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Christine Streit, Anna Jossi Mit MATHElino mathematisches Lernen im Kindergarten begleiten Wie finden Kinder Zugang zur Mathematik? Ganz von selbst nur bedingt. MATHElino schafft Anregungen, ohne dabei die Kinderperspektive zu vernachlässigen. Auf dem Tisch liegt eine grosse Anzahl bunter geometrischer Figuren aus Holz („Patternblocks“). Die Kinder erzeugen ganz unterschiedliche Produkte: So legt Leon mit verschiedenen Formen einen Roboter, Jule, Tim und Annika erzeugen gemeinsam ein wunderschönes Muster. (Bild 1). So unterschiedlich die Produkte auch sind, zeigen sie dennoch eine Gemeinsamkeit - in beiden wird die Idee der Symmetrie sichtbar: der Roboter weist eine vertikale Achsensymmetrie auf, die sternförmige Figur ist achsen- und drehsymmetrisch. Am Nachbartisch baut Marie einen Turm aus sechseckigen gelben Plättchen. Als sie keine mehr zur Verfügung hat, sucht sie nach Alternativen und entdeckt dabei, dass sie aus zwei roten Trapezen wieder ein gleich grosses Sechseck erzeugen kann. Das findet sie so spannend, dass sie ihre Entdeckung der Lehrperson mitteilt. Diese greift die Idee auf und fragt Marie, ob es noch weitere Plättchen gibt, aus denen sich ein Sechseck herstellen lässt. Marie probiert und konstruiert, schliesslich präsentiert sie stolz ein Sechseck aus 6 grünen gleichseitigen Dreiecken. Die Idee wandert weiter und die Kinder untersuchen - mit zurückhaltender Unterstützung der Lehrperson - welche Figuren sich aus anderen zusammensetzen lassen. Aus dem Freispiel entwickelt sich hier mathematisch gehaltvolles Tätigsein der Kinder, welches von der Lehrperson mit geeigneten Impulsen und Fragestellungen unterstützt wird. Sie begleitet die Kinder bei den Erkundungen mit den Patternblocks und initiiert aus den Ideen der Kinder neue Lernsituationen. Das ist die Grundidee von MATHElino - einem Konzept zum frühen Lernen von Mathematik: Es geht darum, die Balance zwischen dem Ansatz der (freien) Konstruktion und der (steuernden) Instruktion zu wahren und dem Kind eine individuelle Unterstützung im Sinne des "Scaffoldings" zu geben (Royar; Streit 2010). Ziel ist eine kognitive Aktivierung der Kinder durch Anregung von Denk- und Verstehensprozessen. (König 2007; Krammer 2009) Die Lehrperson ist zugleich unterstützende Lernbegleiterin, „kognitives Modell“ und Interaktionspartnerin. Voraussetzung für ein erfolgreiches Scaffolding ist die Beobachtung: Was macht das Kind mit dem Material? Wie gross ist seine Aufmerksamkeitsspanne? Nimmt es Ideen der anderen Kinder auf? Welche mathematischen Ideen kommen zum Tragen? …. Darauf aufbauend sind viele Formen der Unterstützung möglich: Schon die Aufforderung zum Mitmachen und Mitdenken kann zur kognitiven Aktivierung beitragen. Zum kognitiven Modell wird die Lehrperson dann, wenn sie ihre eigenen Denkschritte verbalisiert: „6 Dreiecke sind gleich gross wie das 6-Eck“. Auch das Vormachen kann dem Kind eine

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Christine Streit, Anna JossiMit MATHElino mathematisches Lernen im Kindergarten begleiten

Wie finden Kinder Zugang zur Mathematik? Ganz von selbst nur bedingt. MATHElino schafft Anregungen, ohne dabei die Kinderperspektive zu vernachlässigen.

