazu nicht, was sie

wollen. Die Mutter muss ohne ihr Kind zurückbleiben und die Rose, das Symbol für das

Opfer der Nachtigall, für ihre Überzeugung, für die wahre Liebe, wird abgelehnt. Der

Student erfüllt den Wunsch der Nachtigall, seine Liebe immer in Ehren zu halten, nicht.

Er wirft die Rose in den Dreck.

Neben „The Nightingale and the Rose“ zeigt „Die Geschichte einer Mutter“ auch

Ähnlichkeit mit „The Happy Prince“. Der glückliche Prinz opfert wie die Mutter seine

Schönheit aber auch seine Augen. Den Rubin seines Schwertes lässt er durch die

Schwalbe zu einer armen Frau bringen, deren krankes Kind im Bett liegt. Es wirkt

beinahe so, als solle sich die Mutter bei Wilde das Leid ersparen, das der Mutter bei

Andersen widerfährt. Im Gegensatz zu Andersens Mutter ist das Opfer des glücklichen

Prinzen nicht überflüssig, wenn es auch wie bei der Nachtigall im Verborgenen bleibt.

Der glückliche Prinz und die Schwalbe, die ihr Leben für die Freundschaft zu ihm opfert,

erhalten ein neues Leben im göttlichen Paradies.

Das Dornenopfer von Mutter und Nachtigall erinnert an den Opfertod Jesu. In vielfältigen

Darstellungen ist das Kreuz Christi ein Rosenstock, seine Wunden sind Rosen oder die

Dornen der Rose sind Nägel des Kreuzes.71 Bei Wilde finden sich noch weitere

Anlehnungen an die Christusfigur. In „The selfish Giant“ bekehrt das Jesuskind selbst

den Riesen zur Nächstenliebe. Es zeigt ihm die blutenden Wunden an den Händen, die

von den Nägeln der Kreuzigung stammen. „The Young King“ vervollständigt dieses Bild.

70

H. C. Andersen: Historien om en Moder. 1848. In: Samlede eventyr og historier. København: Høst og

Søn, 2011, 325. (Übersetzung: Und sie drückte den Dornenbusch gegen ihre Brust, so fest, damit er richtig

erwärmt werde, und die Dornen drangen in ihr Fleisch, und ihr Blut floss in großen Tropfen, aber der

Dornenbusch trieb frische grüne Blätter und bekam Blüten in der kalten Winternacht.) 71

Regina Gentz. Das erzählerische Werk Oscar Wildes. Literarische Studien. Band 3. Frankfurt am Main:

Peter Lang – Europäischer Verlag der Wissenschaften, 1995, 79.

45

Die Figur des jungen Königs selbst erinnert an Jesu, trägt er doch zu seiner eigenen

Krönung eine Dornenkrone.

3.3.4. Das Gebet

Das Gebet nimmt einen wichtigen Platz in einigen Märchen beider Autoren ein. Das

Vergessen auf das Gebet, wie es Karen in „Die roten Schuhe“ und Kay in „Die

Schneekönigin“ bei Andersen passiert, zieht Konsequenzen nach sich und nur ein Gebet

kann sie retten. Karen denkt während ihrer Konfirmation nur an die roten Schuhe und

während eines Kirchgangs vergisst sie wegen ihrer Schuhe das Vaterunser zu beten. Als

Kay der Schneekönigin begegnet will er ebenfalls das Vaterunser beten, kann sich aber

nur – in einer rationalen Vernunftswelt verloren – an das große Einmaleins erinnern.

Karen kann sich selbst helfen, erfährt jedoch erst Vergebung, nachdem sie wahre Einsicht

gezeigt hat, sie für sich alleine betet ohne sich anderen in der Kirche zeigen zu müssen.

Beim jungen König ist es das Gebet, mit dem er sich endgültig gegen die Sünden der

reichen Würdenträger und seine eigenen richtet, damit ihm die höchste Vergebung zu Teil

wird und er von Gott selbst gekrönt wird. Der Fischer nennt bei Wilde Gottes Namen und

zeichnet das Kreuz nach, als er am Hexensabbat dem Teufel persönlich gegenübersteht

und die Hexe von ihm verlangt diesem zu huldigen. Dieses kurze Gebet vertreibt den

Teufel und rettet den Fischer und seine noch mit ihm vereinte Seele, da sie sonst

endgültig verloren wären. Oftmals kann sich der Sünder aber nicht selbst retten. Er

benötigt die Fürbitte eines frommen sündenfreien Menschen. Inger ist zu sehr in ihrem

Hochmut und späteren Selbstmitleid gefangen, so dass sie alleine keine Einsicht finden

kann, die jedoch nötig ist, um Gnade zu erlangen. Erst als ein Kind auf Erden ihr

Schicksal beweint, beginnt Inger Reue ihre Verfehlungen zu empfinden. Dieses Kind

betet Jahre später auch für Inger in der Stunde ihres eigenen Todes, die daraufhin den

letzten ihr noch verbliebenen Hochmut ablegt. Ihre Seele wird aus der Hölle befreit und

kann die verbliebene Buße selbst tun. Ähnlich wie Inger ergeht es Sir Simon in „The

Canterville Ghost“. Auch seine Seele findet keinen Frieden. Einst aus Eifersucht zum

Mörder geworden, muss er als Geist in seinem früheren Schluss herum spuken. Nur ein

unschuldiges Mädchen, das um ihn weint und für ihn betet und ihn zu wahrer Reue

bewegt, kann ihn befreien. Kay kann sich ebenfalls nicht selbst retten. Zu sehr steht er im

Bann der Schneekönigin. Es ist Gerda, die nach ihm sucht und ein kurzes Gebet für ihn

46

spricht, das lautet: „Roserne vokser i Dale, der får vi Barn Jesus i Tale“.72

Dabei handelt

es sich um zwei Zeilen des dänischen Kirchenliedes Den yndigste Rose er funden (1732,

Die anmutigste Rose ist gefunden) des pietistischen Dichterpfarrers Hans Adolph Brorson

aus dem 18. Jahrhundert. Diese zwei Zeilen des Liedes verwendet Andersen häufig in

„Die Schneekönigin“. Es begleitet die Kinder von Beginn an und wird Teil ihres inneren

Wandels.

3.3.5. Unschuld

Das Motiv vom unschuldigen Kind findet sich häufig bei Andersen. So ist es ein kleines

Kind, das den Mut aufbringt die Nacktheit des Kaisers in „Des Kaisers neue Kleider“

aufzudecken. Ein kleines unschuldiges Kind weint um Inger, als sie in der Hölle ist. Auch

wenn dieses Kind als alte Frau stirbt, so ist es im Himmel wieder dasselbe unschuldige

Kind, als es für Inger betet. Bei Wilde findet man eine Parallele in der Erzählung „The

Canterville Ghost“ (1887). Virginia als personifizierte Unschuld, wie es der Name verrät,

ist die einzige, die Sir Simon erlösen kann.

Allerdings kann ein Protagonist im Märchen auch seine Unschuld verlieren oder nie

unschuldig gewesen sein, was dazu führt, dass dieser sich erst beweisen muss. Karen, der

junge König, Inger und das Sternenkind verlieren ihre Unschuld durch Selbstverliebtheit

und den Hang zur eigenen Schönheit. Der Fischer lässt sich durch seine Seele verführen,

die Welt der Unschuld zu verlassen und sich der Sünde hinzugeben. Durch

unterschiedlichste Prüfungen erfahren sie Läuterung, die sie ihrem Platz im Himmel

näher bringt. Karen muss sich in Demut üben, der junge König die Auswirkungen seines

Handelns erkennen, Inger ihren Stolz ablegen und das Sternenkind, neben all diesen

Dingen, Nächstenliebe lernen. Diese Einsicht führt sie zur höheren Erkenntnis.

Auch der Untergang der Unschuld ist Thema bei Andersen und Wilde. In „Der Schatten“

verliert das Gute gegen das Böse. Der Gelehrte, der das Gute und somit die Unschuld

verkörpert, wird hingerichtet. In „The Fisherman and his Soul“ stirbt die Meerjungfrau,

das Symbol für die einstige Unschuld des Fischers, als dieser sich wieder mit der Seele

vereint und der Sünde verfällt. Der Tod der Unschuld ist auch Thema in „The Birthday of

72

H.C. Andersen. Snedronningen. In: Samlede Eventyr og Historier. København: Høst og Søn, 2011. 239.

(Übersetzung: Ich liebe die Rosen in all ihrer Pracht, doch mehr noch den Heiland, der seelig und macht.

Aus: H.C. Andersen. Märchen. Stuttgart: Reclam, 2006, 353. )

47

the Infanta“ (1891). Nassaar spricht zwar davon, dass „the Infanta remains in the world of

innocence from beginning to end“73, jedoch ist es vielmehr so, dass der Zwerg die

Unschuld verkörpert. Er entstammt einer natürlichen, lebendigen Umgebung,

abgeschottet vom Bösen. Dem Zwerg ist nicht bewusst, dass neben seiner eigenen Welt

noch eine andere existiert, die mit seiner unvereinbar ist. Die Infantin lebt in einer starren

Welt, der der Mief des Todes anlastet und seine Unschuld längst verloren hat. Wilde

schafft mit der Beschreibung des Palastes ein Symbol für das Böse, das die Entwicklung

und das Überleben jeglicher Unschuld unmöglich macht. Die Infantin ist zwar ein Kind,

hat aber nie etwas außerhalb der Palastmauern kennengelernt. Sie war also nie Teil einer

unschuldigen Welt und konnte nie Verständnis für eine solche entwickeln. Eine

Konfrontation führt unweigerlich zum Untergang einer der beiden Welten und/oder einem

ihrer Vertreter. Der Zwerg wird der Infantin zu deren Belustigung vorgeführt. In seiner

naiven Unschuld glaubt er ein Teil ihrer Welt zu sein. Die Infantin bestärkt ihn in seinem

Irrglauben, als sie ihm eine weiße Rose zuwirft. Er ist sich der Regelwidrigkeit dieser Tat

nicht bewusst, die Infantin macht dies aber gezielt, um ihre Hofdame zu verärgern und

beweist, dass sie sehr wohl weiß, was sie tut. Die Erkenntnis über seinen Irrtum bricht das

Herz des Zwerges. Das Symbol für die Welt der Unschuld wird also zerstört. Die Infantin

reagiert kaltherzig auf den Tod des Zwerges und untermauert damit ihren Platz in der

Welt des Bösen.

3.6.6. Die höhere Erkenntnis – die Liebe Gottes

Nach dem Sündenfall gilt es für die Protagonisten von Andersens und Wildes Märchen

zur höheren Erkenntnis zu gelangen. Sie müssen sich die göttliche Vergebung und Gnade

verdienen, um einen Platz im Paradies zu erlangen und die Liebe Gottes zu erfahren.

Liebe, Nächstenliebe, Selbstaufopferung, Leid und Selbsterkenntnis bringen die

Protagonisten Dem Ziel der Erkenntnis und somit Gott näher. Nicht nur das Ablegen der

Sünden ist nötig, sondern die völlige Selbstaufgabe. In Wildes Prosagedicht „The Teacher

of Wisdom“ (1894) beschreibt Wilde den Weg des Protagonisten von der Erkenntnis

Gottes zur wahren, höheren Erkenntnis. Dieser teilt all sein Wissen über Gott und gibt

dadurch immer mehr von seiner eigenen Erkenntnis an andere weiter, bis ihm selbst kaum

73

Christopher S. Nassaar: Into the Demon Universe: A Literary Exploration of Oscar Wilde. New Haven

and London: Yale University Press, 1974, 28.

48

noch welches geblieben ist. Er zieht sich als Eremit zurück und weigert sich, jemals

wieder über Gott zu sprechen, um nicht auch noch den Rest seiner Erkenntnis zu

verlieren. Als ihm ein Räuber begegnet, weigert er sich trotz Todesdrohung seinen

größten Besitz, das Wissen über Gott, herauszugeben. Doch als der Räuber droht in der

Stadt der sieben Sünden zu verschwinden, gibt der Eremit ihm, was er verlangt. Die

Trauer über den Verlust des Wissens ist groß, dieser sagt jedoch: „Before this time thou

hadst the perfect knowledge of God. Now thou shalt have the perfect love of God.“74 Die

Liebe Gottes zu erfahren ist demnach die wahre und höhere Erkenntnis, eine Aussage, die

man durchaus auch auf Andersen übertragen kann. Denn erst als Karen und Inger, aber

auch Wildes Sternenkind, die Hoffnung aufgeben, dass ihnen jemals Gnade zu Teil wird,

erfahren sie göttliche Vergebung und die Erlösung ihrer Seele. Gerdas Liebe erlöst Kay

von der Schneekönigin, immer begleitet von dem zweizeiligen Gebet gehen sie den Weg

von der kindlichen Unschuld zur wahren Erkenntnis. Die Liebe ist auch der Schlüssel zur

Erlösung des Fischers und seiner Seele. Durch den Tod der geliebten Meerjungfrau

kommt es zur Wiedervereinigung von Fischer und Seele und somit auch zur Erlösung

aller drei. Auch der glückliche Prinz und die Schwalbe erhalten ihren Platz im Himmel.

Die Schwalbe gibt ihr Leben aus Freundschaft und Liebe zum Prinzen. Dieser entsagt all

seinen irdischen Besitztümern aus Nächstenliebe und durch den Tod der Schwalbe bricht

auch sein Herz. Beiden verhilft die völlige Selbstaufgabe zur göttlichen Gnade. Der

eigensüchtige Riese öffnet sein Herz für die Kinder. Er lernt Warmherzigkeit und

Nächstenliebe, wofür das Jesuskind ihn persönlich ins Paradies geleitet. Jede der oben

genannten Figuren erfährt Gottes wahre Liebe und Findet so seinen Frieden.

3.3.7. Glaube oder Wissenschaft

Glaube und Wissenschaft sind nur selten in Einklang zu bringen. Die (Natur-)

Wissenschaft ist etwas Greifbares und Logisches. Im Gegensatz dazu kann man den

Glauben weder sehen noch fühlen und selten verstehen. Man muss darauf vertrauen. Wer

dieses Gottvertrauen nicht in Frage stellt, kann zur höheren Erkenntnis gelangen und die

göttliche Liebe erfahren.

74

Oscar Wilde. The Teacher of Wisdom, 1894. http://www.oscarwildecollection.com/

(Zugriff: 7. November 2012)

49

In „Die Schneekönigin“ kann Kay die gottgegebene Schönheit der Natur nicht mehr

wahrnehmen, nachdem er eine Spiegelscherbe, von dem Spiegel den einst der Teufel

geschaffen hat, ins Auge und eine ins Herz bekommen hat. Die Spiegelscherben

bewirken, dass Kay alles verzerrt wahrnimmt und das Schöne und Gute nicht mehr

erkennen kann. Sein Interesse gilt nur mehr den geometrischen Formen der

Schneeflocken. Anstatt an sein Gebet, denkt er nur an die Mathematik. Wildes Student

kennt nur seine Bücher. Er beschränkt sich nur auf die Wissenschaft und erweitert seinen

Horizont nicht darüber hinaus. Kay kann nicht anders als sich mit Logik zu beschäftigen,

der Student versucht nicht einmal, sein Wissen über die Wissenschaft hinaus zu

erweitern. Die Nachtigall ist das Gegenstück zum Studenten. Sie verkörpert die Liebe und

das absolute Vertrauen. Gerda ist Kays Nachtigall. Ihre unerschütterliche Liebe und ihr

Vertrauen, Kay finden und retten zu können, helfen ihr bei der Suche. Der Student ist

unfähig das Lied der Nachtigall zu verstehen, da er im Grunde kein Verständnis von

Liebe und Vertrauen hat, da diese keiner Logik folgen er aber nur dieser mächtig ist.

Seine Liebe zur Professorentochter wird enttäuscht und er schwört der Liebe ab. Für ihn

gibt es nur noch die Wissenschaft und seine Bücher. So wird er die göttliche, wahre Liebe

nie erfahren. Die Nachtigall ist für ihre Überzeugung gestorben. Sie hat nie ihren Glauben

verloren und die göttliche Liebe gelebt und erlebt. Kay muss für die Schneekönigin das

Wort Ewigkeit zusammenfügen, aber kein Teil passt ins andere. Dies ist nicht mit Logik

zu schaffen. Gerdas Liebe, die die Spiegelscherben zum Schmelzen bringt, und Kays und

ihre Freude über die Wiedervereinigung, formen das Wort Ewigkeit. Kay ist gerettet, hat

er doch im Gegensatz zum Studenten zum Glauben gefunden.

3.4. Schönheit

Schönheit spielt in einigen Märchen Andersens und Wildes eine zentrale Rolle,

verbunden mit dem Thema Hässlichkeit. Nicht nur der physische sondern auch der

charakterliche Aspekt ist in diesem Zusammenhang zu nennen.

Im Märchen „Den grimme Ælling“ (1844, Das hässliche kleine Entlein) verbindet

Andersen physische Schönheit eng mit dem persönlichen Glück des Protagonisten,

während Hässlichkeit Ablehnung, Leid, Verfolgung und Einsamkeit bedeutet. Wilde

greift diese Idee in „The Birthday of the Infanta“ auf, wo physische Schönheit

zwangsläufig zur Ablehnung physischer Hässlichkeit führt. Die zentrale Bedeutung

50

physischer Schönheit führt zwangsläufig zum Untergang. Im Zentrum des Märchens

stehen eine wunderschöne Infantin und ein hässlicher, buckliger Zwerg. Wie Andersens

Entlein wird er von seinen Eltern abgelehnt, jedoch ist er tatsächlich eine hässliche

Missgeburt, während das Entlein in Wirklichkeit ein schöner Schwan in der falschen

Umwelt ist. Der Zwerg ist sich seines Aussehens nicht bewusst und in seiner Umgebung

glücklich. Das Entlein, das sich seines Äußeren bewusst ist, versinkt in tiefer Traurigkeit.

Erst die Erkenntnis ein schöner Schwan zu sein, bringt ihm das Glück. Die Infantin ist

optisch vergleichbar mit einem Schwan, im Inneren aber ein moralisches Monster. Ihr

Herz ist starr und kalt, wie die sie umgebende Atmosphäre am spanischen Hof.

Äußerliche und künstliche Schönheit bestimmen den Alltag, in dem Moral und Akzeptanz

keinen Platz haben. Die Verehrung physischer Schönheit schafft falsche Werte, die der

Zwerg mit der Infantin teilt und die ihn schließlich zerstören. Denn auch der Zwerg

verehrt die äußere Schönheit der Infantin und die künstliche Schönheit des Palastes, ist

sich jedoch seiner eigenen Hässlichkeit und somit der Tatsache, dass er nicht in diese

Welt passt, nicht bewusst. Die Erkenntnis darüber zerstört die Illusion der Schönheit des

Zwerges und führt zu seinem Tod.

