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Seitenblicke 67 Wir haben uns daran gewöhnt, dass sich die Scientific Community die Freiheit nimmt, die Artistic Community und die Kunst zu erforschen, zu beschreiben und sogar zu definieren. Aber wie steht es umgekehrt? Wie sieht die Forschung aus der Perspektive eines Künstlers aus? Was ist, wenn die Geburt der Wissenschaften aus dem Geiste der Kunst zu denken wäre? Florian Dombois, Preisträger des Deutschen Klangkunstpreises 2010 und bekannt für seine Satyrspiele zur künstlerischen Forschung, zettelt im nachfolgenden Stück Kurzprosa solch ein Gedankenex- periment an und lässt die neuzeitliche Wissenschaft vor unseren Augen als Tochter der Kunst zur Welt kommen – um sie gleich wegen ihres Übermuts und ihrer Treulosig- keit zu schelten. Dass er dabei die Form des Score aus der Happening- und Konzeptkunst entlehnt oder mit schein- barem Ernst Kunstwerke zerstören lässt, sind nur zwei der zahlreichen Bezüge und Parodien seiner denkanstößi- gen Gegenworte. WvR Florian Dombois, 25. 5. 2011 Die ungezogene Tochter Francis Bacon war kein Maler. Er war Konzeptkünstler. Am 14. Oktober 1582 verfasste er folgende Anleitung: 1. Ein Werk muss ein Thema haben. Alle Themen sind möglich. 2. Jedes Werk muss als Text realisiert werden. 3. Bilder sind möglich, dienen aber der Illustration der verbalen Mitteilung. 4. Das Werk sollte gemäß IMRAD strukturiert werden. Es muss von der eigenen Herstellung berichten, hingegen nicht unbedingt den wirklichen Verlauf dokumentieren. Am Ende müssen die Eingangsfragen klar beantwortet werden. Nach Möglichkeit ist Times New Roman zu ver- wenden. 5. Zusammenhänge zwischen Form und Inhalt stehen nicht zur Diskussion. 6. Alle Entscheidungen sind über ein System von Veri- fikation und Falsifikation zu motivieren, nicht über die Intuition. 7. Was das Fachpublikum aus einem Werk herausliest, soll so weit als möglich durch die Autoren kontrolliert werden – je weniger Mehrdeutigkeiten, desto besser. 8. Wenn sich ein Werk als falsch erweist, soll es zerstört werden. 9. Wenn ein neues Werk besser als ein altes ist, soll das ältere zerstört werden. 10. Alle Formen der Zusammenarbeit sind möglich: von einem bis über hundert Autoren. 11. Forschung ist eine soziale Praxis zwischen Autoren. Nur sie besitzen die Berechtigung zur gegenseitigen Eva- luation, und nur sie entscheiden über die Qualität. 12. Wenn das allgemeine Publikum mit einem Werk un- zufrieden ist, so bedeutet dies nichts. Gegebenenfalls werden begleitende Texte geschrieben, um das Publikum von der Autorität der Selbstevaluation der Autoren zu überzeugen. 13. Werke und Berichte werden der Öffentlichkeit zu- gänglich gemacht. 14. Autoren werden nach Aufwand bezahlt, Qualität oder Wert der Ergebnisse sind sekundär. 15. etc. 66 Florian Dombois Die ungezogene Tochter Seitenblicke

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Wir haben uns daran gewöhnt, dass sich die ScientificCommunity die Freiheit nimmt, die Artistic Communityund die Kunst zu erforschen, zu beschreiben und sogar zudefinieren. Aber wie steht es umgekehrt? Wie sieht dieForschung aus der Perspektive eines Künstlers aus? Wasist, wenn die Geburt der Wissenschaften aus dem Geisteder Kunst zu denken wäre? Florian Dombois, Preisträgerdes Deutschen Klangkunstpreises 2010 und bekannt fürseine Satyrspiele zur künstlerischen Forschung, zettelt imnachfolgenden Stück Kurzprosa solch ein Gedankenex-periment an und lässt die neuzeitliche Wissenschaft vorunseren Augen als Tochter der Kunst zur Welt kommen –um sie gleich wegen ihres Übermuts und ihrer Treulosig-keit zu schelten. Dass er dabei die Form des Score aus derHappening- und Konzeptkunst entlehnt oder mit schein-barem Ernst Kunstwerke zerstören lässt, sind nur zweider zahlreichen Bezüge und Parodien seiner denkanstößi-gen Gegenworte. WvR

Florian Dombois, 25. 5. 2011Die ungezogene Tochter

Francis Bacon war kein Maler. Er war Konzeptkünstler.Am 14. Oktober 1582 verfasste er folgende Anleitung:

1. Ein Werk muss ein Thema haben. Alle Themen sindmöglich.2. Jedes Werk muss als Text realisiert werden.3. Bilder sind möglich, dienen aber der Illustration derverbalen Mitteilung.4. Das Werk sollte gemäß IMRAD strukturiert werden.Es muss von der eigenen Herstellung berichten, hingegennicht unbedingt den wirklichen Verlauf dokumentieren.Am Ende müssen die Eingangsfragen klar beantwortetwerden. Nach Möglichkeit ist Times New Roman zu ver-wenden.

5. Zusammenhänge zwischen Form und Inhalt stehennicht zur Diskussion.6. Alle Entscheidungen sind über ein System von Veri-fikation und Falsifikation zu motivieren, nicht über dieIntuition.7. Was das Fachpublikum aus einem Werk herausliest,soll so weit als möglich durch die Autoren kontrolliertwerden – je weniger Mehrdeutigkeiten, desto besser.8. Wenn sich ein Werk als falsch erweist, soll es zerstörtwerden.9. Wenn ein neues Werk besser als ein altes ist, soll dasältere zerstört werden.10. Alle Formen der Zusammenarbeit sind möglich: voneinem bis über hundert Autoren.11. Forschung ist eine soziale Praxis zwischen Autoren.Nur sie besitzen die Berechtigung zur gegenseitigen Eva-luation, und nur sie entscheiden über die Qualität.12. Wenn das allgemeine Publikum mit einem Werk un-zufrieden ist, so bedeutet dies nichts. Gegebenenfallswerden begleitende Texte geschrieben, um das Publikumvon der Autorität der Selbstevaluation der Autoren zuüberzeugen.13. Werke und Berichte werden der Öffentlichkeit zu-gänglich gemacht.14. Autoren werden nach Aufwand bezahlt, Qualität oderWert der Ergebnisse sind sekundär.15. etc.

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F lor ian Dombois D ie ungezogene Tochter

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