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Dossier Deutsche Demokratie - bpb.de · – positiv: "Die Demokratie ist die beste Staatsform." Die Zahl derer, die eine andere Die Zahl derer, die eine andere Staatsform vorziehen

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Dossier DeutscheDemokratie

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Dossier : Deutsche Demokratie (Erstellt am 06.06.2019) 2

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EinleitungDas politische Leben in Deutschland ist mehr als Kanzleramt, Bundestag und Parteizentralen. Anvielen Stellen füllen Menschen die deutsche Demokratie mit Leben.

An der Basis, in den Kommunen, arbeiten Gemeinde- und Stadträte am Gelingen des Alltags vor Ort.In den Ländern streiten Abgeordnete um die richtige Bildungspolitik, um Umweltfragen und die Polizei.Und im Bund wirken nicht nur die rund 600 Abgeordneten des Bundestages an den Entscheidungenmit: Zahlreiche Mitarbeiter im Parlament und den Ministerien, Interessenvertreter, und oftmals auchder Bundesrat spielen eine Rolle, wenn Gesetze verfasst werden.

Die Demokratie lebt aber vor allem von den Bürgerinnen und Bürgern, sie sind die Basis derStaatsgewalt. In Wahlen und Bürgerentscheiden, durch gesellschaftliches und politischesEngagement, und durch ihr Interesse für die diskutierten Themen legen sie die Grundlage für einenfunktionierenden Staat.

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Inhaltsverzeichnis

1. Grundlagen 5

1.1 Demokratie 6

1.2 Grundgesetz 10

1.3 Grundrechte 14

1.4 Bundesstaat 20

1.5 Rechtsstaat 26

1.6 Sozialstaat 29

2. Politische Beteiligung 32

2.1 Einleitung 33

2.2 Wahlen 34

2.3 Parteien 39

2.4 Interessenverbände 44

2.5 Kirchen 48

2.6 Bürgeriniativen 49

2.7 Massenmedien 52

3. Parlament 57

3.1 Bundestag 58

3.2 Aufgaben des Bundestages 65

3.3 Arbeitswoche eines Bundestagsabgeordneten 79

3.4 Bundesrat 84

3.5 Ein Gesetz entsteht 86

3.6 Landesparlamente 91

3.7 Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern bei der Gesetzgebung 93

4. Bundespräsident, Regierung und Verwaltung 95

4.1 Bundespräsident 96

4.2 Bundesregierung 99

4.3 Landesregierungen 104

4.4 Verwaltung: Organisation und Grundsätze 105

4.5 Verwaltung des Bundes 108

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4.6 Verwaltung der Länder 110

4.7 Gemeinden 113

4.8 Bundeswehr 117

5. Rechtsprechung 121

5.1 Funktionen des Rechts 122

5.2 Grundsätze der Rechtsprechung 126

5.3 Rechtssystem 130

5.4 Bundesverfassungsgericht und Verfassungsgerichte der Länder 138

6. Deutschland in Europa und der Welt 145

6.1 Europa 146

6.2 Von der EG zur EU 148

6.3 NATO 157

6.4 Vereinte Nationen 160

7. Deutsche Nationalsymbole 164

7.1 Einleitung 165

7.2 Wappen, Flagge und Hymne 166

7.3 Europaflagge 169

8. Redaktion 170

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Grundlagen12.4.2010

Was bedeutet Demokratie? Was sind die Grundlagen der Staatlichkeit in Deutschland? DasGrundgesetz legt die Prinzipien der politischen Ordnung in Deutschland fest: Es bestimmt das Volkals Ausgangspunkt der staatlichen Gewalt und schützt die Rechte und Freiheit jedes Einzelnen.

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DemokratieVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Demokratie heißt wörtlich "Herrschaft des Volkes". Über die eigene Regierung mitbestimmen,frei die eigene Meinung äußern: in Deutschland sind das relativ junge Errungenschaften.

Demokratien wollen nahezu alle Länder der heutigen Welt sein. Kaum ein politisches Regimebezeichnet sich nicht als demokratisch. Selbst autoritäre Herrschaftssysteme in Asien, Afrika undLateinamerika berufen sich ebenso auf die Demokratie wie traditionell demokratische Länder derwestlichen Welt. Das galt gleichermaßen für die zusammengebrochenen "realsozialistischen" SystemeMittel- und Osteuropas, die sich als "Volksdemokratie" oder "sozialistische Demokratie" bezeichneten.

Was ist eigentlich Demokratie? Die deutsche Wiedergabe des griechischen Wortes als"Volksherrschaft" ist nicht sehr aussagekräftig. Das Volk kann Herrschaft auf verschiedene Weiseausüben. In den kleinen überschaubaren Stadtstaaten des antiken Griechenlands kam das Volk, daswaren damals die freien Männer, auf dem Marktplatz zusammen und stimmte über die Gesetze ab.In den heutigen Großstaaten ist diese Form direkter Demokratie nicht mehr praktikabel. Das Volk kannin der modernen Massendemokratie die Herrschaft nur mittelbar und indirekt ausüben, indem es sieauf Vertreter (Repräsentanten) überträgt.

Die Demokratie des Grundgesetzes

Artikel 20

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

Mit diesem Artikel legt das Grundgesetz die Demokratie als die Grundlage und den Rahmen unsererVerfassungsordnung fest. Die Demokratie des Grundgesetzes kann auf einige wenige Prinzipienzurückgeführt werden:

Artikel 20

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durchbesondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

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Volkssouveränität

Jede staatliche Machtausübung muss durch das Volk legitimiert sein. Die staatlichen Organe müssenentweder, wie die Parlamente, aus Volkswahlen hervorgehen oder, wie die Regierung und die von ihrberufene Verwaltung, von den gewählten Repräsentanten eingesetzt werden. Die Amtsinhaber sinddem Volk bzw. seinen Repräsentanten verantwortlich und können aus ihrem Amt entfernt werden.

Repräsentativsystem

Die Verfassungsgeber haben sich für ein reines Repräsentativsystem entschieden. Das Volk übt dieStaatsgewalt nicht direkt aus, sondern überträgt sie durch Wahlen Repräsentanten, den Abgeordneten,die in seinem Auftrag die Entscheidungen im Staat treffen. Die in Art. 20 Abs. 2 genanntenAbstimmungen sind nur für den Fall einer Neugliederung der Länder vorgesehen. Einer solchenNeugliederung muss die betroffene Bevölkerung durch Volksentscheid zustimmen.

Dagegen enthalten fast alle Landesverfassungen Bestimmungen über Volksbegehren undVolksentscheide. Die Entscheidung gegen die Aufnahme von Elementen direkter Demokratie in dasGrundgesetz wurde durch die negativen Erfahrungen in der Zeit der Weimarer Republik beeinflusst.In den letzten Jahrzehnten wurden immer wieder Forderungen nach einer direkten Beteiligung derBürger an den politischen Entscheidungen laut. Der Erfolg der Bürgerbewegungen in der ehemaligenDDR gab diesen Forderungen neuen Auftrieb. Die entsprechenden Anträge fanden in derVerfassungskommission von 1992 jedoch nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit.

Mehrheitsprinzip

In einer Demokratie gilt der Grundsatz, dass bei Wahlen und Abstimmungen die Mehrheit entscheidetund dass die Minderheit die Mehrheitsentscheidung anerkennt. Sie hat dafür die Chance, bei künftigenWahlen und Abstimmungen ihrerseits die Mehrheit zu erringen, und kann erwarten, dass dann ihreEntscheidungen respektiert werden. Das Mehrheitsprinzip ist eine Kompromisslösung. DieEntscheidung der Mehrheit muss nicht "richtig" sein. Das Mehrheitsprinzip gewährleistet aber, dassKonflikte friedlich ausgetragen werden.

Streitbare Demokratie

Die Weimarer Republik hatte es zugelassen, dass ihre Feinde die Demokratie zerstörten. JedeBestimmung der Weimarer Reichsverfassung konnte mit Zweidrittelmehrheit geändert werden, sogardie Grundrechte konnten außer Kraft gesetzt und die Demokratie beseitigt werden.

Anders als die Weimarer Republik ist die Demokratie des Grundgesetzes nicht nur eine formaleDemokratie, sondern eine Wertordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung mit ihrenunantastbaren Prinzipien. Das Bundesverfassungsgericht hat das "Bekenntnis zu einer streitbarenDemokratie" im KPD-Urteil des Jahres 1956 so präzisiert:

Das Grundgesetz nimmt "aus dem Pluralismus von Zielen und Werten (...) Grundprinzipien derStaatsgestaltung heraus, die (...) als absolute Werte und unverzichtbare Schutzgüter anerkannt unddeshalb entschlossen gegen alle Angriffe verteidigt werden sollen; soweit zum Zwecke dieserVerteidigung Einschränkungen der politischen Betätigungsfreiheit der Gegner erforderlich sind, werdensie in Kauf genommen."

Argumente für und gegen direkte Demokratie

Pro: Die Zeit ist gekommen, den Bürgerinnen und Bürgern Möglichkeiten direkter Beteiligung anpolitischen Entscheidungen einzuräumen. Das Deutschland von heute ist mit der Weimarer Republik

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nicht vergleichbar. Demokratisches Bewusstsein und Informationsgrad der Bevölkerung sind heuteungleich höher als damals.

Pro: Die Verfassungen der meisten alten und aller neuen Länder der Bundesrepublik sehenVolksbegehren und Volksentscheide auf Landes- und kommunaler Ebene vor. Sie sind auch vielfachpraktiziert worden, teilweise mit großem Erfolg und ohne negative Begleiterscheinungen.

Pro: Der Missbrauch von Plebisziten kann dadurch ausgeschlossen werden, dass zu bestimmtenProblemen – etwa Haushalt, Steuern, Außenpolitik – Volksbefragungen nicht zugelassen werden.

Pro: Die Mindestbeteiligung kann hoch angesetzt werden, um die Durchsetzung vonMinderheitsinteressen zu verhindern.

Pro: Es können lange Fristen für eine umfassende Information der Bevölkerung vorgesehen werden,um Manipulationen und Entscheidungen aufgrund kurzfristiger Stimmungen zu erschweren.

Pro: Das repräsentative System wird durch direkte Bürgerbeteiligung nicht abgeschafft, sondernergänzt. Das Parlament bleibt der Ort politischer Auseinandersetzung und Entscheidung.Volksabstimmungen können jedoch das Parlament zwingen, sich mit Themen zu befassen, die dieGesellschaft bewegen.

Kontra: Der Parlamentarische Rat hat sich aufgrund der Erfahrungen mit Volksentscheiden in derWeimarer Republik für eine reine Repräsentativdemokratie entschieden. Es gibt keinen Grund, andieser Entscheidung zu rütteln.

Kontra: Elemente direkter Demokratie sind auf kommunaler und Landesebene wegen derÜberschaubarkeit der zu entscheidenden Fragen und der geringen Zahl der Abstimmungsberechtigtenpraktikabel. Für die komplexen Probleme der Bundespolitik sind sie nicht geeignet.

Kontra: Für Volksbefragungen müssen komplizierte politische Probleme auf eine einfache Ja-oder-Nein-Alternative reduziert werden. Entscheidungen in der pluralistischen Demokratie sind aber aufKompromisse angelegt.

Kontra: Aktive, gut organisierte Minderheiten können ihre Sonder¬ interessen durchsetzen. Ebensokann es zur Missachtung von Interessen nicht durchsetzungsfähiger Mehrheiten kommen.

Kontra: Der Manipulation würde Tür und Tor geöffnet. Macht würde denen zufallen, die die dem Volkvorzulegenden Fragen formulieren und Zugang zu den Medien haben. Direkte Demokratie ist eine"Prämie für jeden Demagogen" (Theodor Heuss).

Kontra: Ein per Volksabstimmung beschlossenes Gesetz kann leicht den Anschein größerer Legitimitätgewinnen. Es ist auch weniger korrigierbar als parlamentarische Entscheidungen. Es könnte sich dieTendenz entwickeln, das Parlament nur noch weniger wichtige Fragen entscheiden zu lassen.

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Gefährdungen der Demokratie

Seit mehr als 40 Jahren, zuletzt im Jahr 2009, beantworten drei Viertel der Bürgerinnen und Bürgerder Bundesrepublik (West) eine Frage des Instituts für Demoskopie, Allensbach – "Glauben Sie, dieDemokratie, die wir in der Bundesrepublik haben, ist die beste Staatsform, oder gibt es eine andere,die besser ist?" – positiv: "Die Demokratie ist die beste Staatsform." Die Zahl derer, die eine andereStaatsform vorziehen würden, pendelt zwischen 4 und 18 Prozent. In den neuen Bundesländern hielten2009 36 Prozent die Demokratie für die beste Staatsform, 24 Prozent glaubten, dass es eine besseregibt. Die größte Gruppe sind die Unentschiedenen. Eine Umfrage des Polis-Sinus-Instituts im Auftragder Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahre 2008 mit einer etwas anderen Fragestellung – "Wie gut funktioniertdie Demokratie in Deutschland?" – kam zu ähnlichen Ergebnissen. 62 Prozent aller Deutschen sindzufrieden (8 Prozent: funktioniert sehr gut, weitere 54 Prozent: gut). Kritisch waren 37 Prozent (31Prozent: weniger gut, 6 Prozent: schlecht). In Westdeutschland waren 69 Prozent mit der Demokratiezufrieden, in Ostdeutschland 39 Prozent. Negativ äußerten sich 31 Prozent im Westen und 61 Prozentim Osten.