Eine Variation des Themas zeigt Wilde in „The Happy Prince“. Als hübscher Prinz und

als vergoldete mit Edelsteinen besetzte Statue bewundern ihn die Leute und er ist in der

Gesellschaft anerkannt. Anders als bei Andersens Entlein bedeutet das für den Prinzen

aber nicht das persönliche Glück. Er ist, ganz im Gegenteil, innerlich unglücklich. Erst

die Aufgabe seiner Schönheit, womit er den Menschen hilft, macht ihn glücklich. Doch

der Verlust seiner äußeren Schönheit kostet ihn die Akzeptanz in der Gesellschaft, denn

„as he is no longer beautiful he is no longer useful“75 und das bringt mit sich, dass er von

den hohen Würdenträgern eingeschmolzen wird.

Der innere beziehungsweise charakterliche Zustand eines Protagonisten kann auch

Einfluss auf sein Äußeres nehmen. Die physische Erscheinung wird zum der Spiegel der

Seele. In den Märchen „Die roten Schuhe“, „Das Mädchen, das auf Brot trat“ und „The

Star-Child“ verdirbt die physische Schönheit der Protagonisten deren Charakter. Als

Konsequenz verlieren sie diese Schönheit. Karen verliert in „Die roten Schuhe“ ihre

Beine mit den roten Schuhen, die sie als Symbol ihrer Besonderheit betrachtet. Inger aus

„Das Mädchen, das auf Brot trat“ und das Sternenkind ereilt ein ähnliches Schicksal. Sie

werden hässlich. Ihr Äußeres widerspiegelt den inneren Makel, der einzig durch

75

Oscar Wilde. The Happy Prince. In: The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 21.

51

Erkenntnis und Sühne behoben werden kann. Inger erhält mehr als ihr altes Äußeres,

nämlich Gnade und Erlösung. Das Sternenkind erlangt durch Läuterung wieder seine alte

Schönheit zurück, da nun der charakterliche Zustand und die äußere Erscheinung in

Einklang sind. In The Picture of Dorian Gray schenkt Wilde seinem Protagonisten ein

Leben in ewiger Schönheit, indem er sein Schicksal mit dem eines Bildes verknüpft. Mit

jedem Jahr, das Dorian Gray nicht altert, schreitet sein moralischer Verfall stetig voran. In

seinem Äußeren spiegelt sich diese charakterliche Schwäche nicht, das Gemälde gleicht

dafür immer mehr dem Bild eines hässlichen Monsters. Dorian bleiben Erkenntnis und

Läuterung versagt, was zwangsläufig zu seinem Untergang führt.

3.5. Das Spiegelmotiv

Der Spiegel ist ein zweideutiges Motiv. Zum einen steht er als Symbol für die Eitelkeit,

zum anderen für Selbsterkenntnis, Klugheit und Wahrheit. Andersen und Wilde greifen

diese Symbolik mehrfach in ihren Märchen auf.

In „Die roten Schuhe“ und „The Star-Child“ ist der Spiegel Symbol für die

Selbstverliebtheit der Protagonisten. Karen versichert der Spiegel: „Du er meget mere end

nydelig, du er deilig!”76 Das Sternenkind blickt in keinen Spiegel, bestaunt aber sein

eigenes Spiegelbild im Brunnen und ”look down at the marvel of his own face, and laugh

for the pleasure he had in his fairness.”77 Diese Selbstverliebtheit fördert den Hochmut

beider. Für das Sternenkind, aber auch Inger aus Andersens ”Das Mädchen, das auf Brot

trat” wird das Spiegelbild zum Spiegel der Seele. Zur Strafe für seine Untaten verlieren

beide ihre Schönheit. Als das Sternenkind sein verändertes Spiegelbild erblickt, beginnt

in ihm der Wandel zur Selbsterkenntnis. Ingers Eisicht folgt allerdings erst später. Wilde

erweitert das Motiv vom Spiegel der Seele in ”The Picture of Dorian Gray”. Hier ist es

kein Spiegel, der seinem Betrachter die Sünden vor Augen führt sondern ein Gemälde,

das gleichzeitig auch zu Dorian Grays Gewissen wird. Dadurch ist es eine ständige

Bedrohung für ihn, dass die Wahrheit vor anderen aufgedeckt wird. In ”Das hässliche

Entlein” und ”The Birthday of the Infanta” erkennen die beiden Protagonisten die

76

H.C. Andersen. De røde sko. In: Samlede Eventyr og Historier. København: Høst og Søn, 2011, 264.

(Übersetzung: Du bist mehr als niedlich, du bist schön!) 77

Oscar Wilde. The Star-Child. In: The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin Popular Classics,

1994, 188.

52

Wahrheit über sich selbst durch ihr Spiegelbild. Dies kann, muss aber nicht zwangsläufig

in eine positive Richtung führen. Bei Andersen erkennt das Entlein, dass es in Wahrheit

ein schöner Schwan ist, der in die falsche Umgebung geboren wurde und am Ende im für

ihn richtigen Umfeld landet. Während für das Entlein die Wahrheit Glück und

Anerkennung bedeuten, muss der Zwerg bei Wilde das Gegenteil erfahren. Dieser glaubt

zu Beginn sich auf einer Ebene mit der wunderschönen Infantin zu befinden. Für ihn gibt

es keinen Statusunterschied, weder gesellschaftlich noch optisch. Der Zwerg glaubt an

eine gemeinsame Zukunft mit der Infantin, ist sich seines Äußeren aber nicht bewusst.

Als er in den Spiegel blickt, muss er die bittere Wahrheit erkennen, eine missratene Laune

der Natur zu sein:

So it was he who was misshapen and hunchbacked, foul to look at and grotesque.

He himself was the monster, and it was at him that all the children had been

laughing, and the little Princess who he had thought loved him she too had been

merely mocking at his ugliness, and making merry over his twisted limbs.78

Die Erkenntnis über sein wahres Aussehen und nur ein Objekt der Belustigung für den

gesamten Hofstaat gewesen zu sein, bricht dem Zwerg das Herz und er stirbt. Dass die

Wahrheit grausam sein kann zeigt Wilde auch im Märchen „The Young King“. Hier

bedient er sich zusätzlich noch des Traummotives. In der Nacht vor seiner Krönung hat

der junge König drei Träume, die ihm die Grausamkeit und Ausbeutung in der Welt vor

Augen führen. Im letzten Traum muss er sich vor einen Spiegel stellen, der ihm zeigen

soll, wer für all das Leid verantwortlich ist, und er sieht sich selbst. In „Die

Schneekönigin“ erzählt Andersen von einem Spiegel, den der Teufel selbst gefertigt hat.

Dieser verzerrt die Wahrheit und zeigt dem, der hineinblickt, nur das Schlechte und

Hässliche. Mit den Träumen des jungen Königs verhält es sich ähnlich. Zwar hat sie nicht

der Teufel gemacht, aber sie führen dem König die negativen Seiten der schönen Dinge

vor Augen, die er so liebt. Jedes noch so schöne und edle Gewand und jeder noch so

schimmernde Edelstein verlieren an Glanz und Wert, wenn Blut und Tod an ihm haften

und jeder König, der dies zulässt, ist für sein Amt unwürdig. Diese Wahrheit muss der

junge König lernen, als er in den Spiegel blickt.

78

Oscar Wilde. The Birthday oft he Infanta. The Happy Prince and Other Tales. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 124-125.

53

3.6. Blumenmotiv

Eine Blume sagt mehr als tausend Worte. Die Rose in „ Die Geschichte einer Mutter“ und

„The Nightingale and the Rose“ als Symbol des höchsten Opfers und größter Liebe ist nur

ein Beispiel von vielen bei Andersen und Wilde.

3.6.1. Erkenntnis und göttliche Vergebung

Die Blumen können Zeichen für Erkenntnis und/oder die (göttliche) Vergebung sein. So

beginnt am Ende des Märchens ein für den Protagonisten während der Handlung

entscheidender Gegenstand oder aber auch das (vorgesehene) Grab zu blühen. In

Andersens „De vilde svaner“ (1838, Die wilden Schwäne) soll Elise als Hexe auf dem

Scheiterhaufen verbrannt werden. Im letzten Augenblick kann ihre Unschuld bewiesen

und sie gerettet werden. In diesem Moment beginnt der Scheiterhaufen zu blühen: „ […]

der stod en duftende Hæk, så høj og stor med røde Roser; øverst sad en Blomst, hvid og

skinnende, den lyste som en Stjerne.“79 Die weiße Rose symbolisiert Elises Unschuld. Die

roten Rosen signalisieren das glückliche Ende. Die Wahrheit wird erkannt und die Liebe

hat gesiegt. Rote Rosen blühen auch für Karen und den jungen König nach ihrer

Läuterung als Zeichen für Gottes Vergebung und Liebe in Andersens Märchen „De røde

Sko“ (1845, Die roten Schuhe) und Wildes Märchen „The Young King“ (1888). Der

Engel, dem Karen auf dem Friedhof begegnet und ihr befiehlt, dass sie tanzen muss, bis

sie stirbt, hält ein flammendes Schwert. Als Karen Demut gelernt hat und ihre Seele bereit

ist in den Himmel zu fahren, begegnet ihr der Engel erneut. Diesmal hält er anstatt des

Schwertes „en deilig grøn green, der var fuld af roser”80 Ein vergleichbares Bild

präsentiert sich in ”The Young King”. Der junge König wünscht sich zu seiner Krönung

ein mit Rubinen besetztes Zepter. Nach seiner Läuterung wählt er stattdessen einen

hölzernen Hirtenstab. Während der Krönung des Königs durch Gott beginnt der Stab zu

blühen:

79

H.C. Andersen. De vilde svaner. In: Samlede Eventyr og Historier. København: Høst og Søn, 2011, 126.

(Übersetzung: Da stand eine duftende Hecke, hoch und groß mit roten Rosen; zuoberst saß eine Blume.

Weiß und strahlend, die wie ein Stern leuchtete.) 80

H.C. Andersen. De røde sko. In: Samlede Eventyr og Historier. København: Høst og Søn, 2011, 267.

(Übersetzung: einen schönen grünen Zweig, der voller roter Rosen war.)

54

The dry thorn blossomed, and bare roses that were redder than rubies. Whiter than

fine pearls were the lilies, and their stems were of bright silver. Redder than male

rubies were the roses, and their leaves were of beaten gold.81

Sir Simons Vergebung seiner Sünden und die Rettung seiner Seele wird in „The

Canterville Ghost“ ebenfalls durch die Blüte eines verdorrten Baumes ausgedrückt. Laut

einer Prophezeiung muss ein unschuldiges Mädchen um ihn weinen und für seine Seele

beten. Als dies geschehen ist und Virginia mit ihrer Familie Sir Simons sterbliche

Überreste bergen, rufen ihre Geschwister aus: „[…] the old withered almond tree has

blossomed. I can see the flowers quite plainly in the moonlight.“82 Und Virginia antwortet

folgerichtig: „God has forgiven him.“83 In „The Fisherman and his Soul“ blüht am Ende

des Märchens das Grab der Meerjungfrau, des Fischers und seiner Seele. Die

Protagonisten haben Vollkommenheit und Gottes Vergebung und Liebe erreicht. Der

Duft dieser Blumen verströmt dieses Gefühl und zieht alle in ihren Bann, sogar den

Priester, der den Fischer und die Meerjungfrau einst verfluchte und in Gegenwart der

Blumen nur von Gottes Liebe predigen kann. Der Riese in „The Selfish Giant“ wird in

einem Meer aus weißen Blütenblättern begraben gefunden, nachdem Jesus ihn in den

Himmel geholt hat. Auch hier signalisieren Blumen die göttliche Vergebung und Liebe.

3.6.2. Der sprechende Blumengarten

Ganz anders verhält es sich mit den Blumendarstellungen in „Die Schneekönigin“ und

„The Birthday of the Infanta“. Hier dient der sprechende Blumengarten vor allem als

Füllelement und zur Verzögerung der Handlung. In beiden Märchen haben die Blumen

die Fähigkeit zu sprechen. Die erste Station bei ihrer Suche nach Kay führt Gerda in den

Blumengarten einer alten Frau. Jede einzelne Blume dort erzählt eine Geschichte aber

keine kann Gerda bei der Suche nach Kay helfen. Die Blumen hören nicht zu und reden

an Gerda vorbei. Sie halten sie auf und vertrödeln ihre Zeit. Auch der Zwerg bei Wilde

kommt am spanischen Hof in den Blumengarten. Auch hier dient dieses Element der

81

Oscar Wilde. The Young King. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 96. 82

Oscar Wilde. The Canterville Ghost, 1887. http://www.oscarwildecollection.com/

(Zugriff: 7. November 2012) 83

Oscar Wilde. The Canterville Ghost, 1887. http://www.oscarwildecollection.com/

(Zugriff: 7. November 2012)

55

Handlungsverzögerung. Er projiziert die Gesellschaft des Königshofes in die Blumen, die

den Zwerg auf grausame Art auf seinen Makel hinweisen.

3.6.3. Der paradiesische Garten

In „The Selfish Giant“ integriert Wilde einige Motive, die bei Andersen zu finden sind.

Der Garten des Riesen spiegelt sein Innerstes wider. Zu Beginn des Märchens erscheint

der Riese selbstsüchtig und verschließt sein Herz und seinen Garten vor den Kindern. Die

innere Kälte des Riesen zeigt sich im ewigen Winter, der im Garten herrscht: „The Snow

covered up the grass with her great white cloak, and the Frost painted all the trees silver.

Then they invited the North Wind to stay with them, and he came.“84 Bei Andersen findet

man das gleiche Motiv in „Paradisets Have“ (1838, Der Garten des Paradieses): „Det var

Nordenvinden, som traadte ind med en isnende Kulde, store Hagl hoppede hen ad Gulvet,

og Sneeflokkene fygede rundt om.“85

Wilde läutet mit diesem Motiv die Läuterung des Riesen ein, Andersen bereitet den

Prinzen auf seine Reise zum Paradiesgarten vor, wohin er mit Hilfe des Ostwindes

gelangt. Der Riese beginnt zu erkennen, dass es ohne Kinder keinen Frühling in seinem

Garten gibt, diese aber fern bleiben, wenn er nicht freundlich zu ihnen ist. Als er sein

Eigenbrötlertum ablegt und sein Herz öffnet, erschafft er sich und den Kindern ein kleines

Paradies auf Erden in diesem Garten und sichert sich so seinen Platz im Himmel.

Andersens Prinz gelangt bis zum Garten des Paradieses, kann aber die Prüfung der Fee

nicht bestehen, weshalb er aus dem Paradies verbannt wird und tausend Jahre auf eine

neue Chance warten muss.

84

Oscar Wilde. The Happy Prince and other Stories. London: Penguin Popular Classics, 1994, 35. 85

H. C. Andersen. Paradisets Have, 1838. http://www.hcandersen-homepage.dk/?page_id=1523

(Zugriff: 2. Dezember 2012). (Übersetzung: Es war der Nordwind, der mit der wahren Eiseskälte hereintrat;

große Hagelkörner fielen auf den Boden hernieder, und Schneeflocken stoben um ihn her. Aus: H.C.

Andersen. Märchen. Stuttgart: Reclam, 2006, 186. )

56

3.7. Armut und Reichtum

Ein wichtiges Thema in Andersens Leben aber auch in seinen Märchen ist der Gegensatz

von arm und reich. Andersen selbst wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, eine

Erfahrung, die ihn prägte und ihn für den Rest seines Lebens nicht los ließ. Er verdiente

mit seinen Werken viel Geld, lebte aber dennoch immer sparsam. Wilde führte ein

gänzlich anders Leben. Er wurde in eine reiche Bildungsschicht geboren. Es fehlte ihm an

nichts und doch verlor er im Lauf seines Lebens alles. So unterschiedlich die Leben der

beiden Autoren auch waren, beide thematisieren in ihren Märchen Armut und Reichtum,

nicht immer ohne sentimental zu werden. Im Kampf Arm gegen Reich zeigt Andersen

Sympathie mit den Armen, wie beispielsweise „Lille Claus og store Claus“ (1835, Der

kleine und der große Klaus). Er wählt gerne Protagonisten, die ihrer Armut entfliehen wie

im Märchen oder auch in seinem eigenen Leben. Mit Ausnahme von „The Happy Prince“

sind Wildes Märchen düsterer. Die Reichen beuten die Armen aus und verschulden damit

Leid und Tod, wie in „The Devoted Friend“ oder „The Young King“. Doch auch

Andersens Figuren schaffen nicht immer den Ausweg aus der Armut. „Den lille Pige med

Svovlstikkerne“ (1848, Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern) oder „Historien

om en Moder“ (1848, Die Geschichte einer Mutter) sind hier als Beispiele zu nennen.

Armut ist jedoch, vor allem bei Wilde, nicht immer nur ein Makel, der überwunden

werden kann. Sie wird als Schwäche gesehen, die Ziel für Hohn und Spott ist, oder aber

auch Ansatzpunkt für Unterdrückung ist.

In „The Happy Prince“ zeigt Wilde soziales Gewissen und bedient sich dabei an Motiven

Andersens. Die Näherin und ihr krankes Kind, der arme Poet oder auch das

Streichholzmädchen, denen Prinz und Schwalbe zu Hilfe kommen, erinnern eindeutig an

ihre Vorbilder aus Andersens Märchen. Die Statue, die als Prinz in Reichtum lebte und

nie mit Armut konfrontiert wurde, sieht das Leid der Stadtbewohner, das sie mit Hilfe der

Schwalbe mildern möchte. Für sie ist Armut etwas Faszinierendes, das sogar interessanter

ist als die Geschichten der Schwalbe über ferne Welten: „[…] but more marvellous than

anything is the suffering of men and of women. There is no Mystery so great as

57

Misery.“86 Denn nun sieht die Statue die reale Welt vor sich und versucht sie etwas besser

zu machen.

Als erstes opfert die Statue den Rubin aus seinem Schwert, um der Näherin und ihrem

Sohn zu helfen. Diese beiden Figuren erinnern an Andersens „Die Geschichte einer

Mutter“, wo eine Mutter das Bett ihres im Sterben liegenden Kind bewacht.

Danach pickt die Schwalbe der Statue ein Saphir-Auge aus, das einem armen Studenten

beim Beenden seines Schauspiels helfen soll. Der arme Künstler oder Student ist ein

häufiges Motiv bei Andersen, unter anderem in „Lykkens Kalosker“ (1838, Die

Galoschen des Glücks).

Als drittes gibt die Statue noch ihr letztes Augenlicht für ein kleines Streichholzmädchen,

das aus Angst vor dem Vater weint. Dabei wird man unweigerlich an Andersens „Das

kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ erinnert, mit dem niemand Mitleid hat und das

am Ende des Märchens in der Kälte stirbt. Wie bereits bei der Näherin hat man das

Gefühl, dass Wilde das Schicksal von Andersens Figuren zum Besseren wenden will.

Hätte jemand soziales Engagement gezeigt, hätte es nicht so weit kommen müssen. Als

Letztes opfert die Statue noch ihren Goldüberzug, um auch die restliche Armut aus der

Stadt zu verbannen, denn „the living always think that gold can make them happy.“87

Die Armut anderer ruft als Reaktion nicht immer Mitleid und Nächstenliebe hervor. In

„Pigen, som traadte paa Brødet“ (1859, Das Mädchen, das auf Brot trat) und „The Star-

Child“ schämen sich die Protagonisten für die Armut ihrer Eltern und lassen sie das

teilweise auch durch Grausamkeit spüren. Bei Andersen weigert sich Inger aus Scham vor

der Armut ihrer Mutter sie zu sehen und verdirbt sogar eher das Brot, das sie ihrer Mutter

gegen den Hunger bringen soll, als dass sie ihr schönes Äußeres befleckt. Das

Sternenkind bringt bei Wilde seinen Pflegeeltern keinen Respekt entgegen, da der

Pflegevater nur ein Holzfäller ist und sie alle arm sind. Darüber hinaus quält es Bettler

und beschimpft diese, wie auch seine Mutter, die es sogar verleugnet und wegschickt.

