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Schriftliche Hausarbeit zur Prüfung für das Lehramt an Gymnasien Thema der Arbeit: Disziplin und Leidenschaften: Raumsoziologische und massenpsychologische Aspekte von Stadionarchitekturen und –besuchen Beurteilender Hochschullehrer: Prof. Dr. Thomas Alkemeyer Zweitgutachter: Thomas Pille Name des Kandidaten: Hauke Meyer Oldenburg, den 20.11.2006 1

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Schriftliche Hausarbeit zur Prüfung für das Lehramt an Gymnasien

Thema der Arbeit:

Disziplin und Leidenschaften:

Raumsoziologische und massenpsychologische Aspekte von

Stadionarchitekturen und –besuchen

Beurteilender Hochschullehrer:

Prof. Dr. Thomas Alkemeyer

Zweitgutachter:

Thomas Pille

Name des Kandidaten:

Hauke Meyer

Oldenburg, den 20.11.2006

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 1

2. Die Masse – eine erste Annäherung 3

2.1. Der negative Massenbegriff bei Gustave Le Bon 5

2.2. Le Bon und seine Zeitgenossen 10

3. Der Begriff ,Masse’ bei Elias Canetti 13

4. Der Konflikt: Die Masse im Stadion 17

4.1. Raumsoziologische Überlegungen 18

4.2. Die offene und geschlossene Masse 20

4.3. Die Masse als Ring und die stockende Masse 24

5. Der Begriff ,Macht’ bei Michel Foucault 265.1. Disziplin als Machttechnologie 29

5.2. Klausur und Parzellierung 31

5.3. Der Panoptismus – das Stadion als panoptischer Raum 33

5.4. Der Panoptismus als disziplinierende Machttechnologie im Stadion 36

5.5. Die Stadionarchitektur als panoptische Raumorganisation 39

5.6. Macht als Beziehung 42

5.7. Macht als Norm 43

5.8. Macht als Haltung: Das Sitzen und der Stuhl 45

6. Die Produktion des Individuums 48

7. Neue Massenformen 52

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7.1. Die visuelle Masse 53

7.2. Die imaginäre Masse 55

7.3. Die auditive Masse 56

8. Das Stadion: Erregung architektonisch planen 57

9. Die architekturhistorischen Vorbilder Theater und Kolosseum 61

9.1. Das Theater 61

9.2. Das Kolosseum 63

10. Die Arena: Placelessness als Prinzip 66

11. Die disziplinierende Wirkung der Arenenarchitektur 70

12. Der Stadionbesuch als Fest 73

13. Arena und Stadion als Festplatz: Ort und Zeit des Verbotenen 77

14. Der Stadionbesuch: Die feierliche Selbstvergewisserung der Masse 81

15. Inszenierung von Gemeinschaft und Gleichheit 85

16. Das Stadion als Heterotopie 89

17. Das Stadion und der Stadionbesuch: Konsequenzen der Disziplinargesellschaft 91

18. Fazit 94

19. Literaturverzeichnis 97

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1. Einleitung

Stadien gehören mit zu den größten architektonischen Projekten unserer Zeit. Das

Stadion selbst fungiert als Bedeutungsträger, spiegelt in seiner Architektur

gesellschaftliche Entwicklungen wider und wirkt dadurch mit seiner Architektur zurück

auf die Menschenmassen, die sich beim Stadionbesuch in ihm versammeln.

Dieser Sachverhalt wirft die Frage auf, worin die Wirkung der Stadionarchitektur beim

Stadionbesuch genau besteht. Der Titel dieser Arbeit gibt es vor: Disziplin und

Leidenschaft. Es soll deshalb der Frage nachgegangen werden, wie die Menschenmasse

innerhalb eines Stadions diszipliniert werden kann, und wie gleichzeitig deren Ausleben

von Leidenschaft ermöglicht und gesteigert wird. Dabei spielen raumsoziologische und

massenpsychologische Aspekte eine entscheidende Rolle. Diese sollen im

Zusammenhang mit dieser Arbeit näher erläutert werden.

Die Fragestellung dieser Arbeit wird durch die folgenden Aussagen von Bette und

Schimank (1996: 63) umrissen: ,,Gesellschaftliche Modernisierung bedeutet

Affektdämpfung und Körperdisziplinierung“. Diese müssen sich auch architektonisch in

den Stadien niederschlagen. Gleichzeitig sind die massenhaften und frenetischen

Jubelorgien aus Stadien bekannt, was vermuten lässt, dass es möglich zu sein scheint,

,,die Regeln des ,,guten Benehmens“ auf der Tribüne [...] wenigstens kurzzeitig außer

Kraft zu setzen“ (ebd.: 63).

Die Verbindung von Disziplin und Leidenschaft mutet dabei zunächst einmal

widersprüchlich an, verhalten sie sich doch eigentlich diametral zueinander. Trotzdem

gehen sie in der Stadionarchitektur und beim Stadionbesuch eine Verbindung ein, was

durch das Wesen des Stadions selbst ermöglicht wird: ,,The stadium is an ambiguous

place“ (Bale 1995: 11). Das Stadion ist ein zweideutiger Raum, der es ermöglicht,

verschiedene Intentionen miteinander zu verbinden, wodurch der Vorwurf der

Widersprüchlichkeit entkräftet wird.

Der Feststellung, dass das Stadion einen mehrdeutigen Charakter besitzt, ist geradezu

konstitutiv für das Verständnis dieser Arbeit. Im Verlauf dieser Arbeit können diese

Zweideutigkeiten demnach nicht aufgelöst werden, sondern es gilt herauszufinden, wie

sie architektonisch generiert werden, worin sie bestehen und warum sie existieren.

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Bedingt durch die Doppeldeutigkeit des Stadions gliedert sich diese Arbeit in zwei

Teile. Die Zweiteilung erfolgt aber nicht an dem Paar Raumsoziologie und

Massenpsychologie, denn diese Aspekte sind, wie sich zeigen wird, in Bezug auf

Disziplin und Leidenschaft stets miteinander verbunden. Die Teilung erfolgt eher in

Bezug auf die Kategorien Disziplin und Leidenschaft. Der erste Teil dieser Arbeit (bis

einschl. Kapitel 6) geht verstärkt der Frage nach, wie die Menschenmasse innerhalb

eines Stadions diszipliniert wird. Der zweite Teil (Kapitel 8 ff.) erörtert die Frage, wie

innerhalb des Stadions Leidenschaft generiert und intensiviert wird, wobei auch hier

immer wieder Aspekte der Disziplinierung hervortreten.

Zu Beginn der Arbeit (Kapitel 2 ff.) wird der Begriff ,Masse’ aus einer historischen

Perspektive heraus, die insbesondere von Gustave Le Bon geprägt worden ist, näher

definiert werden, um besser verstehen zu können, warum die geläufigen Vorstellungen

von der Masse bis heute negativ besetzt sind. Im Anschluss daran (Kapitel 3 ff.) wird

der Massenbegriff bei Elias Canetti dargelegt und in Verbindung mit

Stadionarchitekturen gebracht (Kapitel 4 ff.), wodurch das zu erörternde Konfliktfeld

dieser Arbeit aufgespannt wird. Die Auseinandersetzung mit der Theorie Michel

Foucaults (Kapitel 5 ff.) und deren Übertragung auf Stadionarchitekturen ermöglicht

einen Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Disziplinierung der Masse. Die Erörterung der

,neuen Massenformen’ (Kapitel 7 ff.) deutet darauf hin, dass es Bestrebungen gibt, sich

der Disziplinierung zu widersetzen beziehungsweise die Leidenschaft der Masse in

leichter zu kontrollierenden Bahnen zu lenken. Die Kapitel 8, 9 ff. und 10 zeigen, wie,

bedingt durch die spezifische Architektur des Stadions, das Ausleben der Leidenschaft

intensiviert wird, wobei in Kapitel 11 auf die disziplinierende Wirkung der

Arenenarchitektur eingegangen wird. Zum Abschluss wird untersucht, warum gerade im

Stadion das Ausleben von Leidenschaft ermöglicht wird (Kapitel 12 und 13), worin die

Besonderheiten des Stadionbesuchs liegen (Kapitel 14 und 15) und warum das Stadion

kein widersprüchlicher Raum ist (Kapitel 16 und 17).

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2. Die Masse – eine erste Annäherung

Um sich mit den massenpsychologischen Aspekten von Stadionarchitekturen und -

besuchen näher zu beschäftigen, muss der Begriff ,Masse’ präzisiert werden. Was genau

ist unter einer Masse im psychologischen Sinne zu verstehen?

Eine erste Annäherung an diesen Begriff liefert Reiwald (1948: 15): ,,Masse, das ist

zunächst eine Anzahl von Menschen, die durch irgendwelche Bindungen

zusammengehalten werden und bei denen gerade ihre Anzahl von Bedeutung ist“. Trotz

dieser allgemein gehaltenen Definition des Begriffs ,Masse’ finden sich doch zwei

wesentliche Aspekte. Zum einen den der Größe der Anzahl von Menschen, die es

braucht, um eine Masse zu bilden und zum anderen den der Bindungen, um sie

zusammenzuhalten. Eine Masse, so erscheint es, das ist zunächst einmal eine

Ansammlung von vielen Menschen. Obwohl Reiwald die Anzahl als bedeutend für die

Masse betont, erscheint doch der von ihm genannte Aspekt der ,Bindungen’ ungleich

wichtiger für die Konstitution einer Masse. Eine bloße Ansammlung von Menschen in

großer Zahl ist keine Masse. Es bedarf mehr, um eine Masse entstehen zu lassen und die

,Bindungen’ scheinen konstitutiv für ihr Entstehen zu sein. Erst durch die ,Bindungen’

wird eine Anzahl von Menschen zur Masse und die Massenpsychologie lokalisiert diese

,Bindungen’ auf der psychologischen Ebene des Individuums, das, wenn es Teil einer

Masse wird, eine Veränderung seines psychologischen Zustands erfährt. Reiwald (ebd.:

16) fasst diese Sichtweise der Psychologen zusammen, indem er formuliert: ,,Mitglied

einer Masse werden, bedeutet für sie die Veränderung des psychischen Status des

Individuums“.

Die Psychologie billigt dem einzelnen Individuum ganz bestimmte

Charaktereigenschaften zu, die dabei helfen, es als ein solches zu kennzeichnen.

Reiwald (ebd.: 16) bemerkt dazu: ,,Sie schreiben dem Menschen als Individuum eine

ganz bestimmte affektive und geistige Haltung zu, die normale, ausgezeichnet vor allem

durch die Herrschaft des Bewusstseins“. In der Masse aber befreit sich das einzelne

Individuum von diesen Eigenschaften und zeichnet sich nun durch ein anderes

Verhalten und durch andere Eigenschaften aus. Reiwald (ebd.: 16) schreibt: ,,In der

Masse kommt es dagegen zu einer starken Affektsteigerung, zu einem Durchbruch des

Unbewussten, und demgegenüber zu einer Schwächung, ja einem völligen

Verschwinden der intellektuellen Besinnung und der moralischen Kraft“. Das

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Individuum zeigt demnach innerhalb der Masse ein anderes Verhalten und andere

Eigenschafen als außerhalb dieser. Mitglied einer Masse zu sein, kennzeichnet sich für

das Individuum vor allem durch ,,den psychologischen Vorgang selbst, durch den das

Individuum vorübergehend seinen Charakter oder doch wenigstens sein Verhalten

verändert und mit den übrigen Massenmitgliedern zu einer Einheit verschmilzt“

(Reiwald 1948: 16). Die Massenkonstitution ist ein psychologischer Prozess mit

spezifischen Veränderungen auf der Seite des Individuums und mündet in der

Konstitution der Masse als einheitliches Gebilde. Diese Einheit wird durch ,Bindungen’

zusammengehalten. In Bezug auf die ,Bindungen’ konnte bisher lediglich festgestellt

werden, dass sie auf der Ebene der Psychologie anzusiedeln sind. Welcher Art diese

,Bindungen’ genau sind, darüber macht Reiwald keine Angaben. Aufschluss darüber

findet sich bei Gustave Le Bon, dessen Arbeit die Massenpsychologie und die

Vorstellungen von der Masse und von ihrem Charakter bis heute geprägt hat (vgl.

Kapitel 2.1.).

Bisher konnte die Masse als einheitliches Gebilde definiert werden, innerhalb dessen

das Individuum durch das Unbewusste und seine Affekte gelenkt wird und sich seines

Intellekts und seiner Moral entledigt. Ähnlich beschreibt es Moscovici (1984: 13), der

seiner Definition der Masse aber noch wichtige Kriterien hinzufügt: ,,Eine Masse ist ein

transitorisches Ensemble von gleichrangigen, anonymen und ähnlichen Individuen,

innerhalb dessen die Ideen und Emotionen eines jeden dazu neigen, sich spontan

auszudrücken. [...] Die Verbote der Moral sind hinweggefegt und mit ihnen die Lehren

der Vernunft. Der Einfluss gesellschaftlicher Rangordnungen schwindet. Die

Unterschiede zwischen verschiedenen Typen von Menschen verwischen sich, und die

Menschen leben [...] ihre Träume und Leidenschaften aus [...]“. Die Masse ist als

vorübergehendes Phänomen zu verstehen und ist stets durch den Zerfall in ihrer

Existenz bedroht. Durch den Zerfall aber würden die Individuen wieder auf ihre

Individualität zurückgeworfen und die Unterschiede zwischen ihnen würden wieder

sichtbar. Die Masse hingegen ermöglicht es, eine Einheit zu werden. Die Unterschiede

zwischen den Individuen verschwinden und ihre Individualität geht verloren. Demnach

ist das Erlebnis der Einheit konstitutiv für die Masse. Im Erlebnis der Einheit liegt ein

erster Ansatzpunkt zur Erklärung der ,Bindungen’, die für die Entstehung einer Masse

als notwendig beschrieben worden sind.

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Reiwald und Moscovici fassen in den hier zitierten Aussagen die gängigen

Vorstellungen der Psychologie und ihrer Vertreter von der Masse und ihrem

spezifischen Wesen zusammen. Die Masse und ihr Verhalten, beziehungsweise das

Individuum und seine Charaktereigenschaften in der Masse, erfahren eine negative

Einschätzung.

Wie konnte es zu einer negativen Beurteilung der Masse und des Individuums in der

Masse kommen? Diese Vorstellungen sind vor allem durch die Arbeit von Gustave Le

Bon beeinflusst: ,,Beginnend mit dem Werk von Gustave Le Bon [...] wurde allgemein

die Ansicht vertreten, dass kollektives Verhalten zu einem Verlust des individuellen

Gefühls für das Selbst und für die Identität wie auch zu einem Verlust der Fähigkeit zu

rationalen Entscheidungen und Verhaltensweisen führt“ (Tedeschi u.a. 1998: 95). Das

Werk von Gustave Le Bon soll im folgenden Kapitel näher betrachtet werden.

2.1. Der negative Massenbegriff bei Gustave Le Bon

Um das Zusammenwirken von Stadionarchitektur und Massenpsychologie besser zu

verstehen, ist eine nähere Beschäftigung mit Gustave Le Bon (1841 – 1931) hilfreich.

Sein Buch ,,Psychologie des foules“ (dt.: ,,Psychologie der Massen“) von 1895 hat die

Vorstellungen von der Masse, die notwendigen Bedingungen für ihre Entstehung und

von ihrem Verhalten bis heute entscheidend beeinflusst: ,,Die Urteile Le Bons sind in

der weitverbreiteten affektiven Abneigung gegen die Masse nach wie vor präsent“

(Gamper 1999: 55). Le Bon war Arzt, beschäftigte sich aber ebenso mit Psychologie

und Soziologie.

Le Bon (1968: 10) schreibt: ,,Unter bestimmten Umständen [...] besitzt eine

Versammlung von Menschen neue, von den Eigenschaften der einzelnen, die diese

Gesellschaft bilden, ganz verschiedene Eigentümlichkeiten. [...] Es bildet sich eine

Gemeinschaftsseele [...] Die Gesamtheit ist nun das geworden, was ich [...] als

psychologische Masse bezeichnen werde. Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt

dem Gesetz der seelischen Einheit der Massen“.

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Diese allgemeine Beschreibung von Le Bon beinhaltet bereits wesentliche Aspekte, die

näher betrachtet werden sollen: Eine Masse benötigt bestimmte Voraussetzungen um

entstehen zu können, sie besitzt andere Eigenschaften als die sie bildenden Individuen

und als Ganzes betrachtet ist sie ein beseeltes Wesen. Eine Masse unterscheidet sich

demnach in mehreren Punkten von einer bloßen Ansammlung von Menschen, die

keineswegs als Masse zu bezeichnen ist.

Das von Le Bon formulierte Gesetz von der seelischen Einheit der Masse scheint

konstituierend für die Massenbildung zu sein. Die Gemeinschaftsseele ist das, was die

Masse gegenüber einer Ansammlung einzelner Individuen besonders unterscheidet,

denn ,,durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zur Masse besitzen sie eine Art

Gemeinschaftsseele, vermöge deren sie in ganz andrer Weise fühlen, denken und

handeln, als jedes von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde“ (ebd.: 13). Die

Gemeinschaftsseele ermöglicht das Zusammengehen der Individuen zur Masse. Sie ist

das mentale Element, das vereinheitlichend wirksam wird und das das stiftet, was von

Reiwald als ,Bindungen’ beschrieben worden ist. Der Prozess der Konstitution der

Masse als Subsumierung der Individuen zu einer Gemeinschaftsseele wird auf der Seite

des Individuums ermöglicht durch ,,das Schwinden der bewussten Persönlichkeit und

die Orientierung der Gefühle und Gedanken nach einer bestimmten Richtung“ (Le Bon

1968: 11). Die Bildung der Gemeinschaftsseele als entscheidendes Moment für die

Entstehung einer Masse bleibt also nicht ohne Konsequenzen für das Individuum

innerhalb dieser Masse, denn Le Bon (ebd.: 14) schlussfolgert: ,,In der

Gemeinschaftsseele verwischen sich die Verstandesfähigkeiten und damit auch die

Persönlichkeit der einzelnen. Das Ungleichartige versinkt im Gleichartigen, und die

unbewussten Eigenschaften überwiegen“. Um Teil einer Masse werden zu können,

müssen die Individuen also ihre bewusste Persönlichkeit, die sie voneinander trennt,

aufgeben, um das gleichsam höher liegende Ziel der Gemeinschaftsseele zu erreichen.

Diesen Vorgang meint Le Bon, wenn er von der bereits oben zitierten Ausrichtung der

Gedanken und Gefühle auf eine Richtung hin spricht. Die Masse zeichnet sich also

durch eine gedanklich-innere und eine nach außen hin sichtbare Homogenität aus, die

die Heterogenität der einzelnen Individuen verschwinden lässt. In seiner

Auseinandersetzung mit Le Bon fasst Freud (1977: 13) diesen Sachverhalt treffend

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zusammen: ,,In der Masse, meint Le Bon, verwischen sich die individuellen

Erwerbungen der Einzelnen, und damit verschwindet deren Eigenart. Das [...]

Unbewusste tritt hervor, das Heterogene versinkt im Homogenen“.

Die Aufgabe der eigenen Persönlichkeit ermöglicht es auch erst, die Masse als ein

beseeltes Wesen entstehen zu lassen. Das Ablegen der eigenen Individualität und

Persönlichkeit ist nötig, um dem Gemeinschaftswesen Masse gleichsam eine Seele zu

geben. Diesem beseelten Wesen Masse müssen spezifische Charaktereigenschaften zu

eigen sein. Da sich die Masse als beseeltes Wesen aber immer noch aus Individuen

konstituiert, müssen die Eigenschaften des Individuums in der Masse näher bestimmt

werden, um von diesen auf den Charakter der Masse schließen zu können. Le Bon

schreibt dazu: ,,Die Hauptmerkmale des einzelnen in der Masse sind also: Schwinden

der bewussten Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewussten Wesens, [...]. Der einzelne

ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht

mehr in der Gewalt hat“ (ebd.: 17). Kennzeichnend für das Individuum in der Masse ist

demnach, dass es vom Unbewussten beherrscht wird. Das im Individuum angelegte

Unbewusste tritt hervor und wird handlungsleitend wirksam. Das Individuum in der

Masse verliert Le Bon nach also gerade die Eigenschaften, die es als selbständiges

Subjekt kennzeichnen. Heinemann (1984: 72) spricht in diesem Zusammenhang von

,,Entpersönlichung“ und Reiwald (1948: 16) bemerkt: ,,Das Individuum – oder vielmehr

die Individualität – geht in der Masse unter“.

Diese innerpsychologischen Vorgänge auf Seiten des Individuums in der Masse

ermöglichen nun unter Einbeziehung von drei Ursachen das Hervortreten der

spezifischen Charaktereigenschaften der Masse selbst. Diese die Charaktereigenschaften

der Masse hervortreten lassenden Ursachen benennt Reiwald (ebd.: 152) in Anlehnung

an Le Bon als: ,,Allmacht, Ansteckung und Suggestion“. Le Bon selber schreibt, dass

,,der einzelne in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefühl

unüberwindlicher Macht erlangt, welches ihm gestattet, Trieben zu frönen, die er für

sich alleine notwendig gezügelt hätte“ (Le Bon 1968: 15). Das Zusammenwirken von

Menge und das daraus abgeleitete Gefühl der Macht können als Ursache benannt

werden, die als Ergebnis in der Wirkung den Wesenszug der Triebhaftigkeit der Masse

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hervorbringen. Die Masse erlaubt das zügellose Ausleben von Leidenschaften. Als

zweite Ursache benennt Le Bon (ebd.: 15) ,,die geistige Übertragung (contagion

mentale) [...]. In der Masse ist jedes Gefühl, jede Handlung übertragbar [...]“. Die

Ansteckung kann auch als ein die Verbindung der Individuen zur Masse auslösender

Faktor interpretiert werden, denn dadurch wird es den Individuen ermöglicht, sich ihrer

persönlichen Eigenart zu entledigen und die bereits erwähnte Orientierung der

Gedanken und Gefühle auf eine Richtung hin, auf das Ziel der Gemeinschaftsseele, zu

erreichen. Als dritte Ursache benennt Le Bon (ebd.: 16) die ,,Beeinflussbarkeit

(suggestibilite)“ und er vergleicht den Zustand des einzelnen Individuums in der Masse

mit dem eines Hypnotisierten, denn ,,die bewusste Persönlichkeit ist völlig ausgelöscht,

Wille und Unterscheidungsvermögen fehlen“ (Le Bon 1968: 16).

Die durch die hier beschriebenen Ursachen hervortretenden Charaktereigenschaften der

Masse sind Le Bon zu Folge ,,Triebhaftigkeit, Reizbarkeit, Unfähigkeit zum logischen

Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist“ (ebd.: 19) sowie ,,Beeinflussbarkeit

und Leichtgläubigkeit“ (ebd.: 22). Die Handlungen der Masse werden angetrieben

durch das Unbewusste und das Triebhafte, weshalb ,,die Massen niemals Handlungen

ausführen können, die eine besondere Intelligenz beanspruchen“ (ebd.: 15). Die Masse

ist lediglich ein ,,Spielball aller äußeren Reize“ (ebd.: 19), denn nichts ist ,,bei den

Massen vorbedacht“ (ebd.: 20). Für Le Bon (ebd.: 21) ist die Masse ,,ebenso unfähig zu

ausdauerndem Wollen wie zum Denken“ und für ihn ,,muss die Masse, die stets an den

Grenzen des Unbewussten umherirrt [...], von der Heftigkeit ihrer Gefühle erregt wird

[...], alles kritischen Geistes bar, von einer übermäßigen Leichtgläubigkeit sein“ (ebd.:

22). Das einzelne Individuum in der Masse entledigt sich aller Disziplin,

Affektkontrolle und Verantwortung. Le Bon (ebd.: 20) bemerkt, dass ,,der

alleinstehende einzelne die Fähigkeit zur Beherrschung seiner Empfindungen hat, die

Masse aber nicht dazu imstande ist“ und das außerdem ,,durch die Namenlosigkeit und

auch Unverantwortlichkeit der Masse das Verantwortungsgefühl, das die einzelnen stets

zurückhält, völlig verschwindet“ (ebd.: 15). Die schiere Größe der Masse erlaubt das

Untertauchen des Individuums und das lustvolle Frönen der Triebe: ,,Für den einzelnen

wäre es zu gefährlich, diese Triebe zu befriedigen, während ihm sein Untertauchen in

einer unverantwortlichen Masse, durch die ihm Straflosigkeit gesichert ist, völlige

Freiheit der Triebbefriedigung gewährt“ (ebd.: 36).

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Diese negativen Beschreibungen des Individuums in der Masse und der Masse an sich

enden in einer schonungslosen Feststellung Le Bons: ,,Allein durch die Tatsache, Glied

einer Masse zu sein, steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur

hinab. Als einzelner war er vielleicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist er ein

Triebwesen, also ein Barbar“ (ebd.: 17). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Le

Bon zufolge in der Masse die Errungenschaften des Individuums wie Disziplin,

Affektkontrolle, Verstand und logisches Denken offenbar verloren gehen, und dass das

Individuum sich in einem Zustand befindet, dessen alleinige Antriebskraft die

Triebhaftigkeit ist.

Die negative Einschätzung Le Bons erklärt sich aus seiner historischen Perspektive.

Dingeldey (1968: 18) schreibt in seiner Einführung zu Le Bons ,,Psychologie der

Massen“ , dass Le Bon ,,ein Kind des Jahrhunderts war, in dem Frankreich mehrere

Staatsumwälzungen, daneben aber auch noch andere revolutionäre Massenbewegungen

und Massenaufstände erlebt hat, die sämtlich in die Zeit von Le Bons Kindheit bis zum

Erscheinen seiner berühmten Schrift fielen“. Als Angehöriger des Bürgertums sah Le

Bon sich durch die Masse in seinem Stand und Status als bürgerliches, autonomes und

rationales Individuum gefährdet, zumal die Masse in ihm auch die ,,Erinnerung an die

Schreckenszeit der Französischen Revolution“ (ebd.: 18) wachgerufen haben dürfte:

,,Von daher wird auch verständlich, dass der Begriff ,,Masse“ für Le Bon nachgerade

zum Inbegriff von Umsturz und Gewalt, ja des schlechthin Gefährlichen werden

konnte“ (ebd.: 18). Für Le Bon wurde die Masse zu etwas Bedrohlichem: ,,Die Masse

machte ihm Angst“ (Michalzik 1995: 92). Wie Gamper (1999: 55) feststellt, gilt für Le

Bon ,,die Masse als virulente Bedrohung der Individualität bürgerlicher Prägung“. In Le

Bons negativer Beurteilung der Masse ist zu erkennen, dass er ,,dem bürgerlichen

Programm der Zähmung und Unterwerfung der Leidenschaften“ (König 1992: 14 – 15)

verschrieben ist.

Gustave Le Bon ist mit seiner negativen Einschätzung der Masse und des Individuums

in der Masse nicht alleine geblieben. Unterstützung erhält er durch seine Zeitgenossen

Gabriel Tarde (1834 – 1904), Scipio Sighele (1868 – 1913), Guy de Maupassant (1850 –

1893), Antonio Gramsci (1891 – 1937) und Hippolyte Taine (1828 – 1893). Sie alle

argumentieren aus einer ähnlichen Perspektive heraus wie Le Bon und haben damit an

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der Durchsetzung der bis heute präsenten Vorstellung von der Masse mitgewirkt: ,,Die

traumatischen Leitbilder der genannten Theoretiker scheinen durchaus heute noch in

untergründiger Erinnerung weiterzuleben, ferne Reminiszenzen an Revolten und

Aufstände proletarischer Massen, die das Bürgertum des 19. Jahrhunderts tief erschreckt

haben“ (Gebauer / Hortleder 1986: 266). Auf die Zeitgenossen Le Bons und deren

Beurteilung der Masse soll im folgenden Kapitel eingegangen werden.

2.2. Le Bon und seine Zeitgenossen

Unterstützung erhält Le Bon in seinen Ansichten in Bezug auf die Masse und das

Individuum in der Masse aus verschiedenen Richtungen.

Antonio Gramsci, italienischer Schriftsteller und Philosoph, der sich eingehend mit dem

Wesen der Masse auseinandergesetzt hat, schreibt: ,,Das eine Menge von Personen, von

unmittelbaren Interessen beherrscht, oder von Leidenschaften, die durch

augenblickliche, unkritisch von Mund zu Mund gehende Eindrücke hervorgerufen

wurden, sich zu den schlimmsten gemeinsamen Entscheidungen zusammenfindet, die

den niedrigsten tierischen Instinkten entspricht. Die Beobachtung ist richtig und

realistisch [...]. Sie ist [...] ohne Verantwortung gegenüber anderen Menschen oder

Menschengruppen [...]“ (Gramsci 1953: 149). Genau wie Le Bon betont auch Gramsci,

dass das Individuum in der Masse nicht von seinem Bewusstsein, sondern von seinen

Affekten kontrolliert wird. Es hat sich seiner Vernunft entledigt und sich mit diesem

Rückschritt dem Tier gleichgestellt.

Ähnlich sieht es der französische Schriftsteller Guy de Maupassant, der vor allem die

mangelnde Intelligenz der Masse gegenüber dem Individuum hervorhebt: ,,Die

Qualitäten der intellektuellen Initiative, des freien Willens, der verständigen Überlegung

und selbst der Klarsichtigkeit, die jeder besitzt, wenn er für sich ist, verschwinden im

allgemeinen, sobald er sich in einer großen Menge von Menschen befindet“

(Maupassant 1979: 102).

Das bereits erwähnte Zurückfallen des Menschen in der Masse in einen archaischen

Zustand, der die Triebhaftigkeit und Wildheit des Menschen wieder offen legt,

beschreibt auch Hippolyte Taine, ein französischer Philosoph, Historiker und

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Schriftsteller. Für ihn ist der Mensch in der Masse ,,in den Naturzustand zurückgefallen.

Die dünne Hülle von vernünftigen Gewohnheiten und Gedanken, die die Zivilisation

über ihn geworfen hat, ist zerrissen und umflattert ihn in Fetzen [...]. Er wird nunmehr

einzig und allein von tierischen Bedürfnissen beherrscht, von einfältigen und rohen,

blutdürstigen und komischen Launen“ (Taine: Bd. I, S. 502).

Auch aus dem Lager der Psychologie und Soziologie erhält Le Bon Zuspruch. Gabriel

Tarde, französischer Soziologe und Psychologe, kritisiert an der Masse ,,ihre

erstaunliche Intoleranz, ihren grotesken Stolz, ihre krankhafte Empfindlichkeit, das

Gefühl ihrer Unverantwortlichkeit, in das sie vernarrt ist und das dem Gefühl ihrer

Allmacht entstammt, der vollkommene Verlust für Maß, das die Erregung bis zum

äußersten steigert“ (Tarde 1901: 36) und reiht sich damit inhaltlich in die schon

erwähnten Kritiker der Massen ein.

Als letztes soll auf den italienischen Psychologen und Soziologen Scipio Sighele

hingewiesen werden, der schreibt, dass in der Masse eine generelle ,,Tendenz der

Wildheit“ (Sighele 1897: 82) herrscht, die sie dazu befähigt im einzelnen Individuum

die Leidenschaften auszulösen, ,,die der menschlichen Seele sonst fremd sind“ (ebd.:

103). Er bezeichnet die Masse als ein ,,tausendköpfiges Monster“ (ebd.: 209), das die

charakteristischen Züge des zivilisierten Individuums wie Disziplin, Affektkontrolle

und Verstandeskraft negiert und in dem deshalb die Wildheit jederzeit zum Ausbruch

kommen kann: ,,Das für sich stehende Individuum ist ziemlich schwer entzündlich [...],

die Masse aber verhält sich immer wie ein Haufen trockenen Pulvers“ (ebd.: 86).

Dieser kurze Überblick hat gezeigt, dass Gustave Le Bon, obwohl er als Begründer der

Massenpsychologie gilt und sein Werk das bis heute Einflussreichste geblieben ist, nicht

als einziger für das negative Bild von der Masse verantwortlich ist. Er und seine

Zeitgenossen haben die Ansichten über die Masse nachhaltig geprägt. Es ist deutlich

geworden, dass ihrer Ansicht nach die Masse sich durch das zügellose Ausleben all

dessen auszeichnet, was im Individuum zur Kontrolle und Disziplin gebracht worden

ist. Moscovici (1984: 30) fasst die Aussagen der hier präsentierten Kritiker in seiner

Auseinandersetzung mit ihnen treffend zusammen: ,,Gruppen und Massen leben unter

dem Druck von starken Emotionen, von extremen Gefühlsbewegungen. Und das um so

mehr, als ihnen zur Beherrschung ihrer Affekte die Mittel der Intelligenz nicht

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ausreichend zur Verfügung stehen. Ein einzelnes Individuum findet seine Persönlichkeit

in der Masse entsprechend verändert. Ohne sich dessen übrigens immer bewusst zu

sein, wird es ein anderes. Über sein Ich hinweg spricht die Stimme des Wir“.