Es zeigt sich, dass die Zufriedenheit mit der Demokratie weitgehend abhängig ist von der eigenenwirtschaftlichen Lage. Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger und Personen mit niedrigemHaushaltseinkommen sind überproportional kritisch; sie machen das politische System für ihre Lageverantwortlich. Immerhin hält eine große Mehrheit der Deutschen unsere Gesellschaftsordnung fürverteidigungswert. 78 Prozent der Deutschen sagen, unsere Gesellschaftsordnung ist es wert, dassman für sie eintritt.

Wir werden daran erinnert, dass die Demokratie in Deutschland nicht ungefährdet ist. Die Demokratiekann in Deutschland nicht, wie in den alten Demokratien des Westens, auf eine ungebrochene Traditionzurückblicken. Die Geschichte der Demokratie in Deutschland war eine Geschichte gescheiterterVersuche. Erst der zweite demokratische Staat ist bisher, trotz aller Schwächen und Mängel, eineErfolgsgeschichte gewesen. Viele betrachten diese Erfolge als selbstverständlich. Sie erwarten vieleLeistungen vom Staat, halten aber selbst Distanz, weil sie meinen, "die da oben machen doch, wassie wollen".

Manche haben ein idealisiertes Bild von einer harmonischen, problemlos funktionierenden Demokratie.Gemessen am Ideal schneidet die Realität schlecht ab. Eine harmonische, konfliktfreie Gesellschaftexistiert jedoch nirgendwo. Wenn die Demokratie nicht die ideale Ordnung von Staat und Gesellschaftist, so ist bisher jedenfalls noch keine bessere erfunden worden. Sie ist die einzige, die ein Systemvon Spielregeln zur Verfügung stellt, in dem Konflikte friedlich ausgetragen, Kompromisse gefundenund Fehler korrigiert werden können.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 9-12.

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GrundgesetzVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Achtung der Menschenrechte: Die deutsche Verfassungdefiniert grundlegende Prinzipien der Ordnung in Deutschland. Dabei war das Grundgesetzzunächst nur als Provisorium gedacht.

Am 3. Oktober 1990 trat die DDR der Bundesrepublik Deutschland und damit dem "Geltungsbereichdes Grundgesetzes" bei. Damit wurde der Auftrag der Präambel des Grundgesetzes an das deutscheVolk erfüllt, "in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". AlleDeutschen leben in einem Staat mit völkerrechtlich gesicherten Grenzen und mit einer Verfassung,die sich in 60 Jahren bewährt hat und von der überwiegenden Mehrheit der Deutschen als die besteVerfassung seiner Geschichte angesehen wird.

Paulskirchenverfassung

Die erste freiheitliche Verfassung der Deutschen war 1849 von der Nationalversammlung in derFrankfurter Paulskirche verabschiedet worden. Die Hoffnungen der liberalen und demokratischenBewegung, die nationale Einheit als souveräne Entscheidung des deutschen Volkes aufparlamentarischem Wege zu erreichen, gingen nicht in Erfüllung. Der deutsche Nationalstaat sollteerst 1871 von Bismarck als Bund deutscher Fürsten gegründet werden. Das Deutsche Reich war einekonstitutionelle Monarchie mit obrigkeitsstaatlichen Zügen, die als Folge der Niederlage im ErstenWeltkrieg ihr Ende fand.

Weimarer Verfassung

Am 31. Juli 1919 verabschiedete die in Weimar tagende Nationalversammlung die "Verfassung desDeutschen Reichs", die Weimarer Verfassung. Das Reich wurde eine demokratische parlamentarischeRepublik. Dieser zweite Versuch, in Deutschland eine parlamentarische Demokratie westlicherPrägung zu schaffen, stieß von Beginn an auf erhebliche Vorbehalte. Die demokratischen Kräfte inPolitik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft blieben schwach. Die Republik scheiterte an denLasten des verlorenen Krieges und an wirtschaftlichen Krisen, die zur politischen Radikalisierung undzur Abwendung vieler Bürger von der Demokratie führten.

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Demokratiegründung

Der dritte Anlauf zur deutschen Demokratie begann unter noch weit schwierigeren Bedingungen. DasGrundgesetz entstand in einer Zeit, die geprägt war von beispielloser Not im Gefolge einesverheerenden Krieges, unter der moralischen Belastung durch die Verbrechen desnationalsozialistischen Regimes, in einem geteilten Land, das unter der Herrschaft der Siegermächtestand.

Als die Spannungen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion sich immer mehr verschärftenund eine Einigung über die Wiederherstellung eines gesamtdeutschen Staates immerunwahrscheinlicher wurde, kamen die Westmächte überein, einen westdeutschen Teilstaat zuerrichten. Die Militärgouverneure der drei Westzonen forderten die Ministerpräsidenten derwestdeutschen Länder auf, eine Nationalversammlung einzuberufen, um eine Verfassungauszuarbeiten. Sie sollte durch eine Volksabstimmung in Kraft gesetzt werden. Die Ministerpräsidentenbefürchteten, dass damit die Teilung Deutschlands auch staatsrechtlich besiegelt würde. Sie bestandendarauf, dass kein vollgültiger Staat entstehen sollte, sondern ein Provisorium. Daher arbeitete einevon den Landtagen in den drei Westzonen gewählte Versammlung aus 65 Mitgliedern ein Grundgesetzfür die einheitliche Verwaltung der Westzonen aus, das von den Parlamenten der Länder angenommenwerden sollte.

Der Parlamentarische Rat

Der Parlamentarische Rat trat am 1. September 1948 zusammen. Über die Grundprinzipien derVerfassungsordnung gab es trotz unterschiedlicher Auffassungen im Einzelnen keineMeinungsverschiedenheiten. Das Grundgesetz konnte am 23. Mai 1949 verkündet werden.

Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates hatten die Zerstörung der Weimarer Republik und dieErfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur vor Augen. Sie waren entschlossen, Schwächender Weimarer Verfassung, in denen sie einen wesentlichen Grund für das Scheitern der erstendeutschen Demokratie erblickten, zu vermeiden. Demokratie und Rechtsstaat sollten nicht noch einmaldurch verfassungsändernde Gesetze beseitigt werden können. Die grundlegenden Prinzipien, derKernbereich der Verfassung, sollten unantastbar sein und auch durch verfassungsänderndeMehrheiten nicht aufgehoben werden können.

Artikel 79

(3) Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, diegrundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.

Dieser Artikel legt die unveränderbaren Kernelemente der Verfassung fest. Art. 1 leitet den Katalogder Grundrechte ein und erklärt sie für unmittelbar geltendes Recht.

Artikel 20

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen unddurch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechungausgeübt.(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und dieRechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

Auch als "Verfassung in Kurzform" bezeichnet, enthält dieser Artikel die tragenden Strukturprinzipiendes Grundgesetzes:

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• Demokratie

• Bundesstaat

• Rechtsstaat

• Sozialstaat

Freiheitliche demokratische Grundordnung

Das Grundgesetz bezeichnet die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland alsfreiheitliche demokratische Grundordnung. Sie basiert auf den genannten Strukturprinzipien. DasBundesverfassungsgericht hat ihre Elemente bereits 1952 im Einzelnen definiert: "So lässt sich diefreiheitliche demokratische Grundordnung als eine Ordnung bestimmen, die unter Ausschluss jeglicherGewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage derSelbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheitdarstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen:"

• Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht derPersönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung

• Volkssouveränität

• Gewaltenteilung

• Verantwortlichkeit der Regierung

• Gesetzmäßigkeit der Verwaltung

• Unabhängigkeit der Gerichte

• Mehrparteienprinzip

• Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildungund Ausübung einer Opposition

Verfassungsreform

Das Grundgesetz erfährt mehr Zustimmung als alle bisherigen deutschen Verfassungen. Wo Kritikgeübt wird, zielt sie nicht auf die verfassungsmäßig festgelegte Ordnung, sondern auf die politischePraxis, die an den hohen Ansprüchen des Grundgesetzes gemessen wird und ihnen nicht immergenügen kann. Damit die Verfassung nicht ständig von wechselnden politischen Mehrheiten geändertwerden kann, sind hohe Hürden errichtet worden. Eine Änderung des Grundgesetzes bedarf derZustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen desBundesrates (Art. 79 Abs. 2).

Bis 2008 ist das Grundgesetz 52-mal geändert worden, mehr als 165 Artikel wurden abgeändert, neueingefügt oder aufgehoben. Zu den wichtigen Änderungen zählen die "Wehrverfassung" von 1956 unddie Notstandsgesetzgebung von 1968, die der gewandelten Stellung der Bundesrepublik Deutschlandim internationalen Staatensystem Rechnung trugen, sowie die zahlreichen Veränderungen derZuständigkeiten von Bund und Ländern, zuletzt 2006 die Föderalismusreform. Bedeutsam waren auch

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die Senkung des aktiven Wahlalters auf 18 Jahre, die verfassungsrechtliche Gewährleistung derVerfassungsbeschwerde und die Einsetzung des Wehrbeauftragten.

Durch die fortschreitende Auflösung der DDR und die sich abzeichnende Wiedervereinigung entstandeine neue Lage. Nach dem Grundgesetz gab es zwei Wege, die deutsche Einheit herzustellen. NachArt. 146 konnte eine neue Verfassung für das wiedervereinigte Deutschland ausgearbeitet werden,die das Grundgesetz abgelöst hätte. Den anderen Weg eröffnete der frühere Art. 23. Danach konnten"andere Teile Deutschlands" dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten. Die schnelleVereinigung entsprach dem Willen der überwältigenden Mehrheit der Menschen in der DDR und warauch durch die außenpolitische Lage geboten. Die am 18. März 1990 neu gewählte Volkskammer derDDR beschloss am 23. August 1990 mit großer Mehrheit den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschlandnach dem damaligen Art. 23.

Nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit wurde das Grundgesetz geändert, um der neuenSituation Rechnung zu tragen. In der Präambel heißt es jetzt, das Grundgesetz gelte für "das gesamteDeutsche Volk". Der bisherige Art. 23, der den Geltungsbereich des Grundgesetzes für "andere TeileDeutschlands" offenhielt, ist entfallen. Durch den Beitritt der neuen Länder hat sich dieZusammensetzung des Bundesrates geändert, das Stimmenverhältnis wurde neu festgelegt (Art. 51).

Ein neuer Art. 23 schuf die verfassungsmäßige Grundlage für die Mitgliedschaft Deutschlands in derEuropäischen Union (EU). Der Bundestag kann, heißt es dort, Hoheitsrechte auf die EU übertragen.Die Einführung des Euro machte es notwendig, den Artikel über die Bundesbank zu ergänzen. Aufgabenund Befugnisse der Bundesbank können der Europäischen Zentralbank übertragen werden (Art. 88).

Zu den wichtigen Änderungen des Grundgesetzes in den folgenden Jahren gehört die Änderung desAsylrechts (1993). Asyl kann danach nicht mehr beanspruchen, wer aus einem sicheren Drittlandeinreist oder aus einem Land stammt, in dem es keine politische Verfolgung gibt (Art. 16a). Ergänztwurde (1998) auch der Artikel über die Unverletzlichkeit der Wohnung. Auf richterliche Anordnungkönnen Wohnungen abgehört werden (Art. 13). Weitere wichtige Änderungen und Ergänzungenbetreffen die Förderung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen (Art. 3) aus dem Jahr 1994und die Einführung des Staatsziels, die "natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere" zu schützen(Art. 20a) aus dem Jahr 2002.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 13-17.

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GrundrechteVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Die Grundrechte schützen den Freiheitsraum jedes Einzelnen. Sie sind in den Artikeln 1 bis 19des Grundgesetzes festgelegt - aber auch in Urteilen des Verfassungsgerichts oder in derEuropäischen Menschenrechtskonvention.

Straße der Menschenrechte in Nürnberg: In jedes Element der Installation ist die Kurzfassung eines der 30 Artikelder UN-Menschenrechtserklärung von 1948 eingraviert. Foto: Dierk Schaefer Lizenz: cc by-nc-sa/2.0/de

Artikel 1

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung allerstaatlichen Gewalt.

Mit dieser feierlichen Erklärung beginnt der erste Artikel des Grundgesetzes. Die Grundrechte sind inArt. 1 bis 19 an die Spitze des Grundgesetzes gestellt worden. Der hohe Rang, den dieVerfassungsgeber den Grundrechten beimaßen, erklärt sich aus den Erfahrungen der WeimarerRepublik und der Zeit des nationalsozialistischen Regimes. Die Weimarer Verfassung enthielt ebenfallseinen Katalog von Grundrechten, doch sie waren nicht einklagbar, und sie konnten durchNotverordnungen außer Kraft gesetzt werden. Eine Notverordnung, die Verordnung des

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Reichspräsidenten "zum Schutz von Volk und Staat", leitete die nationalsozialistische Willkürherrschaftein, und die Entwürdigung des Menschen begann.

Abwehrrechte und Grundlage der Wertordnung

Viele betrachten die Grundrechte als etwas Selbstverständliches, das ihre persönliche Sphäre kaumberührt. Wie die geschichtliche Erfahrung zeigt, sind sie keineswegs selbstverständlich gewährleistet,und sie beeinflussen den Alltag des Einzelnen und das Zusammenleben aller in Staat und Gesellschaft.Grundrechte schützen den Freiheitsraum des Einzelnen vor Übergriffen der öffentlichen Gewalt, essind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Zugleich sind sie Grundlage der Wertordnung derBundesrepublik Deutschland, sie gehören zum Kern der freiheitlichen demokratischen Grundordnungdes Grundgesetzes.