In einer Zwei-Klassen-Gesellschaft gehen Reichtum und Armut Hand in Hand. Die

Reichen unterdrücken die Armen und beuten sie aus. In „Der kleine und der große Klaus“

nutzt der große Klaus die Arbeitskraft des kleinen Klaus auf, ist aber bedacht darauf den

86

Oscar Wilde. The Happy Prince. 1888. In: The Happy Prince and other Stories. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 19. 87

Oscar Wilde. The Happy Prince. 1888. In: The Happy Prince and other Stories. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 19.

58

höheren sozialen Status ihm gegenüber zu wahren. Dabei schreckt er auch vor Mord nicht

zurück. Bei Wilde verhält es sich in „The Devoted Friend“ ähnlich. Der reiche Müller

Hugh nutzt den armen Hans und seine Gutmütigkeit aus ohne eine Gegenleistung zu

erbringen. Dabei nimmt er auch dessen Tod in Kauf. In „The Young King“ thematisiert

Wilde die regelrechte Unterdrückung der Armen: „In war […] the strong make slaves of

the weak, and in peace the rich make slaves of the poor. We must work to live, and they

give us such mean wages that we die.“88 Wildes Verweise auf soziale Missstände bleiben

allgemein gehalten. Es wird jedoch sehr deutlich, dass sein Wissen um das soziale

Unrecht seiner Zeit umfangreich ist. Allerdings wird auch klar, dass Wilde seine

Umgebung für unfähig hält an der Situation einer Zweiklassengesellschaft etwas zu

ändern. Die Einstellung der Höflinge des jungen Königs zeigt dies deutlich: „And what

have we to do with the lives of those who toil for us?“89 oder „What hast thou to do with

us, and what we suffer?“90 Eine vergleichbare Einstellung zeigt sich aber auch bei den

Arbeitern: „Sir, knowest thou not that out of the luxury of the rich cometh the life of the

poor? By your pomp we are nurtured, and your vices give us bread. To toil for a hard

master is bitter, but to have no master to toil for is more bitter still.“91 Das weitaus größere

Problem sieht Wilde allerdings in der Akzeptanz des vermeintlichen Schicksals, das eine

Veränderung des Status Quo unmöglich macht, auch wenn man sich der Missstände

bewusst ist.

88

Oscar Wilde: The Young King. In: The Happy Prince and other Stories. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 83-84. 89

Oscar Wilde: The Young King. In: The Happy Prince and other Stories. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 91. 90

Oscar Wilde: The Young King. In: The Happy Prince and other Stories. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 93. 91

Oscar Wilde: The Young King. In: The Happy Prince and other Stories. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 92-93.

59

3.8. Ins Gegenteil verkehrt

3.8.1. Entgegengesetzte Figuren und Motive

3.8.1.1. Die Meerjungfrauen und die Poesie

Die Meerjungfrau aus „The Fisherman and his Soul“ findet bei Andersen zwei

Gegenstücke, einerseits die kleine Meerjungfrau aus dem gleichnamigen Märchen

andererseits die Poesie aus „Der Schatten“.

Bereits das Aussehen der Meerjungfrauen unterscheidet sich aber bei genauerer

Betrachtung. Andersens Meerjungfrau gleicht einem Menschen mit Ausnahme auf den

Fischschwanz anstatt ihrer Beine:

[...] men den yngste var den smukkeste af dem allesammen, hendes Hud var saa

klar og skjær som et Rosenblad, hendes Øine saa blaa, som den dybeste Sø, men

ligesom alle de andre havde hun ingen Fødder, Kroppen endte i en Fiskehale.92

Wildes Meerjungfrau An ihr kann man kaum irdische Züge erkennen.

Her hair was as a wet fleece of gold, and each separate hair as a thread of line gold

in a cup of glass. Her body was as white ivory, and her tail was of silver and pearl.

Silver and pearl was her tail, and the green weeds of the sea coiled round it; and

like sea-shells were her ears, and her lips were like sea-coral. The cold waves

dashed over her cold breasts, and the salt glistened upon her eyelids.93

Andersens Meerjungfrau will Mensch werden, um eine unsterbliche Seele zu erhalten.

Bei Wilde ist genau diese Seele das Hindernis. Seine Meerjungfrau sieht im

Menschlichen nichts Erstrebenswertes. Ganz im Gegenteil symbolisiert sie Schönheit und

Unschuld und der Kontakt mit dem Menschlichen und dem Bösen, das ein Teil von ihm

ist, tötet sie. Hier steht Wildes Meerjungfrau, die alles Gute verkörpert, im Gegensatz zu

Andersens Poesie in „Der Schatten“, die alles in sich vereint, das Gute und das Böse.

92

H.C. Andersen. Den lille Havfruen, 1837. http://www.hcandersen-homepage.dk/ (Zugriff: 8. Dezember

2012). (Übersetzung: aber die jüngste war doch die schönste von allen, ihre Haut war so durchsichtig und

so fein wie ein Rosenblatt, ihre Augen so blau wie das tiefste Meer, aber wie alle die anderen hatte sie keine

Füße, der Körper ging in einen Fischschwanz aus. H.C. Andersen. Märchen. Stuttgart: Reclam, 2006, 83-

84.) 93

Oscar Wilde: The Fisherman and his Soul. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 130.

60

Beide Meerjungfrauen haben eine einzigartige Stimme. Andersens Meerjungfrau muss

diese aufgeben, um Mensch werden zu können und den Prinzen zu erobern. Bei Wilde ist

es gerade der Gesang, der dem Fischer hilft seine Netze zu füllen und die seine Liebe zur

Meerjungfrau entflammt. Er kann jedoch nicht mit ihr vereint sein, solange er eine Seele

hat. Ganz im Gegensatz zu Andersens Meerjungfrau ist die Seele nicht das Zentrum der

Sehnsucht, sondern das Hindernis seine Sehnsucht und Liebe zu erfüllen.

Der Fischer kann im Gegensatz zu Andersens Meerjungfrau in seine eigene Welt

zurückkehren. Sie erwartet der Tod sobald der Prinz eine Andere heiratet. Allerdings

kann auch der Fischer, wenn er einmal die Unterwasserwelt verlassen hat nicht mehr

zurückkehren. Dieser Ausweg bleibt beiden verschlossen.

3.8.1.2. Die Unterwasserwelten

Auch die Unterwasserwelten unterscheiden sich voneinander. Andersens Unterwasserwelt

ist idyllisch und lebendig:

Nu maa man slet ikke troe, at der kun er den nøgne hvide Sandbund; nei, der voxe

de forunderligste Træer og Planter, som ere saa smidige i Stilk og Blade, at de ved

den mindste Bevægelse af Vandet røre sig, ligesom de vare levende. Alle Fiskene,

smaae og store, smutte imellem Grenene, ligesom heroppe Fuglene i Luften. Paa

det allerdybeste Sted ligger Havkongens Slot, Murene ere af Coraller og de lange

spidse Vinduer af det allerklareste Rav, men Taget er Muslingeskaller, der aabne

og lukke sig, eftersom Vandet gaaer.94

Wildes Unterwasserwelt spiegelt eine scheinbare Idylle wider. Sie gleicht aber

gleichzeitig eher einer künstlichen, anorganischen Welt:

94 H.C. Andersen. Den lille Havfrue, 1837. http://www.hcandersen-homepage.dk/ (Zugriff: 8. Dezember

2012). (Übersetzung: Nun muß man aber nicht etwa glauben, daß dort der nackte weiße Sandboden sei; o

nein, da wachsen die wunderbarsten Bäume und Pflanzen, die im Stengel und in den Blättern so

geschmeidig sind, daß sie sich bei der geringsten Wasserströmung wie lebendige Wesen bewegen. Alle

Fische, kleine und große, schlüpfen zwischen den Zweigen hindurch, gerade wie hier oben die Vögel in der

Luft. An der allertiefsten Stelleliegt das Schloß des Meerkönigs; die Wände sind von Korallen und die

hohen, spitzen Fenster von dem allerdurchsichtigsten Bernstein, das Dach besteht aus Muschelschalen, die

sich nach der Strömung des Wassers öffnen und schließen. Aus: H. C. Andersen. Märchen. Stuttgart:

Reclam, 2006, 83.)

61

[…] of the palace of the King which is all of amber, with a roof of clear emerald,

and a pavement of bright pearl; and of the gardens of the sea where the great

filigrane fans of coral wave all day long, and the fish dart about like silver birds,

and the anemones cling to the rocks, and the pinks bourgeon in the ribbed yellow

sand.95

Wilde kreiert mit der Unterwasserwelt eine starre Scheinwelt, während Andersen eine

eigene lebendige Welt schafft, in der es Leben gibt. Der Palast von Andersens

Meerjungfrau besteht zum Großteil aus organischen Materialien und ist immer in

Bewegung. Wildes Unterwasserpalast hingegen setzt sich nur aus anorganischen

Materialien zusammen. Auch die Tiere der Unterwasserwelt lassen Lebendigkeit

vermissen. Sie klammern sich fest, während sich bei Andersen alles mit der Strömung

bewegt.

3.8.1.3. Die Thematik des Außenseiters

Andersen fühlte sich Zeit seines Lebens als Außenseiter. Er kam aus armen Verhältnissen

und stieg in die höhere Bürgerschicht auf. Er wurde berühmt, verdiente viel Geld und war

anerkannt als Künstler. Jedoch fühlte er sich in Dänemark oft ausgegrenzt, da ihn

insbesondere die Familie Collin, die ihn und seinen Erfolg förderte, nie als gleichgestellt

anerkannte. Dennoch fand Andersen Anerkennung in der Gesellschaft. Wilde gehörte im

Gegensatz dazu seit seiner Geburt der höheren Gesellschaftsschicht an. Sein Lebensstil

brachte ihn jedoch in eine Außenseiterposition, die er bis zu seinem Tod inne hatte. Diese

gegensätzlichen Lebensschicksale spiegeln sich auch in der Thematik zweier Märchen

wieder: „Den grimme Ælling“ (1844, Das hässliche Entlein) und „The Birthday of the

Infanta“. Bei Andersen schafft es der Protagonist seiner Außenseiterposition zu

entkommen, bei Wilde scheitert er auf ganzer Linie und geht an dieser Außenseiterrolle

zu Grunde.

Andersens kleines Entlein wird in einem Entenhof als letztes Küken ausgebrütet. Von

Beginn an wird es wegen seiner Andersartigkeit gemobbt und sogar körperlich attackiert.

Sogar die eigene Mutter will es loswerden. Das Entlein flieht, findet aber keinen

Anschluss. Am Ende stellt sich heraus, dass es ein wunderschöner Schwan geworden ist.

95

Oscar Wilde: The Fisherman and his Soul. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 131.

62

Im Gegensatz dazu steht Wildes Zwerg in „The Birthday of the Infanta“. Er lebt im Wald

umgeben von der Natur. Der Zwerg erfährt nie von seiner Andersartigkeit und kennt

daher auch nicht das Gefühl der Ausgrenzung. Die Idylle ist dennoch getrübt. Der Vater

schämt sich für sein hässliches Kind und verkauft es an den spanischen Königshof, wo er

als Groteske für Belustigung sorgt. Das Aussehen des Zwerges steht im Gegensatz zur

Ordnung und Schönheit des Hofes und seiner Bewohner. Seine Natürlichkeit und

Lebendigkeit passen nicht in das starre Hofmilieu. In seiner Unwissenheit deutet der

Zwerg Spott und Hohn jedoch als Zustimmung seiner Zugehörigkeit. Im Blumengarten

wird er das erste Mal mit seine Außenseiterrolle konfrontiert, indem ihn die Blumen offen

beschimpfen und verhöhnen, ihn auf seine Hässlichkeit aufmerksam machen und seinen

Irrglauben, auf einer Ebene mit der Infantin zu stehen, harsch kritisieren. Danach folgt die

endgültige Konfrontation mit der Wahrheit. Der Zwerg sucht nach der Infantin und findet

einen Spiegel, der ihm seine Andersartigkeit vor Augen führt. Auf diese Erkenntnis folgt

der Tod.

Gemeinsam haben die Protagonisten aus „Das hässliche Entlein“ und „The Birthday of

the Infanta“, dass sie wegen ihrer Andersartigkeit verspottet und von ihren Familien

verstoßen werden. Allerdings überwiegen die Gegensätze beider Märchen. Andersens

Entlein wird ins falsche Milieu geboren und deshalb ausgegrenzt. Es hat

dementsprechend die Möglichkeit seiner Außenseiterrolle zu entkommen. Wildes Zwerg

wurde als Außenseiter geboren. Er ist eine groteske Absonderlichkeit der Natur, die

keinen Platz in der Gesellschaft finden kann. Bei Andersen findet der Außenseiter

Anerkennung, sobald er das für ihn richtige Umfeld gefunden hat. Bei Wilde besteht

diese Möglichkeit nicht. Einmal in der Außenseiterposition gefangen, gibt es keine

Möglichkeit dieser zu entkommen.

3.8.2. „Lille Claus og store Claus“ versus „The devoted Friend“ – Umkehrung

eines Märchens

Andersen und Wilde stellen in diesen Märchen einen armen und einen reichen

Protagonisten einander gegenüber. Charaktere, Verlauf und Ende der Märchen stehen

aber im völligen Gegensatz. Andersens Märchen steht der Volkstradition sehr nahe.

63

Wildes Text ist eine Parabel auf die Gesellschaft. Von der fröhlichen Leichtigkeit von

Andersens Märchen ist bei Wilde nichts mehr zu erkennen.

Der arme kleine Klaus arbeitet sechs Tage die Woche für den reichen großen Klaus,

damit er sich am Sonntag dessen Pferde für seine eigene Arbeit leihen kann. Da er aber an

diesem einen Tag die Pferde des großen Klaus für seine eigenen annimmt, erschlägt

dieser das eine Pferd des kleinen Klaus. Dieser ist klug und schlau und schlägt mit viel

List und Tücke Geld aus dem Pferdekadaver, womit der die Missgunst des großen Klaus

soweit schürt, dass dieser ihn zu töten versucht. Doch der kleine Klaus überlistet ihn

mehrfach, bis sich schließlich der große Klaus selbst töten lässt.

Bei Wilde hat der kleine Hans einen besten Freund, den großen Hugh. Dieser nutzt ihn

nach allen Regeln und über die Grenzen des Ertragbaren hinaus aus. Hugh lässt sich von

Hans beschenken, ohne etwas zurückzugeben. Dabei bringt er diesen um seinen gesamten

Verdienst. Im Winter, wenn Hans selbst nichts hat, kommt Hugh ihn weder besuchen

noch lädt er ihn ein, da er den Neid seines Freundes fürchtet. Da Hans über den Winter all

seine Habseligkeiten aus Not verkaufen musste, verspricht ihm Hugh einen alten,

kaputten und dienstuntauglichen Karren zu schenken, wenn Hans ein paar Arbeiten für

ihn erledigt. Diese sind so schwer, dass Hans all seine Zeit dafür aufbringen muss und

sein eigenes Auskommen verliert. Als Hughs Sohn sich verletzt, muss Hans bei einem

Unwetter den Arzt holen, wobei er verunglückt. Am Ende bezahlt Hans seine

Hilfsbereitschaft sogar mit dem Leben, doch Hugh lässt sich für seine Großzügigkeit dem

Freund gegenüber noch beim Begräbnis feiern.

Der große Klaus und Hugh haben neben ihrem Reichtum einiges gemeinsam. Beide

lassen ihre Gegenstücke die eigene Arbeit erledigen, wobei sie darauf bedacht sind ihre

Reichtümer nicht zu verlieren sondern noch zu vermehren. Sie wollen nichts hergeben,

was den großen Klaus sogar zu Gewalt treibt. Hugh macht seinem Freund dagegen ein

schlechtes Gewissen. Er erpresst Hans mit dem Karren und seiner scheinbaren

Freigiebigkeit. Der große Klaus ist im Gegensatz zu Hugh nicht sehr klug, dafür aber

leichtgläubig. Hugh ist ein großer Redner, der mit viel Wortgewalt und wenig Inhalt

jeden zu beeindrucken vermag, mit dem er spricht. Der große Klaus ist sich nie bewusst,

dass ihm der kleine Klaus an Klugheit überlegen ist und ständig überlistet, was auch zu

seinem Tod führt. Hugh dagegen scheint von der Richtigkeit seines Handelns selbst nicht

immer restlos überzeugt zu sein, weshalb er sich vor anderen immer mehr ins rechte Licht

rückt. Schließlich hat er den kleinen Hans um einen Arzt für seinen Sohn geschickt, ihm

dabei aber die lebensrettende Lampe verweigert.

64

Der kleine Klaus aber auch Hans unterscheiden sich deutlicher. Zwar sind beide

hilfsbereit, jedoch ist Klaus strebsamer und klüger, aber vor allem listig. Hans hingegen

ist genügsam, naiv und ungebildet und daher auch sehr leicht zu beeindrucken, was ihn

zu einem idealen Opfer für den redegewandten Hugh macht. Der kleine Klaus sieht in

sich und dem großen Klaus keinen Unterschied, außer dem Reichtum. Hans hingegen

bewundert Hugh und ist stolz einen so reichen und klugen Freund zu haben, dem er alles

recht machen will, um ihn bloß nicht zu verärgern. Er hinterfragt die Taten und

Argumente seines Freundes kaum. Der kleine Klaus schlägt Kapital aus der

Ungerechtigkeit des großen Klaus und bringt diesen sogar dazu sich töten zu lassen. Hans

fügt sich seinem Schicksal, opfert sich für Hugh auf und verliert dabei alles, selbst sein

eigenes Leben.

3.9. Charaktereigenschaften

Bei Andersen und Wilde finden sich in den Märchen Protagonisten mit ähnlichen

Charaktereigenschaften. Dabei transportieren beide Autoren die Oberflächlichkeit und

den Snobismus des Bürgertums mit ihrem ganz eigenen Humor so gekonnt, dass die

Märchen auch in der heutigen Zeit nichts an Aktualität eingebüßt haben. Man findet in

ihnen ebenso soziale Anklagen, Kritik an gesellschaftlichen Tatsachen, am Beamtentum

und der Bildungsschicht. Andersen und Wilde finden klare Worte, verzichten aber meist

auf direkte Anklagen und lassen meist die Figuren für sich selbst sprechen, die ihre

eigene Unfähigkeit entlarven.

