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Dossier «Arbeit» «Geschichte der Arbeit» Dossier erarbeitet von: Annina Baumann Patrick Fischer Alois Hundertpfund Mirjam Rudolf April 2017

Dossier «Arbeit» «Geschichte der Arbeit» · hundert Jahren, in der Antike zum Beispiel. Und siehe da! Es ... , der grosse Sänger, der mit der «Odyssee» das Männerbuch schlechthin

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Dossier «Arbeit»

«Geschichte der Arbeit»

Dossier erarbeitet von: Annina Baumann

Patrick Fischer Alois Hundertpfund

Mirjam Rudolf

April 2017

Dossier «Arbeit», Modul «Geschichte der Arbeit»

Seite1

Inhaltsverzeichnis

MODUL «GESCHICHTE DER ARBEIT»

1. GESCHICHTE DER ARBEIT

A 01

Einzelarbeit

Lesen Sie den folgenden Artikel «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen». Die Lehrperson wird zum Vorgehen eventuell noch Anweisungen geben.

Hilfsmittel: Artikel aus einem Magazin.

Ziel: • Die Lernenden lesen einen leicht gekürzten Artikel über die Geschichte der Arbeit. Sie werden von der Lehrperson allenfalls zur Auseinandersetzung mit dem Text instruiert.

Zeit: Lektüre: 40 Minuten, allenfalls vorbereitend als Hausarbeit.

Wernichtarbeitet,sollauchnichtessenVonderStrafezurTugend-dieArbeitimLaufederZeit

VonAlbertWirz,NZZFolioNr.9,1993DA LIEGT SIE NUN, die moderne, emanzipierte Frau, hinge-strecktaufdemSofa,indenAugeneinglasigerBlick.Ihreinzi-gerWunsch: der Ehemannmöge ihr ebenfalls ein Stückchentröstende Schokolade aus dem Kühlschrank reichen. Fernse-hen? Dazu ist sie zu müde. Kultur? Sie möchte am liebsten5schlafen, doch zum Schlafen ist sie zu aufgedreht. Lektüre?Gespräche?GemeinnützigeArbeit?EineguteIdee.Dochjetzt,am Feierabend, ist sie so ausgepumpt, dass sie kaum mehrhuff und puff zu sagen vermag. Gut dreiviertel Stunden Ar-beitsweg hin und dreiviertel Stunden zurück, eingekeilt zwi-10schen schwitzenden, müden Menschen; abends mit mehrTragtaschenbepackt alsNomadenaufWanderschaft. EndlichzuHause,sollsiedenLiebstenbekochen.Erhatoffensichtlichnochimmernichtgelernt,zwischenMutterundFrauzuunter-scheiden.15Im Betrieb tagsüber das Übliche: Hetze, die kleinen FreudengelungenerHandgriffe,kollegialesScherzenundLachen,Chefs,die das Sagen, aber nichts zu sagen haben. Gespräche überdenLaufderWelt:MillionensollderfrühereBossnachseinemAbganggarnierthaben.JetztfordertderNachfolgerdoppelten20Einsatz. Die Belegschaft reagiert mehrheitlich zynisch; dasStimmungsbarometer steht auf «Rette sich, wer kann». DiedrohendeArbeitslosigkeitunterdrücktjedeKritik.Ist das Selbstverwirklichung? Oder schon eher Zeichen einergefährlichen Krankheit? Ist das die gepriesene Freiheit durch25ArbeitodereherAusdruckverkappterExistenzangst?UndwobleibtdadieFülleanMusse,dieFreizeitgesellschaft, vonderdie Zukunftsforscher seit Jahren künden in Buch über Buchüber Buch?War alles nur ein Traum? Eine Chimäre, ähnlichdem aus Not geborenen mittelalterlichen Bild vom Schlaraf-30fenland?OdergarPropaganda,derwirgutgläubigaufgesessensind, weil wir alle nach Freiheit und Selbstbestimmung stre-ben, mangels Besitz jedoch zu lebenslangem Dienst geborensind?