Es ist deutlich geworden, dass zwischen dem Wesen des Individuums und dem Wesen

des Individuums in der Masse ein Gegensatz besteht. Das Individuum und die Masse

bilden ein gegensätzliches Paar, das unvereinbar scheint, da die ihnen spezifischen

Wesenszüge verschieden sind. Sie schließen sich eigentlich gegenseitig aus, negieren

das Wesen des anderen, scheinen aus verschiedenen Zeiten, und dennoch finden sie

zusammen. König (1992: 144) beschreibt diese eigentliche Unvereinbarkeit als die von

Le Bon und seinen Zeitgenossen entworfene ,,Auffassung, dass der Mensch in der

Masse und durch sie in ein vorzivilisatorisches Stadium des Lebens zurückfällt“. Darin

liegt der Konflikt zwischen Individuum und Masse: Die Masse fungiert als der Ort, an

dem das im Menschen zwar angelegte aber durch die Zivilisation als kontrolliert und

diszipliniert geglaubte Wesen der Triebhaftigkeit und Wildheit wieder zum Ausbruch

kommt. Das Unkontrollierbare bleibt im Menschen latent vorhanden und wartet auf die

Gelegenheit in Form einer Masse, um sich selbst wieder ein Gesicht zu geben.

Die Masse erweist sich in den hier präsentierten Auffassungen der Massenpsychologen

nach als scheinbar nicht zu kontrollierendes Wesen. Die ,Gemeinschaftsseele’ ist zu

stark und zu verführerisch, sodass der Einzelne sich ihr kaum entziehen kann: ,,Sie

erlangen eine gemeinsame Natur, die die jeweils eigene erstickt, sie erleben, wie sich

ein kollektiver Wille aufdrängt, der ihren Einzelwillen zum Schweigen bringt [...]“

(Moscovici 1984: 27 – 28).

Aus den hier dargestellten Vorstellungen vom Wesen der Masse, ja in gewisser Weise

aus der Gefahr heraus, die die Masse darstellt, erwächst der historische Wunsch, sie als

Ganzes zu kontrollieren, sie zu disziplinieren und sich ihres Willens zu bemächtigen.

Wenn die Bildung von Massen nicht verhindert werden kann, weil die im Individuum

angelegten Leidenschaften immer wieder hervorbrechen und in der Masse ausgelebt

werden wollen, dann soll ihr zumindest ein Raum für ihre Konstitution bereitgestellt

sein, innerhalb dessen dies geschehen kann und der sich gleichzeitig die Aufgabe stellt,

Kontrolle und Disziplin über die Masse auszuüben. Der Frage, inwiefern die

Architektur von Stadien, in denen sich Massen versammeln, dazu beigetragen hat, diese

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Aufgabe der Kontrolle und Disziplinierung zu erfüllen, soll weiter nachgegangen

werden (vgl. Kapitel 4.2. / 4.3. / 5.2 ff.).

Zuvor allerdings soll noch auf Elias Canetti und dessen Massentheorie eingegangen

werden, denn seine Vorstellungen von der Masse sind im Hinblick auf den

Zusammenhang von der Stadionarchitektur und der Disziplinierung der Masse von

großer Bedeutung für diese Arbeit.

3. Der Begriff ,Masse’ bei Elias Canetti

Canetti sieht als entscheidendes Moment für die Massenkonstitution das ,,Umschlagen

der Berührungsfurcht“ (Canetti 1980: 10). Er geht von der Grundannahme aus, dass die

Distanzen und Hierarchien, die jeder zwischen sich und anderen Menschen aufbaut, aus

dem Widerwillen und der Angst resultierten, von anderen und unbekannten Menschen

berührt zu werden: ,,Alle Abstände, die die Menschen um sich geschaffen haben, sind

von dieser Berührungsfurcht diktiert“ (ebd.: 9). In der Masse aber wird das Individuum

von dieser Angst befreit und die Berührungsfurcht kehrt sich in das direkte Gegenteil

um, in ein ,berühren wollen’ und ein ,berührt werden wollen’. Diese beiden Wesenszüge

können als die charakteristischen Merkmale der Masse im Sinne Canettis beschrieben

werden. Canetti (ebd.: 10) schreibt: ,,Es ist die Masse allein, in der der Mensch von

dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann. Sie ist die einzige Situation, in der diese

Furcht in ihr Gegenteil umschlägt. Es ist die dichte Masse, die man dazu braucht, in der

Körper an Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung, nämlich so, dass

man nicht darauf achtet, wer es ist, der einen bedrängt“. Die Masse, die das Individuum

sucht, ist die dichte und enge Masse. In ihr werden Berührungen ermöglicht und die

eigene Wahrnehmung darüber, von wem das einzelne Individuum berührt wird,

verschwindet. Genau wie Le Bon betont auch Canetti (ebd.: 10) die innere und auch

nach außen hin sichtbare Homogenität der Masse: ,,In ihrem idealen Falle sind sich alle

gleich. Keine Verschiedenheit zählt, nicht einmal die der Geschlechter. Wer immer

einen bedrängt, ist das gleiche wie man selbst. Man spürt ihn, wie man sich selber spürt.

Es geht dann alles plötzlich wie innerhalb eines Körpers vor sich“. Nielsen (1995: 33)

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spricht in seiner Auseinandersetzung mit Canetti von einer ,,bodily homogeneity

prevalent within the crowd“.

Canetti weist darauf hin, dass sich der Prozess der Konstituierung einer Masse vor allem

in der Bildung eines einheitlichen Gefühlskörpers widerspiegelt. Die einzelnen Körper

aller Individuen verschmelzen zu einem gemeinsamen Körper, während Le Bon den

Aspekt einer gemeinsamen Seele, der Gemeinschaftsseele, stärker hervorgehoben hat.

Damit kennzeichnet Canetti die Bildung der Masse als Prozess, an dem der Körpersinn

Fühlen entscheidenden Anteil hat, womit der Massenbildungsprozess als

physiologischer Vorgang beschrieben werden kann. Le Bon hingegen hat den

Massenbildungsprozess stärker auf der psychologischen Ebene angesiedelt und

beschreibt ihn als die Bildung einer ,Gemeinschaftsseele’ , in der sich alle Gedanken

und Gefühle auf eine Richtung hin orientieren, also einer gemeinsamen Idee

unterordnen.

Gänzlich aber spart auch Canetti ein psychologisches Moment bei der

Massenkonstitution nicht aus, dem er später sogar eine immer wichtiger werdende Rolle

zuschreibt. Es ist dieses bei ihm das sich auf der psychologischen Ebene einstellende

Gefühl der Gleichheit der Individuen in der Masse, auf das noch näher eingegangen

wird. Kuhnau (1996: 54) erkennt bei Canetti eine ,,psychologische Beschreibung der

Masse als Einheit“ und weist auf ,,die enorme Bedeutung der Masse als

Gleichheitszustand“ (ebd.: 56) hin. Mit Canettis Betonung der Masse als

Gleichheitszustand ist eine Parallele zum Massenbegriff von Le Bon gefunden, der die

Homogenität der Masse ebenfalls erwähnt. Dieser Gleichheitszustand erfährt bei beiden

jedoch eine deutlich zu unterscheidende Gewichtung. Für Le Bon spiegelt sich die

Gleichheit der Individuen in der Masse allein in der Bildung der Gemeinschaftsseele

wider, die die Unterschiede zwischen den Individuen verwischt. Die Unterordnung

unter eine gemeinsame Idee ist Ausdruck der Gleichheit. Canetti hingegen will den

Zustand der Gleichheit der Individuen in der Masse als psychologisch und körperlich -

sinnlich zugleich verstanden wissen. Das Gefühl der körperlich - sinnlich erfahrenen

Gleichheit innerhalb eines Gefühlskörpers, womit der Massenbildungsprozess

gleichsam beginnt, ist dabei Vorraussetzung für das sich daran anschließende Gefühl der

Gleichheit auf der psychologischen Ebene.

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Canetti (1980: 26) nennt vier Eigenschaften der Masse und als eine besonders wichtige

kennzeichnet er eben jene Gleichheit: ,,Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Sie ist

absolut indiskutabel und wird von der Masse selbst nie in Frage gestellt. Sie ist von so

fundamentaler Wichtigkeit, dass man den Zustand der Masse geradezu als einen

Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte. [...] Um dieser Gleichheit willen wird

man zur Masse“. Das Gefühl der Gleichheit kann als angestrebtes Endprodukt

betrachtet werden, das am Ende des Konstitutionsprozesses der Masse steht.

Als weitere Charaktereigenschaften der Masse nennt Canetti Wachstum, Dichte und

Richtung. Hinsichtlich des Wachstums einer Masse sagt Canetti (ebd.: 26): ,,Die Masse

will immer wachsen“. Größer zu werden kann als ihr natürliches Bestreben bezeichnet

werden, sie erkennt keine Grenzen an und versucht alles und jeden mitzureißen: ,,Der

Drang der Masse zu wachsen ist die erste und oberste Eigenschaft der Masse. Sie will

jeden erfassen [...]“ und ,,ihrem Wachstum ist überhaupt keine Grenze gesetzt“ (ebd.:

11). Den Wesenszug der Dichte der Masse beschreibt Canetti (ebd.: 26) wie folgt: ,,Die

Masse liebt Dichte. Sie kann nie zu dicht sein. Es soll nichts dazwischenstehen [...], es

soll möglichst alles sie selber sein“. Das Kriterium der Dichte deutet auf den bereits

beschriebenen Abbau der zwischen den Individuen stehenden Distanzen hin. Diese

duldet die Masse nicht und sie stehen ihrer Konstitution im Wege. Als letzte

Charaktereigenschaft der Masse nennt Canetti (ebd.: 26) die Richtung: ,,Die Masse

braucht eine Richtung. Sie ist in Bewegung und bewegt sich auf etwas. Die Richtung,

die allen Angehörigen gemeinsam ist, stärkt das Gefühl von Gleichheit“. Bewegung und

Richtung können hier aber auch im übertragenen Sinne verstanden werden, und zwar als

Bewegung und Ausrichtung auf das Ziel hin, den Zustand der absoluten Gleichheit, also

den der Masse selbst, zu erreichen.

Neben das als entscheidend für die Konstitution einer Masse klassifizierte Kriterium der

Umkehrung der Berührungsfurcht tritt ein weiterer wichtiger Aspekt, der die Masse als

solche erst sichtbar und, im Sinne von Canettis Massenverständnis wohl noch

entscheidender, als sinnlich – gefühlsmäßigen Zustand fassbar macht. Es ist dies der

Vorgang der ,,Entladung“ (ebd.: 12). Canetti (ebd.:12) beschreibt ihn folgendermaßen:

,,Der wichtigste Vorgang, der sich innerhalb der Masse abspielt, ist die Entladung.

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Vorher besteht die Masse eigentlich nicht, die Entladung macht sie erst wirklich aus. Sie

ist der Augenblick, in dem alle, die zu ihr gehören wollen, ihre Verschiedenheiten

loswerden und sich als gleiche fühlen“. Die Entladung der Masse führt zum Gefühl der

völligen Gleichheit ihrer Mitglieder. Die Masse versteht sich selbst als ein homogenes

Ganzes, und die Herstellung dieses Gefühlszustandes erfordert die gemeinsame

Anstrengung aller Individuen der zukünftigen Masse: ,,Nur alle zusammen können sich

von ihren Distanzen befreien. Genau das ist es, was in der Masse geschieht. In der

Entladung werden die Trennungen abgeworfen und alle fühlen sich gleich“ (ebd.: 13).

Distanzen und Hierarchien zwischen den Individuen weichen dem Gefühl der absoluten

Gleichheit. Diesen Zustand zu erreichen, ihn sinnlich zu erfahren, ist das Bestreben der

Masse und ihr eigentliches Ziel, gibt ihr die mentale Richtung ihrer Bewegung vor.

Canetti (ebd.: 13) beschreibt dieses Bestreben der Individuen in der Masse wie folgt:

,,Um dieses glücklichen Augenblickes willen, das keiner mehr, keiner besser als der

andere ist, werden die Menschen zur Masse“.

Die Herstellung des Gleichheitszustandes in der Masse hat auf Seiten des Individuums

aber noch eine weitere Konsequenz. Canetti (ebd.: 15) schreibt: ,,Der einzelne Mensch

selbst hat das Gefühl, dass er in der Masse die Grenzen seiner Person überschreitet“.

Das bedeutet, dass das Individuum nicht länger an seine Individualität und Identität

gebunden ist, und dass die mit diesen verbundenen und gegenüber anderen wirkenden

,,Distanzen aufgehoben sind, die ihn auf sich zurückwarfen und in sich selbst

verschlossen“ (ebd.: 15). Nielsen (1995: 33) fügt in Anlehnung an Canetti hinzu: ,,With

the body – crowd, the individual supersedes his uniformed closeness and alienation. The

crowd transcends by its conduct”. Die Masse ermöglicht es dem Individuum, über sich

selbst hinauszugehen, sich selbst zu überschreiten und seiner eigenen körperlichen

Begrenzung zu entfliehen: ,,In der Masse kommt es sogar zur Entgrenzung. Man ist

wieder Gleicher unter Gleichen. [...] Man ist von seiner Berührungsfurcht, Isolation,

Einsamkeit und Individualität befreit“ (Vaas 1995: 243). Die Entgrenzung ermöglicht es

dem Individuum, Individualität und Identität in der Masse abzulegen, quasi eine

Voraussetzung dafür, um der Massenkonstitution mit dem Ziel des Gefühls der

Gleichheit nicht im Wege zu stehen. Ähnlich interpretiert es Kuhnau (1996: 57): ,,In der

Masse werden somit die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt auf psychischer und

physischer Ebene für das Individuum aufgehoben, so dass es zur Aufgabe seiner

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Identität kommt“. Damit wäre eine weitere Parallele zwischen Canetti und Le Bon

gezogen, der die Aufgabe der Identität des einzelnen Individuums ebenfalls als

konstitutiv für die Massenbildung betont hat.

4. Der Konflikt: Die Masse im Stadion

Die Beschreibungen von Le Bon und Canetti über das Wesen der Masse haben gezeigt,

dass sich die Masse unter anderem durch Eigenschaften wie Kraft, Unkontrolliertheit,

Wucht und Beweglichkeit auszeichnet. Sie ist kein starres Gebilde, sondern erweist sich

als nur schwer oder gar unmöglich zu kontrollierendes und zu disziplinierendes Wesen.

Diese Charakteristik scheint auch für die Zuschauermassen in Stadien zu gelten: ,,By

means of their gathering and crowding together, the stadium spectators demonstrate

their force, strength and potential threat” (Nielsen 1995: 33). Das nun auftauchende

Spannungsfeld ergibt sich aus dem Konflikt der entsteht, wenn diese ständig unruhige

Masse mit einer baulich und räumlich feststehenden Stadionarchitektur in Einklang

gebracht werden soll: ,,The stadium, more than any other building type in the twentieth

century, has been the scene of physical confrontation between crowd and architecture“

(van Winkel 2000: 13). Die Masse und eine festgelegte Stadionarchitektur erscheinen

als unvereinbar miteinander.

Würde sich eine Masse alleine durch die Anzahl der Individuen auszeichnen, welche die

Masse konstituieren, wäre es kein Problem, das Konfliktfeld Masse – Stadion –

Architektur zu beseitigen, denn ein entsprechend großes Stadion, um die Masse

unterzubringen, ließe sich bauen. Van Winkel aber definiert den Begriff Masse wie seine

Vorgänger und deutet damit gleichzeitig auf die eigentliche Aufgabe der

Stadionarchitektur hin, die eben nicht nur darin besteht, die Masse in einem Stadion

unterzubringen: ,,If the destructive force of the crowd were simply a matter of

cumulative weight, the problem of mass accomodation would have been solved back in

the 1910s or 1920s. But a crowd entails more than static weight; its dynamic is

determined by a combination of factors, such as density movement, eagerness,

expansion and panic. Load-bearing capacity alone is never sufficient to neutralize this

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explosive cocktail“ (ebd.: 13). Die destruktiven Kräfte der Masse sollen durch die

Architektur des Stadions neutralisiert werden und auf die Masse im Stadion soll mit

Hilfe der Architektur Einfluss genommen werden: ,,When it comes to designing a

stadium, architecture is synonymous with crowd control. [...] The architecture attempts

to impose discipline on the crowd […]“ (ebd.: 13). Ein zentraler Leitgedanke der

Stadionarchitektur ist es also, die Masse mit Hilfe der Architektur des Stadions zu

kontrollieren und zu disziplinieren. Es ist die Aufgabe der Architektur mit dem Stadion

ein Gebäude zu schaffen, welches die Eigendynamik der Masse kontrollieren kann. Dies

aber erscheint doch sehr schwierig und nahezu widersprüchlich, denn wie soll etwas

Bewegliches wie die Masse in etwas Festes wie ein Stadion integriert werden? Das

Stadion als festes, starres und unveränderliches Bauwerk mit festen Grenzen erscheint

gänzlich ungeeignet, der lebendigen und beweglichen Masse Platz zu bieten.

4.1. Raumsoziologische Überlegungen

Mit dem Stadion ist die Raumkategorie benannt worden, die in dieser Arbeit behandelt

wird. Welches Verständnis von Raum aber soll generell als Basis für die weiteren

Betrachtungen zu Grunde gelegt werden?

Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Denktraditionen erkennen, die entweder ,,auf

der einen oder auf der anderen Grundannahme basieren: entweder es wird dualistisch

zwischen Raum und Körpern getrennt oder aber in der Tendenz monistisch Raum als

Folge der Beziehungen zwischen Körpern hergeleitet“ (Löw 2001: 17 – 18). Löw (ebd.:

269) präzisiert diesen Unterschied weiter: ,,Man unterscheidet in der Regel zwischen

absolutistischen und relativistischen Raumvorstellungen. Während vom absolutistischen

Standpunkt aus ein Dualismus angenommen wird, d.h., die Existenz von Raum und

Körper vorausgesetzt wird, sind relativistische Traditionen der Auffassung, dass Raum

die Struktur der relativen Lage der Körper bildet“. In der absolutistischen

Raumvorstellung existiert der Raum demnach per se und diese Raumvorstellung wird

von der Prämisse geleitet, ,,dass Raum unabhängig vom Handeln existiert“ (ebd.: 18).

Die relativistische Raumvorstellung hingegen geht davon aus, dass der Raum erst ,,aus

der Anordnung der Körper abgeleitet“ (ebd.: 18) werden muss. Raum existiert also in

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dieser Vorstellung nicht von selbst, sondern wird auf der Grundlage des Handelns und

der Lagebeziehung der Körper untereinander aktiv produziert und konstituiert: ,,Räume

existieren demnach nicht unabhängig von den Körpern. Während im absolutistischen

Denken Räume die unbewegte und für alle gleichermaßen existente (deshalb

homogene) Grundlage des Handelns sind, geht im relativistischen Denken die Aktivität

des Handelns unmittelbar mit der Produktion von Räumen einher“ (ebd.: 18).

Für diese Arbeit soll eine relativistische Raumvorstellung gelten. Dabei soll aber nicht

der Prozess der Konstitution von Raum untersucht werden (vgl. Löw 2001: 152ff.). Es

geht in dieser Arbeit nicht um die Frage, wie der Stadionraum durch Handeln und durch

die Lagebeziehung von Körpern untereinander produziert und konstituiert wird.

Vielmehr soll von einer relativistischen Raumvorstellung ausgehend, die ,,Raum aus

den Lageverhältnissen“ (ebd.: 18) definiert, untersucht werden, welche Wirkung die

Lagebeziehung der Körper zueinander im Hinblick auf die Disziplinierung der Masse

und auf das Ausleben von Leidenschaft hat. Nicht die Frage, wie dieser Raum Stadion

konstituiert wird, steht im Mittelpunkt, sondern die Frage, was auf der Grundlage der

räumlich - architektonischen Anordnung des Stadions, was die Lageverhältnisse der

Körper zueinander mit einschließt, innerhalb dieses Raums geschieht, was innerhalb

dieses Raums möglich ist und was nicht möglich ist: ,,Jede Raumgestaltung, jede

architektonische Form trägt zur Situationsdefinition und -deutung bei. Sie trennt ein

innen und außen, bestimmt die Beziehungen der Menschen zueinander, präpariert

Räume mit begrenzten Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten und wirkt [...] als

Verständnishintergrund für die sich darin vollziehenden Ereignisse“ (Alkemeyer 1996:

308). Bereits Dietrich (1989: 187) hatte es ähnlich formuliert: ,,Vorgegebene

Raumstrukturen bieten also spezifische Handlungsmöglichkeiten an, die zwingend zu

Handlungsgeboten dort führen können, wo zusätzlich zu räumlichen Gegebenheiten und

ihren Verwendungsmöglichkeiten soziale Regeln ihrer Nutzung und ihres Gebrauchs

festgelegt sind und überwacht werden“.

Dabei wird die relativistische Raumvorstellung von Michel Foucault genauer untersucht

werden, denn Foucault (1990: 37) selbst sagt: ,,Wir sind in einer Epoche, in der sich uns

der Raum in der Form von Lagerungsbeziehungen darbietet“. Für Foucault stellt sich

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der Raum als ein ,,Ensemble von Relationen“ (ebd.: 34) dar, das die einzelnen

,,Elemente“ (edb.: 34) als ,,nebeneinandergestellte, einander entgegengesetzte,

ineinander enthaltene erscheinen lässt; also als eine Konfiguration“ (ebd.: 34). Wie Löw

(2001: 148) feststellt, ist zu erkennen, dass Foucault damit ,,für einen relationalen

Raumbegriff plädiert [...]“. In ihrer Auseinandersetzung mit Foucault schreibt Löw

(ebd.: 150) weiter, dass Foucault den Raum bestimmt ,,als Lageverhältnis. Elemente

erscheinen durch relationale Beziehungen als nebeneinander-, nacheinander- oder

zueinandergestellt. [...] Der Raum konstituiert sich als Gefüge von Platzierungen und

Lagerungen“. Diese Platzierungs- und Lagerungsverhältnisse haben eine bestimmte

Wirkung. Löw (ebd.: 148) schreibt in Bezug auf Foucault: ,,Raum ist demzufolge eine

Konfiguration oder ein Netzwerk, welches Dinge oder Handlungen in eine Ordnung

bringt, bzw. eine Ordnung zum Ausdruck bringt“. Hierin findet sich ein Hinweis darauf,

dass über die in einem Raum vorzufindenden und von Foucault angesprochenen

,,Platzierungen und Lagerungsbeziehungen“ (Löw 2001: 148) der Individuen eine

disziplinierende Wirkung ausgeübt wird, da eine Ordnung hergestellt wird. Dieser

Annahme soll in der Auseinandersetzung mit Foucault (vgl. Kapitel 5. ff.) in dieser

Arbeit weiter nachgegangen werden.

Hierbei sei noch kurz erwähnt, dass Löw (ebd.: 149) darauf hinweist, dass der Prozess

der Konstitution von Raum auch in Foucaults Raumvorstellungen enthalten ist: ,,Indem

der Raum nach Foucault über miteinander verknüpfte Platzierungen und Lagerungen

definiert ist, wird gleichzeitig der Prozess des Platzierens und Lagerns deutlich. Der

Prozess verweist auf den Handlungskontext von Raum. Raum als Netzwerk wird von

Foucault nicht nur als Ordnung bzw. als Struktur gedacht, sondern diese weist zurück

auf den Handlungszusammenhang, auf den Akt des Platzierens“.

4.2. Die offene und geschlossene Masse

Das in Kapitel 4 umschriebene Konfliktfeld, die bewegliche Masse in eine starre

Stadionarchitektur zu integrieren, kann dahingehend aufgehellt werden, wenn eine

weitere Differenzierung des Massenbegriffs vorgenommen wird. Innerhalb eines

Stadionraums mit seiner besonderen Architektur haben wir es mit einer spezifischen Art

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von Masse zu tun. Dieser Aspekt ist als erster Hinweis darauf zu verstehen, dass, wie in

Kapitel 4.1. erwähnt, von der räumlich - architektonischen Anordnung des Stadions eine

bestimmte Wirkung ausgeht. Die angesprochene Differenzierung bezüglich des Begriffs

,Masse’ nimmt Canetti vor, wenn er zwischen offener und geschlossener Masse

unterscheidet. Innerhalb von Stadien befinden sich geschlossene Massen. Dennoch soll

hier auch kurz auf die offene Masse eingegangen werden, um dadurch das Wesen der

geschlossenen Masse besser zu verstehen.

Die offene Masse wird von Canetti auch als natürliche Masse bezeichnet. Er

charakterisiert sie wie folgt: ,,Die natürliche Masse ist die offene Masse: ihrem

Wachstum sind keine Grenzen gesetzt“ (ebd.: 11). Die Betonung des grenzenlosen

Wachstums ist konstitutiv für ihr Selbstverständnis, denn Canetti (ebd.: 11) sagt:

,,Sobald sie besteht, will sie aus mehr bestehen. Der Drang zu wachsen ist die erste und

oberste Eigenschaft der Masse“. Diese Masse besitzt etwas mitreißendes. Ein jeder will

dabei sein, teilhaben an ihr, sich einfügen in sie – aber nur so lange wie sie wächst. Gibt

es keinen weiteren Zufluss an Menschen, die zu ihr stoßen, stagniert er oder nimmt gar

ab, hat die Masse an Reiz und Anziehungskraft verloren und büßt somit ihre Existenz

ein, denn ihre Existenz liegt im Drang nach Wachstum begründet: ,,Die offene Masse

besteht, solange sie wächst. Ihr Zerfall setzt ein, sobald sie zu wachsen aufhört“ (ebd.:

11).

Die geschlossene Masse beschreibt Canetti (ebd.: 11) mit folgenden Worten: ,,Diese

verzichtet auf Wachstum und legt ihr Hauptaugenmerk auf Bestand. Was an ihr auffällt

ist die Grenze. Die geschlossene Masse setzt sich fest“. Die Masse scheint mit sich

selber einen Kompromiss eingegangen zu sein, denn bedingt durch die räumliche

Begrenzung verzichtet sie auf den ihr eigenen Drang wachsen zu wollen, erhält dafür

aber einen Gewinn an Beständigkeit: ,,Was an Wachstumsmöglichkeiten so geopfert

wird, das gewinnt die Masse an Beständigkeit“ (ebd.: 12). Somit diszipliniert und

kontrolliert die geschlossene Masse sich in gewisser Hinsicht selbst, denn sie nimmt

eine spezifische Form an, bei der sie zwar ihr Wachstum einbüßt aber gleichzeitig eine

Konstanz ihrer Existenz erhält. Auf der anderen Seite aber erfordert die

Stadionarchitektur als abgegrenztes und abgeschlossenes Bauwerk eine solche Form der

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Masse, die sich eben durch Wachstumsverzicht und Begrenztheit in der Zahl

auszeichnet, sodass die Disziplinierung der geschlossenen Masse zum Teil auch vom

Stadion und seiner Architektur ausgeht. Kontrolle und Disziplinierung der Masse gehen

im Fall der geschlossenen Masse also gleichzeitig von der geschlossenen Masse und

von der Architektur des Stadions aus und bedingen sich wechselseitig. Die Masse

unterwirft sich dieser von der Architektur des Stadions ausgehenden Kontrolle, erhält

im Gegenzug dafür aber mit dem Stadion doch einen Platz, der nur ihr und ihrer

Konstitution vorbehalten ist, einen Ort also, an dem sie sich ihrer Existenz sicher weiß.

Das Stadion fungiert somit als Raum, der nur für die geschlossene Masse da ist. Er dient

ihrer Zusammenkunft und das Ereignis innerhalb seiner Grenzen scheint von sekundärer

Bedeutung zu sein, denn die eigentliche Funktion dieses Raumes ist es, der

geschlossenen Masse einen Ort für ihre Konstitution zu bieten: ,,The main function of a

stadium is to accomodate the crowd; the occasion – whether it be a sporting or some

other event – is secondary“ (van Winkel 2000: 13). Canetti (ebd.: 11) erkennt diese

spezifische Funktionszuschreibung ebenfalls, indem er schreibt: ,,Der Raum, den sie

erfüllen wird, ist ihr zugewiesen“. Canetti wird in Bezug auf den singulären Zweck des

Stadions aber noch deutlicher: ,,Das Gebäude wartet auf sie, um ihretwillen ist es da,

und so lange es da ist, werden sie sich auf dieselbe Weise zusammenfinden. Der Raum

gehört ihnen, auch wenn er Ebbe hat, und in seiner Leere gemahnt er an die Zeit der

Flut“ (ebd.: 12). Unterstützung bei dieser Zweckzuschreibung des Stadions erhält

Canetti von Goethe, der auf seiner Italienreise über das Amphitheater in Verona sagt:

,,Auch will es leer nicht gesehen sein, sondern ganz voll von Menschen [...]“ (Goethe

1993: 44). Das Stadion ist Goethes Meinung nach dazu da, ,,damit dessen Zierart das

Volk selbst werde“ (ebd.: 44). Und Gebauer / Wulf (1988: 15) schreiben über das

Olympiastadion in Berlin: ,,Leer verliert der Ort seine Wärme; er verlangt die

Mobilisierung der Massen, die pralle Fülle von Menschen [...]“.

Das Stadion mit seiner Architektur hilft der offenen Masse, die auf Grund ihres

grenzenlosen Wachstums keine endgültige und feste Gestalt annehmen kann und damit

formlos bleiben muss, ein Gesicht zu bekommen und in der geordneten Form der

geschlossenen Masse eine konkrete Gestalt anzunehmen: ,,Es gibt der fließenden

unsteten Masse eine feste Form: ein flüssiger Ring in einer kolossalen Steinfassung

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[...]“ (Gebauer / Wulf 1988: 15). Die geordnete Form der geschlossenen Masse steht im

Gegensatz zu der Masse, die Goethe (ebd.: 44) als ,,das vielköpfige, vielsinnige,

schwankende hin und her irrende Tier“ bezeichnet hat, denn in der folgenden Aussage

Goethes ist zu erkennen, dass die geordnete Form der geschlossenen Masse etwas

Erhabenes und Faszinierendes besitzt und gleichzeitig deutet Goethe auf die spezifische

Architektur des Amphitheaters in Verona hin, die im Hinblick auf die sonst ständig

durcheinandergewürfelte Masse eine Art von Kontrolle, Disziplin und Ordnung stiftet:

,,Wenn es sich so beisammen sah, musste es über sich selbst erstaunen, denn da es sonst

nur gewohnt, sich durch einander laufen zu sehen, sich in einem Gewühle ohne

Ordnung und sonderliche Zucht zu finden“ so sieht es sich nun ,,zu einem edlen Körper

vereinigt, zu einer Einheit bestimmt, in eine Masse verbunden und befestigt, als Eine

Gestalt, von Einem Geiste belebt“ (ebd.: 44 – 45). Schümer (1998: 41) beschreibt in

seiner Auseinandersetzung mit Goethe das von diesem erkannte ordnungsstiftende

Potential der Architektur als ,,die zivilisierende Kraft, die von einem Stadion ausgehen

kann“.

Das Annehmen einer Gestalt führt zu einer Faszination der Masse über sich selbst, oder

wie Prosser (2002: 282) es formuliert hat, zu dem ,,Staunen des Publikums über sich

selbst“. Der von Goethe und Prosser beschriebene Aspekt, dass die Masse über sich

selbst erstaunt ist, rührt von der aus Goethes Zitat abzulesenden Tatsache her, dass die

Masse das Selbstbild der geordneten Form der geschlossenen Masse nicht gewohnt ist

und sich zu einer solchen Choreographie nicht fähig glaubt. Berauscht vom eigenen

Anblick der Ordnung werden die Kontrolle und die Disziplin, die gewissermaßen von

außen auf die Masse durch die Architektur einwirken, zu einer von ihr selbst

ausgehenden, quasi verinnerlichten, Selbstkontrolle und Selbstdisziplin und zwar derart,

dass die sich ihr selbst präsentierte geordnete Form der geschlossenen Masse von ihr

selbst als erstrebenswert angesehen wird, und dass sie zur Erlangung dieses Ziels auf

die ihr eigenen Wesenszüge wie Wachstum, Unbegrenztheit und Unkontrolliertheit

verzichtet. Mit diesem Verhalten der geschlossenen Masse, das geprägt ist durch

Überlegtheit, Bewusstheit und Disziplin, zeigt sie nun genau die

Charaktereigenschaften, die ihr von Le Bon abgesprochen worden sind. Auch Verspohl

(1976: 26) kommt in seiner Interpretation von Goethes Beschreibung zu dem

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Verständnis, dass ,,die hier der Masse zugesprochene Fähigkeit der Eigeninitiative und

des ordnenden, planerisch vorgehenden Verhaltens [...] in einem widersprüchlichen

Verhältnis [...]“ zu der sonst vorherrschenden Vorstellung von der Masse steht.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich innerhalb eines Stadions geschlossene

Massen befinden, und die Stadionmauern fungieren als ihre äußere Begrenzung. Die

geschlossene Masse existiert nur innerhalb der festgelegten Grenzen eines Raums,

verzichtet deshalb auf Wachstum, gewinnt aber an Beständigkeit. Der ihr zugewiesene

Raum ist ihrer Konstitution vorbehalten und somit entgeht sie der ständigen Gefahr des

Zerfalls. Sie strömt anlässlich eines als sekundär zu klassifizierenden Ereignisses

innerhalb eines begrenzten Raumes zusammen, konstituiert sich und zerfällt nach

Beendigung des Ereignisses wieder in einzelne Individuen. Die Massenbildung

beinhaltet unter diesen Voraussetzungen unweigerlich ihre Auflösung. Diesem

ernüchternden Aspekt aber tritt die Masse mit einer ihr eigenen Hoffnung entgegen:

,,Ganz besonders aber rechnet sie mit Wiederholung. Durch die Aussicht auf

Wiederversammeln täuscht sich die Masse über ihre Auflösung jedes Mal hinweg“

(Canetti 1980: 12). Diese Wiederholung ist ihr sicher, denn ein Ort dafür existiert

bereits.