Die Heuchelei und Oberflächlichkeit des Bürgertums und sogar der Menschheit im

Allgemeinen werden bei Andersen aufgezeigt, wie in „Des Kaisers neue Kleider“. In „Die

Nachtigall“ und „Der Gärtner und die Herrschaft“ zielt er direkt auf die Arroganz und

Selbstsucht der Höflinge und der Aristokratie. Bei Wilde finden sich Parallelen besonders

in „The Remarkable Rocket“ und „The Devoted Friend“. Die Untergebenen haben keine

eigene Meinung und tun grundsätzlich ihre Zustimmung kund. So bewundert der gesamte

Hofstaat die nicht existierenden Kleider und das Volk jubelt dem Kaiser in „Des Kaisers

neue Kleider“ immer noch zu, auch wenn er sich völlig nackt vor ihnen zeigt: „Ingen ville

lade sig mærke med, at han intet så, for så havde han jo ikke duet i sit embede, eller været

65

meget dum.“96 In „The Happy Prince“ wagt es niemand dem Bürgermeister zu

widersprechen. Ebenso wenig bringt es der Hofstaat in „The Remarkable Rocket“ über

sich dem König die Wahrheit über sein grausam schlechtes Flötenspiel mitzuteilen:

[…] and the King had promised to play the flute. He played very badly, but no one

had ever dared to tell him so, because he was the King. Indeed, he only knew two

airs, and was never quite certain which one he was playing; but it made no matter,

for, whatever he did, everybody cried out, 'Charming! charming!'97

Die Würdenträger entlarven sich selbst gleichzeitig als unfähig. Sie erkennen die

Speichellecker um sich nicht, oder vielmehr sie wollen es nicht.

Die Oberflächlichkeit des chinesischen Kaiserhofes zeigt sich im Zusammenhang mit

dem Kunstvogel „og den, som havde bragt den kunstige Fugl, fik strax Titel af Over-

keiserlig-nattergale-bringer.“98 Ein eigener Titel bringt mehr Anerkennung, aber auch

mehr Ansehen für den Kaiser, da er dessen Dienste zu würdigen weiß. In „Der Gärtner

und die Herrschaft“ muss Larsen ein schriftliches Attest vorlegen, dass sein Obst das

Beste ist und es nicht aus dem Ausland stammt. Ähnlich ist es auch bei dem Pagen in

„The Remarkable Rocket“, der der jungen Prinzessin ein Kompliment macht:

For the next three days everybody went about saying, 'White rose, Red rose, Red

rose, White rose;' and the King gave orders that the Page's salary was to be

doubled. As he received no salary at all this was not of much use to him, but it

was considered a great honour, and was duly published in the Court Gazette.99

Die künstliche Nachtigall kann den chinesischen Königshof so begeistern, dass auch sie

zu großen Ehren kommt:

Og Spillemesteren skrev fem og tyve Bind om Kunstfuglen, det var saa lærd og

saa langt, og med de allersværeste chinesiske Ord, saa alle Folk sagde, at de havde

96

H.C. Andersen: Kejserens nye Klæder, 1837. in: http://www.hcandersen-homepage.dk/?page_id=1463

(Zugriff: 2. Oktober 2012) (Niemand wollte sich merken lassen, daß er nichts sähe, denn sonst hätte er ja

nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre schrecklich dumm gewesen. Übersetzung Heinrich Denhardt. In.

H.C. Andersen Märchen. Reclam Stuttgart, 2006, 116-117.) 97

Oscar Wilde: The Remarkable Rocket. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 58-59. 98

H.C. Andersen. Nattergalen, 1844. http://www.hcandersen-homepage.dk/ (Zugriff: 5. Mai 2012).

(Übersetzung: und derjenige, der den künstlichen Vogel überbracht hatte, erhielt sofort den Titel eines

kaiserlichen Oberhofnachtigallenüberbringers. Aus: H.C. Andersen. Märchen. Stuttgart: Reclam, 2006,

280.) 99

Oscar Wilde: The Remarkable Rocket. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 58.

66

læst og forstaaet det, for ellers havde de jo været dumme og vare da blevne

dunkede paa Maven.100

Den Schein zu wahren hat immer oberste Priorität. Solange man gebildet klingt und den

Anschein erweckt zu allem eine Meinung zu haben, passt man auch in das höfische

Umfeld. Die Rakete verwendet gerne kluge Worte, die allerdings nicht immer die

richtigen sind. So macht sie aus Pyrotechnik „Pylotechnik“. Am Hof der Prinzessin in

„Svinedrengen“ (1842, Der Schweinehirt) bedient man sich der französischen Sprache,

um den höheren Status und eine gute Bildung kund zu tun.

Wilde drückt durch die Rakete deutlich seine Meinung über die sogenannte gehobene

Gesellschaft aus:

'My good creature,' cried the Rocket in a very haughty tone of voice, 'I see that

you belong to the lower orders. A person of my position is never useful. We have

certain accomplishments, and that is more than sufficient. I have no sympathy

myself with industry of any kind, least of all with such industries as you seem to

recommend. Indeed, I have always been of opinion that hard work is simply the

refuge of people who have nothing whatever to do.'101

Diese oberflächliche Welt ist eine geschlossene Gesellschaft. Die Aristokratie und das

gehobene Bürgertum schätzen keine Eindringlinge. Sie bleiben lieber unter sich.

Emporkömmlinge haben es schwer. Die Herrschaft aus „Der Gärtner und die Herrschaft“

und auch Hugh aus „The Devoted Friend“ sind sehr bedacht ihre eigene Position zu

halten und weder Larsen noch Hans mit sich selbst auf eine Ebene zu stellen. Larsen ist

der Diener der Herrschaft und das soll er auch bleiben: „‘Bare Gartneren ikke faaer for

store Ideer om sig selv!‘ sagde Herskabet“,102 auch wenn er das beste Obst und Gemüse

und die schönsten Blumen kultiviert, um die sogar der Königshof die Herrschaft beneidet.

Doch je mehr Anerkennung Larsen durch seine Züchtungen bekommt, umso mehr

100

H.C. Andersen. Nattergalen, 1844. http://www.hcandersen-homepage.dk/?page_id=1507 (Zugriff: 5.

Mai 2012) (Übersetzung: Der Spielmeister aber schrieb fünfundzwanzig dicke Bände über den Kunstvogel.

Es war dies Werk so gelehrt und so lang, wimmelte so sehr von den allerschwersten chinesischen Wörtern,

dass alle Leute behaupteten, sie hätten es gelesen und verstanden, denn sonst wären sie ja dumm gewesen

und auf den Bauch getreten worden. aus: H.C. Andersen. Märchen. Stuttgart: Reclam, 2006, 282.) 101

Oscar Wilde: The Remarkable Rocket. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin

Popular Classics, 1994, 70-71. 102

H.C. Andersen. Gartneren og Herskabet, 1872. http://www.hcandersen-homepage.dk/?page_id=1315.

(Zugriff: 5. Dezember 2012). (Übersetzung: Wenn nur der Gärtner keine zu große Meinung von sich selbst

bekommt! sagte die Herrschaft. Aus:Hans Christian Andersen. Die Märchen – in 3 Bänden. Frankfurt am

Main und Leipzig: Insel Taschenbuch, 2009, Band 3, 304.)

67

versucht die Herrschaft ihn klein zu halten und freuen sich über seine Misserfolge mehr

wie über seine Erfolge:

“Alt hvad den Larsen gjør,” sagde Herskabet, “slaaer man paa Tromme for. Det er

en lykkelig Mand! vi maae jo næsten være stolte af at vi have ham!”

Men de vare slet ikke stolte deraf! de følte at de vare Herskabet, de kunde sige

Larsen op, men det gjorde de ikke, de vare gode Mennesker og af deres Slags er

der saa mange gode Mennesker, og det er glædeligt for enhver Larsen.103

Auch der Müller Hugh ist in „The Devoted Friend“ darauf bedacht Hans nicht an seinem

Reichtum und seiner Stellung teil haben zu lassen. Er beschwört zwar immer

Freundschaft und Hilfsbereitschaft, solange sie ihm dient, aber noch mehr fürchtet er den

Neid von Hans:

Why, if little Hans came up here, and saw our warm tire, and our good supper, and

our great cask of red wine, he might get envious, and envy is a most terrible thing,

and would spoil anybody's nature. I certainly will not allow Hans's nature to be

spoiled. I am his best friend, and I will always watch over him, and see that he is

not led into any temptations. Besides, if Hans came here, he night ask me to let

him have some flour on credit, and that I could not do. Flour is one thing, and

friendship is another, and they should not be confused. Why, the words are spelt

differently, and mean quite different things. Everybody can see that.104

Egoismus und Selbst-Bezogenheit in der Gesellschaft sind Thema in Andersens

„Stoppenaalen“(1847, Die Stopfnadel), „Sneglen og Rosenhækken“ (1862, Die Schnecke

und der Rosenstock) und „The Remarkable Rocket“. Die Protagonisten schaffen sich ein

eigenes Weltbild. Bürgerliche Anschauungen werden karikiert. Stopfnadel, Schnecke und

auch Rakete leben in ihrer eigenen Welt, in der sie selbst das Zentrum sind und nur sie

selbst und ihre eigene Geschichte zählen. Während die Schnecke sich selbst allerdings

nicht nach außen präsentieren muss, da diese Welt nichts mit ihr zu tun hat und diese

nichts mit ihr – „Det har jeg aldeles ikke isinde!“ sagde Sneglen. „Verden kommer ikke

103

H.C. Andersen. Gartneren og Herskabet, 1872. http://www.hcandersen-homepage.dk/?page_id=1315.

(Zugriff; 5. Dezember 2012). (Übersetzung: „Für alles, was dieser Larsen tut, schlägt man die Trommel.

Das ist ein glücklicher Mann! Wir müssen ja beinah stolz sein, daß wir ihn haben!“ Aber sie waren gar

nicht stolz darauf! Sie fühlten sich nur als die Herrschaft, die Larsen kündigen konnte, aber das taten sie

nicht; es waren gute Menschen, und von ihrer Art gibt es so viele gute Menschen, und das ist erfreulich für

den Larsen. Aus: Hans Christian Andersen. Die Märchen – in 3 Bänden. Frankfurt am Main und Leipzig:

Insel Taschenbuch 2009, Band 3, 308.) 104

Oscar Wilde. The Devoted Friend. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin Popular

Classics, 1994.

68

mig ved! hvad har jeg med Verden at gjøre? jeg har Nok med mig selv og Nok i mig

selv!“105

– fühlen sich die Stopfnadel und insbesondere die Rakete dazu verpflichtet sich

selbst der Welt mitzuteilen, auch wenn sie nichts zu sagen haben. Dabei dient die Sprache

als Mittel Schweigen zu verhindern. Die Rakete stellt von Anfang an klar, wer die

wichtigste Person ist und nutzt dazu eindeutig zu viele Worte:

'That is a very selfish reason,' said the Rocket angrily. 'What right have you to be

happy? You should be thinking about others. In fact, you should be thinking about

me. I am always thinking about myself, and I expect everybody else to do the

same. That is what is called sympathy. It is a beautiful virtue, and I possess it in a

high degree. Suppose, for instance, anything happened to me tonight, what a

misfortune that would be for every one! The Prince and Princess would never be

happy again, their whole married life would be spoiled; and as for the King, I

know he would not get over it. Really, when I begin to reflect on the importance

of my position, I am almost moved to tears.'106

Während die Stopfnadel und die Rakete sich dahin hineinsteigern für Besseres geboren

und zu gut für diese Welt zu sein und jederzeit großes zu vollbringen, auch wenn nichts

geschieht, verspürt die Schnecke nie diesen Drang:

"Hvad jeg gav? Hvad jeg giver? jeg spytter af den! den duer ikke! den kommer

ikke mig ved. Sæt De Roser, De kan ikke drive det videre! lad Hasselbusken bære

Nødder! lad Køer og Faar give Mælk; de have hver deres Publicum, jeg har mit i

mig selv! jeg gaaer ind i mig selv, og der bliver jeg. Verden kommer ikke mig

ved!" Og saa gik Sneglen ind i sit Huus og kittede det til.107

Die Schnecke bleibt in ihrer eigenen isolierten Welt. Als Stopfnadel und Rakete aus ihrer

gewohnten Umgebung herauskommen, landen sie in einer Gesellschaft, die ebenso

105

H.C. Andersen. Sneglen og Rosenhækken, 1862. http://www.hcandersen-homepage.dk/

(Zugriff:7. Oktober 2012). (Übersetzung: „Das beabsichtige ich durchaus nicht!“ sagte die Schnecke. „Die

Welt geht mich nichts an! Was habe ich mit der Welt zu schaffen? Ich habe genug mit mir selbst zu tun und

habe genug in mir selbst!“ aus: Hans Christian Andersen. Die Märchen – in 3 Bänden. Frankfurt am Main

und Leipzig: Insel Taschenbuch, 2009, Band 3, 29.) 106

Oscar Wilde: The Remarkable Rocket. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin

Popular Classics, 1994. 107

H.C. Andersen. Sneglen og Rosenhækken, 1862. http://www.hcandersen-homepage.dk/

(Zugriff: 7. Oktober 2012). (Übersetzung: „Was ich ihr schenkte? Was ich ihr geben würde? – Ich spucke

sie an! Sie taugt nichts, sie geht mich nichts an! Setzen sie Rosen an, Sie können es doch nicht

weiterbringen! Mag der Haselbusch Nüsse tragen, mögen die Kühe und Schafe Milch geben, jeder hat sein

Publikum, ich habe das meine in mir selbst! Ich gehe in mich selbst hinein, und dort bleibe ich. Die Welt

geht mich nichts an!“ Und dann ging die Schnecke in ihr Haus hinein und kittete es zu. aus: Hans Christian

Andersen. Die Märchen – in 3 Bänden. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Taschenbuch, 2009, Band 3,

30.)

69

selbstbezogen ist wie sie selbst. Doch beide verlieren auch diesen Anschluss und bleiben

alleine ohne Publikum zurück. Die Stopfnadel trifft auf eine Glasscherbe, die sich für

einen Diamanten hält: „[…] og saa troede den ene om den anden, at de vare rigtig

kostbare og saa talte de om hvor hovmodig Verden var.“108 Die Rakete begegnet einem

Frosch, der nur selbst das Wort führt und natürlich über sich spricht, ohne die Rakete zu

Wort kommen zu lassen. Deren Reaktion darauf ist eindeutig:

'You are a very irritating person,' said the Rocket, 'and very ill-bred. I hate people

who talk about themselves, as you do, when one wants to talk about oneself, as I

do. It is what I call selfishness, and selfishness is a most detestable thing

especially to any one of my temperament, for I am well known for my

sympathetic nature. In fact, you should take example by me, you could not

possibly have a better model.`109

Doch der Frosch hört seine Rede nicht mehr und auch die Libelle und die Ente verlassen

ihn so schnell wieder, wie sie gekommen sind.

Die Schnecke sucht nicht nach der Aufmerksamkeit anderer, denn nur sie ist sich selbst

am nächsten und am wichtigsten. Stopfnadel und Rakete werben im Gegensatz dazu

immerzu um die Aufmerksamkeit anderer. Denn die Rakete selbst stellt fest:

'I am made for public life,' said the rocket, 'and so are all my relations, even the

humblest of them. Whenever we appear we excite great attention. I have not

actually appeared myself, but when I do so it will be a magnificent sight.‘110

Auch der Tannenbaum aus Andersens gleichnamigen Märchen (Grantræet, 1845) braucht

sein Publikum. Den schönsten Tag seines Lebens verbringt er als glänzender

Weihnachtsbaum in der Stube, danach endet er vertrocknet und einsam auf dem

Dachboden und schließlich im Müll.

108

H.C. Andersen. Stoppenaalen, 1847. http://www.hcandersen-homepage.dk/?page_id=1790/

(Zugriff 4. August 2012). (Übersetzung: Und so hielten sie sich denn gegenseitig für kostbare Gegenstände

und unterhielten sich dann über den Hochmut der Welt. Aus: H.C. Andersen. Märchen. Stuttgart: Reclam,

2006, 365.) 109

Oscar Wilde: The Remarkable Rocket. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin

Popular Classics, 1994. 110

Oscar Wilde: The Remarkable Rocket. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin

Popular Classics, 1994.

70

Stopfnadel und Rakete sind ständig damit beschäftigt sich selbst aufzuwerten je mehr sie

im Laufe der jeweiligen Handlung von anderen abgewertet werden. Die Stopfnadel hält

sich selbst für eine Nähnadel, die schließlich zu einer edlen Busennadel aufsteigt und

dann hinunterfällt und auf Reisen geht, weil sie viel zu gut ist für diese Welt. So

vergammelt sie in der Gosse und verliert ihren Glanz. Als die Rakete nass und verdorben

aussortiert wird, fühlt auch sie sich zu noch höhere Aufmerksamkeit bereit. Doch „The

best thing in him was the gunpowder, and that was so wet with tears that it was of no

use.“111 So wird die Rakete weggeworfen. Als man sie als schlechte Rakete bezeichnet,

versteht sie sich selbst natürlich als schöne Rakete und anstatt sich als alten Stecken von

den Kindern bezeichnen zu lassen, macht sie sich selbst zu einem goldenen Stecken: „Ihr

ganzes Verhalten ist ein Werben um Aufmerksamkeit und Zuneigung, und auch ihre

ständige Umdeutung von Dingen, die ihr widerfahren, dient dem Ziel, einen Platz in der

von ihr verachteten Gesellschaft zu erlangen.“112

Denn ohne Publikum erhalten weder die

Rakete noch Sir Simon oder die Stopfnadel oder Andersens Tannenbaum, der stetig mit

seinem Leben unzufrieden ist und sein Glück nicht schätzen kann, die notwendige

Selbstbestätigung. Der Tannenbaum hat nur eine einzige Geschichte zu erzählen, seine

eigene, die aber kaum jemanden interessiert. Da er nichts Neues, Anderes oder

Interessantes zu erzählen hat, bleibt er alleine zurück in seiner kleinen Traumwelt vom

schönsten Tag seines Lebens. Sir Simon resigniert und zieht sich zurück, als er

niemanden mehr das Fürchten lehrt. Die anderen schaffen sich ihre eigene Wahrheit.

Rakete und Tannenbaum halten sich selbst zu gut für die Welt und der Tannenbaum

wartet auf die Wiederholung seines größten Tages. Alle enden sie jedoch alleine, einsam

und verlassen, ausgeschlossen aus der Gesellschaft, in die sie doch nie gepasst hatten.

111

Oscar Wilde: The Remarkable Rocket. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin

Popular Classics, 1994. 112

Regina Gentz. Das erzählerische Werk Oscar Wildes. Literarische Studien. Band 3. Frankfurt am Main:

Peter Lang – Europäischer Verlag der Wissenschaften, 1995.

71

3.10. Das Exotische – Verführung und Zuflucht

Dem Exotischen begegnet man in einigen Märchen Andersens und Wildes. Meist sind es

Plätze im Süden, bei Andersen vor allem Italien, oder der Orient, wie Ägypten, oder ein

Ort der Sehnsucht, der außerhalb des Irdischen zu finden ist. Dabei kann das Exotische

beides sein: Zuflucht aber auch Verführung.

Als Zuflucht dient das Exotische z. B. in „Tommelise“ (1835, Däumelieschen). Das

kleine Mädchen fliegt mit der Schwalbe in den Süden, um der Zwangsheirat mit dem

Maulwurf und dem Schicksal ewiger Dunkelheit zu entkommen. Das Exotische ist für

Däumelieschen Abenteuer, Zuflucht, Freiheit, aber auch Glück zugleich, da es in der

Ferne auch seinen Prinzen findet. Das exotische Ägypten wäre auch für die Schwalbe aus

Wildes „The Happy Prince“ lebensrettend. Diese entscheidet sich aber schließlich dafür

ihrem Freund zu helfen und dafür ihr Leben zu opfern, wofür ihr höherer Segen zu Teil

wird.