(...)35Agil, mobil und flexibel hat der moderne Arbeitnehmer, diemoderne Arbeitnehmerin zu sein. Heute umworben,morgengefeuert,wegrationalisiert,eineWareunterWaren,wieschonindenGeschäftsbüchernderSklavenhalteraufdenkaribischenZuckerinseln, wo die Sklaven zusammenmit Maultieren und40anderemmobilem Besitz aufgelistet wurden. Nicht alle Skla-venleistetenWiderstand.DerjungeKarlMarxjedochwusste:«Der Arbeiter produziert das Kapital, das Kapital produziertihn,eralsosichselbst,undderMenschalsArbeiter,alsWare,istdasProduktderganzenBewegung.»AberMarxisttot.45Doch langsam beginnen wir am Anfang, gestern, vor vielenhundert Jahren, in derAntike zumBeispiel.Und sieheda! Eswar alles ganz anders. Arbeit galt Griechen und Römern alseines freien Bürgers unwürdig. Freiheit war für sie gleichbe-deutendmitFreiheitvonArbeit.50Nur wer von der Arbeit für die Notdurft des Lebens befreitwar,konnte indergriechischenPolisBürgerwerden.DieOli-venerntebrachtenandereein,dasBadheiztenebenfallsande-re,unddie Strassenbautendie vielenNamenlosen:Knechte,Sklaven, Fremde und die im Krieg bezwungenen Feinde. Ihr55LebenwarMühsal,BedrängnisundNot.Unddas istauchdieursprünglicheBedeutungdesgermanischenWortes«Arbeit»,wie man Friedrich Kluges Etymologischem Wörterbuch ent-nehmenkannAmschlimmstentrafes jene, fandHomer,dergrosseSänger,60dermitder«Odyssee»dasMännerbuchschlechthingeschrie-benhat,amschlimmstentrafesjene,diesichgegenLohnfürandereabrackernmussten.SelbstSklavenhättenesdabesser,meinte er. Und Plato, im Denken geschult, kam nach vielemÜberlegen zum Schluss, dass nur ein Leben in Musse und65kontemplativer Zurückgezogenheit erstrebenswert sei. DienstumderTugendwillennannteerdas.ArbeithingegengalteheralsStrafedennalsTugend.