Menschen- und Bürgerrechte

Zu unterscheiden ist zwischen allgemeinen Menschenrechten, die jedem zustehen, und Bürgerrechten,die nur für Staatsangehörige gelten.

Menschenrechte sind überstaatliche Rechte, sie gehören zur Natur des Menschen, es sind natürliche,angeborene Rechte. Dazu gehören die meisten Freiheitsrechte oder Grundfreiheiten, wie Freiheit derPerson, Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit. Bürgerrechte sind beispielsweise das Recht derVereinigungs- und Koalitionsfreiheit und der Freizügigkeit. Im Grundgesetz beginnen dieMenschenrechte mit den Worten: "Jeder hat das Recht ...", bei den Bürgerrechten heißt es: "AlleDeutschen haben das Recht ..."

Freiheits-, Gleichheits- und Unverletzlichkeitsrechte

Eine andere Einteilung unterscheidet zwischen Freiheitsrechten, wie dem Recht auf freieMeinungsäußerung, Gleichheitsrechten, zum Beispiel dem Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz undder Gleichberechtigung von Mann und Frau, und Unverletzlichkeitsrechten oder Abwehrrechten, wieUnverletzlichkeit der Wohnung, Freizügigkeit, Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis.

Über den Grundrechtskatalog in Art. 1 bis 19 hinaus enthält das Grundgesetz noch weitere Grundrechte:

• Art. 20 Abs. 4: Widerstandsrecht,

• Art. 33: Gleicher Zugang zu öffentlichen Ämtern,

• Art. 38: Wahlrecht,

• Art. 101, 103 und 104: Justizielle Grundrechte.

Der Datenschutz ist in Deutschland noch nicht ausdrücklich im Grundgesetz verankert. In vieleVerfassungen der Länder ist das Recht auf den Schutz der personenbezogenen Daten allerdingsaufgenommen.

Mit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983 wurde früh das "Recht aufinformationelle Selbstbestimmung" festgeschrieben. Das Bundesdatenschutzgesetz von 1990 trug inder Folge dazu bei, "den Einzelnen davor zu schützen, dass er durch den Umgang mit seinenpersonenbezogenen Daten in seinem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt wird" (Paragraf 1). Mit zweiweiteren Urteilen hat das Bundesverfassungsgericht 2008 (27. Februar und 11. März) das Recht aufinformationelle Selbstbestimmung erheblich gestärkt und sogar ein neues Grundrecht zum Schutz der

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digitalen Kommunikation geschaffen.

Garantien der Grundrechte

Im Unterschied zur Weimarer Verfassung sind die Grundrechte im Grundgesetz mit besonderenGarantien ausgestattet:

Artikel 1

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechungals unmittelbar geltendes Recht.

Die Grundrechte sind geltendes Recht. Keine der drei Staatsgewalten kann etwas tun oder unterlassen,was im Widerspruch zu ihnen steht. Die Grundrechte können notfalls bis zumBundesverfassungsgericht eingeklagt werden.

Themengrafik Grundrechte: Das Grundgesetz schreibt zahlreiche Menschen- und Bürgerrechte fest, zu derenEinhaltung der Staat verpflichtet ist. Zum Öffnen der PDF-Version (299 KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: ccby-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/pdf/4ALIWZ.pdf)

Artikel 79

(1) Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzesaus- drücklich ändert oder ergänzt. (...)(2) Ein solches Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages undzwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates.(3) Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, diegrundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.

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Die Grundrechte dürfen nicht beseitigt werden. Auch eine mit Zweidrittelmehrheit beschlosseneVerfassungsänderung darf die Grundsätze der Unantastbarkeit der Menschenwürde und derRechtsstaatlichkeit, die auch die Garantie der Grundrechte enthalten, nicht antasten.

Artikel 19

(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzeseingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. (...)(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

Nur solche Grundrechte dürfen eingeschränkt werden, für die dies im Grundgesetz ausdrücklichvorgesehen ist. Zum Beispiel ist das Grundrecht der Versammlungsfreiheit für Versammlungen unterfreiem Himmel durch das Versammlungsgesetz eingeschränkt (Art. 8 Abs. 2). Solche gesetzlichenBeschränkungen müssen allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Die "Bannmeile" umParlamente zum Beispiel gilt für alle. Ein Grundrecht darf nicht in seinem Kern ("Wesensgehalt")angetastet werden. Wenn Versammlungen unter freiem Himmel eingeschränkt sind, bleibt dieVersammlungsfreiheit grundsätzlich erhalten.

Die Grundrechte dürfen nicht aberkannt werden. Wer aber bestimmte Grundrechte zum Kampf gegendie freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt sie, das heißt, er kann sich beimEinschreiten der Staatsgewalt nicht auf das betreffende Grundrecht berufen.

Gegen Versuche, die verfassungsmäßige Ordnung und damit die Grundrechte zu beseitigen, habenalle Deutschen das Recht zum Widerstand.

Soziale Grundrechte

Die Bundesrepublik Deutschland ist nach Art. 20 ein Sozialstaat. Das Grundgesetz enthält aber nurwenige soziale Grundrechte. Darin unterscheidet es sich von der Weimarer Verfassung, dieweitreichende soziale Verpflichtungserklärungen aufweist, darunter die Zusicherung, jeder Deutschesolle die Möglichkeit haben, durch Arbeit seinen Unterhalt zu erwerben. Diese begründeten keineRechtsansprüche und blieben folgenlos, weil sie angesichts der wirtschaftlichen Misere nicht eingelöstwerden konnten.

Soziale Grundrechte unterscheiden sich von den überlieferten Freiheits- und Gleichheitsrechten ineinem zentralen Punkt. Die Letzteren schützen Rechte der Bürger. Sie fordern vom Staat, Eingriffe zuunterlassen, und sind gerichtlich einklagbar. Soziale Grundrechte begründen Ansprüche von Bürgern.Sie fordern vom Staat, Eingriffe vorzunehmen. Die Problematik wird deutlich, wenn die Konsequenzenbedacht werden: Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13) beispielsweise schütztden Einzelnen vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen in die Privatsphäre. Ein Grundrecht aufWohnung würde den Staat verpflichten, jedem Bürger eine angemessene Wohnung zu verschaffen.Wohnungen müssten auf Staatskosten errichtet und vom Staat verwaltet werden. Es müsste gesetzlichgeregelt werden, welche Wohnfläche jedem zusteht und wie viel dafür zu zahlen ist.

Ein Grundrecht auf Arbeit würde den Staat in die Pflicht nehmen, jedem einen Arbeitsplatz zugarantieren. Der Staat müsste selbst Arbeitsplätze schaffen oder die Privatwirtschaft veranlassen,Arbeitsplätze bereitzustellen. In jedem Fall müsste der Staat für die finanziellen Folgen einstehen,wenn die Arbeitsplätze sich als nicht wirtschaftlich erweisen. Die erforderliche staatliche Lenkung desArbeitsmarktes würde das Grundrecht auf freie Wahl des Berufs und des Arbeitsplatzes sowie dieTarifautonomie einschränken.

Angesichts der begrenzten finanziellen Mittel könnten Ansprüche, die aus sozialen Grundrechtenerwachsen, immer nur begrenzt eingelöst werden. Unerfüllte Ansprüche müssten zur Enttäuschung

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führen und könnten Zweifel an der Verbindlichkeit der Verfassung auslösen.

In den Verfassungen zahlreicher Bundesländer, darunter in denen aller neuen Bundesländer, sindsoziale Rechte auf Arbeit, soziale Sicherheit und Wohnung niedergelegt. Es sindStaatszielbestimmungen mit allgemein verpflichtendem Charakter und Bindung an die finanziellenMöglichkeiten. In der brandenburgischen Verfassung heißt es beispielsweise: "Das Land ist verpflichtet,im Rahmen seiner Kräfte für die Verwirklichung des Rechts auf soziale Sicherung, (... auf eineangemessene Wohnung, ... auf Arbeit) zu sorgen." (Art. 45, 47, 48)

Rechte und Pflichten

Das Grundgesetz spricht, anders als die Weimarer Verfassung, nicht ausdrücklich von Grundpflichten.Nur einige wenige Pflichten sind aufgeführt, so die Pflicht zur Verfassungstreue für Inhaber des(wissenschaftlichen) Lehramts (Art. 5 Abs. 3), die Pflicht der Eltern zur Pflege und Erziehung der Kinder(Art. 6 Abs. 2), die Wehrpflicht und die Pflicht zum zivilen Ersatzdienst (Art. 12 a).

Ein Katalog von Grundpflichten würde dem Geist einer demokratischen Verfassung widersprechen.Demokratie setzt voraus, dass jeder aus eigener Verantwortung seinen Pflichten gegenüber derGemeinschaft nachkommt.

Die selbstverständliche Verbindung von Rechten und Pflichten stellt Art. 33 Abs. 1 her: "Jeder Deutschehat (...) die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten." Der Bestand des demokratischenRechtsstaates hängt von der Einsicht eines jeden Bürgers ab, dass Rechte und Pflichten eineuntrennbare Einheit bilden.

Die Menschenrechtskonvention des Europarats

Über die Garantie der Grundrechte im Grundgesetz hinaus genießen die Bürgerinnen und Bürger derBundesrepublik Deutschland auch den Grundrechtsschutz der Europäischen "Konvention zumSchutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten" (Europäische Menschenrechtskonvention=EMRK)des Europarats. Sie wurde 1950 verabschiedet und trat 1953 in Kraft. Das Abkommen verpflichtet dieMitgliedsstaaten, die klassischen Menschenrechte zu schützen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der in seiner heutigen Form als ständigtagendes Gericht seit 1998 besteht, ist aus Berufsrichtern zusammengesetzt. Jeder Mitgliedsstaat(Oktober 2009: 47) entsendet einen Richter. Die Amtszeit beträgt sechs Jahre. Die Einrichtung unddie Verfahrenswege des Gerichtshofs sind in Abschnitt II der EMRK genau festgelegt. Beschwerdenkönnen von Mitgliedsstaaten gegen andere Mitgliedsstaaten erhoben werden (Staatenbeschwerde).Aber auch Bürger können, nachdem sie den innerstaatlichen Rechtsweg ausgeschöpft haben, Klageerheben (Individualbeschwerde).

Die Zahl der Anrufungen stieg von 404 im Jahr 1981 auf 40.000 im Jahr 2007. In diesem Jahr wurden1.500 Entscheidungen gefällt. 27.100 Beschwerden wurden für unzulässig erklärt. Ende 2007 warennoch 80.000 Beschwerden anhängig. Wegen des großen Anfalls an Beschwerden wird dieVerfahrensdauer immer länger. 2007 lagen 2.000 Verfahren mehr als fünf Jahre beim EGMR. EineReform soll die chronische Überlastung des Gerichtshofs vermindern, vor allem durch eine vereinfachteAbweisung unzulässiger Beschwerden. Sie ist Anfang 2006 von allen Mitgliedsstaaten des Europaratsratifiziert worden, mit Ausnahme Russlands, das damit die Reform bisher blockiert.

Alle Entscheidungen des Gerichtshofes sind verbindlich, sie müssen von den Staaten befolgt werden.Die Tätigkeit des Gerichtshofes hat wesentlich dazu beigetragen, dass Menschenrechte undGrundfreiheiten in Europa einen hohen Wert darstellen. Viele grundlegende Urteile, in denen Staatenverurteilt wurden, haben zu Änderungen der Gesetzgebung und des Umganges der Mitgliedsstaatenmit den Menschenrechten geführt.

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Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 18-21.

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BundesstaatVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Die föderale Gliederung der Bundesrepublik hat historische Wurzeln. Im Bundesstaat ist dieMacht aufgeteilt, Bund und Länder müssen zusammenarbeiten und kontrollieren sich sogegenseitig.

Mit der Entscheidung für eine bundesstaatliche Ordnung knüpften die Verfassungsgeber an altedeutsche Verfassungstraditionen an. Manche Länder der Bundesrepublik Deutschland, wie Bayern,Mecklenburg, Sachsen, die Hansestädte Bremen und Hamburg, können auf eine jahrhundertelangeGeschichte zurückblicken. Der erste Bundesstaat auf deutschem Boden, der Norddeutsche Bund,entstand 1867. Auch das Bismarckreich und die Weimarer Republik waren Bundesstaaten. 1933wurden die föderalistischen Strukturen zerschlagen, und der nationalsozialistische Führerstaat trat anihre Stelle. In der DDR wurden die fünf Länder 1952 aufgelöst und durch 15 Bezirke ersetzt, die vonOstberlin aus regiert wurden.

Die föderalistische Ordnung hatte anfangs wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Im Laufe der Zeit hatsich das Meinungsbild gewandelt, die Zustimmung zum föderalistischen System ist heute fast einhellig,es gibt nur noch wenige Befürworter eines zentralistischen Staates.

Was spricht gegen den Bundesstaat?

Die Verfechter eines Zentralstaates führen gegen die föderalistische Ordnung ins Feld:

Der Bundesstaat ist zu kompliziert. Der Entscheidungsprozess ist schwerfällig. Bund und Ländermüssen langwierige Verhandlungen führen, bis es endlich zu Entscheidungen kommt, die oft nurmühsame Kompromisse darstellen.

Der Bundesstaat ist unübersichtlich. Das Zusammenwirken im Kooperativen Föderalismus mit denvielen formellen und informellen Gremien verwischt die klare Abgrenzung der Kompetenzen und machtEntscheidungsprozesse undurchschaubar. Damit werden die demokratischen Prinzipien derÖffentlichkeit und Transparenz unterlaufen.