Das Exotische dient häufig der Verführung. In „The Young King“ kommen die

Materialien für das Krönungsgewand, die Krone und das Zepter für die Krönung aus den

exotischsten Ländern, wie Ägypten oder Persien. Der Prunk und die Kunstwerke lassen

den jungen König schnell seine Herkunft vergessen. Der Schatten und sowohl der Fischer

als auch die Seele aus „The Fisherman and his Soul“ begegnen einer exotischen Welt,

von der sie verführt werden. Der Gelehrte und sein Schatten in Andersens Märchen „Der

Schatten“ befinden sich in den heißen Ländern, jedoch nur der Schatten kommt in

Berührung mit der Welt der Poesie, die ihn das Menschliche lehrt. Dies verführt ihn aber

auch dazu vom Guten, Schönen und Wahren, über das der Gelehrte schreibt,

abzukommen und einen ganz eigenen Weg einzuschlagen, besessen von Macht und

Reichtum. Ähnlich verhält es sich mit der Seele und dem Fischer. Beide tauchen in eine

neue exotische Welt ein. Während der Fischer dem Ruf in die Unterwasserwelt folgt,

losgelöst von Raum und Zeit, zieht es die Seele in den Orient, wo auch sie wie der

Schatten Macht, Reichtum und Lüge kennenlernt. Der Orient ist eine Scheinidylle, die

eine Gefahr für die Seele, später aber auch für den Fischer darstellt. Dreimal kehrt die

zum Fischer zurück, um ihn mit all den fremdartigen Verlockungen des Orients aus seiner

gewählten Umgebung zu holen. Macht, Reichtum und Weisheit lehnt der Fischer ab, mit

der Fleischeslust hat die Seele aber schließlich Erfolg. Der Fischer lässt sich dazu

verführen seine idealisierte Welt zu verlassen, um der Seele und ihrem eingeschlagenen

Weg zu folgen.

72

3.11. Motive aus der Volkstradition

3.11.1. Interaktion Mensch, Tier, Gegenstand

Sprechende Tiere, Pflanzen und Gegenstände treten im Märchen häufig in Erscheinung.

In „Die Schneekönigin“ und „The Birthday of the Infanta“ findet man sprechende

Blumen. Däumelieschen spricht mit Tieren, aber auch in der Ramenhandlung von „The

Devoted Friend“ oder „The Star-Child“ gibt es ebenso sprechende Tiere wie in

„Nattergallen“ (1844 ,Die Nachtigall) oder „Das hässliche junge Entlein“ oder

sprechende Gegenstände in „Die Brauleute“ oder die Feuerwerkskörper aus „The

Remarkable Rocket“.

Das Tier als Helfer ist dabei in der Volkstradition ein beliebtes Motiv. Auch bei Andersen

und Wilde tritt dieses in Erscheinung. In „The Happy Prince“ hilft die Schwalbe der

Statue und den Menschen und in „The Star-Child“ bekommt das Sternenkind Hilfe von

einem Hasen, als es nach dem Gold suchen soll. Die Schwalbe tritt bei Andersen häufig

in Erscheinung. Zugvögel sind bei ihm sehr beliebt. Däumelieschens Freund und

anschließender Helfer ist eine Schwalbe und auch Inger verwandelt sich in „Das

Mädchen, das aufs Brot trat“ in eine Schwalbe. Auch die Nachtigall in „The Nightingale

and the Rose“ ist ein helfendes Tier, auch wenn der Student es nicht wahr nimmt.

3.11.2. Bösewicht

Als Bösewicht findet man in der Volkstradition oft Hexen, Zauberer, oder böse

Verwandte. Die böse Stiefmutter ist dabei sehr beliebt. Auch bei Andersen und Wilde tritt

sie in Erscheinung. In „The Star-Child“ verhält sich die Frau des Holzfällers dem

Sternenkind als Baby gegenüber so kalt wie es selbst später den anderen Menschen

gegenüber. In „Die wilden Schwäne“ verwandelt die böse Stiefmutter Elises Brüder in

Schwäne und vertreibt sie selbst vom heimatlichen Königshof. Als weiteren Bösewicht

führt Andersen einen kirchlichen Würdenträger, den Erzbischof, ein, der jedoch jederzeit

gegen die böse Schwiegermutter austauschbar wäre. Die Motivation für diese Wahl als

Bösewicht bleibt unmotiviert. Vielleicht soll dies nur den christlichen Kontext

unterstützen, da Elise nur mit Nesseln von Friedhofsgräbern die Hemden für ihre Brüder

73

fertigen kann und am Ende des Märchens wie eine Heilige verehrt wird. Aber das bleibt

reine Spekulation. Christlich motiviert ist hingegen Wildes Wahl in „The Fisherman and

his Soul“, auch wenn der Priester kein klassischer Bösewicht ist, sondern eher ein

engstirniger Geistlicher, dem der Sinn wahrer Liebe, Schönheit und Kunst verborgen

bleibt. Eine weitere klassische Bösewichts-Figur in „The Fisherman and his Soul“ ist die

Hexe, die den Fischer zum Hexensabbat bittet und mit ihm gemeinsam den Teufel

verehren möchte. Bei Andersen wird die kleine Meerjungfrau von der Meerhexe zu einem

Menschen gemacht, muss ihr dafür aber das kostbarste, ihre Stimme, überlassen und ist

damit zum Scheitern verurteilt. In „The Star-Child“ wird das Sternenkind von einem

Zauberer versklavt und gequält.

3.11.3. Gegensätze und Extreme

In der Volkstradition werden oft Gegensätze verwendet: Gut und Böse, fleißig und faul

oder reich und arm. Bei Andersen und Wilde sind die Übergänge oft fließend. Man

bekommt nicht immer eine eindeutige Antwort, was richtig und falsch ist oder gut oder

schlecht. Das Gute und Gerechte muss im Gegensatz zu Volkstradition nicht immer als

Sieger hervorgehen. In „Der Schatten“ siegt das Böse über das Gute und in „The Devoted

Friend“ kann der fleißige Hans der Armut nicht entkommen und stirbt, während der

reiche Hugh ungestraft davon kommt und für seine vermeintliche Großzügigkeit feiern

lässt.

Oft repräsentiert ein Charakter nicht nur eine Seite der Medaille, sondern vereint in sich

viele Facetten. Der kleine Klaus ist nicht durch und durch gut. Er ist genauso ein Mörder,

wie der große Klaus, wie auch der Soldat aus „Das Feuerzeug“ nicht gerade ein

Tugendbold ist, indem er schlussendlich seine Hunde den König und den Hof in die Luft

werfen lässt:

[…] og saa foer Hundene ind paa Dommerne og hele Raadet, tog en ved Benene

og en ved Næsen og kastede dem mange Favne op i Veiret, saa de faldt ned og

sloges reent i Stykker.

“Jeg vil ikke!” sagde Kongen, men den største Hund tog baade ham og

Dronningen, og kastede dem bagefter alle de Andre; da blev Soldaterne

74

forskrækkede og alle Folkene raabte: “lille Soldat, Du skal være vor Konge og

have den deilige Prindsesse!”113

Auch der eigensüchtige Riese aus Wildes Märchen „The Selfish Giant“ ist nicht von

Anfang an hilfsbereit und gesellig. Sein einziger Freund ist ein gehörnter

Menschenfresser, dem er nach einem siebenjährigen Besuch nichts mehr zu sagen hat.

Die Kinder, die in der Zeit seiner Abwesenheit den Garten des Riesen zu ihrem Spielplatz

gemacht haben, verbannt er:

'My own garden is my own garden,' said the Giant; any one can understand

that, and I will allow nobody to play in it but myself.' So he built a high wall

all round it, and put up a notice-board.

TRESPASSERS

WILL BE

PROSECUTED

He was a very selfish Giant.114

Die Kinder müssen auf der Landstraße spielen. Der Riese zieht sich in sein einsames

Haus zurück. Seine innerliche Kälte vereinnahmt ihn, bis ein Kind sein Herz erreicht und

ihn zu einem freundlichen Riesen macht.

3.11.4. Wanderschaft

In der Volkstradition zieht der Held aus, um Abenteuer zu erleben, daran zu wachsen und

am Ende reifer zu sein. Bei Andersen und Wilde ist dies oft eine Reise zur

Selbsterkenntnis. Gerda macht sich in „Die Schneekönigin“ auf die Suche nach Kay,

Elise zieht in „Die wilden Schwäne“ aus um ihre Brüder zu finden und zu erlösen und

auch Däumelieschen findet am Ende ihren Platz. In „The Happy Prince“ geht die

Schwalbe stellvertretend für den Prinzen auf Wanderschaft und erlangt dadurch nicht nur

113

H.C. Andersen: Fyrtøiet, 1835. http://www.hcandersen-homepage.dk/?page_id=1317

(Zugriff: 2. Jänner 2013) (Übersetzung:und da stürzten sich die Hunde auf die Richter und den ganzen Rat,

ergriffen den einen bei den Beinen, den anderen bei der Nase und warfen sie viele Klafter hoch in die Luft,

so daß sie beim Niederfallen in Granatstücke zerschlagen wurden. „Ich will nicht!“ sagte der König, aber

der größte Hund nahm sowohl ihn wie die Königin und warf sie allen anderen nach. Da erschraken die

Soldaten und alles Volk schrie: „Lieber Soldat, du sollst unser König sein und die schöne Prinzessin

haben!“ aus:H. C. Andersen. Märchen. Stuttgart: Reclam, 2006, 15. ) 114

Oscar Wilde: The Selfish Giant. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 34.

75

Erkenntnis für ihn sondern auch für sich selbst. Auch die Seele geht stellvertretend für

den Fischer auf Wanderschaft und macht eine Abenteuerreise. In „The Young King“

begibt sich der König im Traum auf Wanderschaft und bereist die Orte, aus denen die

Stoffe, Edelsteine und Perlen Für Gewand, Krone und Zepter für seine Krönung kommen.

Auch das Sternenkind zieht in die Welt hinaus, nachdem es seine Mutter weggeschickt

und seine Schönheit verloren hat. Seine Reise ist voller Entbehrung und Schmerz, bis es

am Ende wie die anderen hier erwähnten Figuren an seiner Wanderschaft gewachsen und

zur Selbsterkenntnis gelangt ist.

3.11.5. Happy End?

Die Volksmärchen haben ein eindeutiges glückliches Ende, das manchmal nur durch eine

kleine Unvollkommenheit getrübt wird. Aber das Gute siegt über das Böse und alle leben

glücklich bis ans Ende ihrer Tage. So eindeutig enden die Märchen von Andersen und

Wilde nicht immer. Oft ist unklar, ob das Ende glücklich oder tragisch ist, aber besonders

bei Andersens späteren Märchen und bei beinahe allen Märchen Wildes kann man kaum

von einem Happy End sprechen.

Bei Andersen finden Märchen häufiger ein glückliches Ende. Däumelieschen findet in der

Ferne ihre Freiheit und heiratet ihren Prinzen, Elise kann ihre Brüder erlösen und lebt

glücklich mit ihrem König, aber auch bei Wilde gibt es Beispiele für ein Happy End. In

„The Canterville Ghost“ findet Sir Simon doch noch seinen Frieden und auch Virginia

heiratet ihreen Herzog. Auch der junge König aus „The Young King“ erhält seine

Belohnung. Er wird von Gott persönlich gekrönt.

Tragisch erscheint das Ende auf den ersten Blick in „Das Mädchen mit den

Schwefelhölzern“, „Die kleine Meerjungfrau“, „The Happy Prince“, „The Selfish Giant“

oder „The Fisherman and his Soul“, da alle Protagonisten sterben. Jedoch erreichen sie

doch noch ihr Happy End mit einem Leben nach dem Tod oder im Falle der kleinen

Meerjungfrau zumindest der Möglichkeit auf ein solches Leben.

In „Hyrdinden og Skorstensfejeren“ (1845, Die Hirtin und der Schornsteinfeger) oder

„The Star-Child“ wird das glückliche Ende zum Schluss getrübt. Die Hirtin und der

Schornsteinfeger sind zwar beisammen, haben Angst getrennt zu werden, aber trotzdem

76

ihr Leben in Freiheit aufgegeben, und „holdt af hinanden til de gik i Stykker”115

– doch

heiraten sie nicht. Wilde bricht mit dem Happy End des Sternenkindes mit dem letzten

Absatz seines Märchens: „Yet ruled he not long, so great had been his suffering, and so

bitter the fire of his testing, for after the space of three years he died. And he who came

after him ruled evilly.“116

Ein tragisches Schicksal ohne glückliches Ende erleiden hingegen die Mutter in „Die

Geschichte einer Mutter“, der Gelehrte in „Der Schatten“, die Nachtigall in „The

Nightingale and the Rose“ der arme Hans in „The Devoted Friend“ oder der Zwerg in

„The Birthday of the Infanta“. Die Mutter kann den Tod ihres Kindes trotz aller Opfer

nicht verhindern. Auch das Opfer der Nachtigall bringt dem Studenten nicht das ersehnte

Liebesglück und das Symbol dafür landet im Dreck. Die anderen Figuren ereilt ein

tragischer sinnloser Tod, den im Grunde niemand in seinem Umfeld berührt. Denn auch

die Tragödie geht in der Selbstbeweihräucherung und der der ach so überwältigenden

Großzügigkeit seines ergebenen Freundes dem Müller Hugh unter.

3.12. Vergänglichkeit, Tod und Unsterblichkeit

Andersen und Wilde setzen sich in einigen Märchen mit den Themen Tod,

Vergänglichkeit aber auch Unsterblichkeit auseinander. Nichts ist von Dauer: „Jeg

kommer engang. Naar han da mindst venter det, putter jeg ham i den sorte Liigkiste,“117

sagt der Tod in „Der Garten des Paradieses“. Der Tod ist oft unvermeidbar aber nicht

immer etwas Negatives oder gar das Ende. Er hat viele Gesichter und kann in

personalisierter Form auftreten, tragisch das Ende allen Seins einläuten, aber auch die

Erlösung von irdischem Leid bedeuten und nur der Beginn für ein neues und besseres

Leben jenseits der äußeren Hülle darstellen. In „Geschichte einer Mutter“, „Der Garten

des Paradieses“ und „The Young King“ tritt der Tod in menschlicher Gestalt in

Erscheinung, einmal als alter Mann, der sich als der Gärtner Gottes herausstellt, als

115

H.C. Andersen. Hyrdinden og Skorstensfejeren, 1845.

http://www.hcandersen-homepage.dk/?page_id=1210 (Zugriff: 2. Dezember 2012) (Übersetzung: „und

hielten einander, bis sie in Stücke gingen“ H.C. Andersen. Märchen. Stuttgart: Reclam, 2006, 403.) 116

Oscar Wilde. The Star-Child. In: The Happy Prince and Other Stories. London: Penguin Popular

Classics, 1994, 204. 117

H.C. Andersen. Paradisets Have,1839. http://www.hcandersen-homepage.dk/?page_id=1523.

(Zugriff: 2. Jänner 2012) (Übersetzung: Ich komme unverhofft. Wenn er es am wenigsten vermutet, stecke

ich ihn in einen schwarzen Sarg. aus: H.C. Andersen. Märchen. Stuttgart: Reclam, 2006, 201.)

77

Sensenmann oder ohne näher beschrieben zu werden. Er erscheint auf den ersten Blick

grausam. In „The Young King“ bringt der Tod allerlei Seuchen, wie Sumpffieber oder die

Pest. Verantwortlich für all das Leid ist jedoch die Habgier, da der Tod viele verschonen

würde, wäre sie fähig zu teilen. Sinnlos wirken der Tod des Zwerges in „The Birthday of

the Infanta“, der an einem falschen Weltbild zu Grunde geht, aber auch der Tod von

Hans, der sich für das Wohl seines vermeintlich besten Freundes bis zuletzt aufopfert

oder der Nachtigall in „The Nightingale and the Rose“, die ihr Leben gibt für ihre

Vorstellung von einzig wahren Liebe, die alles überdauert und die es doch nicht gibt. Die

kleine Meerjungfrau soll aufhören zu existieren und sich in Meerschaum auflösen. In

„Die Geschichte einer Mutter“ raubt der Tod einer Mutter ihr Kind und lässt sie in

Verzweiflung zurück. Das wirkliche Unglück ist jedoch, dass sie ihr Kind trotz aller

Mühen und Anstrengungen nicht retten kann. Der Tod von kleinen Kindern hat etwas

Tragisches und auch Sentimentales, so auch in „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“,

wo das Mädchen aufgrund der Ignoranz der Menschen erfriert. Der glückliche Prinz und

die Schwalbe sterben, um das Leben für solch arme Menschen besser zu machen. Doch

einigen von ihnen wird ein Leben nach dem Tod, die Hoffnung auf Unsterblichkeit

gewährt. Der eigensüchtige Riese stirbt nach einem erfüllten Leben, in dem er sich und

andere glücklich gemacht hat, und erlangt so einen Platz im Himmel, ebenso wie das

Schwefelholzmädchen oder der glückliche Prinz und die Schwalbe. Die kleine

Meerjungfrau bekommt ebenfalls die Möglichkeit auf eine unsterbliche Seele. Auch der

Fischer und seine Seele sind gemeinsam mit der Meerjungfrau in Liebe auf ewig vereint.

3.13. Fazit des Künstlers

Andersen und Wilde stellen die Frage in wie weit sie und ihre Kunst auch nach ihrem Tod

in Zukunft fortbestehen können. Die Vergänglichkeit der Kunst, besonders der eigenen,

ist zentrales Thema in Andersens Märchen „Tante Tandpine“ (1872, Tante Zahnweh) und

Wildes Prosagedicht „The Artist“ (1894). Beiden liegt etwas Melancholisches zu Grunde,

Andersens Märchen regelrechter Pessimismus. Andersens Protagonist ist ein Student,

dessen Tante ihm immer sagt, er sei ein Dichter. Dafür belohnt sie ihn mit Süßigkeiten.

Immer wenn er dichtet, bekommt er Zahnschmerzen. Er schreibt seine Geschichte nieder,

78

doch das Papier endet als Einwickelpapier für Fisch, Butter oder Seife. Das Märchen

endet:

Ja her holdt Manuskriptet op. Min unge Ven, den vordende Urtekræmmersvend,

kunde ikke opdrive det Manglende, det var gaaet ud i Verden, som Papir om

Spegesild, Smør og grøn Sæbe; det havde opfyldt sin Bestemmelse. Bryggeren er

død, Tante er død, Studenten er død, ham fra hvem Tankegnisterne gik i Bøtten.