4.3. Die Masse als Ring und die stockende Masse

Die architektonisch ringförmige oder rechteckige Anordnung von Stadien führt

unweigerlich dazu, dass die sich im Stadion befindende Masse die besondere Form der

geschlossenen Masse annimmt. Die geschlossene Masse, nach außen hin abgegrenzt

durch die Stadionmauern, schließt sich noch auf eine zweite Weise und zwar derart,

dass sie sich nach innen schließt, also einen Ring bildet. ,,Die Masse [...] ist nirgends

unterbrochen. Der Ring, den sie bildet, ist geschlossen“ (Canetti 1980: 25). Der

Abgrenzung nach außen hin durch eine Mauer wird eine zweite innere Abgrenzung aus

Fleisch und Blut hinzugefügt: ,,Nach außen, gegen die Stadt, weist die Arena eine

leblose Mauer. Nach innen baut sie eine Mauer von Menschen auf“ (ebd.: 25). Die

ringförmige Anordnung der Masse ist lückenlos, und etwaige Lücken sucht man

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vergeblich, denn wie Canetti (ebd.: 26) feststellt: ,,Aber es ist keine da: diese Masse ist

nach außen und in sich, also auf zweifache Weise geschlossen“. Die Anordnung der

Masse als Ring, von der Architektur initiiert, wird von der Masse selbst aufgegriffen

und verstärkt, was als Akt der Selbstdisziplin und Selbstkontrolle interpretiert werden

kann. Sie schottet sich nach außen hin ab, duldet keine Eindringlinge und garantiert sich

so ihre Beständigkeit.

Neben das Merkmal der ringförmig und zweifach geschlossenen Masse tritt ein weiteres

Charakteristikum der Masse im Stadion, das Canetti als ,,stockende Masse“ (ebd.: 32)

beschreibt. Dieses Merkmal muss im Zusammenhang mit dem bereits beschriebenen

Phänomen der Entladung gedacht werden. In der Entladung wird die Masse erst sinnlich

fassbar. Die Entladung ist ihr Bestreben, und man sollte vermuten, dass sie darauf

ausgerichtet ist, dieses Ziel so schnell wie möglich zu erreichen. Die stockende Masse

aber verhält sich anders: ,,Ihr Zustand hat etwas Passives, die stockende Masse wartet“

(ebd.: 32). Sie kann sich diese Wartezeit leisten und sich ihrer Entladung doch sicher

sein, denn das Stadion als Raum ihrer Konstitution ist nur für sie da und schützt sie vor

dem Zerfall. Canetti (ebd.: 27) sagt dazu: ,,Die stockende Masse lebt auf ihre Entladung

hin. Aber sie fühlt sich dieser sicher und verzögert sie“. Dieses Charakteristikum der

stockenden Masse, die Fähigkeit des zeitlichen Hinauszögerns von sich spontan

äußernden Gefühlen und Leidenschaften und die Fähigkeit des Warten könnens auf die

ihr garantierte Entladung, ist ein deutliches Zeichen der Affektkontrolle. Bei der

Bewältigung dieser Aufgabe greift die stockende Masse auf zwei Hilfsmittel zurück,

den Stuhl und das Sitzen, denn ,,dem zeitlichen Aufschub sich spontan entfaltender

Bilder und Wünsche auf ihre spätere Realisierung dienen Stuhl und Sitzen“ (Eickhoff

1993: 164). Die modernen Stadien sind oftmals reine Sitzplatzstadien, sodass man die

stockende Masse als eine auf Stühlen sitzende Masse bezeichnen könnte.

Die ringförmig geschlossene, stockende Masse beweist in der Ausübung der

Affektkontrolle ihre Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Selbstdisziplinierung und wehrt

sich damit gegen die von Le Bon und seinen Zeitgenossen erhobenen Vorwürfe. Mit

dieser Fähigkeit der geschlossenen und stockenden Masse ist ein erster Schritt in die

Richtung getan, die Kontrolle und die Disziplin nicht mehr nur von außen durch die

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Architektur auf die Masse einwirken zu lassen, sondern sie in ihr Inneres zu verlagern,

sie von ihr selbst ausgehen zu lassen. Kontrolle und Disziplin sollen im weiteren

Verlauf dieser Arbeit als Formen der Machtausübung verstanden werden. Die Macht

wirkt demnach nicht mehr nur allein durch die Architektur des Stadions von außen auf

die Masse ein, sondern die Masse inkorporiert diese, lässt sie von sich selbst ausgehen

und wird selbst zu einem Träger der von der Architektur initiierten Ordnung. Damit ist

eine Überleitung zu Michel Foucault gefunden, der sich eingehend mit dem

Zusammenhang von Architektur und Macht im Hinblick auf die Disziplinierung der

Masse auseinandergesetzt hat. Löw (2001: 150) stellt entsprechend fest: ,,Foucaults

machttheoretisches Auge ruht auf der Ordnung, die durch Anordnungen geschaffen

wird“.

5. Der Begriff ,Macht’ bei Michel Foucault

Es ist gezeigt worden, dass einerseits von der Architektur des Stadions eine

kontrollierende und disziplinierende Wirkung ausgeht, sodass die Architektur demnach

Macht ausübt. Andererseits aber ist es die Masse selbst, die die Macht inkorporiert,

indem sie eine bestimmte Form annimmt, also zum Träger dieser Ordnung wird und sie

damit reproduziert. Die Masse lässt die disziplinierende Kraft der Macht von sich selbst

ausgehen. Diese wechselseitige Beziehung ist eingehender von Michel Foucault

betrachtet worden, der in seinem Buch Überwachen und Strafen an der

architekturhistorischen Entwicklung von Krankenhäusern, Kasernen, Fabriken, Schulen

und Gefängnissen aufzeigt, wie mit Hilfe der Architektur und der räumlichen

Anordnung der Masse und der Individuen die Kontrolle und Disziplin über eben diese

immer weiter verfeinert, ökonomisiert und verstärkt wurde, bis sie sich schließlich zu

einer Selbstdisziplin und Selbstkontrolle derselbigen umformt.

Zunächst soll Foucaults Verständnis von Macht dargelegt werden, um dann daran

anschließend den Zusammenhang von Macht, Disziplin, Masse und Architektur

herzuleiten.

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Michel Foucault entwirft einen Begriff von Macht, die sich selbst als produktive

Technologie versteht. Er kritisiert die gängigen Vorstellungen von Macht, wonach ,,die

Macht wesentlich die Regel, das Gesetz, das Verbot ist, das, was die Grenze setzt

zwischen dem, was erlaubt, und dem, was verboten ist“ (Foucault 1995: 23 – 24). Die

Macht würde bei einem solchen Verständnis nur dann zur Anwendung kommen, wenn

gegen diese Gesetze, Regeln und Verbote verstoßen wird, und zwar derart, dass sie

bestrafend eingreifen muss. Ihre Wirkung wäre also rein destruktiver Natur. Foucault

(1976: 250) kritisiert diese Vorstellung scharf: ,,Man muss aufhören, die Wirkungen der

Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ausschließen, unterdrücken,

verdrängen [...] würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv“. Das Wesen der Macht

als produktive Technologie ist wesentlich für ihre Anwendung.

Die Unterscheidung in einen destruktiven und einen produktiven Charakter der Macht

als Technologie muss mit einer weiteren von Foucault getroffenen Unterscheidung

kombiniert werden.

Entscheidend für das Verständnis von Macht im Sinne von Foucault ist es, eine

Differenzierung zwischen ,,Zentralmacht“ (Foucault 1995: 27) und ,,Mikromacht“

(Foucault 1976 a: 33) vorzunehmen.

Ein klassisches Beispiel für eine Zentralmacht ist der Monarch. Er verkörpert die Macht

in seiner Person und die Ausübung dieser erfordert seine Anwesenheit. Sie stützt sich

auf Gesetze und Verbote und ,,der Sinn der Macht, ihr Kernpunkt, das worin die Macht

besteht, das Verbot, das Gesetz, die Tatsache des Neinsagens [...] ist wesentlich das, was

,du sollst nicht’ sagt“ (Foucault 1995: 23). Diese Macht wirkt destruktiv und ist in der

Person des Monarchen lokalisierbar und damit angreifbar. Sie kann gestürzt werden

oder man kann ihr entweichen und sich ihrer Wirkung entziehen. Ihre Durchsetzung

muss mit hohem ökonomischen Aufwand betrieben werden, denn sie erfordert die

ständige Überwachung und Überprüfung der unterworfenen Masse durch Dritte. Die

Zentralmacht versucht, Herr über die Masse zu werden, doch diese Form der

Machtausübung erweist sich als ,,eine sehr diskontinuierliche Macht. Die Maschen des

Netzes waren zu groß, eine fast unendliche Zahl von Dingen, Elementen, Verhalten,

Vorgängen entzog sich der Kontrolle der Macht“ (Foucault 1995: 30). Der Versuch, von

einer Machtquelle ausgehend, die Masse als Ganzes zu kontrollieren, ist zum Scheitern

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verurteilt, da die Ausübung der Macht zu lückenhaft ist und die Individuen in der Masse

untertauchen können.

Wenn die Macht die Masse als Ganzes nicht greifen kann, muss sie den umgekehrten

Weg gehen. Sie muss an den die Masse konstituierenden Individuen ansetzen. Damit

macht das Versagen der Machtausübung über die Masse als Ganzes schließlich ,,die

Einsetzung einer kontinuierlichen, präzisen, gewissermaßen atomisierten Macht

erforderlich, den Übergang von einer lückenhaften, globalen Macht zu einer

kontinuierlichen, atomisierten und individualisierten Macht: damit jeder, jedes

Individuum in sich selbst, in seinem Körper, seinen Gesten, kontrolliert werden kann,

anstelle globaler und massenweiser Kontrollen“ (Foucault 1995: 30). Foucault spricht in

diesem Zusammenhang von der erwähnten Mikromacht. Die Macht, ihre Ausübung und

Wirkung wird in die Individuen und ihre Körper hineinverlagert. Hier findet sich ein

präziser Ansatzpunkt für die Macht und ,,das größte, präziseste, produktivste und

umfassendste System der Kontrolle von Menschen wird auf der kleinsten und

präzisesten Grundlage errichtet. Die Schaffung einer Mikromacht, die vom Körper als

zu manipulierendem Objekt ausgeht [...]“ (Dreyfus / Rabinow 1987: 184). Die Macht

als Technologie soll am Individuum und an seinem Körper direkt ansetzen und hier ihre

produktive Wirkung entfalten. Diese Macht ist nicht mehr an und in einem zentralen

Punkt lokalisierbar, da sie in allen Körpern gleichzeitig wirkt. Sie wirkt nicht mehr von

oben auf sie herab, sondern aus ihnen selbst heraus. Das Individuum kann sich ihrer

Wirkung nicht entziehen, da sie von seinem eigenen Körper ausgeht: ,,Es gibt keine

elementarere Form von Macht als die, die der Körper selber ausübt“ (Canetti 1980:

437). Das Individuum und sein Körper werden selbst zum Träger der Macht. Das Ziel

ist es also, ,,die Wirkungen der Macht durch immer feinere Kanäle bis hin zu den

Individuen selbst, bis hin zu ihren Körpern, bis hin zu ihren Gesten [...] zirkulieren zu

lassen“ (Foucault 1977: 256). Die Stärke dieser Macht liegt darin, dass sie sich durch

die Körper der Individuen selbst reproduziert und damit eine von einer externen Quelle

ausgehende Überwachung ihrer Ausübung überflüssig macht, da sie von den Individuen

in ihren Körpern und durch ihre Körper selbst ausgeübt wird. Das spezifische Wesen

dieser am und im Individuum ansetzenden Macht als Technologie im Gegensatz zum

destruktiven Verständnis von Macht beschreibt Foucault (1976 a: 109): ,,Denn wenn die

Macht nur Unterdrückungsfunktionen wahrnähme, wenn sie nur noch auf die Weise der

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Zensur, des Ausschließens, des Absperrens, der Verdrängung, in der Art eines großen

Über – Ichs arbeitete, wenn sie nur auf negative Art ausgeübt würde, wäre sie sehr

zerbrechlich. Wenn sie stark ist, dann deshalb, weil sie [...] positive Wirkungen

produziert“.

Im Folgenden soll darauf eingegangen werden, wie die Macht als Technologie im

Hinblick auf die Individuen und ihre Körper produktiv wirksam wird, welcher

Methoden sich die Machtechnologie dabei bedient und welcher Zusammenhang im

Hinblick auf Stadionarchitektur, Masse und Individuum besteht.

5.1. Disziplin als Machttechnologie

Zu Beginn ist es zunächst einmal hilfreich, sich eingehender mit den Begriffen

,Kontrolle’ und ,Disziplin’ zu befassen. Der Duden (2000: 566) übersetzt den Begriff

,Kontrolle’ mit ,,Überwachung, Überprüfung, Beherrschung“. Dieses Verständnis des

Begriffs will ich übernehmen und er soll derart verstanden werden, dass diese Kontrolle

von außen auf ein Individuum oder eine Gruppe ausgeübt wird. Sie entspringt also einer

externen Quelle und muss dauerhaft ausgeübt werden, erfordert also die stetige Präsenz

einer Macht, die diese Kontrolle über jemanden anderes ausübt. Das Hinzufügen der

Silbe ,Selbst-’ erlaubt ein neues Verständnis, denn der Begriff ,Selbstkontrolle’

beinhaltet, dass die Überwachung, Überprüfung und Beherrschung jetzt vom

Individuum selbst ausgeht. Es ist Quelle seiner eigenen Kontrolle und macht die

Präsenz einer externen Kontrollmacht überflüssig.

Für den Begriff der ,Disziplin’ soll auf Michel Foucault zurückgegriffen werden. Der

Duden (ebd.: 298) definiert ,Disziplin’ zwar als ,,Zucht, Ordnung“ , also als von außen

ausgeübte Kräfte, und das Hinzufügen der Silbe ,Selbst-’ impliziert, dass diese auch

vom Individuum selbst ausgehen können, doch reicht dieses Verständnis des Begriffs

,Disziplin’ im Zusammenhang mit dieser Arbeit nicht aus.

Foucault (1976: 175) versteht unter ,Disziplin’ ,,diese Methoden, welche die peinliche

Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung ihrer Kräfte

ermöglichen und sie gelehrig / nützlich machen [...]“. Diese ,,Gelehrigkeit“ (ebd.: 175)

ist für Foucault die Idee, die ,,den analysierbaren Körper mit dem manipulierbaren

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Körper verknüpft. Gelehrig ist ein Körper, der unterworfen werden kann, der ausgenutzt

werden kann, der umgeformt und vervollkommnet werden kann“ (ebd.: 175). Die

Disziplin, die Disziplinierung des Körpers, ist also eine Symbiose aus Unterwerfung

und Nutzbarmachung in einem bestimmten Sinn. Die Disziplin moduliert und fabriziert

Individuen, deren Körper die gewünschten Eigenschaften hervortreten lassen. Es sind

durch die Disziplin neu zusammengesetzte Körper. Ein Teilaspekt ist die Unterwerfung

des Körpers, das Kontrollieren seiner Triebhaftigkeit, der andere Teilaspekt aber ist der

der Genese eines anderen Körpers: ,,Der menschliche Körper geht in eine

Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt“

(ebd.: 176). Der einfach nur unterworfene Körper erfährt keine Veränderung. Die

Technik der Disziplin aber ,,fabriziert auf diese Weise unterworfene und geübte Körper,

fügsame und gelehrige Körper“ (ebd.: 177), die neu zusammengesetzt und somit Träger

der sie unterwerfenden Ordnung werden. Denn es geht nicht nur darum, ,,sie machen zu

lassen, was man verlangt, sondern um sie so arbeiten zu lassen, wie man will“ (ebd.:

176). Es geht nicht um die kurzfristige Unterwerfung, sondern um eine dauerhaft

wirkende Transformation der Individuen in einem bestimmten Sinn. Sie sollen selbst zu

bereitwilligen Trägern der sie unterwerfenden Ordnung werden. Die Disziplin ist eine

Methode der Machttechnologie und wirkt produktiv, denn sie erschafft sich fügsame

Individuen. Die Disziplin als Methode der Macht setzt zu Beginn am Individuum und

an seinem Körper an. Am Ende steht ein Individuum, das diese Disziplin soweit

verinnerlicht hat, dass es sie gegen sich selbst und andere anwendet.

Das Stadion mit seiner spezifischen Architektur kann deshalb im Sinne von Foucault als

,,Disziplinarraum“ (Foucault 1976: 183) beschrieben werden, in dem Unterwerfung und

Transformation vollzogen werden. Damit verfeinert sich auch einer der Leitgedanken

der Stadionarchitektur dahingehend, dass es nicht mehr nur bloß darum geht, die Masse

zu kontrollieren, sondern dass die Architektur des Stadions ,,der inneren, gegliederten

und detaillierten Kontrolle und Sichtbarmachung ihrer Insassen“ (ebd.: 222) dient.

Foucault spezifiziert den Auftrag der Architektur im Sinne der oben beschriebenen

Transformation und Schaffung neuer Körper aber noch weiter, denn in letzter

Konsequenz ,,geht es um eine Architektur, die ein Instrument zur Transformation der

Individuen ist: die auf diejenigen, welche sie verwahrt, einwirkt, ihr Verhalten

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beeinflussbar macht, die Wirkungen der Macht bis zu ihnen vordringen lässt, sie einer

Erkenntnis aussetzt und sie verändert“ (ebd.: 222).

Im Folgenden soll nun mit Hilfe von Foucaults Beschreibungen in Überwachen und

Strafen gezeigt werden, wie ein modernes Stadion als Disziplinarraum architektonisch

organisiert werden muss, um im Hinblick auf die Kontrolle der Masse und die Disziplin

als Unterwerfung und Transformation der Individuen die gewünschte Wirkung zu

erzielen.

5.2. Klausur und Parzellierung

Die Überlegungen Foucaults sollen nun auf die Architektur moderner Stadien

übertragen werden, denn es lassen sich deutliche Parallelen aufzeigen. Die

architektonischen Merkmale Klausur und Parzellierung (vgl.: Foucault 1976: 181 f.)

sind als spezifische Methoden der Machttechnologie zu nennen, die im Sinne der

Kontrolle und der Disziplin wirken. Sie beziehen sich zunächst einmal auf die

Verteilung der Masse und der Individuen im Raum, in diesem Fall also im Stadion.

Dreyfus und Rabinow (1987: 185) bemerken dazu: ,,Ein grundlegender Bestandteil

dieser Technologie war die Kontrolle des Raumes. Die Disziplin waltet durch die

Organisation von Individuen im Raum, und deshalb erfordert sie eine besondere

Einfriedung des Raumes“. Diese besondere Organisation des Raumes wird eben durch

jene Klausur und Parzellierung erreicht und von Foucault näher beschrieben.

Foucault (1976: 181) sagt: ,,Bisweilen erfordert die Disziplin die Klausur, die bauliche

Abschließung eines Ortes von allen anderen Orten“. Dieses Kriterium wird vom Stadion

erfüllt. Die Abgrenzung des Stadions nach außen hin ist mit den Stadionmauern sichtbar

realisiert. Das Stadion fungiert als baulich abgeschlossener Raum, um die Masse stets

lokalisieren zu können, denn ,,diese umherschweifende Masse muss festgesetzt werden“

(ebd.: 181 – 182). Das Stadion ist der Raum ihrer Festsetzung. Die Klausur ist

allerdings erst der erste Schritt hin zu einer Kontrolle, die man als noch relativ

oberflächlich bezeichnen könnte, denn die Masse ist zwar festgesetzt, zeigt sich im

Stadion aber immer noch als unüberblickbares Gewimmel von Menschen, in dem der

Einzelne untertauchen kann. Die Masse bietet der Disziplin als Machttechnologie

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keinen Ansatzpunkt. Es bedarf einer feineren Technik in der räumlichen Anordnung, um

Disziplin über das einzelne Individuum in der Masse auszuüben. Die Klausur ist

unverzichtbar, reicht allein aber nicht aus.

Der notwendige zweite Schritt ist das ,,Prinzip der elementaren Lokalisierung oder der

Parzellierung. Jedem Individuum seinen Platz und auf jedem Platz ein Individuum“

(Foucault 1976: 183). Diese Forderung Foucaults findet mit den Sitzplätzen, die in den

Stadien der neueren Generation fast nur noch vorzufinden sind, ihre Realisierung.

Jedem Individuum ist ein Platz zugewiesen, auf dem es stets zu lokalisieren ist, denn

Foucault (ebd.: 183) sagt: ,,Der Disziplinarraum hat die Tendenz, sich in ebenso viele

Parzellen zu unterteilen, wie Körper oder Elemente aufzuteilen sind“. Der

parzellenartige individuelle Sitzplatz hat den Vorteil, dass er ,,die Überwachung und

Kontrolle der Fans [...] wesentlich erleichtert“ (Heinemann 1998: 134). Der bereits

beschriebenen Unmöglichkeit, die Macht über die Masse als Ganzes wirken zu lassen,

wird mit der Parzellierung Rechnung getragen. Der individuelle (Sitz-) Platz ist eine

Form der Parzellierung, die auf das Individuum zugeschnitten ist und es damit innerhalb

dieser Grenzen hält. Bollnow (1997: 42 – 43) fügt im Sinne von Foucaults Parzellierung

hinzu: ,,Der Platz bezeichnet das eng umgrenzte Raumstück, in das etwas grad

hineinpasst, bis an seine Grenze, aber nicht darüber hinaus“.

Die Kontrolle als erster Schritt orientiert sich an der Masse, was im architektonischen

Prinzip der Klausur sichtbar wird. Die Disziplin als notwendiger zweiter Schritt aber

setzt am Individuum in der Masse selbst an und findet seine Realisierung im Prinzip der

Parzellierung, indem es jedem Individuum einen für ihn spezifisch vorgesehenen Platz

zuweist, an dem es sich aufzuhalten hat. Die Verschränkung dieser zwei Prinzipien hilft

bei dem Bestreben ,,eine Überwachung sicherzustellen, die umfassend und

individualisierend zugleich ist“ (Foucault 1977: 251).

Die bisherigen Ausführungen haben das Individuum immer mehr in das Zentrum der

Betrachtung rücken lassen, allein aus der Notwendigkeit heraus, dass die Masse als

Ganzes sich als schwer oder nur lückenhaft zu kontrollierendes Wesen gezeigt hat. Über

die Disziplinierung des Individuums soll die Masse kontrolliert werden. Es kommt in

den Stadien, die als klassische Orte der Massenkonstitution dienen, zu einer

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,,Individualisierung der Zuschauer“ (Heinemann 1998: 134), da ein Abtauchen in der

Masse verhindert wird: ,,Das unkontrolliert hin und her wogende Zuschauerkollektiv

der Sportarenen, in dem der einzelne abtauchen und unerkannt seinen anarchischen

Gelüsten nachgehen kann, gehört bald der Vergangenheit an“ (Liebs 2000: 19). In

Bezug auf die Zuschauer in den durchnummerierten Sitzplatzstadien stellt Bale (1993:

30) einen klaren Wandel fest: ,,Collectivities of fans would give way to numbered

individuals“. Durch die Sitzplätze wird von Beginn an die Bildung einer

umherwimmelnden, nicht zu überblickenden oder zu kontrollierenden Masse verhindert:

,,Gruppenverteilungen sollen vermieden, kollektive Einnistungen sollen zerstreut,

massive und unübersichtliche Vielheiten sollen zersetzt werden. [...] Es geht gegen die

ungewissen Verteilungen, gegen das unkontrollierte Verschwinden von Individuen,

gegen ihr diffuses Herumschweifen, gegen ihre unnütze und gefährliche Anhäufung

[...]. Es geht darum, die Anwesenheiten und Abwesenheiten festzusetzen und

festzustellen; zu wissen, wo und wie man die Individuen finden kann“ (Foucault 1976:

183).

Es stellt sich die Frage, ob die Masse im Stadion überhaupt noch als eine solche

bezeichnet werden kann, oder ob eine neue Art von Masse entsteht, die sich durch

andere und neue Eigenschaften als die bekannten auszeichnet. Dieser Frage soll zwar

erst zu einem späteren Zeitpunkt nachgegangen werden (vgl. Kapitel 7), doch erscheint

mir ein Hinweis an dieser Stelle auf den betreffenden Sachverhalt sinnvoll, um trotz der

vielfach herausgearbeiteten Bedeutung des Individuums die für Stadien typischen

Massen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Die Masse soll zunächst einmal

weiterhin als eine solche bezeichnet werden. Gleichzeitig aber soll auf das Paradox

hingewiesen werden, dass diese ’neue’ Masse Individualität sichtbar macht, sodass sie

vielleicht alternativ als geordnetes Kollektiv bezeichnen werden könnte.

5.3. Der Panoptismus – das Stadion als panoptischer Raum

Neben die architektonischen Prinzipien Klausur und Parzellierung tritt die Tatsache,

dass die modernen Stadien architektonisch als panoptische Räume organisiert sind. In

ihnen werden die Elemente des Panoptismus realisiert. Foucault setzt sich in

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Überwachen und Strafen eingehend mit dem Panopticon und dem Panoptismus

auseinander und die dabei auftretenden Parallelitäten zum Stadion und seiner

Architektur sollen im Folgenden aufgezeigt werden.

Der Panoptismus geht auf das von Jeremy Bentham entwickelte Panopticon zurück,

eine kreisrunde Gefängnisanlage mit einem Turm in der Mitte, von dem aus in alle

Zellen geblickt werden konnte, während der Überwacher im Turm selbst unsichtbar

blieb. Foucault (1976: 259) beschreibt das (architektonische) Prinzip des Panopticons

wie folgt: ,,Das Panopticon ist eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen /

Gesehenwerden: im Außenring wird man vollständig gesehen, ohne jemals zu sehen; im

Zentrum sieht man alles, ohne je gesehen zu werden“. Dieses Überwachungssystem

arbeitet mit dem Prinzip der ununterbrochenen Sichtbarmachung der inhaftierten

Individuen und der Macht des (ständigen) Blicks und übt so einen subtilen Zwang auf

die Insassen aus, denn diese wissen nie, ob sie gerade überwacht werden oder nicht. Das

führt im Endeffekt dazu, dass die Insassen sich so verhalten, als ob sie ständig

überwacht würden, sodass sie sich in ihrem eigenen Verhalten kontrollieren und

disziplinieren, auch wenn der Überwacher im Turm vielleicht gar nicht anwesend ist

und er somit im Extremfall sogar überflüssig wird: ,,The panoptical view means the

ability of the observer to see all without being seen. The tower of the prison may be

empty but its control remains powerful“ (Eichberg 1995: 336). Es ist offensichtlich,

dass das Stadion auf einen zentralen Überwachungsturm in der Mitte verzichtet.

Dennoch aber stützt sich auch die Architektur des Stadions genau wie die des

Panopticons auf den Blick und die Sichtbarmachung: ,,The stadium is connected with

the panopticon by the hegemony of the view. All should be made visible. Nothing

should be hidden from sight” (Eichberg ebd.: 336). Wie dies genau geschieht, das soll

nun detaillierter erläutert werden. Dabei sei darauf verwiesen, dass sich eine zentrale

Überwachungsform in den heutigen Stadien in der Videoüberwachung wiederfindet.

Bale (1995: 11) nämlich bezeichnet die ,,pervasiveness of video – surveillance“ als ,,a

modern form of Foucault’s panopticon (ebd.: 11). Auf diesen Aspekt aber soll in dieser

Arbeit nicht weiter eingegangen werden (vgl. Bale 1993: 27ff. / Bale 1994: 83 /

Giulianotti 2004: 81ff.).

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Foucault beschreibt den perfekten Disziplinarraum wie folgt: ,,Dieser geschlossene,

parzellierte, lückenlos überwachte Raum, innerhalb dessen die Individuen in feste

Plätze eingespannt sind, die geringsten Bewegungen kontrolliert und sämtliche

Ereignisse registriert werden [...] – dies ist das kompakte Modell einer

Disziplinierungsanlage“ (Foucault 1976: 253). Diese durch räumliche Aufteilung und

Zergliederung gekennzeichnete Disziplinaranlage wird im Stadion mit den

individuellen Sitzplätzen realisiert: ,,The Stadium space was fully segmented by placing

each individual in a seat“ (Bale 1994: 83). Im Hinblick aber auf das Stadion als

panoptischen Raum muss noch das Kriterium der ständigen Sichtbarkeit hinzugefügt

werden: ,,Die panoptische Anlage schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen, ohne

Unterlass zu sehen und zugleich zu erkennen. [...] Das volle Licht und der Blick [...]

erfassen besser als das Dunkel, das auch schützte. Die Sichtbarkeit ist eine Falle“

(Foucault 1976: 257). Das Individuum im panoptischen Stadion ist einer ständigen

Sichtbarkeit ausgeliefert und Foucault (ebd.: 258) stellt fest: ,,Daraus ergibt sich die

Hauptwirkung des Panopticon: die Schaffung eines bewussten und permanenten

Sichtbarkeitszustandes [...]“. Das Individuum kann auf seinem Platz der Sichtbarkeit

nicht entgehen und ist der potentiellen Beobachtung durch alle anderen ausgesetzt, denn

,,im Panopticon wird jeder gemäß seinem Platz durch alle anderen oder durch einige

andere überwacht“ (Foucault 1977: 264). Der alles überblickende zentrale

Überwachungsturm wird im Stadion dadurch ersetzt, dass im panoptischen Stadionraum

auf Grund der Architektur der überwachende Blick von jedem einzelnen Individuum

selbst ausgeht, er also in sie hineinverlagert worden ist.

Neben das Kriterium der ständigen Sichtbarkeit, das Foucault betont, tritt allerdings

noch ein weiteres Kriterium. Es ist das Kriterium der ständigen Ungewissheit: werde ich

momentan durch einen Blick überwacht oder nicht? Für den Zuschauer im Stadion gilt

deshalb genau wie für den Häftling im Panopticon, dass er ,,niemals wissen darf, ob er

gerade überwacht wird; aber er muss sicher sein, dass er jederzeit überwacht werden

kann“ (Foucault 1976: 259). Bei genauerer Betrachtung dieses Sachverhalts wandelt

sich das Kriterium der Ungewissheit in sein Gegenteil um. Es wird zum Kriterium der

Gewissheit: Ja, ich werde überwacht. Die Ungewissheit auf Seiten des Individuums

bleibt allein darin bestehen nicht wissen zu können, ob der prüfenden Blick jetzt gerade

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angewendet wird oder nicht und von wem er angewendet wird. Diese Ungewissheit

führt beim Individuum zu einer Verhaltensänderung, die sich dahingehend zeigt, dass es

sich stets so verhält, als ob es gerade überwacht würde. Der einzelne Stadionbesucher

ist also einer ständigen Beobachtung ausgesetzt, kann gleichzeitig aber aufgrund der

architektonischen Organisation des Stadions von seinem Platz aus alle anderen

beobachten: ,,Within the football stadium, the spectator’s gaze is satisfied technically

through an unobstructed view and panoramic ’sightlines’, permitting the fullest

knowledge of events [...]“ (Giulianotti 2004: 80). Es handelt sich folglich um eine

wechselseitige Beziehung des Beobachtens und beobachtet Werdens. Das Wesen des

modernen Stadions als panoptischer Raum fasst Bale (1994: 84) in folgender Aussage

treffend zusammen: ,,In the modern stadium spectators have been individualised in

numbered seats, each being fully identifiable through their computerised ticket and from

knowledge gained from pervasive forms of surveillance which characterises the modern

sports environment”. Darüber hinaus beschreibt Bale das Stadion als ,,segmented and

panopticised confinement“ (ebd.: 84) und bezeichnet es als ,,analogue of Foucault’s

panopticon“ (ebd.: 84).