Der Bundesstaat hat unterschiedliche Lebensverhältnisse zur Folge. Diese Situation kann für diebetroffenen Bürger ungünstig sein, etwa, wenn verschiedene Schulsysteme bei einem Wohnortwechselnachteilig für die Kinder sind.

Der Bundesstaat kostet zu viel Geld. 16 (Landes-)Regierungen, Parlamente und Verwaltungen sindteurer als die entsprechenden Organe in einem Einheitsstaat.

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Was spricht für den Bundesstaat?

Der Bundesstaat beschränkt die Machtkonzentration im Zentralstaat. Die klassische horizontaleGewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung ist im heutigen Parteienstaat weitgehendunwirksam geworden, die staatliche Macht liegt in der Hand der Regierung und der sie stützendenParlamentsmehrheit. Im föderalistischen System sind die staatlichen Aufgaben zwischen Bund undLändern aufgeteilt. Sie müssen zusammenwirken und kontrollieren sich damit gegenseitig (vertikaleGewaltenteilung). Das geschieht vor allem durch die Mitwirkung des Bundesrates an der Gesetzgebungdes Bundes.

Der Bundesstaat ermöglicht mehr politische Beteiligung. Die Wähler können von ihrem Stimmrechtdoppelt Gebrauch machen, nicht nur alle vier Jahre bei der Wahl zum Bundesparlament, sondern auchbei der Wahl zum Landesparlament.

Der Bundesstaat mit seiner Gliederung in kleinere überschau-barere Einheiten sichert mehrBürgernähe. Das politische Engagement der Bürgerinnen und Bürger wird erleichtert, und ihreInteressen werden wirksamer wahrgenommen, wenn nicht alles von einer fernen Zentrale bestimmtwird, sondern wenn Entscheidungen von Politikern und Verwaltung getroffen werden, die mit denregionalen Verhältnissen vertraut und für die Menschen leichter erreichbar sind.

Der Bundesstaat kann reformfreudiger sein. Neuerungen, in einem Land ausprobiert, werden vonanderen übernommen, wenn sie sich bewährt haben.

Der Bundesstaat verbessert die Chancen der Opposition. Sie kann in den Ländern, in denen siedie Regierung stellt, politische Alternativen zur Bundesregierung anbieten und ihre Regierungsfähigkeitunter Beweis stellen.

Der Bundesstaat sorgt für eine breite Reserve an politischem Führungspersonal. In denParlamenten und Regierungen der Länder können sich Politiker bewähren und für Führungsaufgabenim Bund qualifizieren. So sind alle Bundeskanzler seit 1966 zuvor Ministerpräsidenten in Ländern(Kiesinger, Brandt, Kohl, Schröder) oder Landesminister (Schmidt) gewesen. Eine Ausnahme istBundeskanzlerin Angela Merkel. Ebenso waren Kanzlerkandidaten zuvor häufig Regierungschefs inLändern.

Der Bundesstaat ist eine gerade Deutschland angemessene Staatsform. Im Laufe seinerGeschichte haben sich vielfältige landsmannschaftliche und kulturelle Unterschiede und Traditionenherausgebildet. Überall gibt es städtische Zentren, die auf eine reiche Geschichte zurückblicken undpolitisch, wirtschaftlich, vor allem aber kulturell bedeutend sind. Diese Vielfalt würde in einemEinheitsstaat mit der Anziehungskraft seiner Metropole verkümmern. Sie kann in einem Bundesstaatam besten bewahrt werden.

Grundsätze der bundesstaatlichen Ordnung

Artikel 20

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

Das Grundgesetz hat mit diesem Artikel die bundesstaatliche Ordnung, die Gliederung des Staates inBund und Länder, zwingend vorgeschrieben. Die Entscheidung für den Bundesstaat bedeutet nicht,dass der Bestand jedes gegenwärtigen Landes in den bestehenden Grenzen garantiert ist. EineNeugliederung der Länder und eine Verringerung der Zahl der Länder sind nach Art. 29 und 118azulässig.

Artikel 79

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(3) Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, diegrundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.

Solange das Grundgesetz besteht, darf die bundesstaatliche Ordnung nicht einmal durch eineverfassungsändernde Zweidrittelmehrheit beseitigt werden. Auch die wichtigste Kompetenz derLänder, die Mitwirkung an der Gesetzgebung, muss erhalten bleiben. Das schließt die Mitwirkung ander Gesetzgebung des Bundes und das Recht einer eigenständigen Landesgesetzgebung ein.

Artikel 28

(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen,demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. (...)

In einem Bundesstaat sind die Länder Staaten, nicht nur Selbstverwaltungskörperschaften wie dieGemeinden. Sie haben eigene Verfassungen und verfügen über die Institutionen des parlamentarisch-demokratischen Regierungssystems: Parlament, Regierung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Der Art.28 Abs. 1 des Grundgesetzes schreibt vor, dass die Verfassung und die Staatsordnung in den Ländernmit den Prinzipien des Grundgesetzes übereinstimmen müssen. Ein Bundesland dürfte beispielsweisenicht die Monarchie oder ein basisdemokratisches System einführen.

Artikel 31

Bundesrecht bricht Landesrecht.

Diese Vorschrift bezieht sich auf die Gegenstände, für die der Bund das Recht der ausschließlichenGesetzgebung hat, und auf Bereiche, in denen Bund und Länder nebeneinanderGesetzgebungskompetenzen besitzen. Der Artikel gilt nicht für Angelegenheiten, die allein von denLändern gesetzlich zu regeln sind, zum Beispiel das Schulwesen.

Ein ungeschriebener Verfassungsgrundsatz ist die Verpflichtung zur Bundestreue. Sie gilt für Bundund Länder. Die Länder müssen sich bundesfreundlich und der Bund muss sich länderfreundlichverhalten. Dies gilt ebenso für das Verhältnis der Länder untereinander. Die Bundesregierung darfzum Beispiel ein Land nicht deshalb benachteiligen, etwa durch Ablehnung von Investitionshilfen, weildessen Regierung die gleiche parteipolitische Färbung hat wie die Opposition im Bundestag. DieLänder haben sich gegenseitig Hilfe zu leisten, beispielsweise durch Finanzausgleich.

Bund und Länder

Zusammenarbeit zwischen Bund und LändernDie Zuständigkeiten und Aufgaben des Bundes und der Länder bei Gesetzgebung und Verwaltungsind im Grundgesetz bis ins Einzelne geregelt. Darüber hinaus haben sich vielfältige Formen desZusammenwirkens von Bund und Ländern und der Länder untereinander entwickelt. Man spricht vomKooperativen Föderalismus und drückt damit eigentlich eine Selbstverständlichkeit aus: dieVerpflichtung des Bundes und seiner Glieder zur gegenseitigen Abstimmung und zur Zusammenarbeitim Interesse des Gemeinwohls. Diese Kooperation ist vielfach informeller Art, es gibt aber auchformalisierte Regelungen des Zusammenwirkens.

In regelmäßigen Abständen finden Besprechungen des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidentender Länder statt. Sie dienen dem Meinungs- und Erfahrungsaustausch, oft auch der Vorbereitungwichtiger Gesetze.Die ständige Wahrnehmung der Länderinteressen obliegt den Vertretungen, die jedes Land in derBundeshauptstadt unterhält. An ihrer Spitze steht der Bevollmächtigte des Landes beim Bund, zumeistder Landesminister (oder Senator) für Bundesangelegenheiten. Die Landesvertretungen halten

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Kontakt zu den Bundesministerien, den Ausschüssen in Bundestag und Bundesrat, zu den anderenLandesvertretungen und berichten ihrer Landesregierung über die Politik des Bundes.

Zusammenarbeit zwischen den Ländern

Mindestens einmal im Jahr treffen die Ministerpräsidenten der Länder zusammen, häufiger findenKonferenzen der Fachminister statt. Hier werden Gesetzesvorhaben der Länder, gemeinsameInitiativen im Bundesrat oder auch Gemeinschaftsprojekte benachbarter Länder (Straßenbau,Flussregulierung, Hafenausbau, Müllbeseitigungsanlagen) vereinbart, entweder durch einVerwaltungsabkommen, das die Regierungen schließen, oder durch einen Staatsvertrag, dem dieParlamente zustimmen müssen.

In der Regel beziehen sich Verwaltungsabkommen auf die erwähnten regionalen Projekte.Staatsverträge werden zumeist von allen Ländern geschlossen. Beispiele hierfür sind dieStaatsverträge über die Errichtung des Zweiten Deutschen Fernsehens, über die Höhe derRundfunkgebühren und über die Vergabe von Studienplätzen.

Die bekannteste Fachkonferenz ist die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder. Um einmöglichst einheitliches Bildungssystem im gesamten Bundesgebiet zu gewährleisten, hat dieKultusministerkonferenz über tausend Beschlüsse gefasst. Geregelt wurden beispielsweise dieAnerkennung der Abschlusszeugnisse und der Lehramtsprüfungen, die Dauer der Schulpflicht, dieEinheitlichkeit der Prüfungsanforderungen im Abitur, Numerus clausus und Studienplatzvergabeebenso wie Feriendauer und der gestaffelte Ferienbeginn. Die Beschlüsse der"Kultusministerkonferenz" müssen einstimmig sein und haben den Charakter von Empfehlungen. Siewerden erst wirksam, wenn ihnen die Landesparlamente zugestimmt haben. Im Ergebnis ist dasSchulsystem heute einheitlicher, als es in Deutschland je gewesen ist.

Wie werden die Steuern verteilt?

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Themengrafik Steuereinnahmen: Welche Steuern vom Bund und von den Ländern erhoben werden dürfen und wiesie auf Bund, Länder und Gemeinden aufzuteilen sind, ist gesetzlich festgelegt. Zum Öffnen der PDF-Version (126KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/steuereinnahmen.pdf)

Bund, Länder und Kommunen fordern von ihren Bürgern Steuern, damit sie ihre Aufgaben wahrnehmenkönnen. Sie erheben sie entweder selbst oder haben Anspruch auf einen Teil der Steuergelder, dieihnen gemeinsam zustehen. Das Grundgesetz regelt das öffentliche Finanzwesen, die so genannteFinanzverfassung, sehr genau in Art. 104a–115. Festgelegt ist, welche Steuern vom Bund und vonden Ländern per Gesetz erhoben werden dürfen, wie sie auf Bund, Länder und Gemeinden aufzuteilensind und wie Unterschiede im Steueraufkommen zwischen "reichen" und "armen" Ländernauszugleichen sind.

Dem Bund stehen vor allem die meisten Verbrauchssteuern (auf Mineralöl, Tabak, Branntwein, Kaffee)und die Versicherungssteuer zu. Die Länder erheben vor allem die Kraftfahrzeugsteuer, die Erbschafts-und die Grunderwerbssteuer sowie die Biersteuer.

Bund und Ländern gemeinsam stehen zu: die Lohn- und Einkommenssteuer, die Umsatzsteuer(Mehrwertsteuer) sowie die Körperschaftssteuer. Diese Gemeinschaftssteuern sind die ertragreichstenSteuern. Sie machen 70 Prozent der gesamten Steuereinnahmen aus. Ihr Aufkommen wird nach einembestimmten Schlüssel aufgeteilt. Von der Lohn- und Einkommenssteuer erhalten die Gemeinden 15Prozent. Bund und Länder teilen sich die restlichen 85 Prozent. Die Körperschaftssteuer steht je zurHälfte Bund und Ländern zu.

Die Aufteilung der Umsatzsteuer ist nach Art. 106 Abs. 4 neu festzusetzen, "wenn sich das Verhältniszwischen den Einnahmen und Ausgaben des Bundes und der Länder wesentlich anders entwickelt(...)". Einer solchen Neufestsetzung gehen regelmäßig heftige politische Auseinandersetzungenvoraus, bis schließlich ein Kompromiss gefunden wird. Seit 2008 erhalten die Gemeinden 2 Prozentdes Umsatzsteueraufkommens. Das verbleibende Aufkommen steht dem Bund zu 54,7 Prozent undden Ländern zu 43,3 Prozent zu.

Die Wirtschaftskraft der Länder ist unterschiedlich. Das schlägt sich im Steueraufkommen nieder. Nachdem Grundgesetz muss die unterschiedliche Finanzkraft der Länder "angemessen ausgeglichen"

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werden. In einem Finanzausgleich erhalten die finanzschwachen Länder einen Teil der Einnahmender finanzstarken Länder, sodass sie wenigstens 95 Prozent des Bundesdurchschnitts pro Einwohnerzur Verfügung haben. Eine neue Lage hat sich nach der Herstellung der deutschen Einheit ergeben.Die Finanzkraft der neuen Länder wird für lange Zeit nicht ausreichen, um ihre Ausgaben eigenständigzu decken. Bis 1994 ist das Defizit durch den "Fonds Deutsche Einheit" ausgeglichen worden. Seit1995 sind die neuen Länder in den Länderfinanzausgleich einbezogen.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 22-27.

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RechtsstaatVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Die Rechtsgleichheit ist eins der Grundprinzipien des Rechtsstaates: Vor dem Gesetz sind alleBürger gleich. Im 19. Jahrhundert hat in Deutschland das aufstrebende Bürgertum die Prinzipiendes liberalen Rechtsstaates durchgesetzt.

Die Idee eines Staates, in dem das Gesetz herrscht und der allen Bürgerinnen und BürgernRechtssicherheit gewährleistet, entstand schon in der griechischen Antike. Die Philosophie derAufklärung nahm die gleichfalls aus der Antike stammende Naturrechtslehre wieder auf: Jeder Menschbesitzt in seiner Natur begründete, angeborene Rechte. Es sind vor- oder überstaatliche Rechte, dieder Staat nicht verleihen, sondern nur garantieren kann.