Alt gaaer i Bøtten. Det er Enden paa Historien.118

In Wildes Prosagedicht möchte ein Künstler ein Kunstwerk schaffen, kann jedoch nur in

Bronze denken. Die einzige Bronze, die er finden kann, ist sein eigenes Kunstwerk, von

dem er dachte es würde die Ewigkeit überdauern:

And he took the image he had fashioned, and set it in a great furnace, and gave it

to the fire. And out of the bronze of the image of The Sorrow that endureth for

Ever he fashioned an image of The Pleasure that abideth for a Moment.119

Die Aussage von Andersen und Wilde scheint klar: Die Kunst ist vergänglich. Der

Künstler stirbt und auch das Kunstwerk überlebt nicht ewig. Wildes Künstler gibt sogar

die Möglichkeit der Ewigkeit auf für kurze Zeit der Freude an seinem Werk.

Allerdings liefert Andersen eine Verteidigung seines eigenen Schaffens in den Märchen

„Der Schweinehirt“ oder „Die Nachtigall“. Wilde macht den Künstler sogar zum

Märtyrer in „Nightingale and the Rose“. Die Kunst überdauert doch alles und in ihr ist der

Künstler unsterblich.

118

H.C. Andersen. Tante Tandpine, 1872. http://www.hcandersen-homepage.dk/ (Zugriff: 2. Jänner 2012)

(Ja hier hörte das Manuskript auf. Mein junger Freund, der zukünftige Gemüsegehilfe, konnte das Fehlende

nicht auftreiben, es war in die Welt hinausgegangen, als Papier um Salzheringe, Butter und grüne Seife; es

hatte seine Bestimmung erfüllt. Der Brauer ist tot, Tante ist tot, der Student ist tot, er, dessen

Gedankenfunken in die Bütte wanderten: das ist das Ende der Geschichte. Übersetzung aus: Hans Christian

Andersen. Die Märchen – in 3 Bänden. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Taschenbuch, 2009. 3. Band,

364.) 119

Oscar Wilde. The Artist,1894. http://www.oscarwildecollection.com/ (Zugriff: 7. Oktober 2012)

79

4. Konklusion

Wie der Hauptteil dieser Diplomarbeit zeigt, mag es nicht mehr verwundern, dass bereits

Oscar Wildes Zeitgenossen feststellten, dass Hans Christian Andersens Märchen Einfluss

auf sein Schaffen hatten. Neben einzelnen kleinen Elementen, wie z.B. dem nicht-

schmelzen-wollenden Herzen des standhaften Zinnsoldaten, lassen sich auch Charaktere

und ganze Motivkomplexe nachweisen, die Wilde von Andersen übernimmt und gekonnt

in seine eigenen Märchen einbaut, weiterentwickelt und sogar in einzelnen

Prosagedichten, Erzählungen und im Roman The Picture of Dorian Gray wieder

aufgreift. Motive wie unerfüllte Liebe, Tod, Vergänglichkeit oder Schönheit finden sich

bei Andersen und Wilde genauso wie die Auseinandersetzung zwischen Natur und

Kultur. Diese Thematik umfasst besonders den Unterschied zwischen wahrer Kunst und

Künstlichkeit. Dabei müssen die Vertreter der Natur und somit der wahren Kunst den

Vergleich mit künstlich gefertigten Gegenständen aufnehmen, wobei sie manchmal den

Sieg in diesem Kampf davontragen, meist aber die Künstlichkeit der Natürlichkeit

vorgezogen wird. So symbolisiert die Nachtigall bei Andersen in „Nattergalen“ (1844,

Die Nachtigall) und Wilde in „The Nightingale and the Rose“ (1888) nicht nur die wahre

Kunst, sondern auch den Künstler, der von seiner Umwelt oft missverstanden und

ausgegrenzt wird. Aber die Nachtigall ist nicht nur ein Symbol für die Kunst im

Allgemeinen sondern auch für Andersens und Wildes Dichtung selbst. Auch die Rose –

die natürlich das Symbol für die Liebe ist – kann auch als Synonym für die wahre Kunst

gelten. So teilen die Rosen bei Andersen in „Svinedrengen“ (1842, Der Schweinehirt) und

bei Wilde in „The Nightingale and the Rose“ dasselbe Schicksal: Sie werden verschmäht

gerade weil sie natürlich sind und ihnen werden künstlich gefertigte Gegenstände

vorgezogen. Dabei ist es besonders die Vorhersagbarkeit dieser Künstlichkeit, die den

Ausschlag geben. Man weiß, was man zu erwarten hat, ohne überrascht zu werden,

während sich bei den Vertretern der wahren Kunst immer Neues entdecken lässt.

Während die wahre Kunst bei Andersen in seinen Märchen meistens aber doch noch zu

ehren kommt, im Märchen „Die Nachtigall“ besitzt sie sogar heilende Kräfte, so hat sie

nach Wildes pessimistischer Sicht keinen Platz mehr in der Gesellschaft. Ihr bleibt nur

der Tod als Märtyrer. Die Künstlichkeit verführt den Menschen und entfernt ihn immer

weiter von der Natur. Einsicht wird jedoch bei Andersen und Wilde belohnt.

80

Das Motiv von der unerfüllten und enttäuschten Liebe greifen ebenfalls beide Autoren in

einigen ihrer Märchen auf, wobei die Protagonisten beider erst in der Ablehnung, die sie

erleben, ihre wahre Erfüllung finden. So vergisst die Schwalbe in Wildes Märchen „The

Happy Prince“ (1888) die geliebte Schilfrispe genau so schnell wie der Kreisel den

hässlich gewordenen Saffianball in Andersens „Kjærestefolkene“ (1844, Die Brautleute),

oder teilt dieselben Ansichten wie Andersens Schmetterling in „Sommerfuglen“ (1862,

Der Schmetterling). Aber auch der Student aus Wildes „The Nightingale and the Rose“

wird von seiner Angebeteten verschmäht, gibt aber wie der Kreisel, der Schmetterling

oder der Halskragen aus Andersens Märchen „Flipperne“ (1848, Der Halskragen) die

Liebe auf und widmet sich wieder anderen Zersträuungen, wie seine Bücher, ohne jemals

die wahre alles aufopfernde Liebe kennengelernt zu haben, für die Wildes Nachtigall

stirbt und für die Andersens Gerda im Märchen „Snedronningen“ (1845, Die

Schneekönigin) alle Hindernisse auf der Suche nach Kay überwindet. Während bei Wilde

das Ideal der Liebe mit der Nachtigall stirbt und in „The Remarkable Rocket“ (1888) die

Dichter für den Tod der Liebe und der Romantik verantwortlich gemacht werden,

überwindet die Liebe in Andersens „Die Schneekönigin“ alle Hindernisse. Doch auch bei

Wilde kann die Liebe als Sieger hervorgehen, wie das Märchen „The Fisherman and His

Soul“ (1891) zeigt.

Am deutlichsten lassen sich aber in den religiös-christlichen Motiven, die einige von

Andersens und Wildes Märchen durchziehen, Parallelen erkennen. Schuld und Sühne,

Hochmut und Demut oder der Verstoß gegen die Gebote sind dabei genauso anzutreffen,

wie die Frage nach der unsterblichen Seele, das Selbstopfer oder auch das Gebet. Eitelkeit

und Hochmut sind Eigenschaften, durch die sich einige Charaktere Andersens und Wildes

auszeichnen und die sie zu Fall bringen. So wird dem Kaiser bei Andersen in „Keiserens

nye Klæder“ (1837, Des Kaisers neue Kleider) seine Eitelkeit vor Augen geführt, er wird

bloßgestellt, bleibt aber unfähig die Konsequenzen aus seinem Verhalten zu ziehen. Auch

der junge König in Wildes „The Young King“ (1888) verliert sich wie der Kaiser in

seiner Eitelkeit und Genusssucht, kann aber anders als Andersens Kaiser wieder auf den

rechten Weg geführt werden, indem er mit Ausbeutung, Grausamkeit und Tod

konfrontiert wird. Auch in Andersens Märchen „Boghveden“ (1842, Der Buchweizen),

„Stoppenaalen“ (1847, Die Stopfnadel), „De røde Sko“ (1845, Die roten Schuhe) oder

auch „Pigen, som traadte paa Brødet“ (1859 Das Mädchen, das auf Brot trat) nimmt das

Thema Hochmut eine zentrale Rolle ein. Parallelen dazu lassen sich in Wildes Märchen

81

„The Remarkable Rocket“ und „The Star-Child“ (1891) erkennen. Andersens Stopfnadel

und Wildes Rakete sind so hochmütig, so dass sie den schwindenden Glanz durch

Eigenaufwertung wettmachen müssen und schließlich zerstört, völlig alleine und

unbeachtet enden, beide jedoch nichts dazulernen und Gefangene ihrer eigenen Welt

bleiben. Noch eindeutiger zeigen sich die Parallelen bei den Protagonisten der folgenden

Märchen. Andersens Karen in „Die roten Schuhe“ und Inger in „Das Mädchen, das auf

Brot trat“, und Wildes Sternenkind zeichnen sich durch ihre Schönheit aus, die sie zu

Selbstliebe und Hochmut verleitet, wofür die ihre gerechte Strafe bekommen. Alle drei

müssen erst für ihre Sünden büßen und Demut lernen, um Erlösung zu finden. Das

Sternenkind ist wie Inger grausam und respektlos seiner Familie gegenüber und verliert

als Strafe seine Schönheit. Inger landet in der Hölle, das Sternenkind durchlebt die Hölle

auf Erden. Es muss körperliche Gewalt und Folter erdulden, wie Karen, die dank der

nicht zu tanzen aufhörenden Schuhe sogar ihre Füße verliert. Erst nach der Erkenntnis

ihrer Sünden und der Buße erlangen alle drei Vergebung. Die Erlösung der unsterblichen

Seele im christlichen Kontext ist auch Thema in anderen Märchen Andersen und Wildes

und spielt sich bei beiden Autoren sehr ähnlich ab. Aber auch die Loslösung der Seele

nimmt einen zentralen Platz in den Märchen ein, insbesondere in Wildes „The Fisherman

and His Soul“ (1891), das Parallelen zu Andersens „Den lille Havfrue“ (1837, Die kleine

Meerjungfrau) und noch deutlicher zu „Skyggen“ (1847, Der Schatten) aufweist. Diese

Thematik vom Abtrennen und Eigenleben der Seele verwendete Wilde sogar in seinem

Roman The Picture of Dorian Gray (1891).

Aufopferung und Selbstaufgabe sind zentrales Thema in Andersens „Historien om en

Moder“ (1848, Die Geschichte einer Mutter) und Wildes „The Happy Prince“ aber auch

„The Nightingale and the Rose“, in dem die Nachtigall auf dieselbe Weise dem

Rosenstock ihr Herzblut opfert, wie die Mutter bei Andersen, welches eindeutig an den

Opfertod Jesu erinnert. Zudem haben Nachtigall und Mutter gemeinsam, dass ihre Opfer

völlig umsonst sind. Die Mutter verliert alles, die Nachtigall gibt ihr Leben und doch

bekommen sie nicht, was sie verlangen. Auch der Prinz und die Statue in „The Happy

Prince“ geben alles, der Prinz Glanz und Reichtum, die Schwalbe ihr Leben. Auch wenn

ihr Opfer den Menschen verborgen bleibt, so verdienen sie sich doch einen Platz bei Gott,

den sich andere Figuren bei Andersen und Wilde durch das Gebet sichern. Aber auch

andere müssen für die Protagonisten in den Märchen beten. So wird Inger aus Andersens

„Das Mädchen, das aufs Brot trat“ erst aus der Hölle entlassen, als ein kleines

unschuldiges Kind im hohen Alter im Angesicht seines eigenen Todes für sie betet und

82

auch Sir Simon aus Wildes „The Canterville Ghost“ (1887) kann nur durch das Gebet von

Virginia, der personifizierten Unschuld, von seinen irdischen Qualen erlöst werden. Als

Zeichen für Sir Simons Erlösung beginnt der verdorrte Mandelbaum zu blühen, ein

Symbol, das sich auch bei Andersen in „De vilde Svaner“ wiederfindet, wo zum guten

Schluss der Scheiterhaufen blühende Rosen trägt.

Aber auch der Untergang der Unschuld wird bei Andersen und Wilde thematisiert. So

verliert in Andersens „Der Schatten“ der Gelehrte als Vertreter der Unschuld sein Leben,

während sein Schatten als Symbol des Bösen die Prinzessin bekommt und weiterlebt.

Auch in „The Fisherman and His Soul“ stirbt die Meerjungfrau, die Unschulds-Figur, als

der Fischer sich wieder mit seiner mit dem Bösen in Kontakt gekommenen Seele einlässt.

Noch tragischer ist das Ende des Zwerges in „The Birthday of the Infanta“ (1891), der als

einziges unschuldiges Wesen mit einer Welt konfrontiert wird, der das Böse und der Tod

anhaften und den Zwerg zwangsläufig in den Untergang treibt. Die Thematik von Tod

und Vergänglichkeit ist bei Andersen und Wilde häufig anzutreffen. Der Tod ist bei

beiden oft unvermeidbar und manchmal sinnlos, kann aber auch die Erlösung vom

Irdischen den Beginn einer neuen, besseren Existenz einläuten.

Aber auch der Gegensatz von arm und reich wird bei Andersen und Wilde thematisiert. In

„The Happy Prince“ zeigt Wilde soziales Gewissen und bedient sich dabei an Motiven

Andersens. Die Näherin und ihr krankes Kind, der arme Poet oder auch das

Streichholzmädchen, denen Prinz und Schwalbe zu Hilfe kommen, erinnern eindeutig an

ihre Vorbilder aus Andersens Märchen „Geschichte einer Mutter”, „Lykkens Kalosker“

(1838, Die Galoschen des Glücks) oder auch „Den lille Pige med Svovlstikkerne“ (1848,

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern). Aber Armut ruft nicht nur Nächstenliebe

und Mitleid hervor, sondern kann auch zu Ablehnung und Scham führen. In einer Zwei-

Klassen-Gesellschaft gehen Reichtum und Armut Hand in Hand. Die Reichen

unterdrücken die Armen und beuten sie aus.

Wilde kehrt aber auch Märchen und Motive Andersens um. Findet bei Andersen der

Außenseiter doch noch einen Platz in der Gesellschaft, so macht Wilde klar, dass ein

Außenseiter immer in seiner Außenseiterposition gefangen bleibt und es keinen Ausweg

gibt. Mit dem Märchen „The Devoted Friend“ (1888) kehrt Wilde Andersens Märchen

„Lille Claus og store Claus“ (1835, Der kleine und der große Klaus) um. Andersen und

Wilde stellen in diesen Märchen einen armen und einen reichen Protagonisten einander

gegenüber. Charaktere, Verlauf und Ende der Märchen stehen aber im völligen

83

Gegensatz. Der kleine Klaus ist listig und schlau, während sein Gegenstück bei Wilde –-

der kleine Hans – viel zu gutmütig ist und sich vom reichen Müller Hugh ausnutzen lässt.

Auch bei Andersen ist der reiche, große Klaus wie Hugh nur auf seinen eigenen Vorteil

bedacht, wird aber vom kleinen Klaus überlistet und stirbt, während Hans bei Wilde seine

eigene Existenz aufs Spiel setzt und schließlich sein Leben verliert, um der scheinbaren

Freundschaft seines Freundes Hugh gerecht zu werden.

Oberflächlichkeit, Snobismus und Heuchelei des Bürgertums und sogar der Menschheit

im Allgemeinen an Hand ähnlicher Charaktereigenschaften thematisieren Andersen und

Wilde so überzeugend, dass sie auch in der Gegenwart noch Gültigkeit haben. Man findet

ebenso soziale Anklagen, Kritik an gesellschaftlichen Tatsachen, am Beamtentum und der

Bildungsschicht. Dabei verzichten beide Autoren meist auf direkte Anklagen. Sie lassen

die Figuren für sich selbst sprechen und durch ihre Aussagen selbst entlarven.

Gemeinsam ist den Märchen von Andersen und Wilde auch, dass einigen ein

offensichtliches Happy End fehlt. So sterben am Ende bei beiden einige

Märchenprotagonisten einen tragischen Tod, finden aber doch noch ihren Frieden im

Himmel, wie z.B. Karen in Andersens Märchen „Die roten Schuhe” oder Prinz und

Schwalbe in Wildes Märchen „The Happy Prince”. Allerdings wird ein scheinbares

Happy End bei Andersen und Wilde auch getrübt und darüber hinaus erleiden einige

Protagonisten ein tragisches Schicksal ohne Aussicht auf ein glückliches Ende. So

bekommt bei Andersen in „Die Geschichte einer Mutter” ihr Kind trotz aller Opfer nicht

zurück und der Gelehrte wird in seinem Märchen „Der Schatten” hingerichtet. Der Zwerg

in Wildes „The Birthday of the Infanta” stirbt nach der grausamen Erkenntnis ein

entstelltes Monster zu sein und das Sternenkind ist in seinem Märchen „The Star-Child”

von seiner Strafe zu schwach, um lange gerecht herrschen zu können. Nach seinem Tod

herrscht wieder ein grausamer König.

Endlich stellen Andersen und Wilde sich auch die Frage nach der Vergänglichkeit der

Kunst, besonders der eigenen. Dabei liegt Andersens Märchen „Tante Tandpine“ (1872,

Tante Zahnweh) und Wildes Prosagedicht „The Artist“ (1894) eine tiefe Melancholie zu

Grunde. Das geschriebene Werk in Andersens Märchen endet wie eine Tageszeitung als

Einwickelpapier und gerät in Vergessenheit, während Wildes Künstler im Prosagedicht

sein eigenes Kunstwerk einschmilzt, das dazu gedacht war für alle Ewigkeit zu

überdauern, und erschafft ein neues, das nur einen Moment Freude bringt. Allerdings

verteidigt Andersen in dem Märchen „Der Schweinehirt“ sein eigenes Schaffen und

Wilde macht den Künstler zum Märtyrer. Es gibt also stets Hoffnung.

84

So verschieden die Leben von Andersen und Wilde auch waren, in ihren Märchen

verband sie einiges. Beide kritisierten in ihren Märchen das Bürgertum ihrer Zeit mit

ähnlichem Humor und stellten sich ähnliche Fragen nach dem Sinn ihres eigenen

Schaffens und dem Sinn des Lebens.

85

5. Bibliographie

Primärliteratur:

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90

6. Abstract

Sammenfatning på dansk

Hans Christian Andersen (1805-1875) og Oscar Wilde (1854-1900) var blandt de

vigtigste forfattere i deres tid, deres værker var kendt i hele verden og de er stadig en

uundværlig del af alle reoler.

I 1846 blev de første eventyr af den danske forfatter H. C. Andersen offentliggjort i

England, de blev godt modtaget af kritikerne, og de gjorde ham endegyldigt til en

berømthed der. En i det følgende år udgivet samling af eventyr, rummede tekster, som

blev offentliggjort for første gang i England. Selv om oversætteren censurerede

Andersens eventyr og delvis påtvang dem sin egen stil, opnåede de uformindsket succes.

Den irske forfatter Oscar Wilde (1854-1900) er bedst kendt som dramatiker og essayist,

men han skrev også enkelte noveller, prosadigte og ni litterære eventyr; en genre, som var

forholdsvis ny i det victorianske England, og som indtil da havde nydt ringe

opmærksomhed. Berømt var først og fremmest H. C. Andersens eventyr, som øvede

indflydelse på Wildes eventyr, hvilket allerede samtidens kritikere bemærkede. Wilde

udgav to eventyrsamlinger: The Happy Prince and Other Tales (1888) og A House of

Pomagranates (1891). Mens The Happy Prince and Other Tales blev godt modtaget af

kritikerne, faldt A House of Pomagranates igennem uden skånsel.