5.4. Der Panoptismus als disziplinierende Machttechnologie im Stadion

Der Panoptismus ist die Machttechnologie, mit der es gelingt, die Macht am Individuum

ansetzen zu lassen, es zu durchdringen und im Sinne der Disziplin neu

zusammenzusetzen, sodass es zu einem willigen Träger seiner eigenen Unterwerfung

wird. Foucault (1995: 33) will den Panoptismus eine ,,individualisierende Technologie

der Macht nennen, eine Technologie, die im Grund auf die Individuen zielt, bis in ihren

Körper, in ihr Verhalten hinein“. Der Panoptismus arbeitet, wie erläutert wurde, mit

Hilfe des Blicks und der Sichtbarmachung und produziert Individuen, die selbst Träger

der panoptischen Ordnung sind und sie in ihrem Verhalten reproduzieren.

Aus den bisherigen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass der Panoptismus,

um seine im Hinblick auf das Individuum disziplinierende Wirkung entfalten zu

können, nicht an der Masse ansetzt, weil diese buchstäblich nicht zu überblicken ist. Er

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Page 40: Disziplin und Leidenschaften: Raumsoziologische und ... · PDF fileInhaltsverzeichnis 1. Einleitung 1 2. Die Masse – eine erste Annäherung 3 2.1. Der negative Massenbegriff bei

bedient sich der beschriebenen Technik der Parzellierung, wodurch es ihm ermöglicht

wird, die Masse zu individualisieren und somit die Disziplinierung am Individuum

direkt angreifen zu lassen. Foucault (1976: 258) schreibt: ,,Die dicht gedrängte Masse,

die vielfältigen Austausch mit sich bringt und die Individualitäten verschmilzt, dieser

Kollektiv - Effekt wird durch eine Sammlung von getrennten Individuen ersetzt“. Die

Massenbildung im klassischen Sinne Canettis als dichter und einheitlicher

Gefühlskörper muss also durch die Parzellierung verhindert werden, damit der

Panoptismus im Individuum einen Ansatzpunkt finden kann. Das Prinzip der

Parzellierung im Panoptismus erlaubt ,,die sichere Verteilung der zu disziplinierenden

und zu überwachenden Individuen; dieses Verfahren erleichtert die Umwandlung

gefährlicher Menschenmassen [...] in fixierte und fügsame Individuen“ (Dreyfus /

Rabinow 1987: 185). Der individuelle Sitzplatz im Stadion symbolisiert das Prinzip der

Parzellierung und ist damit die Grundlage für eine Wirkung ,,der Macht, die man

zellenförmig nennen könnte“ (Foucault 1976: 191).

Die Realisierung des Panoptismus als eine die Individuen disziplinierende

Machttechnologie ist an den Blick gebunden: ,,Die Durchsetzung der Disziplin erfordert

die Einrichtung des zwingenden Blicks: eine Anlage, in der die Techniken des Sehens

Machteffekte herbeiführen [...]“ (Foucault 1976: 221). Jedes Individuum im Stadion ist

an seinem Platz den potentiellen Blicken der anderen ausgesetzt, kann gleichzeitig aber

von seinem Platz einen kontrollierenden Blick auf alle anderen und auch auf sich selbst

werfen. Der Blick hat in der Anwendung auf andere und auf sich selbst eine

disziplinierende Wirkung, denn ,,our behaviour is regulated by the gaze of others and by

the gaze of our own self – reflection“ (Rojek 1995: 61), sodass man sagen kann: ,,Die

Kontrolle der Körper beruht auf einer Optik der Macht“ (Dreyfus / Rabinow 1987: 187).

Das Individuum im Stadion weiß auf Grund des fehlenden zentralen

Überwachungsturms nie, von wo der prüfende Blick auf es selbst fällt. Die Macht des

Blicks ist nicht mehr zu lokalisieren. Sie kann potentiell von jedem Individuum

ausgehen und ,,die Tendenz der Macht, unpersönlich, diffus, verhältnismäßig und

anonym zu werden [...] wird von der panoptischen Technologie aufgegriffen und

praktisch umgesetzt“ (Dreyfus / Rabinow 1987: 224). Die Individuen disziplinieren sich

mit ihren realen und potentiellen Blicken gegenseitig und inkorporieren somit die

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Page 41: Disziplin und Leidenschaften: Raumsoziologische und ... · PDF fileInhaltsverzeichnis 1. Einleitung 1 2. Die Masse – eine erste Annäherung 3 2.1. Der negative Massenbegriff bei

Macht. Sie erfahren sie, üben sie aber gleichzeitig auch auf andere aus. Sie durchdringt

die Individuen bis in ihr Inneres, verändert ihr Verhalten und wirkt aus ihnen heraus.

Die Individuen ,,sind auch stets in einer Position, in der sie die Macht zugleich erfahren

und ausüben. [...] Mit anderen Worten: die Macht wird nicht auf die Individuen

angewandt, sie geht durch sie hindurch“ (Foucault 1978: 82).

Damit ist eine Trennung in die Macht ausübenden und die Macht erlebenden

Individuen, wie sie im Zusammenhang mit der destruktiven Zentralmacht

vorgenommen werden kann, hinfällig. Im panoptischen Stadionraum ist diese Trennung

nicht mehr gültig. Die Inkorporierung der Macht, die Durchdringung jedes einzelnen

Körpers und ihre Reproduktion in einem bestimmten Verhalten des Individuums führen

dazu, dass im Stadionbesucher der Machtausübende und der Machterlebende ein und

dieselbe Person werden. Die Macht wirkt im oben beschriebenen Sinn produktiv, denn

das bloße Bewusstsein von der potentiellen Existenz eines kontrollierenden Blicks führt

zu einer Verhaltensänderung des Individuums, also zu der bereits erwähnten

Transformation in einem gewünschten Sinn, denn der Panoptismus als

Machttechnologie ist eine solche Macht, die bis an ,,die Individuen rührt, ihre Körper

ergreift, in ihre Gesten, ihre Einstellungen [...] eindringt“ (Foucault 1976 a: 32). Die

Verhaltensänderung des Individuums ist derart, dass es seine Leidenschaft zügelt, denn

der potentielle Blick, hervorgerufen durch die ständige Sichtbarkeit, hat im Hinblick auf

das Verhalten eine präventive Wirkung. Die panoptische Architektur nämlich hat in

Bezug auf die ihr ausgesetzten Individuen ihren Knackpunkt darin, ,,dass sie noch nicht

einmal schlecht handeln können, solange sie sich in ein Feld vollkommener Sichtbarkeit

eingetaucht und eingehüllt fühlen, in dem die Meinung der anderen, der Blick der

anderen, der Diskurs der anderen sie davon abhält, das Schlechte oder das Schädliche zu

tun“ (Foucault 1977: 258). Die Disziplin formt sich zu einer Selbstdisziplin. Die

Zügelung der Leidenschaften wird also nicht alleine dadurch erreicht, die Bildung der

Masse, die als ein Ort des lustvollen Auslebens von Leidenschaften beschrieben worden

ist, zu verhindern.

Die Individuen im Stadion unterwerfen sich einer Situation, einem durch den prüfenden

Blick gekennzeichneten Machtverhältnis, das sie, auf der Grundlage der speziellen

architektonischen Anordnung, selber herbeiführen, stützen und gegen sich selbst und

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andere anwenden. Sie werden quasi ,,zum Darsteller des Prinzips, das sie unterdrückt“

(Theweleit 1977: 550). Alles was man dazu braucht ist ,,ein Blick, der überwacht, und

den jeder, indem er ihn auf sich ruhen spürt, am Ende so verinnerlichen wird, dass er

sich selbst beobachtet; jeder wird so diese Überwachung über und gegen sich selbst

ausüben“ (Foucault 1977: 260). Die Sichtbarkeit lässt das Individuum zu seinem

eigenen Überwacher werden, oder wie Foucault (1976: 260) schreibt: ,,Derjenige,

welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel

der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in

welchem er gleichzeitig beider Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen

Unterwerfung“.

5.5. Die Stadionarchitektur als panoptische Raumorganisation

In Kapitel 4.2. dieser Arbeit wurde im Zusammenhang mit Elias Canetti und der

geschlossenen Masse und dem Stadion als Raum ihrer Konstitution darauf hingewiesen,

dass das Stadion als räumlich abgeschlossenes und begrenztes Bauwerk die spezifische

Form der geschlossenen Masse quasi einfordert und damit auf sie eine disziplinierende

Wirkung ausübt. Die Macht als disziplinierende Kraft geht von der Architektur des

Stadions aus. Diese Feststellung muss im Hinblick auf die mit dem Panoptismus

getroffenen Aussagen spezifiziert werden, denn würde diese Macht allein von der

Architektur des Stadions ausgehen, wäre sie wiederum lokalisierbar und angreifbar.

Sicherlich kann es als richtig festgehalten werden, dass auch zu einem gewissen Grad

von der Architektur selbst eine disziplinierende Wirkung ausgeht.

Andererseits aber muss darauf hingewiesen werden, dass die disziplinierende Wirkung

auch auf der Ebene der Raumorganisation und der Verteilung der Individuen im Raum

und ihrer Beziehung zueinander zu verorten ist. Dreyfus und Rabinow (1987: 222)

schreiben dazu: ,,Das Panopticon übt seine Kontrolle zum Teil kraft seiner

wirkungsvollen Raumorganisation aus. Hier gilt es, eine wichtige Unterscheidung zu

treffen. Es handelt sich nicht so sehr um ein architektonisches Modell, das Macht

repräsentiert oder verkörpert, als um ein Mittel des Wirkens von Macht im Raum. Eher

als die Architektur selbst sind es die Techniken zum Gebrauch der Struktur, die eine

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wirksame Expansion der Macht erlauben“. Die Macht wirkt also weniger von der

Architektur des Stadions her, sondern eher auf aufgrund der Organisation des

Stadionraumes als panoptische Struktur, was die Verteilung der Individuen innerhalb

dieses Raumes und die Anwendung von Blicken beinhaltet. Foucault (1976: 259)

beschreibt diesen Aspekt des Panopticons, der auf das Stadion übertragen werden kann,

wie folgt: ,,Diese Anlage ist deswegen so bedeutend, weil sie die Macht automatisiert

und entindividualisiert. Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als

vielmehr in einer konzentrierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und

Blicken; in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in

welchem die Individuen gefangen sind“.

Von der Architektur ausgehend wird eine Kontrolle und Organisation des Raumes

ermöglicht, während der Panoptismus auf die Kontrolle und Disziplin der Körper

abzielt. Im Stadion mit seiner panoptischen Architektur finden beide zu einer

Verschränkung: ,,Das Panopticon führt uns eine präzise Verbindung zwischen

Körperkontrolle und Raumkontrolle vor [...]“ (Dreyfus / Rabinow 1987: 224) und

,,Foucault zufolge fasst das Panopticon Wissen, Macht, Körperkontrolle und die

Kontrolle des Raumes in einer integrierten Disziplinartechnologie zusammen“ (ebd.:

221). Das Stadion als panoptischer Raum verbindet die Körper im Raum miteinander

mit Hilfe von Macht, die durch Sichtbarkeit, Blicke und das Wissen über das potentiell

ständig beobachtet Werden ausgeübt und erfahren wird, sodass Dreyfus und Rabinow

(ebd.: 224) zusammenfassend über den Panoptismus sagen: ,,Das letzte Moment des

Panoptismus ist die Verbindung zwischen Körpern, Raum, Macht und Wissen“. Die

Verbindung von Architektur und Panoptismus organisiert einen funktionalen und

analytischen Raum, in dem die Individuen über die Sichtbarkeit und den Blick in

Beziehung zueinander gesetzt werden können. Das panoptische Stadion ist ,,ein

Mechanismus zur Verortung von Körpern im Raum, zur Verteilung von Individuen im

Verhältnis zueinander, zur hierarchischen Organisation, zur effizienten Anbringung von

Machtzentren und - kanälen“ (Dreyfus / Rabinow 1987: 221). Indem sie durch die

panoptische Raumorganisation und Architektur miteinander in Beziehung gesetzt

werden, entsteht über die Sichtbarmachung und den Blick eine Beziehung der

Individuen zueinander, die durch wechselseitige Kontrolle und Überwachung

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beschrieben werden kann. Das Prinzip der Sichtbarkeit wird rigoros umgesetzt, indem

es eben ,,diejenigen, die es zu disziplinieren, zu beobachten und zu verstehen gilt, am

stärksten sichtbar“ (Dreyfus / Rabinow 1987: 223) macht. Die Architektur und

Raumorganisation des Stadions orientieren sich an diesem Prinzip, denn im Stadion

selbst findet es seine bauliche Realisierung: ,,Die Architektur selbst ist ein Mittel dieser

Sichtbarkeit und der subtilen Formen der Kontrolle, die mit ihr einhergehen. Das

Panopticon ist kein Machtsymbol; es bezieht sich nicht auf anderes. Es hat auch keine

tiefe, verborgene Bedeutung. Es trägt seine eigene Interpretation in sich, eine gewisse

Transparenz“ (ebd.: 223). Die panoptische Architektur des Stadions erzwingt die

Sichtbarkeit und Transparenz der Individuen und lässt diese gleichzeitig in seiner

inneren architektonischen Organisation selbst erkennen. Das Stadion ist selbst

transparent und zwar in dem Sinne, dass sein Zweck, die Kontrolle über den Raum mit

der Disziplin über die Körper zu verbinden, sich aus seiner offen zur Schau getragenen

inneren architektonischen Organisation ablesen lässt, und dennoch bleiben die

Wirkungen auf der subtilen Ebene verhaftet. In der Verknüpfung von Transparenz bei

gleichzeitiger völliger Durchdringung entfaltet die panoptische Architektur des Stadions

ihre subtilen Zwänge. Darin liegt seine Effizienz begründet. Der einzelne

Stadionbesucher unterwirft sich diesen Zwängen und reproduziert sie in seinem

Verhalten.

Die auf der Grundlage der inneren architektonischen Organisation des Stadions

hergestellte innere Transparenz und die damit verbundene kontrollierende und

disziplinierende Wirkung ist, wenn man das Stadion von außen betrachtet, nur schwer

zu erkennen (vgl. Kapitel 11). Dem Zuschauer nämlich präsentiert sich das Stadion von

außen auch als Raum der Möglichkeiten (vgl. Kapitel 12 / 13), also als das Gegenteil

seiner bisher erörterten Bestimmung. In seinem Inneren aber und von innen her

betrachtet entfaltet das Stadion seine Bestimmung und zeigt seinen Charakter. Hierin

wird der zweideutige Charakter des Stadions besonders deutlich. Es löst in seinem

Inneren auch das Gegenteil von dem ein, was es von außen betrachtet verspricht, denn

das Stadion ist ein Raum ,,subtly but tightly controlled [...] despite the open appearance

of fantastic freedoms of choice“ (Soja 1989: 246). Das zweideutige Wesen der

Stadionarchitektur beschreibt Bale (1993: 52) treffend wie folgt: ,,The modern football

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stadium can be interpreted as the antithesis of play and freedom; instead, it has become

a symbol of control and constraint […]”.

5.6. Macht als Beziehung

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die Individuen im panoptisch

organisierten Stadionraum über den Blick miteinander in Beziehung gesetzt werden.

Das Stadion als Raum organisiert eine Beziehung über den Blick. Die ständige

Sichtbarkeit und der Blick stiften ein Beziehungsverhältnis, dem das Ausüben und das

Erfahren von Macht zugrunde liegt. Man könnte somit sagen, dass die im panoptischen

Stadionraum als anonym, atomisiert und als schwer lokalisierbar beschriebene Macht,

wenn überhaupt, dann im wahrsten Sinne des Wortes eben in dieser Beziehung zu

finden ist. Sie zeigt sich quasi zwischen den Individuen und Gruppen, die sie

miteinander in Beziehung setzt. Foucault (1999: 188) sagt dazu: ,,Die Macht hingegen,

die es hier zu analysieren gilt, ist dadurch gekennzeichnet, dass sie Verhältnisse

zwischen Individuen oder Gruppen ins Spiel bringt“. Sie setzt die Individuen in

Beziehung zueinander und ’zeigt’ sich in eben dieser. Foucault (1978: 126) nimmt dazu

noch deutlicher Stellung: ,,Die Macht gibt es nicht. Ich will damit folgendes sagen: die

Idee, dass es an einem gegebenen Ort oder ausstrahlend von einem gegebenen Punkt

irgendetwas geben könnte, das eine Macht ist, scheint mir auf einer trügerischen

Analyse zu beruhen [...]. Bei der Macht handelt es sich in Wirklichkeit um

Beziehungen, um ein mehr oder weniger organisiertes, mehr oder weniger

pyramidalisiertes, mehr oder weniger koordiniertes Bündel von Beziehungen“. Die

Beziehung zwischen den Individuen lässt die Macht und ihre disziplinierenden Formen

wirksam werden.

Im Stadion kann das Stiften dieser Machtbeziehung auf der Grundlage einer räumlich

gerichteten Beziehung als spezifische Strategie der Architektur begriffen werden. Die

panoptische Architektur des Stadions ist eine Strategie, um die Individuen auf einer

räumlichen Anordnung basierend in Beziehung zu setzen, um die Macht wirksam

werden zu lassen. Zum einen entsteht durch die Wirkung der Machtbeziehung das

Individuum als Individuum, was den produktiven Charakter der Macht beweist. Zum

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anderen aber produziert die Machtbeziehung der einzelnen Individuen untereinander

eine Masse, oder besser gesagt ein geordnetes Kollektiv, um einen bereits entwickelten

Begriff in diesem Zusammenhang wieder aufzugreifen. Die Machtbeziehung wirkt

demnach als eine ,,Disziplinartaktik [...], die das Einzelne und das Vielfältige verbindet.

Sie ermöglicht sowohl die Charakterisierung des Individuums als Individuum wie auch

die Ordnung einer gegebenen Vielfalt“ (Foucault 1976: 191).

5.7. Macht als Norm

Eine weitere Form, die die Macht annimmt, ist die der Norm. Sie versteht sich selbst als

eine solche. Foucaults Interpretation nach sind Institutionen wie Krankenhäuser,

Gefängnisse, Kasernen und Schulen dazu geschaffen worden, um die Anormalen von

den Normalen zu trennen, oder um aus anormalen Individuen normale zu machen: ,,Die

Norm wird zum Kriterium, nach dem die Individuen sortiert werden“ (Foucault 1976 a:

84). Die Macht wirkt normalisierend, sie hat eine Normalisierungsfunktion und nimmt

die Form der Norm. Die Norm durchdringt die Individuen bis in ihr Innerstes und wird

zum Leitgedanken einer Gesellschaft und verkörpert sie geradezu: ,,Das, wodurch die

Macht [...] wirkt, ist die Gewohnheit, die bestimmten Gruppen auferlegt wurde. [...] Sie

nimmt die hinterlistige, alltägliche Form der Norm an, so verbirgt sie sich als Macht und

wird sich als Gesellschaft geben“ (Foucault 1976 a: 123). Die Unterscheidung wird an

dem Kriterium der Gewohnheit unternommen. Das, was wir nicht gewöhnt sind, was

uns anormal erscheint, wird als nicht erwünscht klassifiziert, als das, was es zu

unterdrücken gilt.

Diese Unterdrückung geht jetzt aber nicht mehr von einem Gesetz aus, sondern von den

eigenen Vorstellungen des Individuums. Damit ist die Macht in die Köpfe

eingedrungen, hat also nicht nur den Körper besetzt und ihn durchdrungen, sondern ist

am tiefsten Punkt des Individuums gelangt, seiner Seele. Von den Individuen ausgehend

gelingt es der Norm, eine übergreifende Wirkung zu erzielen, die bis hin zu der

Einflussnahme auf die Konstitution der Gesellschaft reicht. Foucault (1995: 40) erkennt

in modernen Gesellschaften einen ,,Machtmechanismus [...], dessen fundamentales

Prinzip nicht das Gesetz, sondern eher die Norm“ ist. Foucault (1976 a: 84) äußert sich

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dahingehend noch präziser: ,,Wir sind in einen Gesellschaftstyp eingetreten, in dem die

Macht des Gesetzes dabei ist, zwar nicht zurückzugehen, aber sich in eine viel

allgemeinere Macht zu integrieren, nämlich in die der Norm“. Die Macht wirkt als

Norm, und die Norm ist es, an der sich die ,,Normgesellschaft“ (Foucault 1976 a: 84)

orientiert und ausrichtet und an der die Individuen ihr eigenes Verhalten messen. Die

Macht der Norm wirkt steuernd auf das Verhalten der Individuen ein und produziert im

Individuum das Wissen darüber, welches Verhalten als normal oder anormal anzusehen

ist, welches Verhalten gewünscht ist und welches nicht, wie das Individuum sich selbst

zu verhalten hat und wie nicht. Elias und Dunning (2003: 124) schreiben dazu: ,,Um als

normal klassifiziert zu werden, wird von Erwachsenen, die in Gesellschaften wie der

unseren erzogen wurden, erwartet, die aufsteigende Erregung rechtzeitig zu

beherrschen“. Durch die Wirkung der Macht als Norm wird vom Individuum die

Kenntnis und das Befolgen von bestimmten Verhaltensnormen erreicht: ,,Die Macht der

Norm kommt nach diesem Verständnis vor allem in der Disziplin zum Ausdruck, in den

verschiedenen Techniken der Normierung und Normalisierung, die die Individuen

einem System zwanghaft fixierter Verhaltensschemata unterwerfen [...]“ (Breuer 1992:

50). Dadurch, dass die Norm auf das Verhalten der Individuen einwirkt, ist eine

Verbindung gezogen zu der von der Disziplin angestrebten Transformation der

Individuen in einem bestimmten Sinn. Die zwei Stufen der Disziplin, die Unterwerfung

und die Transformation, finden in der Norm und der daran anschließenden

Verhaltensänderung ihre Entsprechung.

Für das Verhalten eines Individuums in einem Stadion bedeutet das, dass es seine

Leidenschaft entsprechend zügeln wird. Zu einem völligen Ausleben der Affekte,

Gefühle und Leidenschaften wird es nicht kommen, weil das Individuum und auch alle

anderen ein solches Verhalten als anormal betrachten. Die Norm wird zum Maßstab des

Verhaltens und das Individuum fordert von sich selbst und allen anderen ein normales

Verhalten ein. Es kontrolliert sein eigenes Verhalten und das der anderen, misst sich und

andere an der Norm und diszipliniert sich selbst und andere durch den prüfenden Blick.

Die Macht als Norm schafft ein Verhältnis, das darauf abzielt, das Verhalten und die

Handlungen der Individuen zu verändern, denn Foucault (1999: 191) sagt:

,,Machtausübung bezeichnet [...] die Wirkungsweise gewisser Handlungen, die andere

verändern“. Die Transformation des Verhaltens und der Handlungen ist dauerhafter

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Natur und wirkt nachhaltig: ,,Tatsächlich ist das, was ein Machtverhältnis definiert, eine

Handlungsweise, die nicht direkt und unmittelbar auf die anderen einwirkt, sondern

eben auf deren Handeln, [...] auf mögliche oder wirkliche, künftige oder gegenwärtige

Handlungen“ (ebd.: 192).

5.8. Macht als Haltung: Das Sitzen und der Stuhl

Eine letzte Form nimmt die Macht in der Haltung an. Es ist bereits eingehend darauf

hingewiesen worden, dass nicht die Masse, sondern der einzelne Körper als

Ansatzpunkt für die Macht, die Disziplin und den Blick fungiert, denn ,,es geht nicht

darum, den Körper in der Masse, en gros, als eine unterschiedslose Einheit zu

behandeln, sondern ihn im Detail zu bearbeiten; auf ihn einen fein abgestimmten Zwang

auszuüben; die Zugriffe auf der Ebene der Mechanik ins Kleinste gehen zu lassen:

Bewegungen, Gesten, Haltungen [...]“ (Foucault 1976: 175). Die Macht versucht also

auf der kleinsten Ebene anzusetzen. Von dort ausgehend aber gelingt es ihr, ihre größte

Wirkung zu erzielen. Wie die Macht als Haltung wirken kann, dass soll nun am Beispiel

des Sitzens und des Stuhls erläutert werden.

Das Sitzen ist eine Haltung, eine spezifische Körperhaltung mit bestimmten

Charakteristika, die vom Individuum durch den Einsatz seines Körpers realisiert wird.

Das Sitzen ist eine Körperhaltung, von der jeder eine genaue Vorstellung hat. Jeder hat

eine konkrete Vorstellung vom Sitzen, jeder weiß, wie ein sitzendes Individuum

auszusehen, welche Körperhaltung es einzunehmen und wie es sich zu verhalten hat.

Ein sitzendes Individuum ist ruhiger, kann lokalisiert und im Sitzen auf seinem Platz

festgehalten werden: ,,Die Zuschauer können sitzen; die allgemeine Geduld wird sich

selber sichtbar. Sie haben die Freiheit ihrer Füße zum Stampfen und bleiben doch am

selben Fleck“ (Canetti 1980: 34). Der Sitzende ist in seinen potentiellen Handlungen

eingeschränkt, sodass es durch das Sitzen ermöglicht wird, Kontrolle über das

Individuum zu gewinnen: ,, ’Wer sitzt, der sitzt’ ist mehr als bloße Tautologie. Derjenige

der sitzt, vermag nur eingeschränkt zu agieren und bringt mehr als sein Sitzen zum

Ausdruck. Er veranschaulicht bildhaft, dass er keine Absichten hegt [...]. Wer sitzt,

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handelt nicht, sodass Sitzen zum Synonym für Nichthandeln wird“ (Eickhoff 1993:

164). Ähnlich formuliert es Canetti (ebd.: 436) der feststellt, das an den Stehenden

andere Erwartungen gerichtet sind als an den Sitzenden: ,,Während man vom Stehenden

vielerlei erwartet und die Vielfalt seiner Möglichkeiten zum Respekt vor ihm, vor seiner

Regsamkeit und Lebendigkeit, ein Reichliches beiträgt, erwartet man vom Sitzenden,

dass er sitzen bleibt“. Das Sitzen bringt folglich eine Zügelung der Leidenschaften mit

sich, denn ,,im Sitzen erwirbt der Mensch die Fähigkeit, Affekte nicht blind

auszuagieren, sondern im äußeren Gleichmaß von Gebärde und Haltung auszuleben“

(ebd.: 166). Im Akt des Sitzens wird dem Individuum eine Kontrolle seiner

Leidenschaften abverlangt. ,,Es hat ihm ein zusätzliches Maß an Hemmungen auferlegt

[...]“ (ebd.: 156) und durch das Sitzen werden im Individuum bestimmte Wesenszüge

ausgebildet, die wiederum in Richtung einer Zügelung und Beherrschung des Selbst

wirksam werden. Es sind dies ,,Duldsamkeit, Selbstbescheidung, Affektbeherrschung

[...] und Selbstkontrolle“ (ebd.: 235).

Das Individuum wird also einer bestimmten Ordnung unterworfen, diszipliniert sich und

daran anschließend andere aber selbst, denn es hat ein konkretes Wissen davon, was das

Sitzen im Hinblick auf Körperhaltung und Verhalten bedeutet. Die Macht und ihre

Wirkung nimmt also die Form einer körperlichen Haltung an und ist damit in den

Körper eingedrungen und diszipliniert ihn von innen her. Das Sitzen als körperliche

Haltung ist Ausdruck der Machtwirkung im Körper. Das sitzende Individuum im

Stadion erfährt so Macht, gleichzeitig aber drückt es sie im Sitzen durch seinen Körper

aus, da durch das zur Schau stellen des Sitzens andere Individuen diszipliniert und an

das Sitzen als Körperhaltung mit einem entsprechenden Verhalten erinnert werden.

Dieses Machtwirkungsprinzip weist mit dem der Macht als Norm Parallelen auf, denn

von der Körperhaltung des Sitzens geht auf das Individuum und sein Verhalten eine

normalisierende Wirkung aus.

Das Sitzen und der Stuhl können im Sinne von Foucault als Disziplinartechniken

bezeichnet werden, denn sie unterwerfen das Individuum einer bestimmten Ordnung

und setzen es als ein solches, dessen Körper die gewünschten Eigenschaften hat, neu

zusammen. Die Disziplinartechniken ‚Sitzen’ und ,Stuhl’ kommen in den modernen

Stadien zur Anwendung, denn diese sind vielfach reine Sitzplatzstadien und auch

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Bausenwein (1995: 462) erkennt ,,in der Tendenz, die Stadien zu Sicherheitszonen zu

deklarieren, in denen nur gebremste Sitzplatz – Emotionen zugelassen sind, eine weitere

Verfeinerung im Prozess der Disziplinierung“. Canetti (1980: 436) schreibt: ,,Es gibt

kaum eine menschliche Institution, die sich diese Qualität des Sitzens nicht zunutze

macht; die es nicht zu ihrer Bewahrung und Befestigung verwendet“. Das Unterwerfen,

Zergliedern und neu Zusammensetzen des Körpers wird durch den Stuhl und das Sitzen

als Disziplinartechniken besonders deutlich: ,,Das Sitzen [...] hat den schon Sesshaften

ein zweites Mal diszipliniert. [...] Das Sitzen greift in die Ordnung der Physis ein [...]“

und ,,schneidet werkzeugmäßig in den Leib“. [...] ,,Der Stuhl fasst dabei den Sitzenden

ein, legt sich wie eine Schablone auf das Vegetative und schneidet so in die Physis, dass

Funktionen geformt und gehemmt werden“ (Eickhoff 1993: 156). Durch das Sitzen und

den Stuhl als zwei besondere Disziplinartechniken greift die Macht direkt am Körper

des Individuums an und wirkt aus ihm heraus. Die Macht geht nicht vom Stuhl aus,

sondern von der Körperhaltung des Sitzens, die er einfordert und die vom Individuum

ausgeführt wird, wodurch sie sich in das Innere des Individuums verlagert. Auch hier

greift ein bereits erwähnter Aspekt: das Individuum wird im Sitzen zum Träger seiner

eigenen Unterwerfung. Eine dauerhaft wirkende Transformation des Individuums wird

ermöglicht, denn ,,der Stuhl gestaltet die Formen des Verhaltens, Empfindens und

Denkens wesentlich“ (ebd.: 13) mit. Es gilt, auf den Willen einzuwirken und aus dem

sitzenden Individuum ein ’sich setzen wollendes Individuum’ zu formen. Dieses

Individuum repräsentiert die Disziplin und die Wirkung der Macht in seiner vollendeten

Form. Der Stuhl hilft dabei dieses zu erreichen: ,,Der Stuhl schneidet nicht nur in die

Physiologie, sondern zähmt und formt auch den Willen der einzelnen, um ihn dem der

Gemeinschaft zu unterwerfen“ (ebd.: 193). Das ’sich setzen wollende Individuum’

unterliegt der völligen Kontrolle, die von der Gemeinschaft gewünscht wird, aber

letzten Endes von ihm selbst ausgeht: ,,Wenn sich die Menschen freiwillig setzen, hat

die Gesellschaft über ihre einzelnen Glieder gesiegt und sie zu Individuen umgestaltet.

In der Lust am Sitzen zeigt sich eine individuelle Lust, die den verinnerlichten

Gemeinschaftswillen repräsentiert. In ihr hat sich das vereinzelte Wollen selbst zerstört.

Doch nur scheinbar freiwillig, denn hinter der Lust steht ein gebändigter und gefügig

gemachter Wille“ (ebd.: 193).

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6. Die Produktion des Individuums

Die bisherigen Erläuterungen bezüglich der Architektur des Stadions haben gezeigt,

dass die Masse gegenüber den Individuen zunehmend unter Druck gerät. Wo die

Bildung der Masse von Beginn an unterbunden wird, da ist auch kein Abtauchen mit der

Aufgabe der eigenen Identität und Individualität in ihr möglich. Gerade dies aber haben

Le Bon und Canetti als konstitutiv für die Massenbildung gekennzeichnet. Vielmehr

geschieht in den Stadien genau das Gegenteil. Es werden keine Massen im klassischen

Sinne gebildet, sondern Individuen. Durch die panoptische Architektur und die in ihr

wirkenden Mächte werden das Individuum und seine Identität und Individualität

produziert, denn Foucault (1978: 83) stellt diesbezüglich fest: ,,Das Individuum ist also

nicht erst das gegenüber der Macht; es ist wie ich glaube, eine seine ersten Wirkungen.