Der Begriff des Rechtsstaats entstand im 19. Jahrhundert in Deutschland und spielt seitdem einezentrale Rolle in der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte. Die meisten anderen Staatenkennen den Begriff nicht, dort ist Rechtsstaat gleichbedeutend mit Verfassungsstaat oder Demokratie.

Der liberale Rechtsstaat

Das wirtschaftlich aufstrebende Bürgertum hat die Prinzipien des liberalen Rechtsstaates im Kampfgegen den monarchischen Obrigkeitsstaat, der die Bürger als Untertanen bevormundete, durchgesetzt.Die politische Ideologie des Bürgertums, der Liberalismus, forderte die Beseitigung aller Schranken,die die Selbstentfaltung des Individuums behinderten. Der Staat sollte sich darauf beschränken, diepolitische Freiheit und die ungehinderte wirtschaftliche Betätigung der Bürger zu garantieren.

Grundprinzipien

Alles staatliche Handeln ist an das Gesetz gebunden (Rechtssicherheit), vor dem Gesetz sind alleBürger gleich (Rechtsgleichheit), unabhängige Gerichte schützen die Bürger vor willkürlichen Eingriffendes Staates (Rechtsschutz).

In der Wirtschaft soll nach den Grundsätzen des liberalen Rechtsstaates das freie Spiel der Kräfteherrschen, Produzenten und Konsumenten sollen ihre wirtschaftlichen Interessen ohne staatlicheEingriffe verfolgen können. Der Staat soll lediglich durch rechtliche Regelungen die Voraussetzungendafür schaffen: Garantie des Privateigentums, freier Wettbewerb, Gewerbefreiheit, Vertragsfreiheit,freier Handel.

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Rechtsstaat und soziale Frage

Die Freiheits- und Rechtsgarantien des liberalen Rechtsstaates sind wesentliche Bestandteile desheutigen Rechtsstaates. Sie erwiesen sich jedoch in zweierlei Hinsicht als ergänzungsbedürftig. Schonim 19. Jahrhundert wurde offenkundig, dass der ungehemmte Wirtschaftsliberalismus die sozialeUngleichheit und die daraus folgenden sozialen Missstände derart verschärfte, dass der Staat zumEingreifen gezwungen war. Damit setzte eine Entwicklung ein, die zum modernen Sozialstaat führte.Das Grundgesetz verknüpft folgerichtig Rechtsstaat und Sozialstaat zum sozialen Rechtsstaat.

Gesetzesstaat und materieller Rechtsstaat

Spätere Erfahrungen zeigten, dass die bloße Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz, der nur formaleGesetzesstaat, keinen Schutz vor staatlicher Willkür bietet. Das nationalsozialistischeHerrschaftssystem kleidete seine Unrechtsmaßnahmen formal in Gesetze, vom Ermächtigungsgesetzbis zu den Rassengesetzen, und zerstörte damit den Rechtsstaat. In der DDR herrschte die"sozialistische Gesetzlichkeit", in der das Recht dazu diente, den Willen der Partei zu vollziehen. Diebloß formale Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz reicht offensichtlich nicht aus, um denRechtsstaat zu bewahren. Hinzutreten muss die inhaltliche Bindung an eine höherrangigeWertordnung, zum Beispiel an das Naturrecht. Das formale Prinzip des Gesetzesstaates muss ergänztwerden durch das inhaltliche, materielle Rechtsstaatsprinzip. Nach dem Grundgesetz ist die Würdedes Menschen der oberste Grundwert, dem alle staatliche Gewalt verpflichtet ist.

Der Rechtsstaat im Grundgesetz

Artikel 28(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen,demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. (...)

Der Begriff "Rechtsstaat" kommt im Grundgesetz nur einmal vor, in Art. 28 als verbindlicheVerfassungsordnung für die Länder; für den Bund wird er damit vorausgesetzt. Der Rechtsstaat findetseinen Ausdruck vor allem in der Garantie der Grundrechte und in der Unabhängigkeit derRechtsprechung. Darüber hinaus wird er in vielen Artikeln des Grundgesetzes näher beschrieben. Zuden wichtigsten gehören:

Artikel 20(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und dieRechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

Verfassungsmäßigkeit und Rechtsbindung

Als erste deutsche Verfassung hat das Grundgesetz den Vorrang der Verfassung vor der Gesetzgebungeingeführt. Damit sollte verhindert werden, dass – wie in der Weimarer Republik – mitverfassungsändernden Mehrheiten Gesetze beschlossen werden, die gegen die Verfassung verstoßen(Verfassungsdurchbrechung).

Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bindet die Verwaltung an die Gesetze. Er schließtbeispielsweise Ermessensentscheidungen aus, die gegen ein Gesetz oder eine andereRechtsvorschrift verstoßen.

Artikel 19(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtswegoffen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben.(...)

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Rechtsweggarantie

Jeder Bürger hat das Recht, bei einer Verwaltungsbehörde einen förmlichen Widerspruch einzureichen,wenn er sich durch deren Maßnahmen zu Unrecht belastet bzw. in seinen Rechten unmittelbar undpersönlich verletzt sieht. Führt der Widerspruch nicht zum Erfolg, hat der Bürger das Recht, die Gerichteanzurufen.

Diese Rechtsweggarantie beseitigt die "Selbstherrlichkeit der vollziehenden Gewalt im Verhältnis zumBürger" (Bundesverfassungsgericht), der Einzelne steht nicht als "Untertan" einer nach Beliebenhandelnden "Obrigkeit" gegenüber. In der Regel sind Verwaltungsgerichte für Klagen gegen dieVerwaltung zuständig.

Glaubt ein Bürger, in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein, so kann er nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde einlegen.

Rechtsstaat und Widerstandsrecht

Artikel 20(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Rechtzum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Das Widerstandsrecht wurde erst im Zusammenhang mit der Notstandsgesetzgebung von 1968 indas Grundgesetz aufgenommen.

Widerstand ist nur zulässig gegen den Versuch, "diese Ordnung" zu beseitigen, das bedeutet dieVerfassungsordnung, wie sie in den vorausgehenden Abs. 1–3 des Art. 20 festgelegt ist: Demokratie,Bundesstaat, Rechtsstaat, Sozialstaat. Widerstand kann sich gegen "jeden" richten, sowohl gegen dieStaatsgewalt, einen "Staatsstreich von oben", als auch gegen revolutionäre Kräfte, einen "Staatsstreichvon unten". Widerstand ist nur erlaubt, wenn "andere Abhilfe nicht möglich ist". Es ist das letzte Mittel,wenn die Institutionen des Rechtsstaates, insbesondere die unabhängigen Gerichte, nicht mehrhandlungsfähig sind. Auf das Widerstandsrecht kann sich nicht berufen, wer einzelne staatlicheHandlungen, zum Beispiel die friedliche Nutzung der Kernenergie, aus Gewissensgründen ablehnt.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 28-31.

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SozialstaatVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Die Sozialstaatlichkeit ist zwar im Grundgesetz verankert, ihre konkrete Ausgestaltung aberweitgehend dem Gesetzgeber überlassen. Der Staat muss jedoch allen Bürgern dasExistenzminimum sichern.

Die Sozialstaatlichkeit ist im Grundgesetz an zwei Stellen verankert: so in Art. 20 Abs. 1, der densozialen Bundesstaat fordert, und in Art. 28, in dem die Bundesrepublik Deutschland als "sozialerRechtsstaat" bezeichnet wird.

Anders als das Rechtsstaatsprinzip wird der soziale Auftrag des Staates, das Sozialstaatsgebot, nuran wenigen Stellen des Grundgesetzes im Einzelnen konkretisiert. Der Parlamentarische Rat hatdavon abgesehen, ein verbindliches Modell des Sozialstaates vorzuschreiben. Er hat die Ausgestaltungweitgehend dem Gesetzgeber überlassen.

Sozialstaatsprinzip

Die Prinzipien des Rechtsstaates sind unveränderlich und zeitlos gültig. Soziale Gerechtigkeit, diezentrale Zielsetzung des Sozialstaates, lässt sich nicht ein für alle Mal verbindlich definieren. IhreAusgestaltung hängt ab von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung sowie demgesellschaftlichen Bewusstsein. Das Sozialstaatsprinzip ist somit ein dynamisches Prinzip, das denGesetzgeber verpflichtet, die sozialen Verhältnisse immer wieder neu zu regeln.

Soziales Handeln

Das Grundgesetz sichert nur wenige soziale Grundrechte zu. Beispielsweise legt Art. 6 Abs. 4 fest:"Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft."

Mehrere Grundrechtsartikel fordern jedoch vom Staat soziales Handeln:

• Aus der Verpflichtung der staatlichen Gewalt, die Menschenwürde zu achten und zu schützen(Art. 1), folgt, dass der Staat allen seinen Bürgern das materielle Existenzminimum sichern muss.

• Die Gleichberechtigung von Mann und Frau und das Diskriminierungsverbot, also das Verbot,jemanden aus irgendwelchen Gründen zu benachteiligen (Art. 3 Abs. 2 und 3), verpflichten dazu,soziale Ungleichheiten zu beseitigen und für Gleichbehandlung, zum Beispiel am Arbeitsplatz, zusorgen.

• Der Schutz von Ehe und Familie (Art. 6) gibt dem Staat auf, die finanziellen Belastungen durchKindergeld und Steuervergünstigungen zu erleichtern und Mütter durch Kündigungsschutz undMutterschaftsgeld abzusichern.

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• Die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3) garantiert Arbeitnehmern, dass sie ihre Stellung im Arbeitslebendurch Bildung von Gewerkschaften verbessern können.

• Die Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2) ist ein Teil des Sozialstaatsgebots.

Sozialpolitik

Gesetzgebung und Rechtsprechung haben das Sozialstaatsgebot auf vielfältige Weise in die Tatumgesetzt. Sozialpolitik ist nicht auf einen bestimmten Politikbereich beschränkt, sondern greift mitdem Ziel der Angleichung der Lebenschancen und der Verbesserung der Lebensbedingungen in vieleBereiche ein. Kern der Sozialpolitik sind die klassischen Systeme der sozialen Sicherung gegenLebensrisiken: Alter, Krankheit, Unfall, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit. Dazu gehören fernerMaßnahmen des sozialen Ausgleichs und der Hilfe in Notlagen: Kindergeld, Kinderfreibeträge,Erziehungsgeld, Mutterschutz, Wohngeld und Sozialhilfe.

Themengrafik Sozialversicherungssystem: Durch Sozialversicherungen sichert der Sozialstaat seine Bürger gegenexistenzgefährdende Risiken ab. Zum Öffnen der PDF-Version (136 KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/pdf/0NYB5M.pdf)

Sozialpolitik im weiteren Sinne umfasst Maßnahmen der Bildungspolitik (Ausbildungsförderung fürSchülerinnen und Schüler sowie Studierende), der Wohnungsbaupolitik (sozialer Wohnungsbau, undWohnungsbauprämien), der Arbeitsmarktpolitik (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Fortbildung undUmschulung von Arbeitslosen, Kurzarbeitergeld), der Steuerpolitik (Steuerermäßigungen und -befreiungen für niedrige Einkommen). Durch das Sozialstaatsgebot ist der Staat schließlich dazuverpflichtet, die Arbeitsbedingungen so zu regeln, dass die schwächere soziale Position derArbeitnehmerinnen und -nehmer gestärkt wird. Dazu gehören der Schutz im Betrieb durchArbeitszeitregelungen, der Schutz vor Gefahren des Arbeitslebens, der Schutz vor Entlassungen sowie

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die oben erwähnten Maßnahmen der Ordnung des Arbeitsmarktes.

Mitbestimmung

Diese gesetzlichen Regelungen der Arbeitsbeziehungen werden ergänzt durch die Gesetzgebungüber die Mitbestimmung.

Bei mittleren und kleineren Kapitalgesellschaften erfolgt die Mitbestimmung auf der Grundlage desBetriebsverfassungsgesetzes von 2004 (löst das Gesetz von 1952 ab) nach der so genanntenDrittelbeteiligung, das heißt, ein Drittel der Aufsichtsratsmitglieder besteht aus gewähltenArbeitnehmervertretern, den Betriebsräten. Deren Zuständigkeiten sind im Gesetz genau festgelegt.Sie reichen von qualifizierter Mitbestimmung, besonders in sozialen Belangen, über Zustimmungs-und Widerspruchsrechte, besonders bei Personalentscheidungen, bis zum Recht auf Unterrichtungund Anhörung bei wirtschaftlichen Entscheidungen. Für Behörden und Dienststellen des Bundes, derLänder und Gemeinden sowie Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts geltenentsprechend die Personalvertretungsgesetze des Bundes und der Länder.

Nach dem Montanmitbestimmungsgesetz für den Bergbau und die Eisen- und Stahlindustrie(Montanindustrie) von 1951 und dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 für Großunternehmen bestehendie Aufsichtsräte je zur Hälfte aus Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. BeiStimmengleichheit entscheidet ein zusätzliches neutrales Mitglied bzw. der Aufsichtsratsvorsitzende.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 32-33.

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Politische Beteiligung12.4.2010

Demokratie bedeutet, dass die Herrschaft vom Volk ausgeübt wird. Jeder Einzelne hat vieleMöglichkeiten, sich in politische Prozesse und Entscheidungen einzubringen: Institutionalisiert inParteien, Vereinen oder Bürgerinitiativen, durch Wahlen und soziales Engagement. Auch wer diepolitische Berichterstattung verfolgt und im Freundeskreis diskutiert, nimmt am politischen Leben teil.