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Ganz ähnlichwie die altgriechischen Philosophen dachte derZimmermann Jesus aus Nazareth. Anfänglich predigte er nur70amSabbat,baldjedochgaberseinehandwerklicheArbeitaufundbewogseineAnhänger,dasgleichezutun.AlsMenschen-fischer zogen er und seine Jünger fortan durchs Land undliessen sich dafür mit Naturalien bezahlen. VerkündigungwurdesomitderArbeitgleichgestellt.Bettlermönche,gläubige75Asketen und fromme Frauen hielten imMittelalter das Idealdes gottgefälligen Nichtstuns hoch. Der Adel konnte es sichohnehin leisten, die Zeitmit Palavern, jagenundKrieg totzu-schlagenodersichimLiebesschmerzzuverzehren.Mit dieser Geringschätzung der produktiven Arbeit räumten80die Reformatoren ein für allemal auf. Zwingli, Calvin und Lu-ther, die treibenden Kräfte dieses epochalen Umbruchs, ver-klärten die Arbeit zum zentralen Lebensinhalt und legtendamit,ohneeszuwissen,denWegfreizurmodernenArbeits-gesellschaft,dieFreiheit,GlückundArbeitgleichsetzt.Fürsie85galt als ausgemacht, dass derMensch zurArbeit geboren seiwie der Vogel zum Fliegen. Und in ihrem Kampf gegen denkatholischenKlerusstelltensiekurzerhandalleArbeitundalleArbeitenden vor Gott gleich. Der wortgewaltige Dr. MartinLutheretwapredigte1532:«WennDueinegeringeHausmagd90fragst,warum sie das Haus kehre, die Schüsselnwasche, dieKühemelke, so kann sie sagen: Ichweiss, dassmeine ArbeitGottgefällt,sintemalichseinWortundBefehlfürmichhabe.»DenMüssiggangerklärteerhandkehrumzurSünde.«Müssig-gang ist SündewiderGottesGebot, der hier Arbeit befohlen95hat. Zum andern sündigst Du gegen deinen Nächsten», don-nerteervon,derKanzel.DerHerrwerdenurdenanerkennen,dereineLeistungvollbringe.Daswar insofern radikal, als esdie LebensweisedesAdels inFragestellte.BauernundHandwerkerfühltensichverstanden.100Doch die Predigten tönten revolutionärer, als sie gedachtwaren,dennLutherblieb letztlichdemmittelalterlichenStan-desdenken treu. Wohl erklärte er jede Arbeit zum Gottes-dienst, doch er hielt dafür, dass die Arbeit jedemMenschenvonGottaufgegebensei,weshalbsichjedermitdemzufrieden105geben müsse, zu dem ihn Gott berufen hat. Also nichts mitRevolution, sonderneingenügsames, strebsamesLebennachdemMotto:Schuster,bleibbeideinemLeisten.«Ein jeglicherbleibeindemBeruf,darinerberufenist»,heisstesjaschonim1.Korintherbrief.110SorücktedieArbeitim16.JahrhundertindenMittelpunktdesWeltverständnisses.DerGenferCalvinsahimwirtschaftlichenErfolggareinZeichenderGnadeundeinenBeweisinnerwelt-licherBewährung.Dasbiblische«Wernichtarbeitenwill, sollauch nicht essen dürfen» gewann eine neue Verbindlichkeit.115Wer armwar, trug folglich selber Schuld. Die KonsequenzendieserneuenWeltsichtbekamenals erstedieArmen zu spü-ren, die Kranken und Siechen und die wachsende Zahl vonLandflüchtigen,dieebendamalsdieStädteüberflutetenund,armwieKirchenmäuse,sichbestenfallsmitGelegenheitsarbei-120ten, Betteln und allerlei Diebereien über Wasser zu haltenvermochten. Früher hatten sich die Klöster der Ausgestosse-nenangenommen,dochimZugederReformationwarenvieleKlösteraufgelöstworden.In dieser Lage verfielen die calvinistischen Magistraten im125TulpenlandHolland,dasdamals inwirtschaftlichenundsozia-len Dingen den Ton angab, auf die Bettler und Arme» in Ar-beitshäuserundBesserungsanstalten zu sperren, um siedortmit eiserner Hand zur Arbeit zu erziehen. Im Amsterdamer«Spinhaus»hiessdaswebenundRotholz raspeln fürdie Fär-130berei der Stadt, andernortsmussten die InsassenWolle zup-fen.UndwerdieseZwangsarbeitverweigerte,aufdenwarteteeinebesondersdiabolischeStrafe:Erwurde,wieeinstaunen-derReisenderausderAmstelstadtberichtete,wieeinEsel in