I Wildes forskning bliver det ofte drøftet, hvorfor han begyndte at skrive eventyr. Det er

en udbredt antagelse, at hans nye livssituation som en far til to børn fik Wilde at skrive

eventyr. Wildes eventyr er dog efter hans eget udsagn tiltænkt voksne. I den barnlige

fremtoning, som eventyr altid regnes for at have, fandt Wilde en perfekt ramme for at

udtrykke kritik. Desuden følte Wilde sig godt til rette i denne genre. Om end ændringen i

substans og stil i Wildes eventyr diskuteres meget i forskningen, ofres der stor set ingen

opmærksomhed på det forhold, som allerede blev slået fast af Wildes samtidige, nemlig at

Wilde lod sig inspirere af Andersens eventyr. Især i “The Happy Prince” findes der alene

på overfladen mange henvisninger til Andersens tekster. “Den lille Pige med

Svovlstikkerne” (1848) findes parafraseret i dette eventyr, beskrivelsen af moderen og

hendes syge barn minder om “Historien om en Moder” (1848), og især slutningen

rummer paralleller til Andersen: Ligesom i Andersens “Den standhaftige Tinsoldat”

(1838) smelter prinsens hjerte ikke i ilden. Andersen og Wilde har samme sans for humor,

hvilket især ses i gengivelsen af kejseren i “Kejserens nye klæder” (1837), i

91

“Stoppenaalen” (1847) og den store raket i “The Remarkable Rocket“ (1888). Wilde

sammensætter små elementer, såsom den standhaftige tinsoldats hjerte, der ikke smelter,

og overordnede billedkomplekser, der fascinerer ham, og indføjer og udvikler dem med

dygtighed i sine egne eventyr, samler dem op i sine prosadigte og i romanen The Picture

of Dorian Gray (1891). Jo mere man beskæftiger sig med Wildes eventyr og analyserer

dem, jo tydeligere bliver parallellerne til Andersens eventyr. Sammenstillingen af visse

eventyr viser tydeligt, hvilken indflydelse Andersens eventyr havde på Wildes.

Motiver som kærlighed, død, forgængelighed og skønhed findes hos Andersen og Wilde,

ligesom sammenstødet mellem natur og kultur gør det. Dette tema har sin hovedvægt på

forskellen på sand kunst og kunstighed. Naturens repræsentanter og dermed også den

sande kunst sammenstilles med kunstigt frembragte genstande, og selv om de af og til

løber af med sejren i denne kamp, foretrækkes oftest det kunstige frem for det naturlige.

Således symboliserer nattergalen i Andersens ”Nattergalen” (1844, Die Nachtigall) og i

Wildes ”The Nightingale and the Rose” (1888) ikke kun den sande kunst, men også

kunstneren, som ofte misforstås og udgrænses af sin omverden. Men nattergalen er ikke

kun et symbol for kunsten generelt, men også for Andersens og Wildes egen digtning. Og

også rosen er foruden symbol for kærligheden også synonym med den sande kunst.

Således deler roserne hos Andersen i ”Svinedrengen” (1842, Der Schweinehirt) skæbne

med roserne hos Wilde i ”The Nightingale and the Rose”: De bliver forsmået, netop fordi

de er naturlige, og kunstige genstande foretrækkes frem for dem. Der er især denne kunsts

forudsigelighed, der gør forskellen. Man ved, hvordan man skal forholde sig, mens

repræsentanterne for sand kunst altid lader én opleve noget nyt. Mens den sande kunst i

Andersens eventyr dog for det meste kommer til ære og værdighed – i eventyret

”Nattergalen” besidder den sågar helende kræfter – har den fra Wildes pessimistiske

synspunkt ikke længere nogen plads i samfundet. Kunstigheden forfører menneskene og

fjerner dem længere og længere fra naturen. Indsigt belønnes hos Andersen og Wilde.

Kunstighed berøver mennesket naturligheden, men også friheden. Andersens nattergal

bliver taget med ud af skoven og spærret inde i et gyldent bur. Wildes dværg i ”The

Birthday of the Infanta” bliver taget ud af sine naturlige omgivelser og bliver fremvist i

en arena til glæde for prinsessen. Hans naturlige glæde og groteske udseende underholder

folk, men han bliver ikke taget alvorligt.

Uopfyldt og skuffet kærlighed er ligeledes et motiv, der kan findes både hos Andersen og

Wilde, og hos begge lader det til, at hovedpersonerne først finder deres sande opfyldelse i

kraft af det afkald, de oplever. Således glemmer svalen i Wildes eventyr „The Happy

92

Prince“ (1888) det elskede rør, lige så hurtigt som toppen glemmer bolden, som er blevet

grim, i Andersens “Kjærestefolkene” (1844), og deler i øvrigt de samme synspunkter som

Andersens sommerfugl i “Sommerfuglen” (1862). Men også den studerende i Wildes

„The Nightingale and the Rose“ bliver forsmået af sin elskede, og opgiver, ligesom

toppen, sommerfuglen og kraven i Andersens eventyr “Flipperne” (1848) kærligheden og

hengiver sig til andre ting uden nogensinde at have kendt den sande, altopofrende

kærlighed, hvilken Wildes nattergal dør for, og med hvilken Andersens Gerda i eventyret

“Snedronningen” (1845) overvinder alle forhindringer i sin søgen efter Kay. Mens

kærlighedsidealet hos Wilde dør med nattergalen, og digteren i ”The Remarkable Rocket”

(1888) bliver gjort ansvarlig for kærlighedens og romantikkens død, overvinder

kærligheden alle hindringer i Andersens ”Snedronningen”. Selv hos Wilde kan

kærligheden dog løbe af med sejren, som eventyret ”The Fisherman and His Soul” (1891)

viser.

Tydeligst lader paralleller sig erkende i de kristelige, religiøse motiver, som løber gennem

nogle af Andersens og Wildes eventyr. Skyld og soning, hovmod og ydmyghed og

overtrædelse af budene er til stede såvel som spørgsmålet om sjælens udødelighed,

selvopofrelse og også bøn. Forfængelighed og stolthed kendetegner nogle af Andersens

og Wildes figurer og bringer dem til fald. Således bliver kejserens forfængelighed

fremstillet i “Kejserens Nye Klæder” (1837), og han bliver blameret, men forbliver ude af

stand til at drage konsekvenserne af sin stilling. Også den unge konge i Wildes ”The

Young King” (1888) fortabes ligesom kejseren i kraft af sin for forfængelighed og

selvforkælelse, men bliver i modsætning til Andersens kejser ført tilbage på den rette vej

ved at blive konfronteret med udnyttelse, grusomhed og død. Også i Andersens eventyr

“Boghveden” (1842), “Stoppenålen” (1847), “De røde sko” (1845) og “Pigen, som traadte

paa Brødet” (1859) indtager temaet arrogance en central rolle. Paralleller dertil findes i

Wildes eventyr “The Remarkable Rocket” og “The Star-Child” (1891). Andersens

stoppenål og Wildes raket er så arrogante, at de må kompensere for deres falmende pragt

ved at overvurdere deres eget værd, og de ender ødelagte, alene og ubemærkede, begge

uden at lære noget og fanget i deres egen verden. Endnu mere entydige paralleller viser

sig i de følgende eventyr. Andersens Karen i “De røde sko” og Inger i “Pigen, som trådte

på brødet” og Wildes stjernebarn i „The Star-Child“ udmærker sig ved deres skønhed,

som forleder dem til egenkærlighed og stolthed, for hvilket de velfortjent straffes. Alle tre

må først bøde for deres synder og lære ydmyghed at kende, før de kan forløses.

93

Stjernebarnet er ligesom Inger grusomt og respektløst over for sin familie og begge mister

som straf deres skønhed. Inger havner i helvede og stjernebarnet gennemlever helvede på

jord. De må udholde fysisk vold og tortur, som Karen, der takket være skoene, som ikke

vil holde op med at danse, endda mister sine fødder. Først efter at have erkendt deres

synder og bødet for dem, opnår alle tre tilgivelse. Frelsen og den udødelige sjæl i kristen

sammenhæng er også tema i andre eventyr af Andersen og Wilde og forløber hos begge

forfattere på ensartet vis. Men sjælens frelse indtager en central plads i eventyrene, især i

Wildes “The Fisherman and His Soul” (1891), som rummer paralleller til Andersens

“Den lille Havfrue” (1837) og endnu tydeligere til “Skyggen” (1847). Temaet om sjælens

løsrivelse og egetliv anvendte Wilde endda i sin roman The Picture of Dorian Gray

(1891).

Offer og selvopofrelse er centrale emner i Andersens "Historien om en Moder" (1848) og

i Wildes "The Happy Prince" samt i "The Nightingale and the Rose", hvor nattergalen

ofrer sit hjerteblod på samme måde som rosenhækken og moderen gør det hos Andersen,

hvilket minder Jesu offerdød. Desuden har nattergalen og moderen det til fælles, at deres

offer er omsonst. Moderen mister alt, nattergalen giver sit liv, og alligevel opnår de ikke,

hvad de ønsker. Også prinsen og svalen i ”The Happy Prince” giver alt – prinsen sin

herlighed og rigdom og svalen sit liv. Også hvis deres offer forbliver skjul for

menneskene, får de dog en plads hos Gud, som andre figurer hos Andersen og Wilde

opnår ved bøn. Men også andre må bede for hovedpersonerne i eventyrerne. Således

bliver Inger fra Andersens ”Pigen som traadte på Brødet” først udløst fra helvede, da en

gammel, kone, som ligger for døden, og som som lille, uskyldigt barn har grædt over

Inger, beder for hende, og Sir Simon fra Wildes "The Canterville Ghost" (1887) kan kun

frigøres fra sin jordiske pine, da Virginia, den personificerede uskyld, beder for ham. Som

tegn på Sir Simons frelse begynder det visne mandeltræ at blomstre, et symbol, der også

findes i Andersens "De vilde Svaner", som ender lykkeligt ved at roser blomstrer på bålet.

Men også uskyldens ophør tematiseres hos Andersen og Wilde. I Andersens ”Skyggen”,

mister den lærde, som er repræsentant for uskyld, således sit liv, mens hans skygge, som

er symbol for ondskab, får prinsessen og lever videre. Også i "The Fisherman and his

Soul" dør den uskyldige havfrue, idet fiskeren på ny indlader sig med sin sjæl, der har

været i kontakt med den onde ånd. Endnu mere tragisk er dværgens endeligt i "The

Birthday af Infanta" (1891), da det eneste uskyldige væsen konfronteres med en verden

med ondskab og død, og uundgåeligt dør. Emnet død og forgængelighed forekommer

hyppigt hos Andersen og Wilde. Hos begge er døden ofte uundgåelig, og til tider

94

meningsløs, men den kan også føre til udløsning fra det jordiske og begyndelsen på en ny

og bedre tilværelse.

Også modsætningen mellem rig og fattig tematiseres hos Andersen og Wilde. I "The

Happy Prince" viser Wilde social samvittighed og gør dertil brug af motiver fra

Andersens tekster. Syersken og hendes syge barn, den fattige digter og endda pigen med

svovlstikkerne, som kommer prinsen og svalen til undsætning, minder entydigt om deres

forbilleder i Andersens eventyr. Men fattigdom afstedkommer ikke kun næstekærlighed

og medlidenhed, men kan også føre til afvisning og skam. I et samfund med to klasser,

går rigdom og fattigdom hånd i hånd. De rige undertrykker de fattige og udnytter dem.

Wilde stiller dog også Andersens eventyr og motiver på hovedet. Finder outsideren stadig

en plads i samfundet hos Andersen, gør Wilde det klart, at en outsider altid vil forblive

fanget i sin position, og at der ingen udvej findes. Med eventyret "The Devoted Friend"

(1888) vender Wilde fuldstændig op og ned på Andersens eventyr "Lille Claus og Store

Claus" (1835). Andersen og Wilde stiller i denne fortælling en fattig og en rig

hovedperson over for hinanden, men figurer, forløb og slutning udgør komplette

modsætninger til Andersens eventyr.

Andersen og Wilde tematiserer middelklassens overfladiskhed, snobberi og hykleri og

endda menneskehedens samme i almindelighed ved hjælp af ensartede karakteristika.

Man kan ligeledes finde sociale anklager, kritik af samfundsforhold, bureaukrati og

dannelse hos dem begge. For det meste afstår de fra direkte beskyldninger. De lader

figurer tale for sig selv og afsløre sig gennem deres udtalelser.

Andersens og Wildes eventyr har ikke altid en oplagt lykkelig slutning. Således dør flere

af eventyrernes hovedpersoner på tragisk vis ved eventyrenes slutning hos begge, men de

finder dog fred i himmelen. Tilsyneladende lykkelige slutninger grumses hos Andersen

og Wilde, og derudover lider nogle hovedpersoner en tragisk skæbne uden nogen udsigt

til en lykkelig slutning.

Godt og ondt er ofte udflydende i Andersens og Wildes eventyr. Man får ikke altid et

klart svar på, hvad der er rigtig eller forkert og godt eller dårligt. Det gode og retfærdige

behøver i modsætning til i folketraditionen ikke altid sejre. I ”Skyggen” vinder det onde

over det gode, og i ”The Devoted Friend” kan den flittige Hans ikke undslippe

fattigdommen og dør, mens den rige Hugh slipper ustraffet og lader sig fejre for sin

tilsyneladende generøsitet. Ofte repræsenterer karakterer ikke kun en entydig egenskab,

men rummer mange facetter.

95

Andersen og Wilde stiller også spørgsmålet om kunstens forgængelighed, især ens egen. I

Andersens eventyr "Tante Tandpine" (1872) og Wildes prosadigt "The Artist" (1894)

findes en melankolsk grundstemning. Det skrevne værk ender i Andersens eventyr

ligesom et dagblad som indpakningspapir og bliver glemt, mens Wildes kunster i

prosadigtet smelter sit eget kunstværk, der var beregnet til at skulle vare i al evighed, om

og frembringer et nyt, som kun afstedkommer et øjebliks glæde. Men i eventyret

”Svinedrengen” forsvarer Andersen sit eget værk, og Wilde fremstiller kunstneren som

martyr. Så der er altså altid håb.

Hvor forskellige Andersens og Wildes liv end var, står deres eventyr dog i forbindelse

med hinanden. I deres eventyr kritiserede de begge deres samtids borgerskab og anvendte

dertil den samme humor og stillede sig ensartede spørgsmål om deres egne værkers

betydning. Selv om Andersens eventyr i dag er bedre kendt end Wildes, står Wildes

eventyr ikke på nogen måde tilbage for Andersens i kunstnerisk forstand.

96

Deutsche Zusammenfassung

1846 erschienen die ersten Märchen des dänischen Autors Hans Christian Andersen

(1805-75) in England, die bei der Kritik großen Anklang fanden und ihn dort endgültig zu

einer Berühmtheit machten. Eine im Folgejahr herausgebrachte Märchensammlung,

enthielt Märchen, bei denen es sich um englische Erstveröffentlichungen handelte.

Obwohl die Übersetzer Andersens Märchen zensurierten und ihnen teilweise ihren

eigenen Stil aufzwangen, blieb ihr Erfolg ungebrochen.

Der irische Autor Oscar Wilde (1854-1900) ist vor allem als Essayist und Dramatiker

bekannt, verfasste aber auch einige Erzählungen, Prosagedichte und neun Kunstmärchen,

ein Genre, das im viktorianischen England relativ neu war und bis dahin wenig

Beachtung fand. Bekannt waren vor allem die Märchen Hans Christian Andersens, die

Einfluss auf Wildes Märchen hatten, was bereits zeitgenössische Kritiker feststellten.

Wilde veröffentlichte zwei Märchensammlungen: The Happy Prince and Other Tales

(1888) und A House of Pomagranates (1891). Während The Happy Prince and Other

Tales bei der Kritik großen Anklang fand, fiel A House of Pomagranates gnadenlos

durch.

In der Wilde-Forschung wird viel darüber diskutiert, warum er begann Märchen zu

schreiben. Weit verbreitet ist die Annahme, dass seine neue Lebenssituation als

zweifacher Familienvater Wilde bewogen hat, Märchen zu schreiben. Wildes Märchen

sind aber nach eigenen Angaben für Erwachsene gedacht. In dem kindlichen Mantel, der

dem Märchengenre seit jeher anlastet, bot sich Wilde die perfekte Plattform für Kritik

jederart. Außerdem fühlte Wilde sich in diesem Genre sichtlich wohl. Zwar wird in der

Forschung auch viel über den Wandel von Thematik und Stil in den Märchen Wildes

diskutiert, kaum Beachtung findet jedoch etwas, das bereits Wildes Zeitgenossen

feststellten, nämlich dass sich Wilde von Andersens Märchen inspirieren ließ. Dabei

schien er neben einzelnen kleinen Elementen, wie z.B. dem nicht-schmelzen-wollenden

Herzen des standhaften Zinnsoldaten, auch von Charakteren und ganzen Motivkomplexen

fasziniert zu sein, die er gekonnt in seine eigenen Märchen einbaut, weiterentwickelt und

sogar in einzelnen Prosagedichten, Erzählungen und im Roman The Picture of Dorian

Gray (1891) wieder aufgreift.

Je mehr man sich mit Oscar Wildes Märchen beschäftigt und sie analysiert, umso mehr

Parallelen zu Andersen werden augenscheinlich. Motive wie Liebe, Tod, Vergänglichkeit

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oder Schönheit finden sich bei Andersen und Wilde genauso wie die Auseinandersetzung

zwischen Natur und Kultur. Dabei setzen die beiden Autoren den Schwerpunkt auf den

Unterschied zwischen wahrer Kunst und Künstlichkeit. Die Vertreter der Natur und somit

der wahren Kunst müssen sich dem Vergleich mit künstlich gefertigten Gegenständen

stellen, wobei sie manchmal als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen, meist aber die

Künstlichkeit der Natürlichkeit vorgezogen wird.

Am deutlichsten lassen sich aber in den religiös-christlichen Motiven, die einige von

Andersens und Wildes Märchen durchziehen, Parallelen erkennen. Schuld und Sühne,

Hochmut und Demut oder der Verstoß gegen die Gebote sind dabei genauso anzutreffen,

wie die Frage nach der unsterblichen Seele, das Selbstopfer oder auch das Gebet. Beide

Autoren stellen sich auch die Frage nach der Vergänglichkeit der Kunst, besonders der

eigenen. Dabei liegt Andersens Märchen „Tante Tandpine“ (1872, Tante Zahnweh) und

Wildes Prosagedicht „The Artist“ (1894) etwas Melancholisches zu Grunde. Aber sie

verteidigen in den Märchen auch ihr eigenes Schaffen, wobei Wilde den Künstler sogar

zum Märtyrer macht.

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English Summary

Hans Christian Andersen (1805-75) and Oscar Wilde (1854-1900) were among the most

important writers of their time, whose works were known throughout the world and still

are an indispensable part of any bookshelf.