Auf dem Tisch liegt eine grosse Anzahl bunter geometrischer Figuren aus Holz („Patternblocks“). Die Kinder erzeugen ganz unterschiedliche Produkte: So legt Leon mit verschiedenen Formen einen Roboter, Jule, Tim und Annika erzeugen gemeinsam ein wunderschönes Muster. (Bild 1). So unterschiedlich die Produkte auch sind, zeigen sie dennoch eine Gemeinsamkeit - in beiden wird die Idee der Symmetrie sichtbar: der Roboter weist eine vertikale Achsensymmetrie auf, die sternförmige Figur ist achsen- und drehsymmetrisch. Am Nachbartisch baut Marie einen Turm aus sechseckigen gelben Plättchen. Als sie keine mehr zur Verfügung hat, sucht sie nach Alternativen und entdeckt dabei, dass sie aus zwei roten Trapezen wieder ein gleich grosses Sechseck erzeugen kann. Das findet sie so spannend, dass sie ihre Entdeckung der Lehrperson mitteilt. Diese greift die Idee auf und fragt Marie, ob es noch weitere Plättchen gibt, aus denen sich ein Sechseck herstellen lässt. Marie probiert und konstruiert, schliesslich präsentiert sie stolz ein Sechseck aus 6 grünen gleichseitigen Dreiecken. Die Idee wandert weiter und die Kinder untersuchen - mit zurückhaltender Unterstützung der Lehrperson - welche Figuren sich aus anderen zusammensetzen lassen.Aus dem Freispiel entwickelt sich hier mathematisch gehaltvolles Tätigsein der Kinder, welches von der Lehrperson mit geeigneten Impulsen und Fragestellungen unterstützt wird. Sie begleitet die Kinder bei den Erkundungen mit den Patternblocks und initiiert aus den Ideen der Kinder neue Lernsituationen. Das ist die Grundidee von MATHElino - einem Konzept zum frühen Lernen von Mathematik: Es geht darum, die Balance zwischen dem Ansatz der (freien) Konstruktion und der (steuernden) Instruktion zu wahren und dem Kind eine individuelle Unterstützung im Sinne des "Scaffoldings" zu geben (Royar; Streit 2010). Ziel ist eine kognitive Aktivierung der Kinder durch Anregung von Denk- und Verstehensprozessen. (König 2007; Krammer 2009) Die Lehrperson ist zugleich unterstützende Lernbegleiterin, „kognitives Modell“ und Interaktionspartnerin.Voraussetzung für ein erfolgreiches Scaffolding ist die Beobachtung: Was macht das Kind mit dem Material? Wie gross ist seine Aufmerksamkeitsspanne? Nimmt es Ideen der anderen Kinder auf? Welche mathematischen Ideen kommen zum Tragen? …. Darauf aufbauend sind viele Formen der Unterstützung möglich: Schon die Aufforderung zum Mitmachen und Mitdenken kann zur kognitiven Aktivierung beitragen. Zum kognitiven Modell wird die Lehrperson dann, wenn sie ihre eigenen Denkschritte verbalisiert: „6 Dreiecke sind gleich gross wie das 6-Eck“. Auch das Vormachen kann dem Kind eine Orientierungshilfe sein: Die Lehrperson kann den Anfang eines "Parketts" (ein lückenloses Muster) legen, damit das Kind eine Vorstellung davon entwickeln kann, was mit dem Auftrag gemeint ist. Oder sie kommentiert die Tätigkeit des Kindes und regt es zum Weiterdenken an: „Du hast ein schönes Muster gelegt. Schau mal, so sieht es im Spiegel aus. Kannst du das so legen, wie du es gerade im Spiegel gesehen hast?"Aufforderungen wie "Wenn du dein Muster zeichnest, dann kann ein anderes Kind es nachlegen!" haben eine motivierende Wirkung und regen die Kinder dazu an, ihre Werke dokumentieren. Durch das "Abbilden" wird das Produkt reproduzierbar und kann auch am nächsten Tag noch zum Gesprächsanlass werden. (Lee 2010)Kinder und Erwachsene unterhalten sich über den Lerngegenstand und tauschen das Wissen darüber aus. "Was hast du gemacht? Wie hast du das gebaut?" können hilfreiche offene Fragen sein, die die Denkwege der Lernenden nachvollziehbar machen. So entsteht "geteiltes Wissen" (Siraj-Blatchford 2007), das die Grundlage für einen gelingenden Lernprozess darstellt.

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Ausgangspunkt bei MATHElino ist immer das Material. Es handelt sich dabei um einfache "mathematikhaltige" Materialien wie Seile, Spielwürfel, Muggelsteine usw., die oft im Kindergarten schon vorhanden sind. Im Umgang mit diesen Materialien kommen mathematischen Tätigkeiten und Ideen wie Ordnen, Klassifizieren, Messen, Muster legen, usw. zum Tragen. Es hat sich bewährt, das Material in einem beweglichen Rollkorpus zu lagern. (Bild 2) Grundsätzlich gibt es drei methodische Zugänge, wie das Material eingesetzt werden kann: Frei: Während des Freispiels ist das Material offen zugänglich und die Kinder können selbst entscheiden, ob sie sich mit einem mathematikhaltigen Material beschäftigen, welches Material sie auswählen und welche Tätigkeit sie damit ausführen (legen, bauen, konstruieren, sortieren usw.)Arrangiert: Die Kinder sitzen am Tisch (oder in einem begrenzten Bereich auf dem Boden) und beschäftigen sich mit einem von der Lehrperson ausgewählten Material. Dieses "arrangierte Freispiel" garantiert, dass alle Kinder mit dem Material tätig werden. Sinnvoll ist eine Gruppengrösse von 4 bis 6 Kindern. Dadurch werden Interaktionsprozesse angeregt und für die Lehrperson besteht zugleich die Möglichkeit, die Kinder gezielt zu beobachten. Instruiert: Die Bandbreite der Instruktionen ist gross. Sie reicht von einem einfachen Impuls, der sich aus dem eigenständigen Tätigsein der Kinder mit dem Material ergibt (vgl. Eingangsbeispiel) bis hin zu einem von der Lehrperson vorbereiteten Auftrag: Hier seht ihr drei Gläser mit Muggelsteinen. Von welcher Farbe gibt es die meisten Steine? (Die Anzahl sollte so gewählt sein, dass die Lösung durch Zählen nicht möglich ist und andere Strategien angewandt werden müssen.) Solch eine problemorientierte Aufgabenstellung wird am besten in der Gruppe bearbeitet und gelöst. Dadurch wird die Kooperationsbereitschaft gefördert und die Kinder werden angeregt miteinander zu kommunizieren. Auch aus den Produkten der Kinder können Aufträge abgeleitet werden. Im Eingangsbeispiel hat die Lehrperson die verschiedenen symmetrischen Figuren der Kinder fotografiert und am nächsten Tag als Einstieg in das Thema Symmetrie genutzt. Daran gekoppelt waren verschiedene Aufgabenstellungen für die Kinder (z.B.: Lege eine Figur mit mindestens 2 Spiegelachsen.).