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Einleitung15.12.2009

Politische Beteiligung hat viele Formen: Von der Zeitungslektüre bis hin zur Kandidatur für einAmt. Aber auch wer nur Gespräche über politische Themen führt, beteiligt sich schon ampolitischen Prozess.

Die parlamentarische Demokratie leitet ihre Rechtfertigung (Legitimation) von der Zustimmung ihrerBürger ab. Diese drückt sich aus in der Teilnahme (Partizipation) am Prozess der politischenMeinungsbildung und Entscheidung.

Das bedeutet nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung unmittelbar politisch aktiv sein muss. Nur einekleine Minderheit ist beispielsweise bereit, einer Partei beizutreten. Ende 2008 waren etwa 1,42Millionen Bürger Mitglieder einer Partei, das sind etwas weniger als 2,3 Prozent der Wahlberechtigten.Politische Beteiligung kann in vielerlei Formen erfolgen. Sie setzt politische Urteilsfähigkeit voraus underfordert die Bereitschaft, sich für das Gemeinwesen mitverantwortlich zu fühlen.

Am Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung nimmt teil, wer politische Nachrichten undKommentare in Zeitungen liest, die politische Berichterstattung in Rundfunk und Fernsehen verfolgtund Gespräche über politische Themen im Familien-, Freundes- und Kollegenkreis führt.

Es gibt viele Formen aktiver Beteiligung. Manche erfordern geringe Mühen, bei anderen ist ein größererAufwand nötig. So kann man sich an Unterschriftenaktionen beteiligen, sich in Umwelt-,Menschenrechts- oder Selbsthilfegruppen engagieren. Man kann an Versammlungen undDemonstrationen teilnehmen. Man kann Leserbriefe an Zeitungen oder Briefe an Rundfunksenderschreiben, sich mit Briefen oder E-Mails an Abgeordnete wenden oder sie in ihrer Sprechstundeaufsuchen. Ebenso kann man Eingaben an Parlamente oder an den Bundespräsidenten richten.Bedeutend mehr Engagement ist für die Mitgliedschaft in Parteien, Verbänden und Bürgerinitiativennotwendig. Besonders wichtig ist die Teilnahme an den Wahlen zu den Volksvertretungen. Nur relativwenige werden sich zu einer Kandidatur bei solchen Wahlen entschließen.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 35-36.

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WahlenVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Ohne freie Wahlen ist Demokratie nicht denkbar. Sie sind die wichtigste Form demokratischerKontrolle: Bei Wahlen überträgt das Volk die Macht für eine festgelegte Zeit an seine Vertreter.

Wahlen sind die einfachste Form politischer Beteiligung. Für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürgersind sie die einzige Form der direkten Teilnahme am politischen Prozess. Alle anderen Arten vonPartizipation sind mit einem deutlich höheren Aufwand verbunden.

Wahlen sind die wichtigste Form politischer Beteiligung in der Demokratie. Ohne Wahlen ist Demokratienicht denkbar. Durch Wahlen wird die politische Führung bestimmt und der politische Kurs der nächstenLegislaturperiode festgelegt.

Wahlen sind das wirksamste Instrument demokratischer Kontrolle: Wenn die Wähler mit der Politikder Regierenden unzufrieden sind, können sie diese abwählen und einen Machtwechsel herbeiführen.

Wahlgrundsätze und Wahlsysteme

Artikel 38(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicherund geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nichtgebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.(2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreichthat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.

Die Grundsätze für die Wahl zum Deutschen Bundestag, zu den Landtagen und zu denGemeindevertretungen sind im Grundgesetz in Art. 38 und Art. 28 und im Bundeswahlgesetz festgelegt.Sie gelten ebenso für die Wahl der deutschen Abgeordneten ins Europäische Parlament.

Die Wahlen sind:

• allgemein: Alle Staatsbürger ab einem bestimmten Alter (in Deutschland 18 Jahre) können wählenund gewählt werden;

• unmittelbar: Die Wähler wählen direkt einen oder mehrere Abgeordnete über eine Liste, nichtwie bei einer indirekten Wahl zunächst Wahlmänner, die dann die Abgeordneten wählen (wie beider Wahl des Präsidenten der USA);

• frei: Auf die Wähler darf keinerlei Druck ausgeübt werden, ihre Stimme für einen Kandidaten oderfür eine Partei abzugeben; die Bürger sind auch frei, nicht zu wählen, es gibt keine Wahlpflicht;

• gleich: Jede Stimme zählt gleich viel;

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• geheim: Es bleibt geheim, wie der Wähler abstimmt; Wahlkabine, Stimmzettel im Umschlag,Wahlurne oder Wahlgeräte dienen diesem Zweck.

Für die Wahl zum Bundestag und zu den Landtagen gilt ein Wahlsystem, das als personalisierteVerhältniswahl bezeichnet wird. Es entspricht im Ergebnis der Verhältniswahl, auch wenn es Elementeder Mehrheitswahl enthält.

Bei Wahlen nach dem Prinzip der Mehrheitswahl (auch Persönlichkeitswahl) wird das Wahlgebiet inWahlkreise eingeteilt, aus denen je ein Abgeordneter zu entsenden ist. Gewählt ist der Kandidat, derdie einfache Mehrheit der Stimmen im Wahlkreis auf sich vereinigt.

Bei der reinen Verhältniswahl entscheiden sich die Wähler nicht für einzelne Kandidaten, sondern fürdie Liste einer Partei. Wer als Volksvertreter ins Parlament ziehen kann, entscheidet die Reihenfolgeder Kandidaten auf der Liste, die von den Parteien selbst festgelegt wird. Jede Partei schickt so vieleAbgeordnete ins Parlament, wie es ihrem Anteil an abgegebenen Stimmen im gesamten Wahlgebietentspricht.

Das Mehrheitswahlsystem begünstigt ein Zweiparteiensystem mit regierungsfähigen Mehrheiten. DasVerhältniswahlsystem führt dazu, dass alle Parteien gemäß ihrem Anteil an den Wählerstimmen imParlament vertreten sind, soweit sie eine Sperrklausel überwinden.

Bundestagswahl

Der Bundestag wird für vier Jahre gewählt (Legislaturperiode). Bei der Bundestagswahl hat der Wählerzwei Stimmen. Mit der Erststimme wählt er den Kandidaten einer Partei im Wahlkreis (Mehrheitswahl),mit der Zweitstimme die Liste einer Partei (Verhältniswahl). Die Sitze werden entsprechend den fürdie Listen insgesamt abgegebenen Stimmen auf die Parteien verteilt. Ausschlaggebend für dieSitzverteilung ist also die Zweitstimme. Die Listen werden für jedes der 16 Bundesländer getrenntaufgestellt (Landeslisten).

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Themengrafik Bundestag: Die Zweitstimme entscheidet, wie viele Sitze eine Partei im Bundestag erhält. Zum Öffnender PDF-Version (78 KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/pdf/VK5O5B.pdf)

Dem 17. Deutschen Bundestag, der nach der Wahl von 2009 zusammengetreten ist, gehören 622Abgeordnete an. 299 sind in den Wahlkreisen direkt, 323 über Landeslisten gewählt worden. Unterden Letzteren sind 24 Überhangmandate, drei für die CSU, 21 für die CDU.

Der Wähler kann mit der Erststimme für den Wahlkreiskandidaten einer Partei und mit der Zweitstimmefür die Liste einer anderen Partei stimmen. Er kann damit einem populären Kandidaten zum Einzugin den Bundestag verhelfen, auch wenn er eine andere Partei bevorzugt. Häufiger wird diese Aufteilungder Stimmen (Stimmen-Splitting) von solchen Wählern genutzt, die einer Koalition zur Macht verhelfenwollen. Wähler einer großen Partei stimmen für den Direktkandidaten "ihrer" Partei und für die Listeder kleineren Koalitionspartei, damit diese nicht an der Fünfprozenthürde scheitert.

Überhangmandate entstehen, wenn für eine Partei in einem Land mit den Erststimmen mehrKandidaten in den Bundestag gewählt werden, als ihr nach dem Ergebnis der Zweitstimmen in diesemLand zustehen. Solche Überhangmandate fallen typischerweise dann an, wenn eine Partei bei denZweitstimmen in einem Land zwischen 38 und 45 Prozent liegt, dort aber alle oder fast alleDirektmandate gewonnen hat.

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Die Bundeszentrale für politische Bildung erklärt, wie die Bundestagswahlen funktionieren. Wieviel Stimmen hat man?Was ist wichtiger die Erst- oder die Zweitstimme? Was wählt man mit den beiden Stimmen? Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (© 2009 Bundeszentrale für politische Bildung) (http://www.bpb.de/mediathek/599/erst-und-zweitstimme)

Verteilung der Mandate

Bei der Verteilung der Sitze werden nur Parteien berücksichtigt, die mehr als fünf Prozent derZweitstimmen oder mindestens drei Direktmandate erlangt haben. Mit dieser "Sperrklausel" sollverhindert werden, dass Splitterparteien in den Bundestag kommen.

Bis einschließlich 1983 wurden die Mandate bei der Bundestagswahl nach dem "Höchstzahlverfahren"des belgischen Mathematikers d´Hondt berechnet. Da dieses Verfahren die großen Parteien, wennauch geringfügig, begünstigt, wurde es seit 1987 für die Bundestagswahl und inzwischen auch für diemeisten Landtagswahlen durch das Verfahren nach Hare-Niemeyer ersetzt. Dieses war für diekleineren Parteien günstiger. Für die Bundestagswahl bedeutete das: Alle Zweitstimmen für eine Parteiim Bundesgebiet wurden mit der Zahl der insgesamt zu vergebenden Bundestagsmandate (598)multipliziert und dann durch die Gesamtzahl aller Zweitstimmen geteilt. In einem zweiten Schritt wurdeberechnet, wie sich die Gesamtzahl der Mandate auf die 16 Landeslisten verteilt.

Bei der Bundestagswahl 2009 fand ein neues "Divisorverfahren mit Standardrundung" nach Sainte-Laguë Anwendung, das alle diese Mängel vermeidet. Dies hatte der Bundestag am 24. Januar 2008beschlossen.

Mit Urteil vom 3. Juli 2008 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Berechnung derÜberhangmandate nach dem gültigen Wahlgesetz zu Ungerechtgkeiten führen kann. Es hat demGesetzgeber aufgegeben, in angemessener Frist eine Neuregelung einzuführen.

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Landtagswahlen

Bei den Wahlen zu den Landtagen der meisten Bundesländer gilt dasselbe Wahlsystem, zumindestmit seinen wichtigsten Merkmalen: personalisierte Verhältniswahl mit Erst- und Zweitstimme,Fünfprozent-Sperrklausel und Überhangmandate. Unterschiedlich ist teilweise die Verrechnung derStimmen (zum Beispiel: Baden-Württemberg 70 Direktmandate, 50 Mandate, die nach dem Verhältnisder für die Parteien abgegebenen Stimmen verteilt werden; Nordrhein-Westfalen 128 Direktmandate,53 Listenmandate; Sachsen je 60 Direktmandate und Listenmandate). Die Legislaturperiode dermeisten Landtage dauert inzwischen fünf Jahre, bei fünf Landtagen vier Jahre.

Kommunalwahlen

Die Wahlen zu den Gemeindevertretungen laufen nach denselben allgemeinen Grundsätzen ab wiedie Wahlen zum Bundestag und zu den Landtagen. Die Wahlordnungen für die Gemeinderäte undKreistage in mittlerweile zwölf Ländern weisen eine Besonderheit auf. Jedem Wähler stehen so vieleStimmen zur Verfügung, wie Gemeinde- bzw. Kreistagsmitglieder zu wählen sind (je nach Größe derGemeinde zwischen 8 und 80). Der Wähler kann diese Stimmen auf Kandidaten verschiedener Listenverteilen. Das nennt man Panaschieren (von französisch panacher = bunt machen, mischen). Er kannaußerdem verschiedenen Kandidaten auf einer Liste oder auf mehreren Listen bis zu drei Stimmengeben, insgesamt wiederum so viele, wie die zu wählende Vertretung Mitglieder hat. Das wird alsKumulieren (von lateinisch cumulus = Haufen) oder "Häufeln" bezeichnet.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 37-41.

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ParteienVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Keine politische Entscheidung wir ohne sie getroffen: Parteien sind das Bindeglied zwischenStaat und Gesellschaft. Sie genießen Privilegien und müssen deshalb auch bestimmtenAnforderungen entsprechen.

Artikel 21(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihreinnere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft undVerwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.

In der modernen Massendemokratie kann der Bürger den politischen Entscheidungsprozess auf sichallein gestellt kaum beeinflussen. Politische Beteiligung vollzieht sich in erster Linie über die Mitarbeitin Parteien. Sie wirken zwar nicht allein an der politischen Meinungs- und Willensbildung mit, bestimmenaber das politische Leben in einem Maße, dass das politische System der Bundesrepublik Deutschlandals Parteienstaat oder Parteiendemokratie bezeichnet wird. Dieser besonderen Rolle der Parteienträgt das Grundgesetz Rechnung, indem es in Art. 21 ihre Aufgaben und ihren Status festlegt. NachAuffassung des Bundesverfassungsgerichts erhalten sie damit den "Rang einer verfassungsrechtlichenInstitution".