Das Individuum ist eine Wirkung der Macht [...]“. Wie erläutert wurde, setzt die Macht

am Individuum an, in seinem Inneren, und produziert es damit. Dieser Sachverhalt

verdeutlicht den von Foucault betonten produktiven Charakter der Macht. Der

Disziplin, die als spezifische Machttechnologie beschrieben worden ist, kann bei der

Produktion des Individuums eine entscheidende Rolle zugeschrieben werden. Die

Disziplin als am Individuum angewendete Technik ermöglicht ,,die Charakterisierung

des Individuums als Individuum [...]“ (Foucault 1976: 191), denn für das Individuum

gilt, dass es ,,von der spezifischen Machttechnologie der ,Disziplin’ produziert worden

ist“ (ebd.: 250). Im Stadion erfährt das Individuum seine eigene Existenz und wird sich

seiner selbst gewiss. Die panoptische Architektur und das Wirken der

Machttechnologien initiieren einen Produktionsprozess, in dem das Individuum die

Erkenntnis seiner eigenen Existenz gewinnt, denn ,,das Individuum und seine

Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion“ (ebd.: 250).

Die Erkenntnis für das Individuum liegt in der Vergegenwärtigung des eigenen Ichs und

der eigenen Existenz. Dies gelingt unter anderem durch die oben beschriebenen

verschiedenen Formen, die die Macht annehmen kann. Sie setzt die Individuen in

Beziehung zueinander und produziert damit das Individuum als solches, denn erst in der

Beziehung des Individuums zu einem anderen kann es sich seiner eigenen Existenz

bewusst werden. Der Blick hilft bei dieser Selbstvergewisserung, denn im Erblicken des

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anderen kann das Individuum sich seine eigene Existenz bestätigen. Der Andere

fungiert wie ein Spiegel, in dem das Individuum sich selbst erkennen kann. Notwendig

für diesen Prozess ist eine ständige Sichtbarkeit und die Macht des Blicks, die beide von

der panoptischen Stadionarchitektur bereitgestellt werden.

Die Macht als Norm hat ebenfalls Einfluss auf die Produktion des Individuums, denn

die Norm betrifft die Erkenntnis des Individuums, seine Selbsterkenntnis. Das

Individuum gewinnt seine Selbsterkenntnis derart, dass es durch die Wirkung der Norm

eine Vorstellung davon entwickelt, wie es sich als Individuum zu verhalten hat, um sich

selbst als Individuum zu erkennen und auch von anderen als solches erkannt und

anerkannt zu werden. Durch ein von der Norm abweichendes Verhalten würde es seinen

Status als Individuum gefährden. Soweit aber wird es das Individuum nicht kommen

lassen, woran sich die selbstdisziplinierende Wirkung der Norm ablesen lässt.

Eine genauere Beschreibung des Zusammenhangs von Individuum und Selbsterkenntnis

kann erreicht werden, wenn der Begriff ’Individuum’ durch den Begriff ’Subjekt’ ersetzt

wird. Dazu Foucault (1987: 246 – 247): ,,Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn:

vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch

Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein. Beide

Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes

Subjekt macht“. Diese Differenzierung verdeutlicht die zweifach produktive Wirkung

der Macht als Disziplinartechnologie. Das Subjekt entsteht durch die Wirkung der

Macht. Es geht aus der Unterwerfung hervor und bleibt ein immer unterworfenes

Subjekt. Das Subjekt bleibt das Subjekt jemanden anderes. Die Produktion der

Selbsterkenntnis dagegen hilft dem Subjekt sich seiner selbst gewiss zu werden, indem

es sich seiner Identität bewusst wird und in ihr verhaftet bleibt. Das Subjekt wendet die

Macht auf sich selbst an. Es wird zu dem bereits erwähnten Träger seiner eigenen

Unterwerfung, indem es sich zum Subjekt seiner selbst macht.

Auch das Sitzen und der Stuhl haben einen entscheidenden Einfluss auf die Produktion

des Individuums, denn sie garantieren auf ihre ganz eigene Weise Identität und

Individualität. Bereits in Kapitel 5.8. ist darauf hingewiesen worden, dass das Sitzen

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und der Stuhl das Verhalten und Denken des Individuums wesentlich mitbestimmen und

somit seine Identität prägen. Gleichzeitig ermöglichen sie Individualität, denn durch das

Sitzen und den Stuhl werden gegenüber anderen Individuen abgrenzende Distanzen

festgelegt: ,,Der Rahmen des Stuhls zieht gemeinsam mit der Körperhaltung beim

Sitzen neue Grenzen zwischen den Menschen und setzt Distanzen fest. Der Stuhl

isoliert den Sitzenden, wodurch der Raum des Stuhls zu einem Mikrokosmos für das

Individuelle wird. Gleichzeitig macht er die Grenzen der Menschen zueinander explizit“

(Eickhoff 1993: 173). Der Stuhl als vergegenständlichte und zugesicherte Individualität

gegenüber anderen dient somit der Selbstvergewisserung des Individuums, denn im

Stuhl findet es buchstäblich einen nur ihm individuell zugeschriebenen Platz, auf den es

sein eigenes Ich beziehen kann.

Dieses Prinzip des Zusicherns und Bestätigens von Individualität durch den Stuhl birgt

eine gewisse Paradoxie in sich, denn vom Standpunkt der panoptischen Architektur her

wird dieses Prinzip gleichzeitig bestätigt und in sein Gegenteil gekehrt. Laut Foucault

(1976: 183) gilt: ,,Jedem Individuum seinen Platz und auf jedem Platz ein Individuum“.

Andererseits aber wird in den modernen Sitzplatzstadien die Individualität des

Individuums negiert, denn die Kontrolle und Identifikation des Individuums erfolgen

über nummerierte Tickets und nummerierte Sitzplätze, die zueinander passen müssen,

damit das Individuum einen Sitzplatz belegen kann: ,,Each and every spectator will be

identifiable by the number of the seat which he or she is occupying“ (Bale 1993: 31).

Die Individualität des Individuums ist dabei unerheblich, denn es wird zu einer bloßen

Nummer degradiert, indem ihm ein spezifischer Sitzplatz zugeordnet wird. Dadurch

wird dem Individuum eigentlich seine Individualität abgesprochen, was mit Bales (ebd.:

48) Aussage bestätigt wird: ,,In all – seater stadiums place – specificity reaches its

extreme form with people becoming numbers“.

Der Stuhl und das Sitzen verdeutlichen die von Canetti beschriebene und immer

präsente Berührungsfurcht (vgl. Kapitel 3.). Der Berührungsfurcht wird im Aufbau

neuer Distanzen und Grenzen zwischen den Menschen mit Hilfe des Stuhls Rechnung

getragen, denn ,,gemeinsam mit der Haltung des Sitzens schafft er neue Abgrenzungen

zwischen den Menschen, fügt sie in feste Rahmen, fixiert Distanzen [...]“ (Eickhoff

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1993: 13). In den reinen Sitzplatzstadien dienen der Stuhl und das Sitzen dem

Aufrechterhalten der Berührungsfurcht und werfen das einzelne Individuum somit

immer wieder auf seine Individualität zurück. Berührungsfurcht und Individualität

können nicht abgelegt werden, wodurch der Massenbildungsprozess im Sinne Canettis

verhindert wird, da die Distanzen zwischen den Menschen nicht überwunden werden

können. Van Winkel (2000: 33 – 34) bemerkt dazu: ,,In contemporary all – seater

stadium design, the fear of touch described by Canetti has in effect been sublimated,

with the result that crowd formation is blocked“. Der Stuhl repräsentiert die

Berührungsfurcht in ihrer reinsten Form, verkörpert er doch ,,ein gegenüber anderen

abgestecktes Territorium“ (Eickhoff 1993: 173). Den territorialen Aspekt des Stuhls im

Sitzplatzstadion betont auch Bale (1993: 48): ,,A sense of territory is therefore subtly

imposed within the stadium and place to place differences at the micro - scale are

emphasized”. Der Stuhl als Territorium gehört nur einem Individuum allein und erfährt

dadurch für das Individuum eine besondere Wertschätzung, denn der Stuhl als

Territorium ,,bietet durch seine Grenzen und die Möglichkeit, ihn individuell zu

markieren, Schutz und Behütung“ (Eickhoff 1993: 173). Der Stuhl wird zum Ort des

Schutzes gegenüber der Berührungsfurcht, oder wie Eickhoff (ebd.: 173) es treffend

zusammenfasst: ,,Der Stuhl wird zum vertrauten Ort der Ruhe und des Schutzes, ein Ort

des Freiseins von ungewollten Nachstellungen, eine Schaltzentrale zur Verteidigung des

Intimbereichs“.

Die identitätsstiftende Wirkung des Sitzens und des Stuhls geht auch auf die mit ihnen

verbundene Affektkontrolle zurück. Das Sitzen auf einem Stuhl ist mit einer Zügelung

der Leidenschaften verbunden. Das Individuum ist nicht länger Spielball seiner eigenen

Affekte, sondern kann sich als autonom handelndes Wesen selbst erkennen und gelangt

zur Selbsterkenntnis. Das Sitzen und der Stuhl helfen dabei, eine ,,Unabhängigkeit von

leiblichen Impulsen“ (ebd.: 165) zu erlangen und Herr über sich selbst zu werden. Im

Sitzen auf einem Stuhl erfährt das Individuum ,,das Freisein von Leiblichkeit und das

Aufbauen und Erleben eines selbstinszenierten Ichs. In der Freiheit steckt die

Bewusstwerdung des Selbst und der Triumph über den fremd gewordenen,

ungezügelten Leib“ (ebd.: 165). Die Identität und die Selbsterkenntnis liegen in der

Fähigkeit, sich selbst als Individuum zu inszenieren und sich des eigenen bewussten

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Ichs bewusst zu sein. Die Fähigkeit des Individuums sich selbst zu inszenieren, also

seinen eigenen Status als Individuum zu produzieren, kann als Inkorporierung der

Macht und Anwendung auf sich selbst gedeutet werden.

7. Neue Massenformen

Die bisherigen Erläuterungen haben dargelegt, dass die von Canetti beschriebene Masse

als einheitlicher Gefühlskörper auf Grund der Sitzplätze nicht mehr vorzufinden ist. Sie

fordert eine Dichte ein, die durch die errichteten Distanzen nicht mehr zu erzielen ist,

sodass ihr Selbstverständnis unerfüllt bleiben muss: ,,Die Körper geben einander

Anregungen direkt weiter. Ringsherum hat man an verschiedenen Menschen zugleich

mit seinem Körper teil. Man weiß, es sind mehrere Menschen, aber da sie auch

untereinander so dicht zusammenhängen, empfindet man sie als eins“ (Canetti 1980: 32

– 33). Für Canettis Masse ist der Körpersinn ,,Fühlen“ in Bezug auf ihre Konstituierung

von entscheidender Bedeutung. Alle Körper verschmelzen zu einem Gefühlskörper und

es stellt sich eine Gefühl der Gleichheit ein. Der Körpersinn ,Fühlen’ aber ist es, der der

Masse im Stadion durch die Sitzplätze quasi genommen wird. Hier ist der Punkt, wo der

Stuhl förmlich in den Körper schneidet, denn das auf einem Stuhl sitzende Individuum

hat nur schwer die Möglichkeit, mit seinem Körper direkt am Körper von anderen

teilzuhaben, um Mitglied eines einheitlichen Gefühlskörpers zu werden.

Die Masse versucht der Verhinderung ihrer physischen Konstituierung durch den

Körpersinn ,Fühlen’ derart entgegenzuwirken, dass sie sich neue Formen der

Massenbildung sucht. Durch die spezielle Architektur der neuen Stadien hat sich ein

neues Verständnis, eine neue Qualität von Masse entwickelt. Die neuen Formen der

Masse konstituieren und erleben sich selbst nicht über ihre körperlich gefühlte Dichte,

sondern über andere Qualitäten wie zum Beispiel visuelle, imaginäre oder auditive

Merkmale. Diese Massenerlebnisse sind nicht mehr an den Körpersinn Fühlen

gebunden, denn diese Massen gründen sich auf der Grundlage anderer Körpersinne, des

Sehens und des Hörens, sowie auf die Vorstellungskraft.

Die Existenz der ,neuen Massenformen’ lässt einmal mehr den zweideutigen Charakter

des Stadions sichtbar werden: Einerseits soll die klassische Massenbildung verhindert

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und das Individuum diszipliniert werden, andererseits bieten sich auf der Grundlage der

architektonischen Besonderheiten des Stadions der Masse alternative

Konstitutionsformen an, die zwar leichter zu kontrollierende Massenformen sind, aber

ebenfalls ein intensives Ausleben von Leidenschaft ermöglichen.

Die neuen Massenformen sollen nun eingehender betrachtet werden.

7.1. Die visuelle Masse

Eine neue Form der Massenbildung ist die visuelle Masse. Für die Bildung einer

visuellen Masse ist der Körpersinn ,Sehen’ wichtiger als der Körpersinn ,Fühlen’. Die

Architektur des Stadions sucht dieser neuen Massenform dadurch zu entsprechen, dass

die Sicht von jedem Platz möglichst gleich gut sein soll: ,,Sie sollen gut sehen können,

jeder von seinem Platz [...]“ (Canetti 1980: 25). Die Masse soll sich selber sehen

können, damit sich in der Folge davon der bereits beschriebene Effekt einstellen kann,

dass sie sich selbst bestaunen und sich an sich selbst berauschen kann (vgl. Kapitel

4.2.). Der Anblick der Masse ist der Moment ihrer Konstitution. Das einzelne

Individuum kann von seinem Sitzplatz aus einen ständigen Blick auf diese Masse

werfen und erhält eine ununterbrochene visuelle Vergegenwärtigung dessen, wovon es

ein Teil ist. Trotz der Parzellierung der Individuen können sie eine massenhafte

Verbindung eingehen, die über das Sehen und den Blick gestiftet wird: ,,Der Akt des

Überblickens und des Überblicktwerdens wird zu einem zentralen Mittel, durch das die

Individuen in einem Disziplinarraum verbunden werden“ (Dreyfus / Rabinow 1987:

187).

Je mehr der Körpersinn ,Fühlen’ für die Massenbildung negiert wird, desto mehr scheint

der Körpersinn ,Sehen’ stärker ausgebildet zu werden. Dem Stuhl und dem Sitzen als

Körperhaltung fallen dabei als Disziplinartechniken im Sinne von Foucault die Aufgabe

zu, diese Transformation der Sinne des Individuums zu ermöglichen, denn ,,die

Dominanz des Auges wird infolge der Einschränkung von Riechen, Tasten und Hören

erzielt. Durch räumliche Distanzierungen bereitet der Stuhl solche Beschränkungen vor.

Da das Funktionieren der Sinnesorgane der Einübung und Gewohnheit bedarf, gewinnt

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die Ausbildung des Auges im Sitzen zwangsläufig [...] den Vorrang und erzeugt eine

neue Hierarchie der Sinne“ (Eickhoff 1993: 174). Die neue Zusammensetzung des

Individuums betrifft also auch die Körpersinne. Diese Neuordnung der Sinne hin zu

einer Betonung des Körpersinns ,Sehen’ ist die Grundlage der visuellen Masse.

Einerseits unterbinden die Sitzplätze als Teil der Architektur des Stadions die klassische

Massenbildung als Gefühlskörper, andererseits aber bietet das Stadion mit seiner

spezifischen Architektur als runder und panoptischer Raum der Masse eine alternative

Konstitutionsmöglichkeit. Das Stadion trägt diese Alternative in seiner

architektonischen Anordnung in sich und unterstützt die Masse bzw. das einzelne

Individuum bei der Wahrnehmung dieser Alternative, indem es den Sehsinn betont. Die

visuelle Masse und die Architektur bedingen sich folglich wechselseitig.

Ein entscheidender Punkt, in dem sich die visuelle Masse von der Masse, die von Le Bo

beschrieben worden ist, unterscheidet, ist der, dass die visuelle Masse nicht länger

Spielball ihrer eigenen Gefühle, Triebe und Affekte ist, da diese in ihr diszipliniert

worden sind. Grundlage ihrer Konstitution ist das Sehen und nicht ein triebgesteuertes

Gefühl.

Eine Ausdrucksform der visuellen Masse, gleichsam ein Beweis ihrer Existenz und ein

Akt des sich selbst sichtbar Machens als Masse, sind die vielfältigen großen und bunten

Banner und Fahnen, die in den Stadien zu sehen sind, und die in einem die

Gemeinschaft sichtbar machenden Akt aufgeführt werden. Wie Gamper (1999: 55)

hierzu treffend feststellt, ,,artikuliert sich die Fan – Masse optisch durch koordinierte

Bewegungen [...]“. Mit Hilfe der geradezu choreographisch inszenierten

Fahnenensembles macht die visuelle Masse sich als solche sichtbar: ,,Ein solcher die

ganze Anhängerschaft vereinigender, vereinheitlichender [...] Beitrag gelingt den

Anhängern aber noch viel ausdrucksstärker mit ihren choreographischen

Inszenierungen“ (Prosser 2002: 282). Darüber hinaus diszipliniert die visuelle Masse im

Akt der Choreographie sich selbst und den einzelnen, denn die Choreographie erfolgt

aus ihr selbst heraus und erfordert ein entsprechendes Verhalten. Damit widerspricht die

visuelle Masse in einem weiteren Punkt den Vorstellungen Le Bons. Hatte er sie als

wildes und kopfloses Wesen beschrieben, so beweist die visuelle Masse in und mit der

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inszenierten Choreographie genau das Gegenteil. Prosser (ebd.: 284) schreibt dazu:

,,Die Choreographie ist die Großzeremonie der neueren Fankultur. Sie ist insofern

bemerkenswert, als sie gerade nicht Unzivilisiertheit und Ausgelassenheit zeichenhaft

fixiert, sondern eine großartige Akkuratesse demonstrieren will [...]. Sie setzt

Mitgestaltungswillen, Beteiligungsmotivation und Disziplin aller anvisierten Besucher

über ganze Stadionblöcke voraus [...]“. Nielsen (1995: 33) bemerkt dazu treffend:

,,Crowd - life does not equal chaos, but order”. Die visuelle Masse übt ihre

disziplinierende Wirkung auf sich selbst und den einzelnen auf die Weise aus, dass sie

sich ihren eigenen Anblick als ein eine Choreographie inszenierendes Wesen sich selbst

zum Vorbild macht, das es zu erreichen gilt. Wie die geschlossene Masse berauscht auch

die visuelle Masse sich an ihrem eigenen Anblick, ist fasziniert von sich selbst und

muss über sich selbst staunen.

7.2. Die imaginäre Masse

Eine ebenfalls neue Form der Masse ist die imaginäre Masse, die Masse, die sich in der

Vorstellungswelt der Individuen konstituiert. Grundlage und Vorraussetzung für die

imaginäre Masse ist die auf vielfältige Weise auf das Individuum angewendete

Affektkontrolle. Die Affektkontrolle führt im Ergebnis dazu, dass die sich im

Individuum befindenden Leidenschaften nicht in Form von äußeren Handlungen

ausgelebt werden, sondern sich wieder nach innen wenden. Eickhoff (1993: 166) sagt:

,,So werden im Sitzen die nach außen drängenden Affekte, die Wildheit des Menschen,

aufgesogen, ins Vegetative innerer Landschaften umgelenkt und zu Innenwelten, zu

geistigen Räumen und Abläufen der Einbildungskräfte umgestaltet“. Die

Massenbildung kann also nicht im Sinne Canettis in Form eines Gefühlskörpers

körperlich ausgelebt werden und verlagert sich, bedingt durch das Sitzen, Eickhoff

zufolge deshalb auf die imaginäre Ebene des einzelnen Individuums. Die in der

Imagination des Individuums entstehende Vorstellung davon Teil einer Masse zu sein,

verschränkt sich dabei mit der visuellen Masse, denn die in der Vorstellungswelt des

Individuums existierende Masse erfährt beim Anblick der visuellen Masse die visuelle

und geistige Bestätigung ihrer Existenz. Die imaginäre Masse orientiert sich eher an

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einer Idee und einer Vorstellung als an einem konkreten Körpergefühl. Damit ist eine

gewisse Parallele zu Le Bon gezogen, der die Massenbildung stärker auf der

psychologischen Ebene verortet hat. Die von ihm beschriebene Gemeinschaftsseele

trägt die Idee der Masse in sich. Teil dieser Gemeinschaftsseele und somit der Masse

wird das Individuum aber nicht über einen körperlich ausgelebten Akt wie das Fühlen

es wäre und wie Canetti es für die Massenbildung als konstitutiv fordert, sondern allein

dadurch, dass es die Idee teilt. Das Individuum wird allein in seiner Imagination Teil der

Masse, was zu der imaginären Masse führt.

7.3. Die auditive Masse

Die Entstehung der auditiven Masse wird durch die hermetisch abgeschlossene

Bauweise der Stadien ermöglicht, die es erlaubt, dass ,,der Schall des Torjubels nie ins

Leere geht, der Lärm auf diese Weise in sich selbst widerhallt“ (Prosser 2002: 275). Die

kesselförmige Bauweise der Stadien intensiviert die Wirkung der Geräusche. Die Masse

konstituiert sich über die hörbaren Geräusche und vergewissert sich über das Hören

ihrer eigenen Existenz, denn wie Gamper (1999: 55) feststellt, ,,artikuliert sich die Fan –

Masse [...] auditiv durch Klatschen, Rufen und Singen“. Je dichter der Raum, desto

lauter ist es, desto mehr ist man Masse, desto besser wird die Massierung auditiv fassbar

und umso eher beschleicht den einzelnen ,,Hörer das Gefühl, winziger Teil einer großen,

unaufhaltsamen Bewegung zu sein“ (Meinhardt 1995: 44). Wie bereits angedeutet, ist

die räumliche Abgeschlossenheit des Stadions eine entscheidende Vorrausetzung für die

Konstitution der auditiven Masse. Alkemeyer (2004: 59) schreibt: ,,The deafening roar

of the crowd does not fade but reverberates with resounding force within the buildings’s

walls”. Und Alexander (2005: 37) bemerkt: ,,Die räumliche Verdichtung steigert auch

den akustischen Effekt. Der Begriff Geräuschkulisse macht in den neuen Stadien einen

besonderen Sinn“. Bedingt durch die Rundumbebauung schließt sich das Stadion in

idealer Weise mit dem ,,Dach zu einer gigantischen Hörmuschel zusammen, einem

Rundumschalltrichter [...]. Aus diesem Klangkörper gibt es kein Entrinnen“ (Knapp

2005:15). Die auditive Wucht erreicht alle Individuen gleichzeitig, und ein jeder hat mit

seiner Stimme Anteil an dieser auditiven Masse, ist ein hörbarer Teil von ihr: ,,Im

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kollektiven Torschrei löst man sich auf in der Masse. Man hat das Gefühl, der eigene

Schrei und der der anderen verschmelzen zu einem Gebrüll“ (Rühle 2005: 15).

8. Das Stadion: Erregung architektonisch planen

Neben der Kontrolle und Disziplinierung der Masse durch die Stadionarchitektur tritt

gleichzeitig die Idee, mit Hilfe der Stadionarchitektur Emotionen, Erregungen und

Leidenschaften in der Masse auszulösen, also im Sinne Canettis auf ihre Entladung

hinzuarbeiten, denn in der Entladung wird die Masse erst lebendig und sinnlich fassbar:

,,Eine Entladung ist schließlich unerlässlich, ohne sie ist gar nicht zu sagen, ob eine

Masse wirklich vorhanden war“ (Canetti 1980: 33). Bartetzko (2005: 31) erkennt in

dieser Aufgabe der Stadionarchitektur gar ihre zentrale Bestimmung, die unabhängig

vom im Stadion stattfindenden Ereignis realisiert werden soll, nämlich ,,mit

architektonischen Mitteln die Stimmung Zehntausender Fans zur Massenekstase zu

steigern“. An anderer Stelle spricht Bartetzko (1985: 19 – 20) von durch ,,Architektur

stimulierten kollektiven Ekstasen“.

Die für Massen in Stadien beschriebenen Merkmale wie Geschlossenheit,

Ringförmigkeit und Stockung führen zusammen genommen auf der Grundlage der

spezifischen Architektur des Stadions zu einer besonderen Erregbarkeit der Masse, denn

wie Alkemeyer (1996: 412) feststellt, ,,ermöglichen Stadien einen vollständigen

Austausch der Blicke und der Emotionen“. Die architektonische Anordnung durch

übereinandergelegte Sitzplatz- oder Stehplatzreihen innerhalb der runden Arena

unterstützt diese Erregbarkeit, denn ,,das hat zur Folge, dass die Masse sich selber

gegenübersitzt. Jeder hat tausend Menschen und Köpfe vor sich. [...] Was ihn in

Erregung versetzt, erregt auch sie, und er sieht es. [...] Ihre sichtbare Erregung steigert

die seine“ (Canetti 1980: 25). Die Erregung des einzelnen in der Masse und damit auch

die der Masse insgesamt steigert sich also wechselseitig durch die visuelle

Wahrnehmung. In dieser Aussage Canettis liegt eine Bestätigung für die Existenz der

bereits erwähnten visuellen Masse, und auch Bausenweins (1995: 166) Aussage lässt

sich entsprechend interpretieren: ,,Während alle sehen können, was unten auf dem

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Spielfeld vor sich geht, sitzen sie einander gegenüber und bannen sich so als Menge

selbst“. Die Architektur des Stadions ermöglicht das sich gegenseitige Erblicken und

unterstützt die visuelle Masse dabei in ihrer Erregung: ,,Die [...] in Ränge eingeteilte

Form der Veranstaltungsstätte macht die Besucher, die sich gegenüber oder

untereinander sitzen, füreinander besser sichtbar. Ihre Verhaltensweisen können sofort

von anderen wahrgenommen werden. Dadurch steigt die Erregung [...]“ (Furst 1973:

460).

Das Ziel jeder Masse ist es, sei es nun die Masse im Sinne von Canetti oder Le Bon,

eben genau eine Masse zu werden. Die architektonische Anordnung des Stadions als

ringförmiges Gebäude aber führt dazu, dass sich möglicherweise zwei Massen in

einander gegenüberliegender Weise vorfinden lassen. Canetti (ebd.: 66) bezeichnet

dieses Phänomen als ,,Doppelmasse“. Die Doppelmassen beeinflussen sich gegenseitig

in ihrer Erregung, denn ,,sieht man sie gegenüber, so ist man durch den Anblick

fasziniert. [...] Das Gegeneinander wirkt aufs Nebeneinander ein“ (Canetti 1980: 67).

Auch die Doppelmassen gründen sich also auf die visuelle Wahrnehmung, denn

während sie sich im Stadion durch die Architektur einander gegenüber angeordnet

vorfinden, ,,sind die Augen auf andere Augen gegenüber gerichtet“ (ebd.: 67). Darüber

hinaus versichern sich die Doppelmassen gegenseitig ihres Bestandes gegenüber der

Gefahr des Zerfalls: ,,Die sicherste und oft die einzige Möglichkeit für die Masse, sich

zu erhalten, ist das Vorhandensein einer zweiten Masse, auf die sie sich bezieht. [...] Der

Anblick oder die starke Vorstellung einer zweiten Masse erlaubt der ersten nicht zu

zerfallen“ (Canetti 1980: 66).

Die ringförmige Architektur des Stadions ermöglicht es also, dass die Zuschauer sich

ständig selbst vor Augen haben. Der dem einzelnen Zuschauer gegenüber sitzende

Zuschauer fungiert wie ein Spiegel, an dem die eigene Leidenschaft bewundert werden

kann und an dem sie sich steigert. Der Andere wird zum eigenen Spiegelbild und dient

der visuellen Vergegenwärtigung und Bestätigung der eigenen Emotionen. Verspohl

(1976: 6) schreibt dazu: ,,Durch die amphitheatralische Sitzanordnung umringen die

Zuschauer die Wettkämpfer; darüber hinaus haben sie sich selbst zugleich mit dem

Wettkampfgeschehen vor Augen. Auf diese Weise sind ihre spontanen Reaktionen auf

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den Verlauf des Wettkampfs und auf die dadurch ausgelösten Verhaltensweisen des

Publikums untereinander [...] ständig gegenwärtig“.

Die Tatsache, dass die Zuschauer sich untereinander als Spiegel und Spiegelbild dienen,

trägt allerdings eine Paradoxie in sich, die sie im Endeffekt auch einer Selbstdisziplin

unterwirft. Zwar steigert sich im gegenseitigen Anblick die Leidenschaft, gleichzeitig

aber gibt es wohl für das einzelne Individuum nichts Prüfenderes und Selbstkritischeres

als den Blick in den Spiegel, um sich selbst einer Begutachtung zu unterziehen. Im

Stadion dienen sich die Zuschauer damit folglich auch als Spiegel und Spiegelbild, um

das eigene Verhalten zu überprüfen und notfalls einer Korrektur zu unterziehen, denn

über das eigene Spiegelbild kann der Zuschauer erfreut und erschreckt zugleich sein.

Das sich Spiegeln im Anderen hat somit einen zweifachen Wert. Einerseits ermöglicht

es eine große Nähe zu anderen Individuen, weil eine visuelle Bestätigung der

Ähnlichkeit ermöglicht wird, die auch Grundlage der visuellen Masse ist. Andererseits

aber ermöglicht das sich Spiegeln im Anderen die Anwendung des kritischen Blicks auf

sich selbst. Dieser auf sich selbst angewendete Blick kann als eine das eigene Verhalten

steuernde Selbstdisziplin begriffen werden, die Distanz zu anderen aufbaut und damit

die klassische Massenbildung als einheitlicher Gefühlskörper unterbindet.

Durch die spezifische Architektur des Stadions ,,rücken die Zuschauer einander

räumlich näher. Das Echo der eigenen Emotionen wird lauter, unmittelbarer“

(Alexander 2005: 37). Verspohl (1976: 67) fügt an: ,,Darüber hinaus schmiedet die

räumliche Enge dieses Bautyps das Publikum enger zusammen“. Erst im Blick vom

obersten Rang eines Stadions hinunter in den sich auftuenden und alles verschlingenden

,,Krater“ (Goethe 1993: 44) zeigt sich das Stadion als ,,phantastischer, brodelnder,

irrlichternder Kessel, der große Gefühle freisetzt“ [...] denn ,,je höher man sitzt, je

steiler die Ränge abfallen, desto mehr Adrenalin schießt in die Adern“ (Schulze 2005:

31).

Die Stadien der neueren Generation zeichnen sich alle durch ähnliche architektonische

Merkmale aus. Die umlaufende Aschenbahn fehlt, wodurch die Zuschauer näher an das

Feld rücken. Die Tribünen sind komplett überdacht und steigen steil nach oben an,

sodass sich von jedem Platz eine gute Sicht ergibt. Das Dach lässt sich im Extremfall

verschließen, sodass die Abschottung nach außen hin komplettiert wird. Prosser (2002:

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275) erkennt in dieser Entwicklung insgesamt ,,die Tendenz zu immer stärkerer, nach

innen gewendeter Wucht, bedingt durch die fast hermetisch geschlossene Bauweise mit

rundum laufender Überdachung“. Alle Aufmerksamkeit und alle Sinne werden nach

innen gelenkt und nichts dringt nach außen und von außen kann nichts eindringen. Der

Raum erweist sich als hermetisch abgeriegelt und als wie geschaffen dafür, um das

Erleben der eigenen Emotionen zu verstärken. Prosser (ebd.: 275) erklärt, dass die

Architektur des Stadions darauf Einfluss nimmt, dass ,,kein Blick mehr in die

Außenwelt dringen kann, der Schall des Torjubels nie ins Leere geht, der Lärm auf diese

Weise in sich selbst widerhallt. So ist dafür gesorgt, dass die Veranstaltung die

gewünschte und erwartete emotionale Wucht entfaltet, dass sie gleichsam in sich selbst

siedet“ und Bausenwein (1995: 166) fügt dazu passend an: ,,Erst diese Einkesselung

bewirkt, dass sich die Gefühle gleichsam wie von selbst hochschaukeln“.

Die Architektur schafft die Vorrausetzungen für einen sinnlich verdichteten Raum, der

die Zuschauer mit dem Ereignis, aber viel mehr noch mit sich selbst, näher in Bezug

setzt, sie gleichzeitig aber auch auf die Architektur zurückwirft, denn Architektur, Raum

und sinnlich - körperliche Wahrnehmung gehen eine wechselseitige Beziehung ein. Die

Architektur des Stadions entfaltet ihre Wirkung nur dann, wenn es von einer Masse in

Besitz genommen wird, gleichzeitig erweist sich die Masse in ihrem Ziel der äußersten

Leidenschaft, ihrer Entladung, als von der spezifischen Architektur des Stadions

abhängig. Den Aspekt der sinnlich - körperlichen Wahrnehmung von Architektur und

Raum beschreibt Jacques Herzog (2003: 31), einer der Architekten des neuen

Münchener Stadions: ,,In unserer Architektur ist Unmittelbarkeit in der Ausstrahlung

und in der Wirkungsweise ein zentrales Anliegen. [...] Sie sollte vielmehr ganz

körperlich wahrnehmbar sein“. Diese unmittelbare und körperliche Wahrnehmung und

Wirkungsweise von Architektur und Raum wird also genutzt, um Leidenschaften auf

Seiten der Masse zu generieren. Matzig (2005: 13) stellt dementsprechend für das neue

Stadion in München fest: ,,Nach innen reduziert, zugleich aber sinnlich [...]. Man wollte

einen Ort, der die Emotionen schürt? Einen Bau inszenatorischer Wucht? [...] Ein Areal,

das alles andere egozentrisch negiert ? Einen “Hexenkessel“? Man hat ihn nun“. Der

Architektur fällt also die Rolle zu, dazu beizutragen, das herzustellen, was Prosser

(2002: 275) als ,,emotionaler Ausnahmezustand“ bezeichnet hat.