Kettengelegtundkurzerhand insWasserhausgesperrt,einen135mit Wasser gefüllten Keller, den er durch Pumpen teilweiseleerenmusste,wennernichtertrinkenwollte.Die holländischen Arbeitshäuser machten schnell Schule inweiten Teilen Europas. Es begann die systematische Verfol-gung der Bettler. Kaum ein fürsorglicher Fürst, kaum eine140GruppevonStadtvätern,dienichtdieNützlichkeitderneuenEinrichtungerkannten,welcheOrdnung,FortschrittundWohl-fahrt aufs einträglichste verband. SelbstWaisenkinder muss-ten fortan ihren Lebensunterhalt verdienen. Und wenn dieInstitution später zunehmend in Verruf geriet, so blieb doch145der Leitgedanke der Arbeit als Schule für die «roheMensch-heit»lebendig,vorabinDeutschlandundindensozialistischenLändern, die, wie wir wissen, in ihren Verfassungen eine Ar-beitspflichtfestschreiben.AberauchdasschweizerischeStraf-gesetzbuchvon1937 sieht vor,dass«liederlicheundarbeits-150scheue»MissetäterinArbeitserziehungsanstalteneingewiesenwerdenkönnen.DortsollihnenmitharterFeldarbeitSinnundZweckdesArbeitensbeigebrachtwerden,damitsieeinsehen,dassnichtnurGeldundSinneslustBefriedigungbringen.Erklä-rend heisst es in einem massgeblichen Fachkommentar aus155der Zeit: «Denn der gesunde, aber untätige Mensch ist einBlutegelderGesellschaft.»So ist das reformatorische Lob der Arbeit in eine Pflicht zurArbeit umgemünzt worden. (…) Wie dem auch sei, keinerwolltevonnunanmehruntätig scheinen,denn inderArbeit160erkanntemannichtswenigeralsdenMotordergesellschaftli-chenEntwicklung.Die Arbeitshäuser haben noch weitere Spuren hinterlassen.EinefährtunmittelbarindieSchulstubenderschweizerischenVolksschule.Was heute alsWerkenundKochen im Stunden-165plan steht,war einst, als fortschrittliche Pädagogen amEndedesletztenJahrhundertsdieseFächerlandauf,landabeinrich-teten, ein Arbeitsunterricht, fein säuberlich nach Geschlech-terngetrennt.Knaben lerntendenUmgangmitKarton,Eisenund Holz, die Mädchen wurden im Flicken, Stricken, Nähen,170PutzenundKochenunterwiesen.BeidenKnabengingesauchimWerkunterricht um geistige Förderung. DieMädchen hin-gegensolltenzuumsichtigenHausfrauenundsorgendenMüt-tern, zu Frauenmit geschicktenHändenundAugenherange-zogenwerden.175DochnichtnurdieZielsetzungunterschiedsichvonGeschlechtzuGeschlecht; die JüngerPestalozzis glaubtenüberdies, Kna-ben und Mädchen brächten auch ganz unterschiedliche Vo-raussetzungenmit. Den Knaben hielten sie einen natürlichen«Tätigkeitstrieb» zugute; «Freude am Tun, am Schaffen, am180Gestalten»zeichne jeden«gesunden»Jungenaus,sagtensie.Demgegenübermeinten sie, gute Patriarchen, die siewaren,bei den Mädchen müsse erst einmal ein «gründliches Ver-ständnis für jede Arbeit» geweckt werden. Traute man demArbeitswillen des weiblichen Geschlechts weniger als dem185eigenen?Daswäresexistischgedacht,gewiss.Abernichtnur.AlsKinderderAufklärungwusstendiePädagogen,dassMen-schenanundfürsichkreativseinmöchten,dassjedoch–undhierhalltenantikePhilosophieundkonkreteLebenserfahrungnach – nicht jeder freiwillig jene Arbeit leistet, die von ihm190verlangtwird.Warum sollten alleMädchen Hausfrauenwer-denwollen,wenndieseArbeitsoniedriggeachtetwurde,dassallejungenausserHausstrebten?Umgekehrt war privilegiert, wer nicht ausser Haus arbeitenmusste. Man sollte das nicht vergessen, obschon heute die195gängigeSichtdasEinsperrenderFrauen insHausalsResultateinerMännerverschwörung oder doch als Resultat eines un-ternehmerischen Kalküls interpretiert, dem es darum gegan-gen sei, die Kosten der Kindererziehung und des UnterhaltsderMännerzuminimieren. InWirklichkeit schätztendieFab-200