Aufgaben der Parteien

Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit, indem sie

• die unterschiedlichen politischen Vorstellungen und Interessen in der Gesellschaft artikulieren,sie zu politischen Konzepten und Programmen bündeln und Lösungen für politische Problemesuchen,

• in der Öffentlichkeit für ihre Vorstellungen werben und die öffentliche Meinung und die politischenAnsichten der einzelnen Bürger beeinflussen,

• den Bürgerinnen und Bürgern Gelegenheit bieten, sich aktiv politisch zu betätigen und Erfahrungenzu sammeln, um politische Verantwortung übernehmen zu können,

• die Kandidaten für die Volksvertretungen in Bund, Ländern und Gemeinden und dasFührungspersonal für politische Ämter stellen,

• als Regierungsparteien die politische Führung unterstützen,

• als Oppositionsparteien die Regierung kontrollieren, kritisieren und politische Alternativenentwickeln.

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Grundsätze des Parteiensystems

Das Grundgesetz und das Parteiengesetz legen für das Parteiensystem eine Reihe von Grundsätzenfest:

• Mehrparteienprinzip: Art. 21 des Grundgesetzes schließt das Einparteiensystem aus.

• Parteienfreiheit: Jeder Bürger kann eine Partei gründen.

• Chancengleichheit: Jede Partei kann an Wahlen teilnehmen und Wahlwerbung betreiben. Dafürmuss sie beispielsweise – je nach ihrem politischen Gewicht unterschiedlich lange – Sendezeitenim öffentlichen Fernsehen erhalten, auf Sichtwänden plakatieren und öffentliche Räume fürWahlveranstaltungen nutzen können.

• Innerparteiliche Demokratie: Sie ist nur für Parteien vorgeschrieben, nicht aber für alle anderenVereinigungen. Alle Entscheidungen müssen von den Parteimitgliedern oder durch vonParteimitgliedern gewählte Delegierte in Wahlen und Abstimmungen getroffen werden. Parteiämtermüssen jeweils für zwei Jahre in geheimer Wahl besetzt werden. Alle Mitglieder haben gleichesStimmrecht.

• Finanzielle Rechenschaftslegung: Parteien müssen, wiederum anders als alle anderenVereinigungen, über ihre Einnahmen und Ausgaben öffentlich Rechenschaft ablegen.

Parteienfinanzierung

Parteien brauchen zur Erfüllung ihres Auftrages erhebliche Finanzmittel. Sie müssen eine weitverzweigte Organisation von der Gemeinde bis zum Bund mit zahlreichen hauptamtlichen Mitarbeiternunterhalten, Veranstaltungen durchführen, Informations- und Werbematerial herstellen und verteilensowie Wahlkämpfe bestreiten. Die Einnahmen der Parteien setzen sich im Wesentlichen ausMitgliedsbeiträgen, Spenden und Steuermitteln zusammen. Mit den Mitgliedsbeiträgen können dieKosten, vor allem bei den kleineren Parteien mit verhältnismäßig wenigen Mitgliedern, nicht bestrittenwerden. Spenden sollen möglichst begrenzt bleiben, um eine Einflussnahme von Interessengruppenauf die Parteien zu verhindern.

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Staatliche Parteienfinanzierung I. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (bpb)

Die Parteienfinanzierung aus Steuermitteln gehört zu den umstrittensten Themen in der öffentlichenDiskussion. Das Bundesverfassungsgericht hat seine Rechtsprechung zur staatlichenParteienfinanzierung mehrfach geändert. Seit 1966 gilt der Grundsatz, dass eine direkte Finanzierungder Parteien unzulässig ist, dass aber die Kosten eines "angemessenen Wahlkampfes" erstattet werdendürfen. 1992 hat das Gericht die bis dahin geltenden Bestimmungen erneut teilweise fürverfassungswidrig erklärt. Daraufhin beschloss der Bundestag 1994 eine Neuregelung (geändert2002).

Jede Partei erhält pro Jahr für bis zu vier Millionen Wählerstimmen 0,85 Euro pro abgegebene Stimme,für jede weitere Stimme je 0,70 Euro. Die Höchstgrenze steuerlich absetzbarer Spenden wird auf 3300Euro pro Person und Jahr festgesetzt. Unternehmen dürfen ihre Spenden nicht steuerminderndeinsetzen. Für jeden Euro aus Beitrags- und Spendeneinnahmen erhalten die Parteien zusätzlich 0,38Euro aus Steuermitteln. Insgesamt dürfen die staatlichen Zuwendungen an die Parteien seit 2002 dieSumme von jährlich 133 Millionen Euro nicht überschreiten.

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Parteienverbot

Artikel 21(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, diefreiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestandder Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage derVerfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.

Für die Aufnahme des Art. 21 Abs. 2 in das Grundgesetz waren die Erfahrungen der Weimarer Republikbestimmend. Es sollte verhindert werden, dass Gegner der demokratischen Ordnung noch einmal dieihnen gewährten Rechte zur Abschaffung der freiheitlichen Demokratie nutzen.

In dieser Verfassungsbestimmung findet das Prinzip der "streitbaren Demokratie" seinen Ausdruck.Die Entscheidung, ob eine Partei verfassungswidrige Ziele verfolgt, kann nur dasBundesverfassungsgericht treffen ("Parteienprivileg"), während verfassungswidrige Vereinigungennach Art. 9 Abs. 2 GG durch die Innenminister des Bundes und der Länder verboten werden können.

Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts 1964 haben Bundund Länder um die 80 Verbote solcher Vereinigungen ausgesprochen. Dagegen sind nur zwei Parteienverboten worden, die rechtsextreme Sozialistische Reichspartei (SRP) 1952 und die KommunistischePartei Deutschlands (KPD) 1956. Im Jahr 2001 stellten Bundesregierung, Bundestag und Bundesratbeim Bundesverfassungsgericht den Antrag, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD)als verfassungswidrig zu verbieten. Als sich herausstellte, dass die Führung der NPD in Nordrhein-Westfalen aus Mitarbeitern ("V-Leuten") des Verfassungsschutzes bestand, stellte das Gericht dasVerfahren ein.

Gegen das Instrument des Parteienverbots wird eingewandt, dass ein Verbot

• die betreffende Partei in den Untergrund drängt, wo ihre Aktivitäten unkontrollierbar werden,

• gegen große und darum wirklich gefährliche Parteien nicht durchsetzbar ist,

• zur Gründung von Ersatzorganisationen führt (DKP),

• kleine Parteien aufwertet und ihnen eine Märtyrerrolle verschafft.

Dagegen ist zu sagen, dass die bloße Drohung eines Verbots extremistische Parteien zur Vorsicht beider Propagierung und Verfolgung ihrer Ziele wie auch zur zumindest verbalen Anerkennung desGrundgesetzes nötigt.

Parteien im Meinungsstreit

Parteien und Politiker sind in Deutschland, und nicht nur dort, einer heftigen, manchmal maßlosenKritik ausgesetzt. Die Kritik ist in vielerlei Hinsicht gerechtfertigt. Es gab in den letzten Jahren in einigenFällen Beispiele von skandalösem Fehlverhalten, dessen sich Politiker schuldig gemacht haben. Auchdie Art und Weise der – inzwischen vom Bundesverfassungsgericht korrigierten – Parteienfinanzierungund die von den Parteien häufig betriebene Ämterpatronage sind kritikwürdig. Ebenso lassen sichgegen manche Formen des Wahlkampfes und der Wahlwerbung begründete Einwände erheben.

Die Kritik ist überzogen und ungerechtfertigt, wenn sie verallgemeinert, die Parteien und die Politikerpauschal unter Verdacht stellt. Oft beruht sie auf Vorurteilen oder Unwissen, etwa wenn sie dieArbeitsbelastung von Politikern weit unterschätzt und ihre finanzielle Entschädigung ebensoüberschätzt. Einige Kritikpunkte und die Gegenargumente sind in dem Kasten "Kritik an Parteien"zusammengefasst.

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Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 44-47.

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InteressenverbändeVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Das Recht, Vereine zu bilden, ist im Grundgesetz festgeschrieben - solange sie sich nicht gegendie verfassungsmäßige Ordnung richten. Dadurch können Bürger ihre politischen Interessenverfolgen.

Themengrafik Interessenvertretung: Lobbyisten haben viele Möglichkeiten, Interessen in die Politik einzubringen.Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Während nur verhältnismäßig wenige Bürgerinnen und Bürger einer Partei angehören, sind sehr vieleMitglied eines Vereins oder eines Verbandes. 2008 gab es laut Bundesverband deutscher Vereine undVerbände rund 554.000 eingetragene Vereine in Deutschland. Wegen des sich änderndenFreizeitverhaltens ist die Zahl der Vereine und der Mitglieder seither jedoch deutlich gesunken.

Politische Interessen verfolgen über 5.000 Verbände, die eigentlichen Interessenverbände. DieSpitzenverbände mit bundespolitischen Interessen (2009: 2.139) haben sich in eine Liste eintragenlassen, die beim Präsidenten des Deutschen Bundestages geführt wird ("Lobbyliste").

Vereinigungen gibt es in fast allen Bereichen der Gesellschaft. Man kann sie nach ihrenTätigkeitsfeldern in fünf Gruppen einteilen:

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• Vereinigungen im Wirtschaftsleben und in der Arbeitswelt (Unternehmer- undSelbstständigenverbände:Bundesverband der Deutschen Industrie, Deutscher Industrie- und Handelskammertag;Gewerkschaften: Deutscher Gewerkschaftsbund, Beamtenbund; Verbraucherverbände);

• Vereinigungen mit sozialen Zielen (Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Deutsches Rotes Kreuz,Mieterbund);

• Vereinigungen im Bereich Freizeit und Erholung (Hobbyvereine, Deutscher Sportbund);

• Vereinigungen in den Bereichen Kultur und Wissenschaft (PEN-Club, Verband der HistorikerDeutschlands);

• Vereinigungen mit ideellen und gesellschaftspolitischen Zielsetzungen (amnesty international,Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, Kinderschutzbund).

Funktionen der Interessenverbände

Artikel 9(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.(2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sichgegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten,sind verboten.

In der Industriegesellschaft regelt die Politik das Wirtschaftsleben und die sozialen Verhältnisse. DerEinzelne muss sich mit anderen zusammenschließen, wenn er seine Interessen wahren will. Verbändeorganisieren diese Interessen. Sie fassen die unterschiedlichen Interessen ihrer Mitglieder zusammen,formulieren konkrete Forderungen und versuchen, ihre Ziele mit wirkungsvollen Mitteln durchzusetzen.Verhältnisse.Adressaten der Einflussnahme sind:

Öffentlichkeit: Interessenverbände werben über Presse, Hörfunk und Fernsehen für ihre Ziele; durchpersönliche Kontakte zu Journalisten, durch Informationsmaterial, Pressekonferenzen, oft durcheigene Presseorgane. Schärfere Mittel der Interessendurchsetzung sind Anzeigenkampagnen,Demonstrationen und Streiks.

Parteien: Interessenverbände stehen oft einer Partei nahe und unterstützen sie vor allem inWahlkämpfen. Sie dringen darauf, dass ihre Ziele in Parteiprogrammen berücksichtigt werden.

Parlamente: Interessenverbände versuchen, führenden Mitgliedern oder FunktionärenAbgeordnetenmandate zu verschaffen. Als Fachleute besetzen diese Abgeordneten die zuständigenparlamentarischen Ausschüsse. So sitzen beispielsweise Vertreter des Bauernverbandes imLandwirtschaftsausschuss, der Unternehmerverbände im Wirtschaftsausschuss und derGewerkschaften im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung.

Regierung und Bürokratie: Interessenverbände verhandeln mit Regierungsmitgliedern und derMinisterialbürokratie. Dabei bringen sie auch ihren Sachverstand ein.

Organe der Europäischen Union: Die Verlagerung vieler Entscheidungen nach Brüssel hat zur Folge,dass europäische Dachverbände auf die Entscheidungsprozesse in der Europäischen Unioneinzuwirken versuchen.

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Rechtliche Regelungen

Die Geschäftsordnungen des Bundestages und der Bundesregierung sehen ausdrücklich dieMitwirkung der Interessenverbände vor. Deren Vertreter können von Ausschüssen des Bundestagesum Stellungnahme gebeten werden, sie können in öffentlichen Anhörungen (Hearings) Auskunft gebenund in Enquete-Kommissionen berufen werden. Ministerien sind gehalten, bei der Vorbereitung vonGesetzen Vertreter der Spitzenverbände hinzuzuziehen.

Tatsächlich wird der Sachverstand der Verbände regelmäßig in Anspruch genommen. Damit wird dieGefahr vermindert, dass Gesetze unvollständig oder fehlerhaft sind.

Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie

Eine herausgehobene Stellung unter den Verbänden haben die Gewerkschaften und dieArbeitgeberverbände. Knapp ein Drittel der Arbeitnehmer ist gewerkschaftlich organisiert. Art. 9 Abs.3 GG garantiert die Koalitionsfreiheit, das Recht, "zur Wahrung und Förderung der Arbeits- undWirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden". Der Staat hat den Vereinigungen der Arbeitnehmerund der Arbeitgeber die Regelung der Arbeitsverhältnisse übertragen.

Als Tarifpartner handeln sie selbstständig (autonom) Löhne und Arbeitsbedingungen aus, sie besitzendie Tarifautonomie. Ihre Vereinbarungen sind für die Mitglieder der Tarifparteien rechtswirksam undkönnen bei den Arbeitsgerichten eingeklagt werden. Lohntarifverträge werden zumeist für einenkürzeren Zeitraum (ein bis zwei Jahre) abgeschlossen und regeln im Wesentlichen die Zahlungen vonLöhnen, Gehältern und Ausbildungsvergütungen. Mantel- oder Rahmentarifverträge gelten mehrereJahre und regeln die allgemeinen Arbeitsbedingungen, wie Arbeitszeiten, Urlaub, Bezahlung vonÜberstunden, Nacht- und Feiertagsarbeit, Lohngruppen.