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9. Die architekturhistorischen Vorbilder Theater und Kolosseum

Das Stadion ,,may look more like its ancient precursor than anything else in the modern

world looks like its architectural ancestors” (Giamatti 1989: 32 – 33). Es bezieht sich in

seiner Architektur auf historische Vorbilder und ähnelt diesen. Auf diese Vorbilder, das

Theater und das Kolosseum, und vor allem auf die Art und Weise, wie in ihnen durch

die architektonische Anordnung Leidenschaften erzeugt wurden, soll im folgenden

eingegangen werden. Dabei sind Parallelen zu den heutigen Stadien zu erkennen.

9.1. Das Theater

Zu Beginn soll die Verwandtschaft des Stadions mit dem Theater / Amphitheater

betrachtet werden. Theater und Amphitheater sind dabei synonym zu verwenden. Die

genaue Verwendung des griechischen amphi , das ,zwei’ oder ,beides’ bedeutet, ist nicht

zu ergründen. Es kann jedoch dahingehend interpretiert werden, dass innerhalb der

architektonischen Anordnung ein Beziehungsverhältnis gestiftet wird (vgl. Randl 2002:

181). Die architektonische Ähnlichkeit zwischen dem Stadion und dem Theater ist nicht

verwunderlich, findet das Stadion im Theater doch ein zentrales architektonisches

Vorbild: ,,Der Urtypus des Stadions findet sich im Theater des antiken Griechenland

[...]. In diesen Anlagen wird erstmals ein baulicher Ausdruck für das dialektische

Verhältnis zwischen Darstellern und Zuschauern gesucht und gefunden“ (Randl 2002:

179). Dem Theater gelingt es, durch seine baulichen Maßnahmen bezüglich Bühne und

Tribüne eine Beziehung zwischen den Darstellern und den Zuschauern zu stiften, und

Randl (ebd.: 180) spezifiziert die Art dieser Beziehung in folgender Aussage:

,,Zwischen Zuschauern und Schauspielern bestand eine eindeutige, räumlich gerichtete

Beziehung [...]“.

Die Klassifizierung der Beziehung als ,,räumlich“ impliziert eine gewisse Distanz

zwischen Darstellern und Zuschauern. Es existiert eine klare räumliche Trennung,

sodass das durch diese Bauweise realisierte dialogische Prinzip auf der Seite des

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Zuschauers eine Beteiligung ermöglicht, die eher visueller als körperlicher Natur ist.

Die visuelle Beteiligung basiert auf dem Prinzip, dass alle möglichst gut sehen können

müssen, sodass eine weitläufige räumliche Expansion ,,in den Amphitheatern zugunsten

optimaler Sichtverhältnisse aufgegeben“ (Verspohl 1976: 67) werden musste. Obwohl

so ein dichterer Raum entsteht, bleibt die beschriebene Distanz erhalten. Die

Architektur lässt somit nur eine Leidenschaft zu, die über das Sehen generiert wird. Im

Theater geschieht die Einbindung des Zuschauers über den Blick, wodurch eine

Analogie zum Stadion als panoptischer Raum und der visuellen Masse gefunden ist

(vgl. Kapitel 5.3. ff. / 7.1.). Die im Theater herrschende räumliche Distanz zwischen

Darstellern und Zuschauern stiftet eine Beteiligungsform und erzeugt ein

Zuschauerverhalten, welche beide vom Blick bestimmt sind. Das Theater schafft sich

dadurch eine Zuschauermasse, die von Bale (1994: 88) als ,,restrained audience,

emotionally distanced and spatially separated from the performance“ beschrieben wird.

Die Ähnlichkeit von Stadion und Theater bleibt demnach nicht auf die Architektur

beschränkt. Sie bezieht sich auch auf das Verhalten der Besucher, denn die von Bale

vorgenommene Beschreibung lässt sich durchaus auf die heutigen Stadionbesucher

übertragen.

Der Charakter des Stadions als zweideutiger Raum wird hier besonders deutlich.

Einerseits soll durch die Architektur ein emotional verdichteter Raum entstehen, der die

Leidenschaft grenzenlos ins Ekstatische steigert (vgl. Kapitel 8), andererseits ist in der

architektonischen Anlehnung an das Theater der Wunsch zu erkennen, die Leidenschaft

auf eine visuelle Beteiligung zu beschränken und damit die Masse beziehungsweise die

Individuen in ihrem Verhalten zu disziplinieren. Trotz aller Nähe, erzeugt durch das

Heranrücken der Tribünen an das Spielfeld, bleibt die räumliche Trennung, die auch die

Sitzplätze mit einschließt, unverkennbar bestehen und entfaltet eine verhaltenssteuernde

Wirkung: ,,Modernisation implies the clear definition and spatial separation between

players and spectators and this might logically lead to a situation where the fan becomes

totally passive“ (ebd.: 88). Die Leidenschaft nimmt im modernen Stadion wie im

Theater eine visuelle Form an: ,,The audience reflect upon a performance rather than

experience corporeal participation; in the modern stadium the spectator’s contribution

becomes that of an outsider’s gaze“ (Bale 1995: 313). Die visuelle Beteiligung ist eine

65

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Leidenschaftsform, die einfacher zu kontrollieren ist als etwa die direkte körperliche

Beteiligung in Form einer Massenbildung, wie sie von Canetti als körperlich zu

bildendes und körperlich zu fühlendes Wesen beschrieben worden ist. Darüber hinaus

entspricht die visuelle Beteiligung der im Stadion durch die Sitzplätze

aufrechterhaltenen Berührungsfurcht und den damit erläuterten territorialen Aspekten.

Die Analogie zwischen Theater und Stadion beinhaltet somit auch ,,a more distanced,

less involved, experience for the spectator, reflecting modern tendencies towards spatial

segmentation and teritorialization” (Bale ebd.: 313). Die visuelle Leidenschaft mag

körperlich weniger mitreißend sein, doch dieser Aspekt wird dadurch kaschiert, dass,

bedingt durch die spezifische Architektur der Arena, das visuelle Erlebnis intensiviert

wird (vgl. Kapitel 10).

Der körperlich involvierte Zuschauer wird im modernen Stadion auf der Basis einer

spezifischen Architektur durch einen leichter zu kontrollierenden Zuschauer ersetzt,

dessen Merkmal die visuelle Einbindung ist: ,,The withdrawn, objective perspective of

the modern spectator comes to supplant the subjective participation of traditional

fandom“ (Giulianotti 2004: 80). Heinemann (1998: 134) beschreibt den hier dargelegten

Sachverhalt wie folgt: ,,Wie in einem Theater, in dem die Zuschauer passiv nur mit

Augen und Ohren verfolgen, was auf der Bühne geschieht, sollte auch der Zuschauer in

den Stadien ,,zivilisiert“ werden; er sollte passiv, geordnet [...] eben nur zuschauen,

nicht körperlich teilnehmen“.

9.2. Das Kolosseum

Ein weiteres architektonisches Vorbild findet das moderne Stadion im Kolosseum.

Randl (2002: 181) beschreibt diese Verwandtschaft wie folgt: ,,Das erste richtige

Vorbild moderner Stadien und insbesondere moderner Fußballstadien ist das Kolosseum

in Rom: ein Amphitheater, ringsum geschlossen, das [...] mitten in der Stadt freistehend

aufragt“. Das antike Kolosseum und das moderne Stadion ähneln sich demnach stark in

ihrem hohen Grad der Abgeschlossenheit. Die hohen Mauern definieren eindeutig ein

Innen und ein Außen: ,,Stadien sind ein in sich geschlossener, gemauerter Kreis, der

einen Innenraum von der Außenwelt abgrenzt“ (Bausenwein 1995: 162). Das

66

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Kolosseum wie auch das moderne Stadion bezwecken mit dieser architektonischen

Abgeschlossenheit eine eindeutige Wirkung, die bereits in Kapitel 8 erörtert wurde. Im

Innenraum wird eine Leidenschaft generiert, weil die bauliche Abgrenzung die völlige

Hingabe ermöglicht. Alkemeyer (2004: 58) schreibt dazu in Bezug auf Stadien: ,,The

individuals gathered together […] in the stadium turn their backs to the outside world;

together they concentrate their gaze, their attention, and their tension inward”. Die

bauliche Abgeschlossenheit ermöglicht es, dass die Leidenschaft auf sich selbst

zurückgeworfen wird und sich in der Folge davon gewissermaßen an sich selbst steigert.

Moderne Stadien sind, ebenso wie auch das Kolosseum es war, multifunktional nutzbar.

Die modernen Stadien ähneln damit ihrem antiken Vorbild, dem Kolosseum in Rom,

denn ,,viele Elemente moderner Großstadien, die erst jüngst wieder realisierbar wurden,

wie Überdachung, Logen, Multifunktionalität des Innenraums [...] finden sich bereits in

dem von Kaiser Titus im Jahr 80 n. Chr. eröffneten Bauwerk“ (Randl 2002: 181). Alle

modernen Stadien orientieren sich heute architektonisch stark an diesem historischen

Vorbild, sodass von einem Rückgriff auf eine bereits früh für seinen Zweck

perfektionierte Form gesprochen werden kann, oder wie Randl (ebd.: 194) es formuliert:

,,Im römischen Kolosseum erreichte das Stadion eine frühe Vollendung“. Diese

Ähnlichkeit bezüglich der Mulifunktionalität sei der Vollständigkeit halber erwähnt, für

das Generieren und Freisetzen von Leidenschaft ist sie sekundär.

Die bedeutendste Ähnlichkeit zwischen dem Kolosseum und dem modernen Stadion

erschließt sich erst dann, wenn man ihre genuine Sinnzuschreibung miteinander

vergleicht. In dieser ihnen eigenen Sinnzuschreibung und der entsprechenden

Ausführung liegen die Leidenschaft und die Erregung, die dem Zuschauer versprochen

sind und auf deren Erfüllung er nicht hoffen muss, weil sie ihm in gewisser Weise

garantiert sind.

Eine erste Beschreibung dieser Sinnzuschreibung finden wir bei Maak (2005: 35), der

über das neue Stadion in München schreibt: ,,Die Arena ist keine elegante

Sportlandschaft mehr, sondern ein entschlossener, gnadenloser Hexenkessel im Geist

des antiken Kolosseums [...]“. Das spielerische Element in der Architektur eines

Stadions, das damit auch das Stadion selbst als Ort des Spiels und des Spielens

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gekennzeichnet hat und am deutlichsten vielleicht in der circensisch anmutenden

Zeltdachkonstruktion des Münchener Olympiastadions verkörpert wurde, weicht einer

Architektur, die in der Rückbesinnung auf das historische Vorbild auch dessen

Sinnzuschreibung übernimmt: ,,Denn von alters her ist der Unterschied von Stadion und

Arena, dass diese ausschließlich ein (sandiger) Kampfplatz ist, auf dem es meist um

Leben und Tod geht, nicht mehr bloß um Spiel und Ritual [...]“ (Zohlen 2006: 131). Der

Rückbezug des Stadions auf sein historisches Vorbild, die Arena, ist also mehr als nur

ein architektonischer, denn auch in der Umbenennung schwingt die gewandelte

Sinnzuschreibung mit: ,,Denn im allgemeinen Sprachgebrauch verbindet sich mit dem

Wort Stadion die Vorstellung von fairen sportlichen Wettkämpfen, mit Arena dagegen

verknüpft man die Gemetzel in den römisch – antiken Amphitheatern“ (Bartetzko 2005:

31). Und Zohlen (ebd.: 131) fügt hinzu: ,,Und daher steht im historischen Horizont all

der neuen Architekturen fürs Fußballspektakel das Kolosseum in Rom, dieses grandiose

Bauwerk der Gladiatorenkämpfe und Demütigungen [...]“. Das Kolosseum als Arena

war ein Kampfplatz, und nichts anderes sind die modernen Stadien. Es sind moderne

Kampfplätze, die die Architektur ihres historischen Vorbilds reproduzieren und die in

logischer Konsequenz jetzt Arenen genannt werden, um eben auch in der Umbenennung

deutlich zu machen, welche Sinnzuschreibung sie jetzt tragen. Makowsky (2005: 59)

schreibt folgerichtig über die Arena in München: ,,Die Funktion dieses Gebäudes wird

mit einem Blick, mit einem Erschauern klar: Das ist eine Kampfarena“.

In der Sinnzuschreibung als Kampfarena liegt nun die dem Zuschauer garantierte

Leidenschaft und Erregung, denn die Arena ist kein Ort des Spielens, sondern ein Ort

des Kämpfens. Der Kampf ist zwar nicht mehr einer um Leben und Tod, aber dennoch

einer um Sieg oder Niederlage und mithin ein garantiertes Spektakel, das Leidenschaft

und Erregung erfahren lässt. Zu einem langweiligen Unentschieden werden es die

Zuschauer nicht kommen lassen, können sie aufgrund der spezifischen Architektur der

Arenen mehr als je zuvor eine Entscheidung durch frenetisches Antreiben herbeiführen.

Diesen quasi in der Architektur der modernen Arenen baulich realisierten Sachverhalt

beschreibt Matzig (2005: 13) treffend, wenn er über die neue Münchener Arena, quasi

ein Prototyp der modernen Arenenarchitektur, sagt: ,,Einem “Unentschieden“ dient sie

nicht“. Auch bereits Gebauer und Wulf (1988: 15) kommen in ihrer Beschreibung des

Berliner Olympiastadions zu einem ähnlichen Urteil: ,,Das Stadion braucht die

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konzentrierte Erregung [...]; es verlangt die Superlative: das Mittelmäßige erfährt hier

ein gnadenloses Schicksal, es stürzt ab“. Die Architektur der Arena fordert stets ein

Mehr ein und sie bringt ihr architektonisches Selbstverständnis und ihre

Sinnzuschreibung in einer brutalen aber einfachen Formel in Einklang mit der auf

Seiten der Zuschauer zu generierenden Leidenschaft: Sieg oder Niederlage,

himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt. Die Architektur der Arena selbst

verkörpert das, was sie einfordert, sodass Matzig (2005: 13) zu der treffenden

Formulierung gelangt: ,,Das neue Stadion [...] ist eine zu Architektur geronnene

Ausweitung der Kampfzone, ein genuiner Ort der Entscheidung, wo es, selbst im Spiel,

am Ende immer nur auf eine einzige Differenz ankommt: die zwischen Sieg und

Niederlage“. Die architektonische Wucht der neuen Arenen mit ihren oftmals gigantisch

anmutenden Ausmaßen verschränkt sich dabei mit der ins ekstatische gesteigerten

Wucht der Leidenschaft, deren Freisetzung im Inneren der Arena garantiert ist. Der

Anblick der Arena, ihre Sinnzuschreibung und das durch ihre spezifische Architektur

garantierte Ausleben von Leidenschaft halten, was sie versprechen: ,,What You See Is

What You Get – Nichts anderes ist gute Architektur“ (ebd.:13).

10. Die Arena: Placelessness als Prinzip

Beim Betrachten der äußeren und inneren architektonischen Gestalt der neuartigen

Arenen fällt auf, dass sie sich alle sehr ähnlich sind. Hohe Außenmauern, steile Ränge,

die Nähe der Tribünen zum Spielfeld und völlige Abgeschlossenheit nach außen sind

bei ihnen allen zu finden und wenn man sich im Innenraum der Arena befindet, fällt es

zuweilen schwer zu sagen, um welche Arena es sich handelt. Sie unterscheiden sich

untereinander in nichts mehr und erfüllen damit das Kriterium der ,,placelessness“

(Relph 1976: 143). Relph (ebd.: 143) beschreibt die ’placelessness’ als ,,replacing

diversity with uniformity and experimental order with conceptual order“. Die modernen

Arenen entspringen alle einem bestimmten architektonischen Konzept, das eine

bestimmte Zielsetzung verfolgt, und deshalb ähneln sie sich stark. Experimentelle

Spielarten in der Architektur des Stadions werden zu Gunsten einer aus einer

konzeptionellen Uniformität entsprungenen Architektur geopfert. Die daraus

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Page 70: Disziplin und Leidenschaften: Raumsoziologische und ... · PDF fileInhaltsverzeichnis 1. Einleitung 1 2. Die Masse – eine erste Annäherung 3 2.1. Der negative Massenbegriff bei

entstehenden Konsequenzen beschreibt Relph (1976: 90) wie folgt: ,,Placelessness, that

is, a weakening of the identity of places to the point where they not only look alike but

feel alike […]”. Bale (1994: 52) definiert in seiner Auseinandersetzung mit Relph die

’placelessness’ näher als ,,placelessness, which in its purest form involves uniformity”,

beschreibt sie als ,,places looking and feeling alike” (ebd.: 94 – 95) und bezieht sie auf

Orte ,,which appear much the same as any other” (ebd.: 52). Es handelt sich folglich um

Orte, die sich in ihrer Uniformität gleichen und ihre distinktiven Merkmale verloren

haben, denn wie Nielsen (1995: 24) bemerkt, ist ’placelessness’ ein Konzept, ,,which

refers to the actual place and to its characteristics“. Die modernen Arenen sind eine

klare architektonische Realisierung dieser ’placelessness’ , die mit dem deutschen Wort

Ortlosigkeit übersetzt werden soll. Bale (1993: 41) bestätigt diese Annahme,, wenn er

sagt: ,,There can be little doubt that the tendencies towards modernism in stadium

design and location can be interpreted as manifestations of placelessness […]”.

Die Ortlosigkeit der Arenen ist dabei aber nicht unbedingt ein spezifisches Merkmal der

Moderne. Auch die historischen Vorbilder Amphitheater und Kolosseum waren durch

architektonische Uniformität gekennzeichnet. Die Ortlosigkeit der Arenen bezieht sich

allerdings nicht nur auf das Fehlen distinktiver architektonischer Merkmale und die

Uniformität. In einem weiteren Sinn kann unter der Ortlosigkeit der Arena auch eine

Unverbundenheit mit der umgebenden Landschaft verstanden werden, schottet sich die

Arena durch ihre spezifische Architektur doch konsequent von ihrer Umgebung ab. Sie

besitzt durch ihre Bauweise keinerlei räumlich - architektonische Anbindung an ihre

Umgebung, und auch in ihrer Architektur spiegelt sich die umgebende Landschaft nicht

wider, was schließlich in dem folgenden von Levi (1998: 11) formulierten Sachverhalt

gipfelt: ,,In other words, the context is not a dynamic element of the architectural

design, and the stadium logically looks like an isolated object, disconnected from its

setting; it is an object which could have been built anywhere”.

Auch in der nicht vorhandenen Anbindung an die Umwelt orientiert sich die Arena an

ihrem historischen Vorbild. Randl (2002: 181) beschreibt das Kolosseum in Rom als

eine Bauwerk ,,ohne erkennbaren räumlichen Bezug zu seiner Umgebung“. Dieses

Prinzip ist bis heute durchgehalten worden und wird mit Blick auf die derzeitige

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Arenenarchitektur so konsequent umgesetzt wie noch nie, was sich aus Liebs (2005: 13)

Aussage schließen lässt, der die sich im Pariser Vorort St. Denis befindende und dort

völlig deplaziert wirkende Arena ,Stade de France’ als ,,eine gebaute Absage an seine

Umgebung“ beschrieben hat. Die hier erläuterte zweifach verstandene Ortlosigkeit der

Arena verschränkt sich mit ihrer oftmals futuristisch anmutenden Architektur (siehe

München, Paris, Hamburg etc.) und führt zu einem Vergleich, der die Ortlosigkeit auf

den Punkt bringt: Die Arena als Ufo. Liebs (ebd.: 13) schreibt über das ,Stade de

France’: ,,Der monströse Gitterbau des Stadions mit der fliegenden Schallplatte darüber

ist ein Ufo [...]“. Und auch Zorn (1998: 34) stellt in Bezug auf die Pariser Arena fest:

,,So stellen sich Menschen eine “fliegende Untertasse“ vor: wuchtig und luftig, stabil

und mobil, respektheischend und von magisch - magnetischer Anziehungskraft“.

Gebauer (2002: 175) beschreibt das bei Nacht hell erleuchtete ,Stade de France’ ,,als ein

gleißendes Raumschiff in einer dunklen Umgebung“ und als ,,vollkommen aus seiner

Umwelt [...] isoliert“. Die Arena als Ufo wirkt deplaziert und entrückt, als könne sie

jeden Moment aufgrund ihrer fehlenden räumlichen Anbindung abheben und sich an

einem anderen Ort niederlassen.

Die Ortlosigkeit der Arena erweist sich andererseits als perfektes Prinzip, um den in

ihrer Architektur liegenden Zweck konsequent umzusetzen: Die Steigerung der

Leidenschaft. Durch die architektonische Abschottung der Arena von der umgebenden

Landschaft wird alles das negiert, was irgendwie ablenkend wirken könnte. Die

bauliche Abgrenzung wird unterstützt durch das Flutlicht, das nur das Sehenswerte

beleuchtet und gleichzeitig alles das im Dunkeln lässt, was zu vernachlässig ist. Bale

(1993: 45) beschreibt dieses in der Architektur der Arena liegende Prinzip als

,,highlighting the action on the field and obliterating, through the darkened background,

any architectural details or elements of the landscape which could, incidentally, provide

distraction or additional gratification for spectators. [...] By focusing solely on the game,

the urban context within which it is played was visually eliminated”. Und an anderer

Stelle fügt er hinzu: ,,Where sports events are played in spaces which are not

particularly distinctive […] attention is necessarily focused on the game itself. There is

often little else from which to gain visual gratification“ (Bale 1994: 128). Die

Ortlosigkeit der Arena führt zur Ausrichtung aller Konzentration und Emotion auf das,

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was in ihrem Inneren stattfindet, und das ist, neben dem Spiel oder besser dem Kampf,

eben gerade auch vor allem das Ausleben und Freisetzen von Leidenschaft. Durch das

architektonisch erzwungene nach Innen wenden steigert und berauscht sich die

Leidenschaft in und an sich selbst und wird künstlich erhöht, weil nichts anderes in das

Blickfeld gerät als sie selbst: ,,The stadium structure diverts the gaze from all other

objects outside the focus, outside the stadium“ (Eichberg 1995: 337).

Aus der räumlich abgeschlossenen Arena kann die Leidenschaft buchstäblich nicht

heraus und sie wird nicht durch äußere Einflüsse gemindert. Von diesem Standpunkt aus

betrachtet ist das sich in der architektonischen Gestaltung und baulichen Realisierung

der Arena widerspiegelnde Prinzip der Ortlosigkeit eine konsequente Umsetzung des

Zwecks. Es ist nicht die Aufgabe der Arena über ihre Architektur eine Verbindung mit

der umgebenden Landschaft herzustellen, sondern ihr architektonischer Auftrag besteht

darin, einen Raum zu schaffen, an dem die Leidenschaft in gesteigerter Form ausgelebt

werden kann. Die Arena muss sich nicht länger wie ein Stadion harmonisch in die

Landschaft eingliedern, wie beispielsweise das Olympiastadion in München, das sich

als Teil einer Parkanlage versteht, sondern die Arena kann in ihrer wuchtigen und

kolossalen Gestalt auch äußerlich das darstellen, was als Leidenschaft in ihrem Inneren

wirkt: ,,Pure, kraftstrotzende Form“ (Matzig 2005: 13). Die Arena ist ein Zweckbau und

die überall entstehenden neuen Arenen sind nicht die schönsten Stadien, als die sie

vielfach tituliert werden, sondern schlicht die ihren Zweck rational umsetzenden besten

Arenen. Matzig (2005: 13) schreibt folglich über die neue Arena in München, dass ,,es

im Grunde das brutalste, radikalste und das im einfachsten Sinn am wenigsten Schöne,

also harmonisch ausbalancierende, versöhnende, einnehmende Stadion ist“ und das es

,,die Modernität seiner Form mit der Archaik seines Inhalts kurzschließt. [...] Genau

darin liegt die singuläre Qualität und immense Emblematik der Arena. Ihre Schönheit

ist die der Kompromisslosigkeit“.

Hinsichtlich des Prinzips der ’placelessness’ sei noch Folgendes kurz erwähnt:

Einerseits ermöglicht es die Steigerung der Leidenschaft auf Seiten der Zuschauer,

andererseits aber wird auch diese eben gerade durch die ’placelessness’ einer gewissen

Uniformität unterworfen. Nielsen (1995: 24) schreibt: ,,The stadium too, is just such a

placeless site, encouraging the same behaviour among both athletes and crowd”. Das

Zuschauerverhalten als Ausleben von Leidenschaften mag zwar in gesteigerter Form

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geschehen, doch es gleicht sich überall. Aus einer die Masse kontrollierenden

Perspektive betrachtet weiß man in gewisser Weise, was man zu erwarten hat und kann

sich darauf einstellen. Indem sich das Zuschauerverhalten gleicht, hervorgerufen durch

die homogene architektonische Struktur, die wie oben erläutert wurde, mit der

’placelessness’ der Arenen verbunden ist, wird das Verhalten der Masse vorhersagbar,

abschätzbar und damit auch kontrollierbar: ,,The homogeneity of design and

construction ensures a common code which is predictable and invariable from one place

to another“ (Nielsen ebd.: 24).

Die mit der ’placelessness’ einhergehende architektonische Uniformität des

Stadionraumes und die Unverbundenheit mit der Umgebung erschweren es dem

Individuum, einen persönlichen und emotionalen Bezug zum Stadionraum selbst

herzustellen. Allerdings lassen sich unter dem Konzept der ’topophilia’ (vgl. Tuan 1974)

auch gegenläufige Tendenzen erkennen. Nielsen (1995: 26) umschreibt dieses Konzept

wie folgt: ,,Topohilia refers to the ties that unite humans and their material surrounding,

escpecially the ties that combine emotion and place”. Darauf sei an dieser Stelle

verwiesen, weiter verfolgt werden soll diese Thematik in dieser Arbeit allerdings nicht

(vgl. Tuan 1974 / Bale 1993: 64ff.).

11. Die disziplinierende Wirkung der Arenenarchitektur

Trotz aller Leidenschaft, die in der Arena und durch ihre Architektur entfacht und

gesteigert werden soll, erscheint an dieser Stelle ein Hinweis auf die disziplinierende

Wirkung der Arenenarchitektur notwendig. Bereits im ersten Teil dieser Arbeit wurde

darauf hingewiesen, dass von der Architektur des Stadions zu einem gewissen Grad eine

die Masse disziplinierende Wirkung ausgeht: ,,The crowd in the stadium submits

patiently to the formulas and structures of mass accomodation“ (van Winkel 2000: 16).

Dieser Überlegung sollen jetzt in Bezug auf die Arena noch ein paar Gedanken

hinzugefügt werden.

Die moderne Arena pendelt in ihrer architektonischen Gestalt zwischen Wuchtigkeit

und Leichtigkeit, versucht sie doch in ihrer Architektur mit der Ausrichtung auf einen

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Page 74: Disziplin und Leidenschaften: Raumsoziologische und ... · PDF fileInhaltsverzeichnis 1. Einleitung 1 2. Die Masse – eine erste Annäherung 3 2.1. Der negative Massenbegriff bei

bestimmten Zweck beides miteinander zu verbinden. Die Architektur der antiken Arena

zeichnete sich durch ihre wuchtige äußere Gestalt und ihre kolossale Größe aus. Auch

die neuartigen Arenen orientieren sich an diesem Prinzip, sind sie doch hochaufragende

und riesenhaft wirkende Gebäude, die allein schon in ihrer Außenwirkung einen

einschüchternden und disziplinierenden Effekt haben, ganz so, als wolle die Architektur

der Arena das einzelne Individuum klein und nichtig wirken lassen.

Diese in gewisser Weise abschreckende äußere Gestalt versuchen die Arenen der

neueren Generation zu verbergen, indem sie sich vielfach mit einer aus Glas, Kunststoff

und Leichtmetall bestehenden architektonischen Außenhaut umgeben. Diese Außenhaut

soll trotz der immensen Größe der Arena und der Schwere der Masse, die sie

beherbergt, Leichtigkeit im Auftritt und trotz der räumlichen Abgeschlossenheit

Transparenz in der Gestalt vermitteln. Van Winkel (2000: 17) beschreibt diesen Trend in

der modernen Stadionarchitektur wie folgt: ,,When it came to designing mass facilities

it tended to disavow the weight of the crowd. The aesthetic rhetoric of modern

architecture was all about lightness, transparency, immateriality […]”. Exemplarisch

kann dafür wiederum die neue Arena in München genannt werden, deren aus Luftkissen

bestehende Außenhaut der Arena eine Leichtigkeit verleiht, die sie förmlich schwebend

wirken lässt, und über die Makowsky (2005: 59) schreibt: ,,Das riesige Bauwerk, 45

Meter hoch und umhüllt von Tausenden milchigweißer Waben, scheint über dem Boden

zu schweben; der Koloss wirkt beinahe leicht, was unbegreiflich ist angesichts der

Massen von Beton und Stahl, die in ihm stecken“. Knapp (2005: 15) erkennt in der

Außenfassade der Arena eine ,,prall geschnürte, und doch luftig leicht wirkende

Außenhaut [...]“ und Alexander (2005: 37) beschreibt deren eigentlichen Zweck: ,,Die

Massivität des Betonbaus wird kaschiert, das gewaltige Stadion erhält dadurch etwas

Schwebendes“.

Die Leichtigkeit und die äußere Transparenz der Arena bleiben aber dennoch nur eine

scheinbare, ein schöner äußerer Schein, eine Hülle, die den wahren Geist der Arena zu

verstecken versucht. Die Härte vermittelnde wuchtige Größe und die räumliche

Abgeschlossenheit der Arena bleiben trotzdem ihre obersten Prinzipien. Die in der

äußeren Gestalt der Arena also nur angedeutete Transparenz ist aber als ein erster

Hinweis darauf zu verstehen, was im Inneren der Arena vor sich geht, denn in der

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spezifischen architektonischen Konstruktion der Arena zeigt sich, ,,wie sehr das Äußere

dennoch an die Funktion zurückgebunden bleibt, der die Räume dienen sollen [...]“

(Mack 1994: 10). Denn die in der äußeren Gestalt der Arena angedeutete Transparenz

wandelt sich im Inneren der Arena zu einer realen. Die Transparenz ist vielmehr als eine

in das Innere der Arena gewendete Transparenz zu verstehen, als eine Transparenz, die

auf die Besucher angewendet wird, geht es in der panoptischen Arena doch um die

Sichtbarmachung der Individuen, ihre Transparenz und vollkommene Durchleuchtung.

Die Arena in Lissabon trägt dieses Verständnis einer nach innen gerichteten Transparenz

als Sichtbarmachung selbst in seinem Namen, Estadio de la Luz, und die Arena im

japanischen Oita heißt treffend “Big Eye“. Und auch Pierre de Meuron (2002: 43),

Architekt der neuen Arena in München, bestätigt das Prinzip der nach innen

gewendeten Transparenz, wenn er sagt: ,,Das Stadion ist ein Lichtobjekt, ja, ein

Lichtobjekt im Münchner Norden“.

Die architektonische Außenhaut bleibt also letzten Endes eine Hülle oder ein Vorhang,

der zwar in gewisser Hinsicht etwas verbergen kann, wer aber dahinter schaut, sprich in

das Innere der Arena eintritt, erblickt ihre wahre Bestimmung und ist ihrer alles

dominierenden Wirkung geradezu hilflos ausgeliefert: ,,Das alles ist eine gewaltige

optische Täuschung. Denn in seinem Inneren ist das neue Stadion ein kühl kalkulierter

Zweckbau. Weiche Schale, harter Kern [...]“ (Hoeltzenbein 2005: 41). Das unter der

Hülle liegende architektonische Skelett der Arena aus Stahl und Beton vermittelt eine

an das einzelne Individuum gerichtete Härte und Gnadenlosigkeit, die für seine von der

Architektur der Arena ausgehende Disziplinierung benötigt wird. Beim Eintreten in den

Innenraum der Arena wird ihre von außen noch kaschierte Größe und Wucht mit einem

Blick sichtbar: ,,Wie die drei Ränge steil über dem Rasen aufragen, wie das Rund des

Daches eine Kesselatmosphäre erzeugt, die kalte Ästhetik des Betons – die Leichtigkeit

der äußeren Erscheinung weicht hier einer gewissen Brutalität“ (Makowsky 2005: 59).