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rikherren,die«SchnauzbubenundBratenfresser»,wiemansieimLuzernischennannte,dieFrauen (undauchdieKinder)alsbilligeundwendigeArbeitskräfte.AlldieLobpreisungenderArbeit,zudenensichimVerlaufederNeuzeitGenerationenvonPfarrernundLehrern,Dichternund205Denkern haben bewegen lassen, tönen, je genauerman hin-hört, wie ein verzweifelter Versuch, etwas Ungeliebtes zurTugendzuverklären.OderwieanderssollmanFriedrichSchil-lers«LiedandieGlocke»,SchreckunzähligerDeutschstunden,lesen:«Festgemauert inderErdenStehtdieForm,ausLehm210gebrannt / Heutemuss die Glocke werden! Frisch, Gesellen,seidzurHand!»,dasnachvielemWortgetöseindieMahnungmündet: «Arbeit ist des Bürgers Tugend, Segen seinerMühePreis.» Sowurde dasUnausweichliche scheinbar geadelt, dieGeburtderNeuzeit als FruchtmenschlicherArbeitbesungen.215Schillerselbsthingegenhat,sovielmanweiss,wederGlockengegossennochsonstjekörperlicheArbeitverrichtet.ZurArbeitanspornendeSonntagspredigtengenügten imübri-genjelänger,destoweniger.DenndieindustrielleRevolution,dieim18.und19.JahrhundertvonEnglandaufdieweiteWelt220ausgriff und sie von Grund auf veränderte, verlangte nacheinemganzspeziellenMenschen.WerinderFabriküberlebenwollte, brauchte andere Fähigkeiten, als ein BauernknechtodereinHandwerksgesellesiebesass.Vorallemmussteeraufviele Freiheiten verzichten können. Die Arbeitstage an der225Maschinewarenlang,zehn,zwölfStunden,unddieArbeitsbe-dingungen spotteten vielfach jeder Beschreibung. «Die LuftmancherBaumwollspinnereienwarmitdichtemStauberfüllt»,berichtetdereidgenössischeFabrikinspektorEndedesletztenJahrhunderts, «und der Fussboden war mit einer klebrigen230Masse,aus Öl,StaubundUnratallerArtbestehend,überzo-gen.VondenAbtrittenherwarendieArbeitssälevonekelhaf-testen Dünsten überzogen. In mechanischen Werkstättenkonnte man sich kaum zwischen Maschinen, Werkzeugen,Arbeitsstücken und Vorratsmaterial hindurchwinden.» In den235WerkhallenherrschtenDunkelundohrenbetäubenderLärm.Ganz neuwar für die Betroffenen die Zeitdisziplin, der sie inden Fabriken unterworfenwurden. Zwar kennt auch bäuerli-che Arbeit ihre Hetze; sie war nie die Idylle, wie sie uns dieDichterglaubenmachenwollten;inderErntezeitwurdeschon240immer bis weit in die Nacht hinein und unter äusserstemZeitdruckgearbeitet.InsgesamtjedochfolgtendiebäuerlichenArbeitendemjahreszeitlichenRhythmusvonRuheundWach-sen. Und immerwieder gab es einen Anlass zum Feiern, vorallem in katholischen Gegenden mit ihren vielen Heiligen,245dereneszugedenkengalt.Nichtwenigerals51zähltemaninder PariserGegend. In den Fabrikenhingegenherrschte einemechanischeZeit,dieZeitderMaschineneben,oderwieE.P.Thompson, der grosse Historiker der Industrialisierung esnennteinedisziplinierteZeit.250PausenundArbeitsscheueswarenaufdieMinutegeregelt,TagfürTag,WochefürWoche, jahrein, jahraus.AdeblauerMon-tag!WerseineArbeitnichtverlierenwollte,musstesichfügen;im englischen Manchester zogen Wecktrupps frühmorgensdurchdieStrassen,umdieArbeiter indieFabrikenzuscheu-255chen; Stempeluhren überwachten das Kommen und GehenwieeisernePolizisten.StattderKirchenglockengliedertennunFabriksirenendenTag.