1846 Andersens first fairy tales were published in England, which were well received by

critics and finally made him a celebrity there. The following year another volume of fairy

tales was published, containing English first editions. Although the translators censored

Andersen’s fairy tales and partly forced upon them their own style, their success

continued unabated.

The Irish author Oscar Wilde is best known as a playwright and essayist, but also wrote

some short stories, prose poems and nine fairy tales, a genre that was relatively new in

Victorian England and earned little attention so far. The only fairy tales known were

those of Hans Christian Andersen, who had influence on Wilde's fairy tales. Wilde

published two collections of fairy tales: The Happy Prince and Other Tales (1888) and A

House of Pomagranates (1891). While The Happy Prince and Other Tales was well

received by critics, A House of Pomagranates was not.

There are a lot of questions in Wilde-research why he startet to write fairy tales. There is

widespread acceptance that his new living situation as a two-time father has led Wilde to

write them. However, they are rather intended for adults than for children. Nevertheless,

he emplozed the genre of the tale as a the perfect platform for criticism of all kind.

There is also a lot of discussion in the research about the change of matter and style in

Wilde tales, little attention is paid to something that already Wilde’s contemporaries had

noticed, which is that Wilde was inspired by Andersen’s fairy tales. He seemed to be

fascinated by small elements, such as the non-melting heart of the soldier in “Den

standhaftige Tinsoldat” (1838; The Steadfast Tin Soldier), as well as of a lot of

Andersen’s characters and motifs that he used in his own tales, developing them even in

his own prose poems, short stories and in the novel The Picture of Dorian Gray (1891) as

well.

Andersen and Wilde share the same sense of humor, which is reflected particularly in the

representation of the Emperor in „Kejserens nye Klæder“ (1837, The Emperor’s New

Clothes), “Stoppenaalen” (1847, The darning needle) and in “The Remarkable Rocket”

(1888).

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The more you look at Oscar Wilde’s fairy tales and analyze them, the more parallels to

Andersen are apparent. Motifs such as love, death, impermanence and beauty can be

found in Andersen’s and Wilde’s tales, as well as the struggle between nature and culture

or the longing for an immortal soul.

Most clearly are theparallels in the religious area and in the Christian motifs that run

through some of Andersen’s and Wilde’s fairy tales. Crime and punishment, pride and

humility, or the violation of the commandments are present as well as the question of the

immortality of the soul, self-sacrifice, or even prayer. Both authors also ask the question

of the transience of art, especially when it comes to their own art. For example Andersen's

fairy tale "Tante Tandpine" (1872, Aunt Toothache) and Wilde's prose poem "The Artist"

(1894) are both written in a strong melancholy tone. But in the fairy tales they defend

their own work too and Wilde even makes the artist a martyr.

As different as the lifes of Andersen and Wilde were, in fairy tales they had a lot in

common. Both criticized the bourgeoisie of their time with a similar sense of humor and

had themselves similar questions about the meaning of their own creation. Although

Andersen's fairy tales in this day and age have a higher level of awareness, the quality of

the Wilde tales can keep up.

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Svensk sammanfattning

Hans Christian Andersen (1805-1875) och Oscar Wilde (1854-1900) var två av sin tids

viktigaste författare. Deras verk var kända i hela världen och är fortfarande viktiga inslag

i våra bokhyllor.

1846 utgavs de första sagorna av den danske författaren Hans Christian Andersen i

England, vilka togs väl emot av kritiker och slutligen gjorde honom till en berömdhet där.

Året därpå utkom en samling sagor med berättelser, som inte funnits på danska tidigare,

utan som utgavs för första gången i England. Även om översättaren censurerade

Andersens sagor och delvis präglade dem med sin egen stil, rönte dessa även i

fortsättningen stor framgång.

Den irländske författaren Oscar Wilde är mest känd som dramatiker och essäist, men han

skrev också några noveller, prosadikter och nio litterära sagor, vilket är en genre som var

relativt ny i det viktorianska England och som hittills hade fått föga uppmärksamhet.

Kända var sagor av Hans Christian Andersen. Att dessa hade inflytande på Wildes sagor,

konstaterades redan av samtida kritiker. Wilde publicerade två sagosamlingar: The Happy

Prince and Other Tales (1888) och A House of Pomegranates (1891). Medan The Happy

Prince and Other Tales mottogs väl av kritikerna, utsattes A House of Pomegranates för

skoningslös kritik.

I forskningen om Wilde debatteras det mycket om varför han började skriva berättelser.

Det finns en utbredd teori, om att hans nya livssituation, som far till två barn, ledde till att

Wilde började skriva sagor. Enligt honom själv, var dock hans berättelser avsedda för

vuxna. I sagogenren, som ofta underskattades eftersom den i allmänhet riktade sig till

barn, fann Wilde den perfekta scenen för att uttrycka kritik. Denna genre passade honom

mycket bra.

Även om det diskuteras mycket i forskningen om förändringen i ämne och stil i Wildes

berättelser, har den aspekt som redan upptäcktes under Wildes tid fått föga

uppmärksamhet, nämligen att Wilde inspirerades av Andersens sagor. Särskilt i "The

Happy Prince" finns redan på ytan många referenser till Andersen. "Den lille Pige Med

Svovlstikkerne" (1848) kan nämnas i detta sammanhang. Ett annat exempel är

beskrivningen av en mor och hennes sjuka barn i "Historien om en Moder" (1848).

Speciellt i slutet visar Wilde paralleller till Andersen. Prinsstatyns hjärta smälter inte i

elden, som tennsoldatens i Andersens "Den standhaftige Tinsoldat" (1838). Andersen och

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Wilde har samma humor, vilket särskilt återspeglas i representationen av kejsaren i

"Kejserens nye Klæder", “Stoppenaalen“ (1847) och “The Remarkable Rocket“ (1888).

Wilde verkade, jämte varje litet element, till exempel den ståndaktige tennsoldatens hjärta

som inte vill smälta, även fascineras av karaktärer och övergripande motivkomplex, som

han skickligt använder i sina egna berättelser, vidareutvecklar och även fångar upp i

enskilda prosadikter, noveller och i romanen The Picture of Dorian Gray (1891).

Ju mer man tittar på Oscar Wildes sagor och analyserar dessa, framkommer flera

paralleller till Andersen. Sammanställningen av några sagor visar tydligt den influens,

som Andersens arbete hade på Wildes sagor.

Motiv som kärlek, död, obeständighet och skönhet finns hos både Andersen och Wilde,

liksom kampen mellan natur och kultur. Inom detta tema fokuseras speciellt på skillnaden

mellan äkta konst och konstgjordhet. Representanter från naturen, det vill säga den äkta

konsten, måste utsättas för jämförelse med konstgjorda föremål och även om den äkta

konsten någon gång vinner, föredras oftast det konstgjorda framför det äkta. Näktergalen

symboliserar naturlighet hos Andersen i "Nattergalen" (1844) och hos Wilde i "The

Nightingale and the Rose" (1888). Men näktergalen är inte bara en symbol för den sanna

konsten, utan också för konstnären, som ofta känner sig missförstådd och marginaliserad

av sin omgivning. Dessutom är näktergalen inte bara en symbol för konst i allmänhet,

utan symboliserar också poesin i sig, för Andersen och Wilde. Rosen är förutom

symbolen för kärlek även synonym med den sanna konsten. Således delar de, rosen och

näktergalen, hos Andersen i "Svinedrengen" (1842) och hos Wilde i "The Nightingale and

the Rose" samma öde: De är föraktade bara för att de är naturliga och de artificiellt

tillverkade produkterna föredras. Det är särskilt förutsägbart att det är denna förkonstling

som gör skillnaden. Du vet var du står, medan företrädare för sann konst alltid kan

upptäcka nya saker. Hos Andersen blir den sanna konsten oftast hedrad i "Nattergalen",

där den till och med har helande krafter, men enligt Wildes pessimistiska syn har den i

sagan ingen plats i samhället. Förkonstlingen förför människan och tar henne längre och

längre bort från naturen. Insikt belönas hos Andersen och Wilde. Men förkonstling

berövar också friheten dess naturlighet. Andersens näktergal tas ut ur skogen och låses in

i en gyllene bur. Wildes dvärg i "The Birthday of the Infanta" tas ur sin naturliga miljö

och visas upp på en arena för prinsessans nöje. Den naturliga glädjen och hans groteska

utseende roar folket, men han tas inte på allvar.

Ouppfylld och besviken kärlek är också ett motiv som kan hittas både hos Andersen och

Wilde, och hos båda två verkar det som om huvudpersonerna först i förnekelsen upplever

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sin sanna uppfyllelse. Så glömmer svalan i Wildes saga "The Happy Prince" (1888), det

älskade vassröret lika snabbt som snurran saffianbollen i Andersen "Kjærestefolkene"

(1844), eller delar samma åsikter som Andersen fjäril i "Sommerfuglen "(1862). Men

även studenten i Wildes "The Nightingale and the Rose" föraktas av sin älskade. Denne

ger precis som snurran, fjärilen eller kragen i Andersens saga "Flipperne" (1848) upp

kärleken och ägnar sig åter åt andra saker, utan att någonsin ha känt den sanna, allt

uppoffrande kärleken för vilken Wildes näktergal dör och för vilken Gerda övervinner

alla hinder i Andersens saga "Snedronningen" (1845), när hon söker Kay. Medan sann

kärlek dör hos Wilde med näktergalen och i "The Remarkable Rocket" (1888) är poeten

ansvarig för kärlekens och romantikens död, övervinner kärleken alla hinder i Andersens

"Snedronningen". Men även hos Wilde kan kärleken vinna, vilket man kan se i sagan

"The Fisherman and His Soul" (1891).

Tydligast kan man se paralleller i de religiösa och kristna motiven, som går genom några

av Andersens och Wildes sagor. Brott och straff, stolthet och ödmjukhet, eller kränkning

av buden är närvarande, liksom frågan om själens odödlighet, självuppoffringen, eller

bönen. Fåfänga och stolthet är egenskaper som kännetecknar vissa av Andersens och

Wildes figurer och dessa egenskaper störtar dem. Således visar kejsaren hos Andersen i

"Kejserens nye Klæder" (1837, Kejsarens nya kläder) sin fåfänga i och med att han blir

blottställd, men förblir oförmögen att dra konsekvenserna av sitt beteende. Den unge

kungen i Wildes "The Young King" (1888) går som kejsare förlorad i sin fåfänga och

njutningslystnad, men kan till skillnad från Andersens kejsare föras tillbaka till den rätta

vägen genom att konfronteras med exploatering, grymhet och död. I Andersens sagor

"Boghveden" (1842), "Stoppenaalen" (1847), "De Røde Sko" (1845), eller "Pigen, som

traadte paa Brødet" (1859, Flickan som trampade på brödet) spelar temat arrogans en

central roll. Paralleller kan återfinnas i Wildes sagor "The Remarkable Rocket" och "The

Star-Child" (1891). Andersens stoppnål och Wildes raket är så arroganta, att de måste

kompensera för att de inte längre känner samma stora uppskattning och slutligen

överskrider de ensamma och obemärkt gränsen, oförmögna att lära sig något och förblir

fångar i sin egen värld. Ännu tydligare går det att visa paralleller mellan följande

huvudpersoner: Karen i Andersens "De røde Sko", Inger i "Pigen som traade paa Brødet"

och Wildes stjärnbarn ("The Star-Child"), vilka utmärker sig genom sin skönhet. Denna

skönhet leder till egenkärlek och stolthet, för vilket ett rättvist straff utdelas. Alla tre

måste betala för sina synder och lära sig ödmjukhet, innan de kan finna frälsning.

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Stjärnbarnet är, som Inger, grymt och respektlöst mot sin familj och förlorar sin skönhet

som straff. Inger landar i helvetet och stjärnbarnet lever genom helvetet på jorden. Det

måste uthärda fysiskt våld och tortyr, liksom Karen, som förlorar sina fötter på grund av

att hennes dansskor inte slutar att dansa. Först efter erkännandet av sina synder och

botgöring för dessa får alla tre förlåtelse. Frälsning av den odödliga själen i en kristen

kontext är också temat i andra sagor hos Andersen och Wilde och detta förlöper mycket

lika hos båda författarna. Även själens frigörelse tar en central plats i sagorna, i synnerhet

i Wildes "The Fisherman and His Soul" (1891), som visar paralleller till Andersens "Den

lille Havfrue" (1837, Den lilla sjöjungfrun) och ännu tydligare i "Skyggen" (1847). Denna

fråga om att separera själen och dess egna liv befattar sig Wilde med även i sin roman

The Picture of Dorian Gray.

Offer och självuppoffring är ett centralt tema i Andersens "Historien om en moder"

(1848) och Wildes "The Happy Prince" samt "The Nightingale and the Rose", där

näktergalen offrar rosenbusken sitt hjärtas blod på samma sätt som modern hos Andersen.

Detta påminner om Jesu offer. Dessutom har näktergalen och modern det gemensamt, att

deras uppoffringar är förgäves. Mamman förlorar allt, näktergalen sitt liv, och ändå får de

inte det de vill ha. Statyn av prinsen i "The Happy Prince" ger allt, prinsen ära och

rikedom och svalan livet. Även om deras offer är dolda för människorna, vinner de en

plats hos Gud, något som andra karaktärer i Andersen och Wilde säkrar sig genom bön.

Men huvudpersonena i sagorna måste också be för andra. Således blir Inger från

Andersens "Pigen som traadte paa Brødet" först släppt från helvetet, när ett litet oskyldigt

barn inför sin egen död, ber för henne och Sir Simon från Wildes "The Canterville Ghost"

(1887) kan endast befrias från sina jordiska plågor genom Virginias, den personifierade

oskuldens, bön. Som ett tecken på Sir Simons frälsning börjar vissna mandelträd att

blomma, en symbol som även återkommer i Andersens "De Vilde Svaner", där bålen till

sist pryds av blommande rosor.

Oskuldens undergång tas upp hos både Andersen och Wilde. Så förlorar forskaren i

Andersens "Skyggen", som är en representant för oskuld, sitt liv, medan hans skugga,

symbolen för det onda, lever vidare och även gifter sig med prinsessan. I "Fiskaren och

hans själ" dör sjöjungfrun, oskulds-figuren, eftersom fiskaren åter befattar sig med sin

själ, som kommit i beröring med det onda. Ännu mer tragiskt är slutet för dvärgen i "The

Birthday of the Infanta" (1891), vilken som enda oskyldiga konfronteras med en värld av

inneboende ondska och död, som oundvikligen driver honom till döden. Teman som död

och dödlighet finns ofta hos Andersen och Wilde. Döden är ofta både oundviklig och

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ibland meningslös, men kan också vara en befrielse från jordiskt lidande och markera

början på en ny och bättre tillvaro.

Kontrasten mellan rika och fattiga återfinns hos Andersen och Wilde. I "The Happy

Prince" visar Wilde socialt samvete och använder motiv av Andersen. Sömmerskan och

hennes sjuka barn, den fattige poeten eller tändsticksflickan, som svalan och prinsen

kommer till hjälp, påminner tydligt om sina förebilder i Andersens sagor. Men fattigdom

orsakar inte bara välgörenhet och medkänsla, utan kan också leda till utanförskap och

skam. I ett två-klass samhälle, går rikedom och fattigdom hand i hand. De rika förtrycker

de fattiga och utnyttjar dem.

Wilde vänder också på karaktärer och motiv från Andersens sagor. Hos Andersen hittar

utomstående en plats i samhället, medan Wilde gör klart att en utomstående alltid förblir

fångad i sin position som en outsider, och det finns ingen utväg. Med sagan "The Devoted

Friend" (1888) vänder Wilde helt på Andersens saga "Lille Claus og Store Claus" (1835,

Lill-Klas och Stor-Klas). Andersen och Wilde sätter båda i dessa berättelser en fattig och

en rik huvudperson mot varandra. Figurerna, händelseförloppet och slutet av berättelsen

står dock i total kontrast, om man jämför de båda berättelserna med varandra.

Andersen och Wilde tematiserar borgarklassens ytlighet, snobbism och hyckleri och även

mänskligheten i allmänhet med liknande egenskaper. Man finner hos dem kritik mot

samhället, det sociala, den offentliga förvaltningen och de bildade klasserna. Det

förekommer oftast ingen uttalad kritik, utan de låter karaktärerna tala för sig själva och

dessa avslöjar sig därmed genom sina uttalanden.

Andersens och Wildes sagor har inte alltid ett självklart lyckligt slut. I några av

berättelserna dör huvudpersonen till slut en tragisk död, men hittar ändå sin frid i himlen.

Ett uppenbart lyckligt slut hos Andersen och Wilde kan också grumlas i det att några av

huvudpersonerna drabbas av ett tragiskt öde, utan hopp om ett lyckligt slut.

Gränserna mellan gott och ont är ofta suddiga i sagor av Andersen och Wilde. Man får

inte alltid ett rakt svar, om vad som är rätt och fel, bra eller dåligt. De goda och rättfärdiga

människorna behöver i motsats till traditionen inte alltid segra. I "Skyggen" triumferar det

onda över det goda och i "The Devoted Friend" kan flitige Hans inte undgå fattigdom och

dör, medan den rike Hugh kommer undan utan straff och firas för sin förmodade

generositet. Ofta visar en karaktär inte bara en sida av historien, utan förenar många olika

aspekter.

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Andersen och Wilde funderar också över konstens förgänglighet, speciellt den egna. Det

är en melankoli bakom Andersens saga "Tante Tandpine" (1872, Tant Tandvärk) och

Wildes prosadikt "The Artist" (1894). Det skrivna arbetet i Andersens saga slutar som en

dagstidning som omslagspapper och glöms bort, medan Wildes konstnär i prosadikten

smälter ner sitt eget konstverk, som var tänkt att vara i all evighet och skapar ett nytt,

vilket bara ger ett ögonblicks nöje. Men Andersen försvarar i sagan "Svinedrengen" sitt

eget arbete och Wilde gör konstnären till en martyr, så det finns alltid hopp.

Även om Andersens och Wildes liv var mycket olika, finns det många likheter i deras

sagor. Båda kritiserade bourgeoisien i sina samtida berättelser med en liknande humor

och reflekterade över innebörden av sitt eget skapande på ett liknande sätt. Även om

Andersens sagor kanske idag är mer kända, har Wildes berättelser samma konstnärliga

nivå.

Curriculum Vitae

Seit Oktober 2006 Studium der Skandinavistik

Seit Oktober 2004 Studium der Keltologie

Oktober 2003 bis Oktober 2004 Studium der Humanmedizin

Juni 2003 AHS-Matura am BG Zehnergasse Wiener Neustadt

Ab 2000 Nachhilfeunterricht in Englisch, Mathematik und Latein

1999-2003 Mitarbeit in der Schulbibliothek des BG Zehnergasse Wiener Neustadt

Sprachkenntnisse

Deutsch (Muttersprache)

Englisch (fließend)

Französisch (Schulniveau)

Italienisch (Grundkenntnisse)

Bretonisch (Grundkenntnisse)

Modernes Irisch (Grundkenntnisse)

Modernes Walisisch (Grundkenntnisse)

Schwedisch

Isländisch (Grundkenntnisse)

Dänisch

Finnisch (Grundkenntnisse)

Übersetzungskenntnisse: Latein, Altirisch, Mittelkymrisch, Althochdeutsch, Altnordisch