Das Individuum wirkt im riesenhaften Innenraum der Arena geradezu verloren,

erschlagen von den schieren Ausmaßen. Herzog (2002: 20), Architekt der Münchener

Arena, verweist auf diese Wirkung der Architektur der Arena als seine Intention bei

ihrer Planung: ,,Der Stadionraum soll die Leute schlicht umhauen“. Und auch Matzig

(2005: 13) stellt diesbezüglich fest: ,,Wer seinen schalenförmigen Silberplastiksitz

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ansteuert, wird durch einen winzigen Auslass gespeist, auf dass der Arena - Raum beim

Betreten der Ränge wie ein Naturereignis über den Besucher hereinbreche“. Die

gigantischen Ausmaße im Innenraum der Arena drücken das Individuum förmlich in

seinen Sitz und halten es damit gewissermaßen an diesem ihm zugewiesenen Ort fest.

Das Individuum wird dadurch auf sich selbst zurückgeworfen, bleibt in sich selbst

gefangen und innerhalb seiner eigenen Schranken verwiesen. Der riesenhafte

Innenraum der Arena erschließt sich dem Individuum somit einzig über das Sehen. Auf

eine andere Weise vermag sich der Einzelne zur Arena nicht in Bezug setzen. Die

Architektur fordert und fördert damit eine visuelle Involvierung des Individuums, denn

ein anderes Verhalten lässt die Architektur der Arena nicht zu. Diese

Verhaltenssteuerung ist ihr architektonischer Plan. Relph (1981: 104) formuliert treffend

in Bezug auf moderne Landschaften, zu denen Arenen zu zählen sind: ,,There is almost

nothing in them that has not been conceived and planned [...], there is almost nothing in

them that can happen spontaneously, autonomously or accidentally […]”. Und an

anderer Stelle weist er auf die bereits in der Architektur festgeschriebene Art der

Involvierung hin und nennt einige charakteristische Merkmale, die, wie gezeigt wurde

auch für die modernen Arenen gelten, denn er beschreibt moderne architektonische

Objekte als ,,huge and often spectacular in both their scale and design. But they are also

frequently awful, dwarfing people, lacking detail, allowing no involvement except that

which is prescribed in the plans” (ebd.: 211).

12. Der Stadionbesuch als Fest

Die Tatsache, dass innerhalb von Stadien Leidenschaften ausgelebt werden können, und

dass dies im Stadion in gesteigerter Form geschieht, wird gerade dadurch unterstützt,

dass der Stadionbesuch selbst als Fest verstanden werden muss. Caillois (1988: 130)

erkennt im Fest ,,eine Zeit intensiver Gefühle“, und auf das Wesen des Festes, das das

zügellose Ausleben von sonst verbotenen Leidenschaften ermöglicht, weist Freud

(1956: 157) in seiner Definition des Festes hin: ,,Ein Fest ist ein gestatteter, vielmehr

eine gebotener Exzess, ein feierlicher Durchbruch eines Verbots“. Ausschweifendes

Verhalten ist erlaubt, denn ,,der Exzess liegt im Wesen des Festes; die festliche

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Stimmung wird durch die Freigebung des sonst Verbotenen erzeugt“ (ebd.: 157). An

anderer Stelle bezeichnet Freud (1977: 70) die Feste sogar ,,als vom Gesetz gebotene

Exzesse“. Das Fest beinhaltet demnach die Möglichkeit zu exzessivem Verhalten und

dem Ausleben von sonst verbotenen Leidenschaften, und auch Bausenwein (1995: 179)

erkennt darin eine der zentralen Bestimmungen des Festes: ,,Feste sind immer [...]

Exzesse der Gefühle“. In dieser Möglichkeit zum Exzess liegt der Reiz des

Stadionbesuchs als Fest. Der Reiz liegt für die Besucher in der Tatsache ,,genau das,

und zwar bis zum Überdruss zu tun, was in der Wirklichkeit die Verbote am meisten

untersagen“ (Caillois 1965: 154). Im Fest wird das Überschreiten der sonst das

Verhalten regulierenden Grenzen ermöglicht, denn die Situationen des Festes sind

solche, die ,,zu Exzessen führen und die Grenzen zwischen dem Erlaubten und dem

Unerlaubtem aus den Augen geraten lassen“ (Durkheim 1981: 515). Gebhardt (1987:

37) kommt in seiner Auseinandersetzung mit Durkheim und dessen Verständnis vom

Fest zu dem Schluss, dass das Fest als eine Verhaltenssituation gekennzeichnet werden

kann, ,,in der die alltäglichen Grenzen zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem

aufgehoben sind“.

Das Fest ermöglicht das Abstreifen von disziplinierenden Verhaltensnormen, sodass das

Fest gekennzeichnet ist durch ,,die Freiheit des Außerkraftsetzens zivilisierter

Verhaltensnormen“ (Prosser 2002: 270). Die Individuen nämlich dürfen sich während

des Stadionbesuchs, also während des Festes, ,,wie Narren benehmen, durch Rufen,

Singen, Gestikulieren und Schimpfen“ (Bale 1997: 45). Und auch Canetti (1980: 65)

erkennt im Fest und im Verhalten der an ihm Beteiligten diese Tendenz, denn er

schreibt: ,,Viele Verbote und Trennungen sind aufgehoben, ganz ungewohnte

Annäherungen werden erlaubt und begünstigt. Die Atmosphäre für den einzelnen ist

eine der Lockerung [...]“.

Zusammenfassend lässt sich sagen, ,,dass für den Zeitraum des Festes Verstöße gegen

die alltäglichen Ordnungen und Normen erlaubt sind“ (Gebhardt 1987: 56), denn ,,das

Fest lebt vom Abschütteln der Ordnungen“ (Küchenhoff 1989: 111).

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Architektur versucht, die Stimmung bis

zur Ekstase zu steigern. Darauf zielt auch das Fest, denn das Fest versucht, das

Individuum unter anderem durch die Freisetzung von sonst verbotenen Handlungen und

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Verhaltensweisen in einen exstatischen Zustand zu versetzen. Die Ekstase ist konstitutiv

für das Fest, denn in der Ekstase erschließen sich dem Individuum die ihm sonst durch

Disziplin und Kontrolle verwehrten Leidenschaften: ,,Die idealtypische Handlungsform

des Festes ist die Ekstase, ein Handeln also, das ein Außersichsein, ein Entrücken von

der alltäglichen Welt meint. [...] Den Sinnen strömen Bilder und Empfindungen zu, die

ihnen sonst nicht zugänglich sind [...]“ (Gebhardt 1987: 54). Die Ekstase ermöglicht das

Erleben von Leidenschaft und ist damit an das Außerkraftsetzen von disziplinierenden

Verhaltensnormen gebunden, denn Gehlen (1975: 240 - 241) erkennt in der Ekstase die

,,Sprengungen des Alltags und der Alltagspflichten, Lockerungen von

Ordnungsgesetzen und Zuchtgewohnheiten“. Das Fest hat mit seiner spezifischen

,,Atmosphäre des Leichten, Lockeren und Gelösten“ (Gebhardt 1987: 56) die

Zielsetzung, ,,den beteiligten Individuen die Ablösung von der alltäglichen Wirklichkeit

zu erleichtern und sie zu einem Zustand hinzuführen, der in seiner reinsten Form mit der

Ekstase identisch ist“ (ebd.: 56). Der Stadionbesuch, verstanden als Fest, ermöglicht ein

ekstatisches Erleben von Leidenschaft und kann als rauschhaftes Gefühl beschrieben

werden, zu dessen Erlangung die üblichen Grenzen des Verhaltens überschritten werden

müssen. Caillois (1965: 151) sagt: ,,Ist die Grenze einmal überschritten, befindet man

sich tatsächlich in einer um vieles dichteren Welt als der des gewöhnlichen Lebens,

einem erregten, brennenden Strom, [...] einer fortgesetzten, erschöpfenden,

berauschenden Bewegung [...]“. Das rauschhafte Erleben von Gefühlen und die durch

das Fest ,,umgekehrten Normen bewirken, das der allgemeine Rausch zum

Kulminationspunkt“ (ebd.: 99) des Festes wird. Der Rausch ist das am intensivsten

erlebte Gefühl und der Moment der größten Verdichtung, und alles dies wird im Fest

ermöglicht: ,,Man will den Rausch bis zur Erschöpfung, bis zum Umfallen. Das ist das

eigentliche Wesen des Festes“ (Caillois 1988: 128).

Die bisherigen Erläuterungen haben gezeigt, dass sich das Fest wesentlich vom Alltag

unterscheidet, denn Gebhardt (ebd.: 57) stellt treffend fest: ,,Während des Festes ist

mehr erlaubt als im Alltag“. Wie deutlich geworden ist, stehen das alltägliche Leben

und das Fest in einem deutlichen Gegensatz zueinander, was die zum jeweiligen

Zeitpunkt spezifischen Verhaltensweisen betrifft: ,,Der Überschwang des Festes steht im

Gegensatz zum regelmäßigen, friedlichen Leben, das [...] in ein System von Verboten

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Page 79: Disziplin und Leidenschaften: Raumsoziologische und ... · PDF fileInhaltsverzeichnis 1. Einleitung 1 2. Die Masse – eine erste Annäherung 3 2.1. Der negative Massenbegriff bei

und Vorsichtsmaßnahmen eingebunden ist [...]“ (Caillois 1988: 127). Das Fest steht

allerdings nicht nur im Gegensatz zum Alltag, sondern geht darüber hinaus, denn

Gebhardt (1987: 57) erkennt eine zentrale Wichtigkeit des Festes darin, das es ,,die

zeitweilige Aufhebung der alltäglichen Wirklichkeit“ ermöglicht. Dieser Schritt

ermöglicht letzten Endes erst das zügellose Ausleben von Leidenschaft, denn würde die

alltägliche Wirklichkeit noch existieren, wäre ihr gegenüber ein solches Verhalten nicht

zu rechtfertigen.

Der Stadionbesuch als Fest muss demnach als eine Situation beschrieben werden, in der

die alltägliche Wirklichkeit aufgehoben ist, und auch Prosser (2002: 275) kennzeichnet

den Stadionbesuch als ,,die Ausgrenzung aus der sonstigen Wirklichkeit“, was das

ungestrafte Ausleben von Leidenschaften, das Überschreiten von Grenzen und Brechen

von Verhaltensnormen rechtfertigt: ,,In jedem Stadion geschieht Außeralltägliches,

werden die Regeln des Benimms mit Füßen getreten [...]“ (Bausenwein 1995: 180).

Die Gleichsetzung des Stadionbesuchs mit dem Fest hat gezeigt, dass, wenn sich der

Stadionbesuch selbst als Fest versteht, das ungehinderte Ausleben von Leidenschaften

und das Verletzen von Verhaltensnormen gerechtfertigt sind. Disziplin und

Verhaltenskontrolle werden in ihr Gegenteil gekehrt. Der Stadionbesuch als Fest

beinhaltet folglich eine gewisse Gefahr, die von den Besuchern ausgeht: ,,Ein Fest

bedeutet, dass eine erregte, lärmende Menschenmenge zusammenkommt. Solche

massiven Ansammlungen begünstigen in höchstem Grade das Aufkommen, die

Übertragung einer Exaltation, die sich in Schreien und Gebärden verausgabt und dazu

disponiert, sich unkontrolliert völlig unüberlegten Antrieben hinzugeben“ (Caillois

1988: 127). In der im Fest zu beobachtenden ,,kollektiven Entfesselung“ (ebd.: 127)

liegt eine Bedrohung, und auch Durkheims (1981: 514) Beschreibung des Festes deutet

auf ein gewisses Gefahrenpotential hin, denn das Fest ,,hat auf jeden Fall die Wirkung,

die Individuen einander näher, Massen in Bewegung zu bringen und auf diese Weise

eine Erregung zu entfachen (manchmal sogar eine Raserei) [...]. Der Mensch gerät außer

sich [...]“. Gebhardt (1987: 54) sieht im Fest selbst ein unkontrollierbares Wesen,

beschreibt er es doch als ,,ein unregelmäßiges, ungeordnetes und unplanbares

Geschehen“.

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Page 80: Disziplin und Leidenschaften: Raumsoziologische und ... · PDF fileInhaltsverzeichnis 1. Einleitung 1 2. Die Masse – eine erste Annäherung 3 2.1. Der negative Massenbegriff bei

Das Fest zeichnet sich also durch einen gewissen Grad der Ungewissheit aus. Diese

Ungewissheit betrifft die zu erwartenden Handlungen der Teilnehmer des Festes, den

Zeitpunkt, die Dauer und den Ort des Festes sowie den genauen Verlauf: ,,So ist weder

der genaue Zeitpunkt des Beginns, noch die exakte Dauer eines Festes eindeutig

bestimmt. Ebenso wenig ist von vornherein weder die Art des Verlaufs noch dessen

inhaltliche Ausfüllung festgelegt“ (ebd.: 54). Das Fest beinhaltet demnach hinsichtlich

der erwähnten Aspekte eine Unberechenbarkeit. Das Stadion und die Arena treten

dieser Unberechenbarkeit entgegen, indem sie den Ort und den Zeitpunkt des Festes

festlegen und damit eine kontrollierende Wirkung über das Fest selbst, seinen Verlauf

und seine Teilnehmer ausüben. Diese Aspekte sollen in Kapitel 13 weiter analysiert

werden. Insgesamt wird hierin der zweideutige Charakter des Stadions, innerhalb dem

das Fest und die damit verbundenen Ereignisse stattfinden, wieder überaus deutlich.

13. Arena und Stadion als Festplatz: Ort und Zeit des Verbotenen

Mit der Arena oder dem Stadion ist ein spezifischer Raum für das Fest geschaffen

worden, denn sie sind ,,Festplätze unserer Zeit“ (Verspohl 1976: 186) . Das Stadion oder

die Arena legen den Ort des Festes fest, grenzen ihn sichtbar von anderen Räumen ab

und heben ihn dadurch gegenüber anderen heraus. Allein schon durch die exponierte

Stellung des Stadions wird die in seinem Inneren freigesetzte Leidenschaft intensiviert

und erhöht, denn ,,schon die Tatsache, dass die Arenen des Massenvergnügens meist am

Rande der Städte angesiedelt sind, deutet darauf hin, dass sie außerhalb des Normalen

stehen“ (Bausenwein 1995: 162). In der räumlich abgeschlossenen Arena wird

deutlicher noch als im Stadion die Ausgrenzung und Abgrenzung sichtbar: ,,Dieser

Raum - und seine innere Zeit - sind von Raum und Zeit der sie umgebenden Alltagswelt

abgegrenzt“ (Gumbrecht 1998: 218). Prosser (2002: 271) erkennt im architektonischen

Werdegang vom Stadion zur Arena ,,die Entwicklung des spezifischen, abgegrenzten

Veranstaltungsortes“ und die Tendenz zur ,,vollständigen Reservierung und

Komprimierung des Veranstaltungsortes“ (ebd.: 275). Die räumliche Abgrenzung der

Arena als Ort des Festes ermöglicht einerseits einen kontrollierenden Überblick über

das Fest, andererseits wird das Fest durch die Abschottung von der Außenwelt in sich

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Page 81: Disziplin und Leidenschaften: Raumsoziologische und ... · PDF fileInhaltsverzeichnis 1. Einleitung 1 2. Die Masse – eine erste Annäherung 3 2.1. Der negative Massenbegriff bei

erhöht und steigert sich in und an sich selbst, denn ,,indem die Zuschauer ihre

Aufmerksamkeit dem Geschehen in diesem Innenraum zuwenden, kehren sie dem

gewöhnlichen Leben im wahrsten Sinne des Wortes den Rücken zu“ (Bausenwein 1995:

162). Die Arena ist ein für das Fest spezialisierter Raum, und Prosser (ebd.: 275) sagt:

,,Der Stadionbau definiert inzwischen geradezu den spezifischen Fest – Platz und

monumentalisiert ihn sogar“.

Die Arena als Festplatz bestimmt räumlich ein Innen und Außen und macht damit

deutlich, wo ein zügelloses Ausleben der Leidenschaft erlaubt ist und wo nicht, denn

nur der abgegrenzte Raum der Arena ,,represents a liberation from the regimes of

normative practices and performance codes of mundane life” (Shields 1991: 84). Nur im

inneren Raum der Arena findet sich der Ort, wo das Verbotene erlaubt ist, denn ,,sicher

ist, dass das, was im Stadion passiert, außerhalb seiner Begrenzungen in der Regel nicht

stattfindet“ (Bausenwein 1995: 163). Mit dem Stadion und der Arena sind räumlich

begrenzte Orte geschaffen worden, die eine auf das Verhalten des Individuums

bezogene Normüberschreitung erlauben, was Gebhardt (1987: 167) zu der treffenden

Aussage führt, von einer ,,Ausgelassenheit in exakt überwachten Grenzen“ zu sprechen.

In ähnlicher Weise äußert sich Nielsen (1995: 34), der in Bezug auf moderne Stadien

diesen Aspekt als ,,joy behind the fences“ beschreibt. Die räumliche Begrenzung ist

notwendig, denn ,,offensichtlich soll das, was hier geschieht, auf diesen Innenraum

beschränkt bleiben. Nur hier, innerhalb des Kreises, darf der Mensch einmal vergessen,

dass er ein vernünftiges Individuum ist [...]“ (Bausenwein 1995: 163). Nur die Arena

und das Stadion sind der Raum und der Ort, der ,,eine emotionale Entladung im

Gebrüll, in Mimik und in Gestik erlaubt“ (ebd.: 462).

Neben die räumliche Abgrenzung tritt die zeitliche, denn die Arena öffnet sich nur zu

bestimmten und festgelegten Zeitpunkten als Festraum. Es handelt sich demnach um

eine räumliche und zeitliche Abgrenzung vom alltäglichen Geschehen. Krockow (1980:

38) weist auf diese zweifache Abgrenzung hin, denn die baulichen Maßnahmen

,,demonstrieren die Ausgrenzung als räumlich, und gerade die Zeit, die vorgegeben [...]

wird, demonstriert den Sachverhalt als zeitlichen“. Der Stadionbesuch als Fest ist an

einen gewissen Zeitraum gebunden, und nur innerhalb dieser festgelegten Zeit ist das

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grenzenlose Ausleben der Leidenschaften erlaubt. Caillois (1988: 150) schreibt dazu:

,,Das Fest [...] ist eine Zeitspanne, in der die Weltordnung aufgehoben ist. Aus diesem

Grund sind zu dem Zeitpunkt Exzesse gestattet. Man darf den Regeln zuwiderhandeln.

Alles muss umgekehrt werden“. Auch Bausenwein (1995: 175) betont, dass die

Freigabe des Verbotenen an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden ist, denn in einer

Arena findet ein ,,kollektiver emotionaler Ausstieg statt, während dem all die

Rollenzwänge, Verhaltensmaßregeln und Normen, die den gewohnten Ablauf des

Lebens bestimmen, für eine begrenzte Zeit aufgebrochen, ja abgelegt werden können“.

Und Canetti (1980: 25) fügt hinzu: ,,Für die Dauer ihres Aufenthalts in der Arena

scheren sie sich um nichts [...]. Sie lassen das Leben ihrer Beziehungen, ihre Regeln und

Gewohnheiten zurück“.

Die bereits erwähnte Aufhebung der alltäglichen Wirklichkeit ist nur eine temporäre,

denn der Stadionbesuch als Fest ist eine Situation, in der die ,,alltägliche Wirklichkeit

auf Zeit aufgehoben ist“ (Gebhardt 1987: 63). Das Stadion oder die Arena

repräsentieren baulich die räumliche Ausgrenzung von der alltäglichen Wirklichkeit der

Welt, und diese Ausgrenzung verschränkt sich mit der zeitlichen Aufhebung der

Wirklichkeit während des Stadionbesuchs. Diese beiden Aspekte werden von Prosser

(2002: 271) treffend definiert, wenn er ,,das Stadion als Festplatz der Weltausgrenzung“

bezeichnet und den Stadionbesuch als die ,,Weltausgrenzung auf Zeit“ (ebd.: 275)

benennt. Zusammenfassend beschreibt Bale (1997: 35) Stadien als ,,abgegrenzte

Räume, in denen sich Menschen zu festgesetzten Zeiten von den Verhaltenskodes des

Alltags befreien“.

Die Tatsache, dass es sich beim Stadionbesuch als Fest um eine zeitlich und räumlich

limitierte Grenzüberschreitung des Verhaltens handelt, beinhaltet eine disziplinierende

Funktion, die auf das Verhalten des Individuums vor und nach dem Fest gerichtet ist,

denn Gebhardt (1987: 54) stellt fest, ,,dass alle am Fest Beteiligten wissen, dass das Fest

nur momentanen Wesens ist, dass nach seiner Beendigung die Rückkehr in den Alltag

ansteht“. Die Rückkehr in den Alltag bedeutet aber auch das wieder Annehmen der

disziplinierenden Verhaltensnormen. Gebauer und Hortleder (1986: 85) erkennen bei

modernen Sportveranstaltungen, die sie als Show beschreiben, ,,das weitgehend

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unbehinderte Ausleben von Wünschen und Emotionen während der Show und das

Wiedereintreten des Normalzustandes danach“. Indem die Verhaltensnormen wieder

angenommen werden, erfahren sie wiederum eine Bestätigung und werden sogar

inhaltlich gestärkt, denn die Existenz dieser Normen wird nicht grundsätzlich in Frage

gestellt, sie werden nur vorübergehend aufgehoben. Im Stadionbesuch als Fest und

damit als das Durchbrechen der das Verhalten reglementierenden gültigen Normen

werden gleichzeitig die alltäglich bestehenden Normen bekräftigt: ,,Wenn sich im Fest

das nicht Gestattete zu Durchbruch verhilft, dann ist es ex negativo an jenes Gesetz

gebunden, das es übertritt, so dass es nur umso mehr das durchbrochene Gesetz bejaht“

(Küchenhoff 1989: 104). Das Fest als die Negation der bestehenden Verhaltensnormen

führt im Endeffekt zu deren Reproduktion, denn ,,im Exzess, im Durchbrechen eines

Tabus wird nicht einfach ein Verbot unterlaufen, ein Symbol außer Kraft gesetzt,

vielmehr wird ein Zusammenhang gestiftet“ (ebd.: 104). Das Fest als das Durchbrechen

von Tabus ist nur möglich und mit Sinnhaltigkeit belegt, weil die alltäglichen

Verhaltensnormen existieren und das Fest trotz der temporären Aufhebung dieser

Normen stets auf sie rekurriert: ,,Das Fest als außeralltägliches Ereignis spiegelte das

Ganze der alltäglichen Wirklichkeit wieder, indem es sie aufhob“ (Gebhardt 1987: 170).

Die Idee des Festes als Aufhebung von Verboten bewirkt in der Rückwirkung, ,,dass sie

das Verbot reaktiviert [...] und verstärkt“ (Baudrillard 1982: 249).

Darüber hinaus gibt sich das Fest, und damit auch der Stadionbesuch, durch die

räumliche und zeitliche Festlegung einen institutionellen Rahmen. Dieser ermöglicht

den Teilnehmern das Ausleben von Leidenschaften, wirkt aber zugleich beschränkend.

Gebhardt (1987: 82) bezeichnet das Fest in diesem Sinne als eine Form, in der

,,außeralltägliches Handeln auf Zeit institutionalisiert ist“ und spricht von ,,dem Fest als

der Institutionalisierung des emotionalen / affektuellen“ (ebd.: 50). Caillois (1965: 99)

bezeichnet diesen Aspekt, der letzten Endes auch auf den zweideutigen Charakter des

Stadions als Festplatz verweist, treffend, wenn er ,,das Fest [...] die zur Regel

gewordene Regellosigkeit [...]“ nennt.

14. Der Stadionbesuch: Die feierliche Selbstvergewisserung der Masse

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Die Sitzplätze in den Stadien verhindern die Massenbildung im klassischen Sinne, und

anstatt Massen zu bilden, werden zunehmend Individuen produziert. Trotzdem aber

besteht offenbar auf Seiten der Individuen das Bedürfnis, sich im Stadion als Teil einer

Masse zu fühlen und sich der eigenen Massierung selbst zu vergewissern. Die bereits

beschriebenen neuen Massenformen, die visuelle, imaginäre und auditive Masse, sind

ein Beispiel für diese ,,Selbsterfahrung der Massen“ (Verspohl 1976: 1). Dem Bedürfnis

der Selbstvergewisserung der Masse als eben eine solche sollen nun noch einige

Gedanken hinzugefügt werden.

Eine Form der Selbstvergewisserung der Masse besteht darin, dass sich die Masse beim

Stadionbesuch in erster Linie nicht auf das im Innenraum des Stadions stattfindende

Ereignis bezieht, sondern sie richtet sich allein auf sich selbst aus: ,,Denn eigentlich ist

so ein Amphitheater recht gemacht, dem Volk mit sich selbst zu imponieren, das Volk

mit sich selbst zum besten zu haben“ (Goethe 1993: 44).

Die modernen Stadien mit ihren zunehmend vorzufindenden runden Zuschauerrängen

symbolisieren diesen Aspekt, denn sie ermöglichen es der Masse, sich selbst gegenüber

zu sitzen und sich selbst im Blick haben zu können. Canetti (1980: 25) beschreibt dies

als ,,die Masse, die sich selber so zur Schau stellt“. Dabei hilft ihr die spezifische

panoptische Architektur des Stadions, denn sie sorgt dafür, dass die Masse sich ständig

selber im Blick hat. Goethe (1993: 45) schreibt über das Amphitheater in Verona, das

diesen Zweck architektonisch erfüllt: ,,Die Simplizität des Ovals ist jedem Auge auf die

angenehmste Weise fühlbar [...]“. In der spezifischen Architektur der Stadien der

neueren Generation erkennt Alexander (2005: 37) eine ,,Annäherung an Goethes Oval“

, und das Stadion fungiert als baulich realisierter ,,Selbstbezug der Zuschauermassen“

(ebd.: 37), denn ,,in der “Simplizität des Ovals“ sieht das Publikum sich auf sich selbst

zurückgeworfen“ (Hildenbrandt 1994: 170). Für Bernard (1986: 51) fungieren Stadien

als ,,Räume gesellschaftlicher Erinnerung“, die den Menschen dazu dienen, ,,sich

gegenüber sich selbst präsent zu machen“ (ebd.: 51), und Nielsen (1995: 35)

schlussfolgert: ,,Letting its presence be known, is probably the stadium crowd’s most

important characteristic, not least from its own point of view“.

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Der Stadionbesuch ist als Fest beschrieben worden, das trotz aller Reglementierungen

hinsichtlich Ort und Zeit ein letztes Maß an Ungewissheit und Unplanbarkeit beinhaltet,

die sich auf den Verlauf und die inhaltliche Ausgestaltung des Festes beziehen.

Niemand kann garantieren, dass es ein schönes Fest wird, nach dem alle befriedigt

wieder nach Hause gehen.

Die Zuschauer im Stadion treten dieser Ungewissheit beim Stadionbesuch, der ihr

spezielles Fest ist, entgegen, indem sie sich selbst feiern: ,,Das Stadion ist also nicht

mehr in erster Linie der Ort, wo man ein Fußballspiel sieht; [...] Im Fußballstadion

feiern die Fans sich selbst“ (Schümer 1998: 33). Sie feiern ihr eigenes Dasein und ihr

Beisammensein, worin auch der schon von Schümer angedeutete sekundäre Charakter

des im Stadion stattfindenden Ereignisses sichtbar wird: ,,Das sportliche Geschehen

kann dabei ab einem bestimmten Punkt ziemlich belanglos werden. Dann wird das

Sportereignis zum Festival [...] Das Publikum zelebriert nicht länger die Sportler,

sondern sich selbst [...]“ (Bette / Schimank 1996: 64). Ähnlich formuliert es Alkemeyer

(2004: 61), der schreibt: ,,The noise and excitement generated by the fan block crowd

[...] is a spectacle, a visual feast staged by these fans for themselves and others”. Das

Beisammensein der Individuen als Masse und das Masse sein selbst sind das eigentliche

Ereignis, das es zu feiern gilt. So schreibt Meinhardt (1995: 44) treffend über die

Zuschauermasse bei einem Boxkampf: ,,Es hat sich eine Menschenmenge gebildet, die

sich etwas vormacht, wenn sie meint, es ginge ihr um diesen oder jenen Boxer oder gar

um das Boxen an sich. In Wirklichkeit interessiert nichts weniger als das. Sie strömt um

ihrer selbst willen zusammen. Dieser Mechanismus ist zeitlos und gilt selbstredend

nicht nur für den Sport“. Diese Aussage wird von Matzig (2006: 13) unterstützt, der

schreibt: ,,Es geht nicht um das Spiel und nicht um den Sport [...]. Es geht um eine Idee:

um die Idee der überörtlichen, beliebig transformierbaren Gemeinschaft. Es ist die Idee

einer neuen Art von Öffentlichkeit und gesellschaftlicher Selbstvergewisserung“.

Biermann (2004: 33) kommt zu dem Schluss, das sportliche Ereignis im Stadion

vollends zu negieren, wenn er sagt, ,,dass die Zuschauer sich selbst genug sind“. Das

sportliche Ereignis ,,und die Sportler sind nur noch der äußere Anlass, um ins Stadion

zu kommen“ (Bette / Schimank 1996: 64), denn ,,für das Ereignis in den Stadien aber

fühlen sich inzwischen vor allem die Zuschauer zuständig. Sie inszenieren sich selbst

und scheren sich immer weniger darum, wie auf dem Rasen gekickt wird“ (Biermann

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2004: 33). Was für die Zuschauer im Stadion wirklich zählt, das sind sie selbst und ihre

eigene Gegenwärtigkeit: ,,Die Masse, die sich selbst ins Angesicht sieht, ist das

eigentliche Spektakel der Spiele“ (Gebauer / Wulf 1988: 17).

Indem die Masse sich selbst feiert, bestätigt sie sich ihre eigene Existenz und erfährt in

den beschriebenen ,neuen Massenformen’ eine sinnliche Selbstvergewisserung

bezüglich ihres eigenen Daseins: ,,In der sinnlich fassbaren Massierung bestätigen sie

sich gegenseitig ihre eigene Realität“ (Kluge / Negt 1973: 76).

Der Stadionbesuch dient der Masse also als Selbstvergewisserung, als Raum zum

Erleben von Gemeinschaft in einer sonst durch Individualisierung geprägten

Gesellschaft. Der Stadionbesuch beinhaltet somit ,,die Möglichkeit des reflexiven

Erlebens. Hierbei handelt es sich um ein Erleben des Erlebens – beispielsweise eines

Erlebens gleichgesinnter oder gleichzeitig anwesender. Der Anonymität und Indifferenz

der individuellen Lebensführung [...] wird die gemeinsame Anwesenheit [...]

entgegengesetzt“ (Bette 1999: 204).

Als exemplarisch dafür, dass die Masse ihr eigenes Dasein und Beisammensein feiert

und in einem Akt der gemeinsamen Choreographie ihre Selbstvergewisserung

gleichsam aufführt, kann die ’La Ola Welle’ genannt werden: ,,La Ola, die Stadionwelle,

ist zum Sinnbild dieser selbstzündenden Freude der Besucher am Massendasein

geworden“ (Alexander 2005: 37). In der Stadionwelle, dieser ,,Eigeninszenierung“

(Stollenwerk 1996: 74), gibt sich die Masse selbst ein Bild und vergegenwärtigt sich so

ihrer eigenen Massierung. Die Stadionwelle La Ola ist dabei nicht als eine beliebige

Form oder ein zufälliges Produkt zu verstehen. Canetti nämlich schreibt, dass eines der

Symbole, das der Masse als Vorbild für ihre Konstitution und für ihr Selbstverständnis

dient und auch die ihr spezifischen Eigenschaften beinhaltet, das Meer ist (vgl. Canetti

1980: 81ff.). Die Masse der Menschen im Stadion greift das Bild des Meeres auf und

spiegelt es in seiner Choreographie der ’La Ola Welle’ wider, und die Individuen

erfahren in der Welle das für die Masse charakteristische Gefühl der Einheit und

Gleichheit: ,,Der dichte Zusammenhang der Wellen drückt etwas aus, das auch die

Menschen in einer Masse sehr wohl fühlen: eine Nachgiebigkeit gegen die anderen, als

wäre man sie, als wäre man nicht mehr abgegrenzt für sich [...]“(Canetti 1980: 87 – 88).