Die ersten Fabrikarbeiter leisteten gegen diese Diktatur dermaschinenförmigen Zeit erbittertenWiderstand. Das spiegelt260sich in den häufig wiederkehrenden Klagen der VorarbeiterundUnternehmerüberdieUnzuverlässigkeitunddieFaulheitderArbeiter, ihrenMangelanDisziplinundEnergie. ImLaufeder Jahremilderte sich der Ton, denn zumeinen lernten dieArbeiter, ihre Forderungen im Rahmen von Gewerkschaften265vorzubringen,zumandernpasstensiesichüberdieGenerati-onenhinwegan.DieVolksschuleleisteteeinenunbezahlbarenBeitrag, indemsiedieKinderzuPünktlichseinerzog,dasStill-sitzen und Gehorchen einübte und so Fleiss, Planung undSelbstkontrolle,dieTugendenderneuenZeit,indieKörperder270jungeneinschrieb.Aber noch heute sind die schnellenUrteile über die Faulheitderandernmituns.ZumBeispielinBerichtenüberArbeitsloseund besonders augenfällig in Berichten über die sogenannteDritteWelt.KaumeinSchreiber,der sichnichtentnervtüber275den Schlendrian wundert, der «dort unten», in den LänderndesSüdens,herrscht.DereinemeintdamitdasHausmädchen,das bei einem Todesfall für Tage undWochen verschwindet.Bei andern sindArbeiter das Ziel der Kritik; am liebsten aberwerdendieBeamteninsVisiergenommen.280Solche Urteile sind nicht von vornherein falsch. Schliesslichgehören Aufrufe zu mehr Arbeitsdisziplin zum Alltag jedesDrittweltlandes. Keine staatsmännische Rede in der RegionohnedringlicheAppelle, inZukunftdoch jamehrzuarbeiten.UndReggaestarswieder JamaikanerBarringtonLevyverbrei-285ten das Evangelium der Arbeit mit Musik und Tanz. «EveryPosseMustWork»heissteiner seinerbeschwörendenSongs.DennnochverhülltdasRedenüberdenSchlendrianmehr,alses aufdeckt. Vor allem verkennt es den Kampf um kulturelleWerte,umAutonomieundSelbstbestimmung,dersich inder290Verweigerungäussert.NochsindnichtalleMenschensoweit,dass sie die Arbeit wichtiger nehmen als beispielsweise diePflegesozialerBeziehungen.HöchsteZeit,sichanRousseauzuerinnern,denGenfer,dermitseinemaufklärerischenDenkendenWegzurFranzösischenRevolutionbereitenhalf.Erhatte295behauptet, im Naturzustand sei der Mensch ohne grosseBedürfnisse,erstdieZivilisationbringeihndazu,denSchweisszu verherrlichen und die stete Bewegung, das ewige Rennennach dem Immer mehr. In der Tat haben in steinzeitlichenWildbeutergesellschaftendieMenschentäglichnichtmehrals300drei bis fünf Stunden gearbeitet. Sie lebten als erste in einerÜberflussgesellschaft,dennsiehatten–imUnterschiedzuuns–reichlichMusse.AllerdingserkauftensiesichdieMussemitArmut.UndwiederamerikanischeEthnologeMarshallSahlinsmeinte, nutzten sie die Musse in ersten Linie zum Schlafen.305Wirheutigen«modernen»Menschenmöchten sowohlmate-riellen Reichtum als auchMusse, das,was in unserer Gesell-schaft nur für die wenigsten greifbar ist. Alles deutet daraufhin,dasseskeinenAuswegausdemselbstgeschaffenen«ratrace»gibt.Wieehundjebleibtunsnichtsanderesübrig,alszu310arbeitenundmitStolzaufdasGeleistetezublicken,obunsdasLebennunansFliessbandoderandenSchreibtischverschlägt.Daseineistnichtbesseralsdasandere,abernachwievorgilt,mirabile dictu, das letztere mehr als das erste. Woher dieArbeitslosen ihrenStolznehmensollen,aufdieseFragemuss315dieGesellschaftnocheineAntwortfinden.

AlbertWirzistJournalistundPrivatdozentfürNeuereGeschichteanderUniversitätZürich.ErlebtinMeilen

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2. GLOSSAR

Begriff Erklärung

Tugend

zynisch

verkappter

Chimäre

Propaganda

agil

Karl Marx

Notdurft

Plato

Musse

kontempativ

Asket

Palaver

Martin Luther

sintemal

Siech

Blutegel

Pestalozzi

sexistisch

Schlendrian

Reggaestar

Rousseau

rat race