Bei der konkreten Umsetzung im Kindergarten erwies sich folgendes Vorgehen als sinnvoll:1. Ein Material wird im Stuhlkreis eingeführt; die Ideen der Kinder werden besprochen.2. Das Material steht ab diesem Zeitpunkt zum freien Tätigsein (während des

Freispiels) zur Verfügung. 3. Zusätzlich werden arrangierte und instruierte Sequenzen durchgeführt.4. Das Material wird solange "ausgestellt" (z. B. in einem offenen Regal), bis das

Interesse der Kinder nachlässt. In der Erprobung dauerte diese Phase - je nach Material - zwischen 2 und 6 Wochen.

5. Anschliessend wird das Material im MaMa-Schrank aufbewahrt und ist dort weiterhin im Freispiel zugänglich.

6. Ein neues Material wird im Stuhlkreis eingeführt.

Weitere Ideen und konkrete Umsetzungsvorschläge mit vielen erprobten Materialien finden Sie im Buch "MATHElino-Kinder begleiten auf mathematischen Entdeckungsreisen".

LiteraturKönig, Anke (2007): Dialogisch-entwickelnde Interaktionsprozesse als Ausgangspunkt für die Bildungsarbeit im Kindergarten. In: Carle Ursula, Diana Wenzel. Frühes LernenKrammer, Kathrin (2009): Individuelle Lernunterstützung in Schülerarbeitsphasen- Eine videobasierte Analyse des Unterstützungsverhaltens von Lehrpersonen im Mathematikunterricht, Emiprische Erziehungswissenchaft, Band 15, Waxmann Verlag GmbH, MünsterLee, Kerensa (2010). Kinder erfinden Mathematik. Verlag Das NetzSiraj-Blatchford Iram (2007): Creativity, Communication, Collaboration-The identification of pedagogic progression in sustained shared thinking.Streit Christine, Royar Thomas (2010): MATHElino-Kinder begleiten auf mathematischen Entdeckungreisen. Selze:Klett/Kallmeyer

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Zusatz: Bezug zum Themenheft (Einkaufen)

Auch 5-Rappen-Stücke in grosser Anzahl eignen sich für den Einsatz im Kindergarten:

Probieren Sie aus, was die Kinder damit machen:Erst mal wird in den Münzen "gewühlt", dann werden sie zusammengeschoben und mit der flachen Hand wieder weit verteilt. Schliesslich wird gelegt und gebaut und ganz sicher kommt irgendwann auch die Frage auf, wie viele Münzen bzw. wie viele Franken denn hier auf demTisch liegen (vgl. auch Lee 2010).

In einer Kindergartengruppe waren die Kinder sehr motiviert, selbst Antworten auf diese Fragen zu finden, das Ergebnis war ein kleines Projekt: Die Kinder organisierten Pappbecher, die jeweils mit genau einem Franken gefüllt werden sollten. Eine herausfordernde Aufgabe für manche Fünfjährige, die den Zahlenraum bis 100 keinesfalls schon beherschten. Immer 3 Kinder suchten gemeinsam nach einer Lösung. Wie viele 5-Rappen-Stücke sind denn ein Franken? Nachdem in der Gruppe die verschiedenen "Füllungen" besprochen waren und die richtige Lösung im Konsens ermittelt wurde, konnten die Becher befüllt werden. Nicht alle schafften es, auf Anhieb 20 Münzen abzuzählen, aber 10er- (der 5er-)Päckchen zu bilden war schon einfacher. Andere legten lange Schlangen und ein Kind bastelte gar eine "Ein-Franken- Schachtel - genau passend für 20 Fünfrappenstücke.Dass die vorhandenen 20 Becher nicht ausreichten, merkten die Kinder schnell. Schliesslich wurden 97 Becher benötigt, aber die Begeisterung der Kinder war nicht erschöpft. Was bekommt man eigentlich für einen Franken? Die Kinder wurden aufgefordert, von zuhause einen Gegenstand mitzubringen, den sie für einen Franken kaufen bzw. verkaufen würden. Rund um die nachfolgenden Einkaufsspiele wurde so auch der Frage des "Geldwertes" nachgegangen.

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