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Auf die Tatsache, dass die ’La Ola Welle’ letzten Endes nur der Masse selber dient, dass

sie an sie selbst gerichtet ist, und dass die Masse sich in der Choreographie der Welle

unabhängig vom im Stadion stattfindenden Ereignis selbst feiert, weist auch

Hildenbrandt (1994: 170) hin: ,,Ich denke, dass diese Welle nichts anderes ist als eine

neue gesteigerte Form der Kommunikation des Publikums mit sich selbst. [...] Die

Zuschauer schaffen das Ereignis, das sie erleben wollen selbst. [...] Aus dem mit den

Athletinnen und Athleten begonnenen Dialog ist ein berauschendes Selbstgespräch

geworden“. Die Selbstinszenierung der Masse in der ’La Ola Welle’ ist eine feierliche

Selbstvergewisserung, und dieses Verhalten der Masse beschreibt Nielsen (1995: 34)

treffend als ,,making its presence known and making a great fuss about it“. Die Masse

der Zuschauer gibt sich in der gemeinsamen Inszenierung ein Ereignis zu sehen, das sie

selbst sind.

Ähnlich beschreibt es bereits der Architekt Etienne - Louis Boullee (1728 – 1799),

dessen architektonische Skizzen zu seiner Zeit baulich noch nicht realisiert werden

konnten und zum Teil auch heute weiterhin utopisch anmuten. Dennoch aber greift die

von ihm formulierte Idee auch in den Stadien und Arenen unserer Zeit: ,,Man stelle sich

dreihunderttausend Menschen vor, vereint in einem Amphitheater, wo niemand den

Blicken der Menge entgehen könnte. Das würde einen einzigartigen Eindruck machen:

die Schönheit dieses erstaunlichen Schauspiels nämlich käme durch die Zuschauer

selbst und entstünde allein durch sie“ (Boullee 1987: 111). Aus dieser Aussage lässt sich

schließen, dass die Masse als ihr eigenes Schauspiel fungiert und sich darin selbst

bestätigt und vergewissert, denn es ist von ihrem eigenen Dasein abhängig.

15. Inszenierung von Gemeinschaft und Gleichheit

Wie Bette und Schimank (1996: 63) bemerken, geht ,,mit der gesellschaftlichen

Modernisierung [...] ein Gemeinschaftsverlust einher“. Der Ort des Stadions beinhaltet

offenbar den Sinn, diesem ,Gemeinschaftsverlust’ entgegenzuwirken: ,,Stadiums are

designed as meeting places for isolated individuals [...]“ (Alkemeyer 2004: 58). Die

Tatsache, dass der Stadionbesuch als Fest verstanden werden muss und entsprechend

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begangen wird, ermöglicht gerade das Erleben von Gemeinschaft und Gleichheit. Bette

(1999: 206 – 207) schreibt dazu: ,,Zentraler Bestandteil dieser Festivalisierung ist die

Inszenierung und Ermöglichung eines kollektiven Gemeinschaftserlebens“. Die oben

beschriebene Selbstvergewisserung der Masse wird in der Inszenierung als Fest

ermöglicht. Der Stadionbesuch als Fest stiftet ein kollektives Gemeinschaftserlebnis

und bildet somit zusammen mit dem Stadion einen Raum, der im Gegensatz zum

individualisierten und partikularisierten Alltag steht, in dem das Erleben und das Gefühl

von Gemeinschaft und Gleichheit nicht mehr erreicht werden können: ,,Die

Inszenierung von Gemeinschaft ist gerade in einer Gesellschaft, die das einzelne

Subjekt hochgradig individualisiert und vereinzelt, eine wichtige Quelle für eine

kollektive Identitätsvergewisserung“ (ebd.: 207). Der Stadionbesuch als Fest gestattet es

,,dem einzelnen wie der sozialen Gruppe, aus den partikulären Zersplitterungen des

Alltags auszubrechen und zurückzufinden zu einem Bewusstsein der Einheit“ (Gebhardt

1987: 169). Grundlage des Gemeinschaftserlebnisses ist die im Fest selbst angelegte

Gemeinschaftlichkeit, die darauf basiert, dass das Fest eine Gleichheit der Beteiligten

herstellt. Bausenwein (1995: 176) erkennt im Fest ,,die Bildung einer Gemeinschaft auf

Zeit mit der Tendenz zur Einebnung der sozialen Unterschiede [...]“. Die im Alltag die

Individuen trennenden Unterschiede werden im Fest weitgehend aufgehoben, und die

Individuen werden somit ,,im Fest, als einer Angelegenheit aller, wieder

zusammengebracht, ja sogar einander gleichgemacht“ (ebd.: 176). Eine ähnliche

Tendenz des Festes stellt Gebhardt (1987: 59) fest, wenn er schreibt: ,,Zwar muss nicht

immer die alltägliche Sozialordnung ins Gegenteil verkehrt werden, eine, mehr oder

weniger stark ausgeprägte, Einebnung der sozialen Unterschiede aber ist ein

wesentlicher Bestandteil des Festes“. Im Fest werden demnach soziale Unterschiede

nivelliert und das ist die Grundlage für ,,die gemeinschaftsbildende und

gemeinschaftsstabilisierende Kraft, die das Fest in aller Regel sein eigen nennen darf“

(ebd.: 171).

Die Stadien als spezifische Festorte werden somit ,,trotz der Fremdheit der Menschen

untereinander zu Orten der sozialen Verdichtung. Hier rückt zusammen, was sonst durch

Unterschiede voneinander getrennt ist. [...] Das Fest nivelliert die Anwesenden und

vereint sie durch die Nähe der Körper und das gemeinsame Erleben. [...] Im Rausch des

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Festes verschmilzt das Ich im Wir“ (Bette 1999: 207 – 208). Knapp (2005: 15)

bezeichnet das Stadion im Sinne des Festplatzes treffend als ,,Ort für den Rausch, für

das kompakte Gemeinschaftserlebnis“, Gebauer und Hortleder (1986: 267) beschreiben

,,die Stadien als Orte des Massenerlebens“ und Matzig (2001: 13) kennzeichnet ,,das

Stadion als architektonischen Ort der Gemeinschaft“. Schümer (1998: 33) bezeichnet

das Stadion, das darin stattfindende Stadionspektakel und den Stadionbesuch als

Momente ,,der letzten Selbstinszenierung von Gesellschaft“. In der durch Vereinzelung

geprägten modernen Gesellschaft wird der gemeinsam rauschhaft erlebte und festlich

zelebrierte Stadionbesuch ,,zum eigentlichen Band des kollektiven Daseins“ (Caillois

1965: 99) und ermöglicht ein Gemeinschaftserlebnis, das die ,,Individuen einander

annähert, zusammenführt und in eine innere Verbindung treten“ (ebd.: 99) lässt. Der

Stadionbesuch fungiert in den Worten Matzigs (2006: 13), quasi als Steigerung zum

obigen Zitat von Schümer zu verstehen, als ,,Inszenierung einer verloren gegangenen

Gemeinschaft“.

Die Inszenierung von Gemeinschaft und Gleichheit aber verweist dabei gleichzeitig

auch auf den eigentlich utopischen Charakter dieser Idee. Denn eine Inszenierung bleibt

eine Aufführung, sie ist fiktiver Natur und nur angenommen, aber nicht real. Warum die

Inszenierung von Gemeinschaft beim Stadionbesuch dennoch so erfolgreich gestaltet

und als wirklich existierend erlebt werden kann, liegt in der spezifischen Situation ihrer

Rezipienten begründet, worauf Alkemeyer (1996: 221) hindeutet: ,,Eine Inszenierung

[...] ist vielmehr erst dann realisiert, sie existiert erst dann als eigene Welt von

Bedeutungen, Vorstellungen und Gefühlen, wenn die Rezipienten sie auf der Basis ihrer

subjektiven Sinnlichkeit, ihres alltäglichen Erlebens der Verhältnisse, ihrer Interessen

und Wünsche aktiv angeeignet und in Beziehung zu ihrer eigenen Lebenswirklichkeit

gesetzt haben“ (Alkemeyer 1996: 221). Das heißt, gerade weil die Inszenierung von

Gemeinschaft von den Individuen in Beziehung gesetzt werden kann zu ihrer durch

Vereinzelung geprägten alltäglichen Lebenswelt, wird sie als real erlebt, obwohl sie

eigentlich fiktiv ist. Trotz dieser als real erlebten Inszenierung von Gemeinschaft und

Gleichheit bleiben beide dennoch unverwirklichbar. Gemeinschaft und Gleichheit

bleiben eine Utopie, eine nicht zu realisierende Wunschvorstellung und Idee. Die

Masse, die sich auf die inszenierte Gemeinschaft und Gleichheit gründet, bleibt eine

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utopische Masse, eine visuelle, imaginäre oder auditive Masse. Es handelt sich um die

Inszenierung von Gemeinschaftlichkeit und Gleichheit, nicht um die im Sinne der

klassischen Massenbildung Canettis über den Körpersinn Fühlen real erlebte. Daher

bleiben die im Stadion inszenierten Erlebnisse von Gemeinschaftlichkeit und Gleichheit

,,trotz des Zusammentreffens der Massen Scheinbilder kollektiven Zusammenschlusses“

(Verspohl 1976: 8).

Unterstützend bei dieser Inszenierung von Gemeinschaft und Gleichheit wirkt die

Architektur des Stadions und ihre entsprechende Wirkung auf die Masse, denn

Alkemeyer (ebd.: 308) schreibt: ,,Überdies können räumliche Gestaltungen spontan

gefangen nehmen und in Bann schlagen“. Wie Alkemeyer weiter ausführt, bildet unter

anderem gerade die architektonische Raumgestaltung ,,das institutionelle Dispositiv der

Masseninszenierungen“ (ebd.: 308). Auch Bartetzko (1985: 18) schreibt der Architektur

bei dieser Inszenierung eine entscheidende Rolle zu: ,,Der Architektur, die durch ihr

pures Dasein bereits imstande ist, [...] Wunschträume als Wirklichkeit erscheinen zu

lassen, kommt hierbei eine überragende Bedeutung zu“. Somit ist es im Besonderen

,,die architektonische Illusion, die erst Täuschung und Selbsttäuschung der Massen

komplettierte“ (ebd.: 19). Matzig (2001: 13) beschreibt die ,,Sportarenen als die

gewaltigsten und suggestivsten Raumschöpfungen unserer Zeit“. Das suggestive

Potential der Architektur des Stadions inszeniert und suggeriert eine Gemeinschaft, die

eigentlich nicht existiert, denn durch Sitzplätze, verschiedene Ränge und Logen sind in

modernen Stadien mehr Distanzen eingebaut als je zuvor, und auch ,,wird unter den

Besuchern auf mehr Distanz denn je geachtet: Die Aufteilung in verschiedene Blöcke

war nie so ausdifferenziert und streng wie heute“ (Alexander 2005: 37). Das Stadion als

Raum suggeriert der Masse damit eine Gemeinschaft und Gleichheit, die es selbst nur

über den visuellen, imaginären oder auditiven Umwege herstellen kann. Das Erleben

von Gemeinschaft und Gleichheit im Stadion hat somit einen utopischen Kern, denn das

Individuum wird doch stets auf seinen eigenen Körper zurückgeworfen, anstatt in der

Masse untertauchen zu können. Gerade auch im Stadion bleibt der Einzelne an seinen

Körper gebunden, wodurch die Vorstellung der Massenbildung als Utopie entlarvt wird:

,,Mein Körper ist das genaue Gegenteil einer Utopie [...], er ist der absolute Ort, das

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kleinste Stück Raum, mit dem ich buchstäblich eins bin. Mein Körper ist eine

gnadenlose Topie“ (Foucault 2005: 25).

Die Masse als Zustand der Gemeinschaft und Gleichheit und das Stadion als der Ort für

die Konstitution dieses Zustandes soll den eigenen Körper in der Masse aufgehen

lassen. Es ist der Versuch, sich seines eigenen Körpers zu entledigen und den einen

Gefühlskörper der Masse zu bilden. Dieser Akt und die damit verknüpfte Idee des

Erlebens von Gemeinschaft und Gleichheit in der Masse bleiben aber eine Utopie, denn

Foucault (2005: 26) stellt fest: ,,Mein Körper ist der Ort, von dem es kein Entrinnen

gibt. Ich glaube, alle Utopien sind letztlich gegen ihn geschaffen worden, um ihn zum

Verschwinden zu bringen“. Nur unter der Prämisse der Utopie der Gemeinschaft ist der

Masse die Zusammenkunft im Stadion gestattet, denn die körperlich real gefühlte

Gemeinschaft der Masse birgt ein zu großes Potential an Unkontrollierbarkeit und nicht

vorhandener Disziplin, während die utopische Masse und die neuen Massenformen

einfacher zu kontrollieren sind. In der Inszenierung der Gemeinschaft erkennt die Masse

die Utopie dieser Idee an, bestätigt sie und erklärt sich mit den alternativen

Konstitutionsformen einverstanden, denn nur unter dieser Vorrausetzung kann der

Masse das Stadion als Ort ihrer Versammlung überlassen werden: ,,Die in den Stadien

kollektive Willensbildung wird durch die Einbettung in den Gedenkakt von der

Affirmierung vorgefertigter Normen überlagert. Gerade in diesem Plan gebliebenen

Anwendungszusammenhang bestätigt sich die amphitheatralische Architektur als

kritische Form: sie wird nur dann den Massen übereignet, wenn diese einer in sich

schlüssig organisierten Inszenierung subordiniert werden können“ (Verspohl 1976:

151).

16. Das Stadion als Heterotopie

Das Stadion ist als Raum beschrieben worden, in dem das Ausleben von Leidenschaften

vollzogen werden kann. Die verhaltensregulierenden Normen und Disziplinen sind an

diesem Ort und zu dieser Zeit außer Kraft gesetzt. Damit steht das Stadion als Raum im

Gegensatz zu anderen Räumen und den in ihnen geltenden Verhaltensnormen: ,,Unter

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all diesen verschiedenen Orten gibt es nun solche, die vollkommen anders sind als die

übrigen Orte, die sich allen anderen widersetzen [...]. Es sind gleichsam Gegenräume“

(Foucault 2005: 10).

Die in diesem Gegenraum Stadion zu realisierende Idee der Gemeinsamkeit und

Gleichheit bleibt, wie oben dargelegt, letzten Endes eine Utopie. Es drängt sich deshalb

die Vermutung auf, auch das Stadion als Ort und Zeit des außer Kraft Setzens der

alltäglichen Verhaltensnormen als Utopie zu kennzeichnen, das Stadion als utopischen

Ort zu begreifen: ,,Wahrscheinlich schneidet jede menschliche Gruppe aus dem Raum,

den sie besetzt hält [...] utopische Orte aus und aus der Zeit, in der sie ihre Aktivitäten

entwickelt, uchronische Augenblicke“ (ebd.: 9). Andererseits aber bleibt das Stadion als

Raum ja keine Utopie, keine fiktive Vorstellung oder Träumerei, denn es ist real und

existent: ,,Dennoch glaube ich, dass es – in allen Gesellschaften – Utopien gibt, die

einen genau bestimmbaren, realen, auf der Karte zu findenden Ort besitzen und auch

eine genau bestimmbare Zeit [...]“ (ebd.: 9). Das Stadion als Raum bleibt keine Utopie

und existiert für die Menschen nicht nur am ,,ortlosen Ort ihrer Träume“ (ebd.: 9), denn

es ist ja vorhanden und greifbar und somit keine Utopie, ,,denn wir sollten diese

Bezeichnung nur Dingen vorbehalten, die tatsächlich keinen Ort haben“ (ebd.: 11).

Stadien können demnach im Sinne von Foucault als ,,lokalisierte Utopien“ (ebd.: 10)

bezeichnet werden. Als ,Gegenräume’ können sie mit Foucaults Worten als die ,,realen

Orte jenseits aller Orte“ (ebd.: 11) beschrieben werden oder besser noch als ,,die

Heterotopien, die vollkommen anderen Räume“ (ebd.: 11). Foucault beschreibt die

Heterotopien genauer, indem er sie bezeichnet als ,,Gegenplatzierungen oder

Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der

Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte

außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte

ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne

ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien“ (Foucault 1990: 39).

Das Stadion ist eine von den Menschen im Sinne eines bestimmten Zwecks geschaffene

Heterotopie für die Menschen, denn hier ist das zügellose Ausleben der Leidenschaften

und ein die Norm verletzendes Verhalten möglich. Foucault nennt diese Orte

,,Abweichungsheterotopien [...]. Das heißt, die Orte [...] sind eher für Menschen

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gedacht, die sich im Hinblick auf den Durchschnitt oder die geforderte Norm

abweichend verhalten“ (Foucault 2005: 12). Foucault verwendet seinen Begriff

,,Abweichungsheterotopien“ zwar primär für Krankenhäuser, Gefängnisse und ähnliche

Einrichtungen (vgl. Foucault 2005: 12), doch das Prinzip der Abweichungsheterotopie

kann auf das Stadion übertragen werden: ,,Es ist ein ausgegrenzter Ort, ein Ort der am

Rande steht ähnlich Gefängnissen, Altenheimen, Krankenhäusern; und für die Dauer

eines Fußballspiels hausen dort ,andere’ Menschen, die man – ähnlich Gefangenen,

Alten und Kranken – an normalen Orten nicht sehen will“ (Bausenwein 1995: 163).

Außerdem fügt Foucault (2005: 18) an, ,,dass Heterotopien stets ein System der

Öffnung und Ausschließung besitzen, welches sie von der Umgebung isoliert“. Im Falle

des Stadions sind dies die bereits beschriebenen räumlichen und zeitlichen

Mechanismen.

Das Stadion als Heterotopie ist ein Ort, an dem die utopische Idee der Gleichheit und

Gemeinschaft verfolgt wird, und dennoch behalten das Stadion und der Stadionbesuch

ihre Attraktivität. Diese Attraktivität rührt vom Wesen der Heterotopie her: ,,Sie stellen

alle anderen Räume in Frage, und zwar auf zweierlei Weise: entweder [...] indem sie

eine Illusion schaffen, welche die gesamte übrige Realität als Illusion entlarvt, oder

indem sie ganz real einen anderen realen Raum schaffen, der im Gegensatz zur wirren

Ordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist“ (Foucault 2005: 19 –

20). Erstens ist und bleibt die im heterotopen Raum Stadion bereitgestellte Illusion der

Gemeinschaft eine Illusion. Das Erleben dieser Illusion aber lässt den durch

Vereinzelung und Individualisierung geprägten Alltag, die Realität, zwar nicht

unbedingt im Sinne Foucaults als Illusion erscheinen, doch zumindest wird er wie oben

erläutert in der Form des Festes zeitweilig aufgehoben. Zweitens werden die im Alltag

partikularisierten und durcheinander angeordneten Individuen im Stadionraum in die

geordnete Struktur und Einheit der geschlossenen Masse gebracht, sodass sich die von

Foucault angesprochene ,wirre Ordnung’ zu einer ,vollkommenen Ordnung’ umformt.

Foucault bezeichnet diese Räume als ,,Kompensationsheterotopie“ (Foucault 1990: 45).

17. Das Stadion und der Stadionbesuch: Konsequenzen der Disziplinargesellschaft

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Die bisherigen Erläuterungen haben gezeigt, dass das Stadion als Raum versucht, zwei

einander sich eigentlich widersprechende Ideen miteinander zu verbinden. Einerseits

soll durch die Architektur des Stadions ein ins ekstatische gesteigertes zügelloses

Ausleben der Leidenschaften erlaubt sein, andererseits soll durch die architektonisch

panoptische Organisation des Stadions als Disziplinarraum Kontrolle und Disziplin über

die Masse beziehungsweise über die Individuen ausgeübt werden. Einerseits sollen im

Stadionbesuch Gemeinschaftserlebnisse vermittelt werden, andererseits werden die

Individuen durch die spezifische Stadionarchitektur immer wieder auf ihre

Individualität zurückgeworfen. Diesen zuletzt genannten Aspekt beschreibt Verspohl

(1976: 187) treffend als die ,,Spannung von Massenansammlung und gleichzeitiger

Vereinzelung“. Das Stadion mit seiner Architektur oszilliert zwischen diesen extremen

Polen und vereint sie an einem Ort, so als ob in der Heterotopie des Stadions der Raum

des Festes und der Disziplinarraum miteinander verbunden würden: ,,In der Regel

bringen Heterotopien an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen, die

eigentlich unvereinbar sind“ (Foucault 2005: 14).

Die Tatsache, dass in der Heterotopie des Stadions sich eigentlich widersprechende

Ideen miteinander vereinbart werden können, liegt im bereits erwähnten zweideutigen

Charakter des Stadions begründet. Darüber hinaus ist der Stadionbesuch, also das

Eintreten in diese Heterotopie, als Fest beschrieben worden: ,,Feste bilden in gewissem

Maße einen Freiraum, der für unterschiedliche Inhalte offen ist und diese auch

widerspruchsfrei in sich vereinigen kann“ (Gebhardt 1987: 54). Verspohl (1976: 61)

schreibt hierzu treffend über das Wesen des Stadions: ,,Ebenso oft wie

Massenversammlungsarchitekturen Ordnungsfaktoren waren [...], ebenso häufig waren

die Arenen Ort und die Feste Anlass der Auflehnung gegen die verordneten Normen“.

Schließlich ist es Foucault (2005: 17) selbst, der von ,,diesen Heterotopien des Festes,

diesen zeitweiligen Heterotopien“ spricht.

Das Stadion ist ein für einen bestimmten Zweck speziell geschaffener Raum: ,,Es gibt

wahrscheinlich keine Gesellschaft, die sich nicht ihre Heterotopie oder ihre

Heterotopien schüfe“ (Foucault 2005: 11). Warum diese Heterotopie geschaffen wurde,

diese Frage beantwortet König (1992: 13): ,,Auch die noch so ausgeklügelten Strategien

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der Disziplinierung und Zivilisierung schaffen es nicht, die Welt der Wünsche,

Leidenschaften und Affekte spurlos in der Versenkung verschwinden zu lassen“.

Demzufolge könnte man laut Bette und Schimank (1996: 65) den Stadionbesuch ,,als

ein Refugium ansehen, in dem offensichtlich unausrottbare Bedürfnisse

kompensatorisch befriedigt werden, die in der Moderne zunehmend verdrängt worden

sind“. Ähnlich beschreiben es Elias und Dunning (2003: 168), denn sie sehen den

Stadionbesuch als ,,eine soziale Enklave, in der man sich der Erregung mit Genuss

hingeben kann, ohne dass dies für die Gesellschaft oder für einen persönlich gefährliche

Folgen hätte“. Die ständige Affektkontrolle und permanent ausgeübte Selbstdisziplin

des Individuums bleiben ein gesellschaftlicher Wunschtraum, und demnach ,,hat das

Stadion mit dem etwas zu tun, was im Gegensatz steht zu den positiven Utopien, die

sich die Gesellschaft von sich selbst macht“ (Bausenwein 1995: 163). Es ist

unausweichlich, dass die Leidenschaft zuweilen hervorbrechen muss, doch wenn dies

geschieht, dann doch halbwegs kontrolliert zu einer vorgegebenen Zeit und an einem

speziell dafür geschaffenen Ort. Das Stadion und der Stadionbesuch als Ort und Zeit des

Festes ermöglichen beide die Freigabe des sonst Verbotenen, denn sie bieten

,,Möglichkeiten zum Ausleben andernorts nicht mehr zugelassener Affekte [...]“ (Bette /

Schimank 1996: 63) und stellen ,,die Befriedigung ansonsten verbotener

Gefühlserregungen sicher“ (Bausenwein 1995: 462). Gleichzeitig wird eine

kontrollierende Funktion ausgeübt, da das Überschreiten der Verhaltensnormen

räumlich und zeitlich begrenzt ist und das Stadion sich nur unter der Akzeptanz dieser

Vorraussetzung für die Masse öffnet und ihr überlassen werden kann. Auf diesen Aspekt

weist Canetti (1980: 25) hin, der für die Masse in einer Arena feststellt: ,,Ihr

Beisammensein in großer Zahl ist für eine bestimmte Zeit gesichert, ihre Erregung ist

ihnen versprochen worden – aber unter einer ganz entscheidenden Bedingung: Die

Masse muss sich nach innen entladen“. Der zweideutige Raum des Stadions erlaubt die

Verbindung von Disziplin und Leidenschaft, denn er ,,stellt ein System von

,,Einräumungen“ in des Wortes doppelter Bedeutung von Eingrenzung und Konzession

bereit“ (Alkemeyer 1988: 10).

Die Stadien entstehen vermehrt historisch zu genau der Zeit, in der die Gesellschaft

beginnt, Merkmale und Werte wie Disziplin, Selbstdisziplin und Affektkontrolle

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verstärkt auszubilden und in den Verhaltenskanon aufzunehmen. Sie werden

gewissermaßen ,,zur allgemeinen Formel“ (Foucault 1976: 269) und begünstigen die

Entwicklung zu ,,der Formierung der Disziplinargesellschaft“ (ebd.: 269), deren

Methoden und Einrichtungen ,,die Fabrikation des Disziplinarindividuums gestatten“

(ebd.: 396). König (1992: 15) bemerkt dazu, ,,dass die bürgerliche Gesellschaft implizit

stets ein Zivilisationsprojekt ist, also die Zähmung, Ausgrenzung und Dämpfung der

menschlichen Leidenschaften betreibt [...]“. Die Entwicklung hin zu der durch

Affektkontrolle und Disziplin geprägten Disziplinargesellschaft ist ein Prozess, der die

,,Kontrollen des Verhaltens der Menschen allumfassend“ (Elias / Dunning 2003: 125)

werden lässt und er bedeutet zugleich auch, dass ,,die Fähigkeit der Menschen, sich in

einer erregten Art und Weise in der Öffentlichkeit zu verhalten, stärker eingeschränkt

worden ist“ (ebd.: 121). Elias und Dunning (ebd.: 167) kommen deshalb zu der

Erkenntnis: ,,In Gesellschaften wie der unseren, die eine allseitige emotionale Disziplin

und Umsicht erfordern, ist der Spielraum für starke, offen zum Ausdruck gebrachte

angenehme Gefühle eng begrenzt“.

Das Ausleben der Leidenschaften aber wird nicht grundsätzlich verboten, sondern ist

von nun an lediglich an einen spezifischen Ort gebunden und sucht sich in den neuen

Massenformen eine von der Gesellschaft erlaubte Form, die ihr dieser Ort auf Grund

seiner Architektur anbietet: ,,Die menschlichen Wünsche und Bestrebungen werden in

den Prozessen ihrer Unterdrückung, Zähmung, Disziplinierung und Zivilisierung nicht

einfach abgeschafft, sondern nur in den Ausdrucksformen verändert, die ihnen von der

Gesellschaft angeboten und zugestanden werden“ (König 1992: 12). Bette und

Schimank (1996: 65) fügen hinzu: ,,Durch die gesellschaftlichen Strukturveränderungen

gewissermaßen ,,unzeitgemäß“ gewordene Bedürfnisse können in der Zuschauerrolle

ausgelebt werden“. Das Stadion ist demnach kein widersprüchlicher Raum und auch das

Individuum widerspricht im Ausleben der Leidenschaft nicht der sonst akzeptierten

Affektkontrolle, sondern zeigt dabei lediglich seine andere Seite: ,,Die Gefühlsorgie im

Stadion und das Sich – Austoben auf den Rängen sind somit [...] die notwendige

Gegenseite einer Alltags – Disziplinierung der Gefühle, die der Prozess der Zivilisation

am Menschen vollbracht hat“ (Bausenwein 1995: 462). Der Raum des Stadions und das

in ihnen anzutreffende Verhalten sind nicht widersprüchlich, sondern genau das

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Gegenteil davon. Sie sind logische Konsequenzen der Disziplinargesellschaft, die sich

diesen spezifischen Raum zum Ausleben der Leidenschaft selbst schafft und innerhalb

dessen andere Verhaltensmaßstäbe gelten: ,,The stadium culture is not a counterculture;

it is not defined in opposition to the authoritative culture [...] but exists beyond this,

measured by other standards [...]“ (Nielsen 1995: 37). Demnach ist es durchaus

gerechtfertigt, das was im Stadion geschieht und gesucht wird, als die ,,Konsequenz und

Kehrseite von typischen neuzeitlichen Prozessen zu interpretieren, die zu einer

umfassenden Kontrollierung des inneren wie äußeren (Er-) Lebens geführt haben“

(Bausenwein 1995: 461). Gerade daraus zieht der Stadionbesuch seine Attraktivität,

denn in einer von Affektkontrolle und Disziplin dominierten Disziplinargesellschaft

kann er genau das Gegenteil bieten: ,,Menschen suchen in einem Stadion Anspannung:

Sie wollen sich erregen lassen, sie wollen einen Kitzel erleben, sie wollen verschüttete

Emotionen herauslassen“ (edb.: 461). Den Stadionbesuch haben ,,Soziologen wie

Norbert Elias und Eric Dunning als Regulativ zu einem in hohem Maß von

Affektkontrolle, Selbstbeherrschung und Selbstdisziplin gekennzeichneten Alltag

interpretiert“ (Bausenwein 1995: 462). Elias und Dunning (2003: 127) selbst

formulieren es wie folgt: ,,Hier wie andernorts ist die Suche nach Erregung [...] eine

Ergänzung zur Kontrolle und Unterdrückung offenkundiger Emotionalität in unserem

alltäglichen Leben“.

18. Fazit

Das Ziel dieser Arbeit war es zu erörtern, wie, bedingt durch raumsoziologische und

massenpsychologische Aspekte innerhalb von Stadionarchitekturen und beim

Stadionbesuch, auf die Disziplin und die Leidenschaft der Masse Einfluss genommen

werden kann.

Dabei sollte deutlich geworden sein, dass mit der architektonischen Organisation des

Stadions als panoptischer Disziplinarraum die Disziplinierung der Masse

beziehungsweise der Individuen nahezu perfektioniert worden ist. Die leichter zu

kontrollierenden ,neuen Massenformen’ sowie die geschlossene und stockende Masse

dienen als Beispiel dafür. Gleichzeitig aber können sie auch als genau das Gegenteil

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Page 98: Disziplin und Leidenschaften: Raumsoziologische und ... · PDF fileInhaltsverzeichnis 1. Einleitung 1 2. Die Masse – eine erste Annäherung 3 2.1. Der negative Massenbegriff bei

dessen interpretiert werden: Als Beispiel für den letztlich doch unbändigen Charakter

der Masse und ihr stetiges Streben danach, sich einer endgültigen Disziplinierung zu

entziehen. Darüber hinaus hat die genauere Analyse des Verhaltens der Masse im

Stadion gezeigt, dass sie keineswegs das von Le Bon beschriebene Schreckenswesen ist.

Dies alles geschieht im Stadion, wodurch dessen zweideutiger Charakter unterstrichen

wird.

Das Stadion als Festplatz und der Stadionbesuch als Fest haben verdeutlicht, dass

bedingt durch diese Gleichsetzung ein ekstatisches Ausleben der Leidenschaft erlaubt

wird. Der festliche Charakter ermöglicht ein Gemeinschaftserlebnis, das der Masse als

Selbstvergewisserung dient. Die feierliche Inszenierung der Gemeinschaft der Masse

bleibt aber, wie erläutert wurde, eine illusorische Idee, die durch die Architektur des

Stadions unterstützt wird.

Die Darlegung der architektonischen Besonderheiten des Stadions hat verdeutlicht, dass

diese einen entscheidenden Anteil am intensiven Ausleben der Leidenschaft haben. Die

Verschränkung von Disziplin und Leidenschaft in der Wirkung der Stadionarchitektur

und beim Stadionbesuch hat gezeigt, dass das Stadion kein widersprüchlicher Raum ist,

sondern ein Raum, dem ein rationaler Zweck zu Grunde liegt: Das Ausleben der

Leidenschaft ist notwendig, soll aber räumlich und zeitlich begrenzt bleiben. Diesen

rationalen Zweck und den zweideutigen Charakter des Stadions, das zwischen einer

gefängnisartigen Disziplinaranlage im Sinne Foucaults, in der jeder auf seinen

zellenartigen Platz verwiesen ist, und einem exstatischen Festplatz bar jeder

Verhaltensnormen zu pendeln scheint, fasst Nielsen (1995: 23) in folgender Aussage

zusammen, die auch als treffendes Schlusswort für diese Arbeit dienen soll: ,,In other

words, it is imperative that, once the bodies have been allocated, a free - space does

exist, but one which is confined to the cell. In principle, one may behave as one wants –

as long as one is allocated and knows one’s place”.

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Ich bin damit einverstanden, dass die von mir angefertigte Hausarbeit mit dem Thema

,,Disziplin und Leidenschaften: Raumsoziologische und massenpsychologische Aspekte

von Stadionarchitekturen und –besuchen“ zur Einsicht durch andere Personen zur

Verfügung gestellt wird. Ich habe auch keine Bedenken, dass meine Hausarbeit

Interessenten ausgeliehen wird. Mit ist bekannt, dass eine Ausleihe erst 5 Jahre nach

Ablauf des Kalenderjahres möglich ist, in dem mir das endgültige Ergebnis der Prüfung

mitgeteilt worden ist.

Hiermit versichere ich, dass ich die Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als

die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe.

Oldenburg, den 20.11.2006 ______________________________

Hauke Meyer

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