Bleiben Tarifverhandlungen ohne Ergebnis, kann ein Arbeitskampf geführt werden. DieGewerkschaften können zum Streik aufrufen, die Arbeitgeber können Aussperrungen vornehmen. ZurAbwendung eines Streiks wird häufig der Versuch einer Schlichtung unternommen. Streiks sind nurzulässig, wenn sie zur Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen geführt werden, politischeStreiks sind unzulässig.Aussperrungen, der Ausschluss arbeitswilliger Beschäftigter von der Arbeit, unterliegen besonderenBeschränkungen. Sie sind nur als "Abwehr-Aussperrung" gegen Schwerpunktstreiks erlaubt, bei deneneinzelne oder wenige Betriebe bestreikt werden; sie dürfen nicht nur Gewerkschaftsmitgliederbetreffen; das Arbeitsverhältnis der ausgesperrten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bleibtbestehen.

Im Vergleich zu anderen Industrieländern sind Streiks in Deutschland selten. Dazu hat maßgeblichdas System der Tarifautonomie beigetragen, in dem die Gewerkschaften eine starke Gegenmacht zuden Unternehmen bilden. Durch das Organisationsprinzip der deutschen Gewerkschaften, nach demalle Beschäftigten eines Wirtschaftszweiges unter einen Tarifvertrag fallen, sind während der Laufzeiteines Tarifvertrages Streiks unzulässig.

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Kritik an den Interessenverbänden

In einer pluralistischen Demokratie ist die Organisierung von Interessen notwendig und legitim.Problematisch ist, dass:

• die gesellschaftlichen Interessen keineswegs gleichgewichtig vertreten sind; gegenüber derorganisierten Macht der Verbände sind jene Gruppen benachteiligt, die sich nicht oder nur schwerorganisieren lassen (Beispiele: Kinder, alte Menschen, Hausfrauen),

• wichtige Reformen erschwert oder verzögert werden, weil der Widerstand der beteiligten Gruppenzu stark ist (Beispiel: Gesundheitsreform).

So trifft die Theorie, die miteinander konkurrierenden Interessen glichen sich aus und das Gemeinwohlwerde nicht beeinträchtigt, nur bedingt zu. Kritisch können auch die Formen des Verbandseinflussesgesehen werden: Der Einfluss der Verbände entziehe sich der öffentlichen Kontrolle. Die innereOrdnung der Verbände sei oft nur formal demokratisch, die Mitwirkung der Mitglieder unzureichend,die Entscheidungen würden allein von wenigen mächtigen Funktionären getroffen.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 48-52.

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KirchenVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Den Kirchen gehören mehr Menschen an als jeder anderen Vereinigung. Sie genießen einebesondere Stellung und nehmen einen beachtlichen Teil der sozialen Aufgaben im Staat wahr.

Eine besondere Stellung nehmen die Kirchen ein. Sie stehen in einer Tradition, die länger zurückreichtals der moderne Staat. Sie genießen eine moralische Autorität, die sich auch auf politische Fragenwie die Bekämpfung der Armut, den Schutz der Familie, die Beachtung der Menschenrechte und dieSicherung des Friedens erstreckt. Ihnen gehören mehr Menschen an als jeder anderen Vereinigungoder Gemeinschaft. So hatte die römisch-katholische Kirche Ende 2007 ca. 25,5 Millionen Mitglieder,die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) Ende 2007 ca. 24,8 Millionen Mitglieder. Das sindjeweils etwa 31 Prozent der Bevölkerung. Hinzu kommen noch über 2 Millionen Mitgliederevangelischer Freikirchen und orthodoxer Kirchen.

Die Zahl der Nichtchristen hat sich seit 1987 mit 30 Prozent fast verdoppelt. Das ist zurückzuführenauf jährliche Austritte, deren Zahl sich in sechsstelliger Höhe bewegt, vor allem aber auf den sehrhohen Anteil an Konfessionslosen in der ehemaligen DDR (1990: 67 Prozent), wo Christen durch dasatheistische Regime massiv benachteiligt wurden.

Das Verhältnis von Staat und Kirche ist im Grundgesetz durch Art. 140 geregelt. Dieser besagt, dassdie Art. 136 bis 139 sowie Art. 141 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 Bestandteil desGrundgesetzes sind. Darin wird die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgemeinschaften gewährleistetund festgelegt, dass die Religionsgemeinschaften ihre Angelegenheiten selbst regeln.

Zwischen Staat und Kirchen bestehen aber auch enge Bindungen, und die Kirchen genießenweitgehende Rechte. Sie haben beispielsweise das Recht, Kirchensteuern zu erheben. DieKirchensteuer wird von der staatlichen Finanzverwaltung eingezogen, eine Dienstleistung, für die dieKirchen dem Staat die Kosten erstatten.

Sie haben ferner Rechte bei der Gestaltung des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen (Art. 7Abs. 3 GG) und bei der Besetzung der theologischen Lehrstühle an den Universitäten sowie das Rechtder Seelsorge in der Bundeswehr und in staatlichen Anstalten (Art. 141 der WeimarerReichsverfassung).

Die Kirchen nehmen einen beachtlichen Teil der sozialen Aufgaben im Staat wahr: Sie unterhaltenKrankenhäuser, Kindergärten, Schulen, Altenheime, Sozial- und Pflegestationen. Die Kosten dafürwerden zum Teil aus Kirchensteuermitteln aufgebracht, die durch staatliche Mittel ergänzt werden.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 53-55.

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BürgeriniativenVon Horst Pötzsch 15.12.2009

Die politischen Anliegen von Bürgerinitiativen konzentrieren sich meist auf nur ein Ziel. Siemobilisieren die Öffentlichkeit und üben Druck aus. Mit ihren Aktionen können sie aber auchin Kritik geraten.

Ende der 1960er Jahre entwickelte sich eine neue Form "basisdemokratischer" politischer Beteiligung.Als "Bürgerinitiativen" treten spontane Zusammenschlüsse von Personen auf, die zumeist auf lokalerEbene tätig werden, um Missstände zu beseitigen (Beispiele: gegen Gefährdung der Umwelt, Abrissvon Altbauten, Verkehrsplanungen; für Kindergärten, Spielplätze, kleinere Schulklassen). DieBürgerinitiativen mobilisieren die Öffentlichkeit und üben Druck auf die Behörden aus, manchmalbeschreiten sie den Weg der Selbsthilfe (Frauenhäuser). Charakteristisch für Bürgerinitiativen ist

• die Konzentration auf ein begrenztes Ziel (one-purpose organizations),

• die Fähigkeit, kurzfristig Anhänger in hohem Maße zu mobilisieren,

• die Rekrutierung aus den Mittelschichten mit höherem Einkommens- und Bildungsniveau.

Später wurden solche Initiativen zunehmend überregional aktiv und schlossen sich zuverbandsförmigen Organisationen zusammen, zum Beispiel die meisten Umweltinitiativen 1972 im"Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz". (2008 gehörten dem Bundesverband 120Bürgerinitiativen mit circa 150.000 aktiven Mitgliedern an.) Charakteristisch wurden nun koordinierteMassenaktionen gegen Großprojekte (Beispiele: Atomkraftwerke Wyhl, Kalkar, Brokdorf; StartbahnWest des Frankfurter Flughafens). Dabei fanden neue Aktionsformen wie Straßenblockaden, Sit-ins,Go-ins, Mahnwachen Anwendung.

Umwelt-, Frauen- und Friedensbewegung wie auch andere Bewegungen, die sich zum Beispiel ausSelbsthilfegruppen im Sozial- und Gesundheitsbereich rekrutierten, wurden – ungeachtet ihrer sehrunterschiedlichen Anliegen und Organisationsformen – gemeinsam als "Neue Soziale Bewegungen"bezeichnet.

Ihr Entstehen Anfang der 1970er Jahre war Ausdruck eines Wandels der politischen Kultur und desBedürfnisses nach alternativen Politikstilen. Die wichtigste soziale Basis der Neuen SozialenBewegungen war die "neue Mittelschicht", deren Wertesystem deutlich "postmaterialistisch" geprägtist. Einzelne Gruppen der Neuen Sozialen Bewegungen reichen allerdings bis in das konservativeSpektrum hinein. Aus den Reihen der Bürgerinitiativen und dem Umfeld der Neuen SozialenBewegungen bildeten sich Ende der 1970er Jahre grüne und alternative Parteien, die sich 1980 zurPartei "Die Grünen" zusammenschlossen.

Bürgerinitiativen

Phase 1

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Bürger empfinden bestehende Verhältnisse als misslich oder wollen die Verwirklichung öffentlicherPlanungen verhindern.

Phase 2

Bürger betreiben Öffentlichkeitsarbeit: Flugblätter, Zeitungsanzeigen, Artikel in der Lokalzeitung.

Phase 3

Briefe der Bürger an Verwaltung, Gemeinderat, Fraktionen und Parteien bleiben ohne Erfolg.

Phase 4

Gründung einer Bürgerinitiative: Schaffung eines organisatorischen Rahmens; Öffentlichkeitsarbeit,Gewinnung von Mitstreitern, Einschaltung von Experten.

Phase 5

Parteien schalten sich ein: Es folgen Presseerklärungen und Anfragen an die Verwaltung.

Phase 6

Verwaltung und Mehrheitsfraktion(en) suchen nach Kompromissmöglichkeiten.

Phase 7

Mögliche Kompromisslösungen werden geprüft: Die Bürgerinitiative entscheidet, ob sie sich mit einerangebotenen Lösung zufriedengeben und auflösen oder eine neue Aktion einleiten will.

Die Bürgerbewegungen, die seit den späten 1970er Jahren in der DDR entstanden, sind aufgrund deranderen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kaum mit den Neuen SozialenBewegungen Westdeutschlands vergleichbar. Oppositionelle unterschiedlichster Färbung –undogmatische Marxisten, Reformsozialisten, Liberale, Konservative und Christen – schlossen sichin zumeist kleinen und informellen Zirkeln zusammen, um gegen starke staatliche Repressionen diedemokratischen Grundrechte durchzusetzen. Während der "Wende" waren sie ein wichtigesSammelbecken für den Widerstand gegen das SED-Regime; sie gründeten die "Runden Tische" undleiteten demokratische Reformen ein. Vor dem Hintergrund des wachsenden Einflusses derWestparteien haben diese Bürgerbewegungen bereits 1990 stark an Einfluss eingebüßt.

Kritik an den Bürgerinitiativen

Bürgerinitiativen kommt das Verdienst zu, politische und soziale Probleme in das öffentlicheBewusstsein gerückt zu haben, die von den Parteien und Interessenverbänden vernachlässigt wurden.Inzwischen sind wichtige Themen (Umweltschutz) zu Programmpunkten der Parteien geworden.Problematisch sind die Aktionen von Bürgerinitiativen, wenn sie

• Minderheitsinteressen gegen Mehrheitsinteressen durchsetzen wollen (Beispiel: Anwohnerverhindern Behindertenheim oder Spielplatz),

• Entscheidungskompetenzen beanspruchen, die demokratisch gewählten Organen zukommen,

• dabei Gewalt anwenden.

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Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 54-55.

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MassenmedienVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Massenmedien haben einen großen Einfluss auf die öffentliche Meinung, sie informieren undmachen politische Beteiligung möglich. In Deutschland konkurrieren private mit öffentlich-rechtlichen Anbietern.

Politische Beteiligung in einer Massendemokratie wird durch Presse, Funk und Fernsehen, aber auchdas Internet erst möglich. Der Einzelne kann politische Entscheidungen nur treffen, wenn er umfassendinformiert ist, unterschiedliche Meinungen kennenlernen und gegeneinander abwägen kann. DieMassenmedien stellen Öffentlichkeit her, in der ein Austausch der verschiedenen politischenMeinungen von gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen, Parteien und politischen Institutionenstattfindet. Nur solche Meinungen, die in den Massenmedien zu Diskussionsthemen werden, habendie Chance, öffentlich wirksam zu werden. Öffentliche Meinung wird somit weitgehend durch dieveröffentlichte Meinung bestimmt. Daraus ergibt sich eine besondere Verantwortung derMassenmedien.

Aufgaben der Massenmedien

Die Massenmedien haben die Aufgabe

• Informationen zu verbreiten, sie sollen so umfassend, sachgerecht und verständlich wie möglichsein;

• zur Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger beizutragen, indem sie komplizierte politischeProbleme und Zusammenhänge einsichtig machen und politische Ereignisse kommentieren;

• die Entscheidungen der politischen Institutionen sowie das Verhalten der Amtsinhaber zukontrollieren und Missstände zu kritisieren.

Verfassungsrechtliche Regelungen

Artikel 5

(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten undsich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und dieFreiheit der Berichterstat-tung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nichtstatt.(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichenBestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

Das Grundgesetz schützt die Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit in Art. 5 Abs. 1 GG. Damitwird in erster Linie der Schutz vor staatlichen Eingriffen gewährleistet, zum Beispiel:

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Meinungsäußerungen sind nicht strafbar; staatliche Überwachung und Unterdrückung vonVeröffentlichungen sind unzulässig; Behörden müssen Publikationsorganen Auskunft geben;Journalisten brauchen Informanten nicht preiszugeben.

Art. 5 Abs. 2 GG schützt den Einzelnen gegen die Macht der Medien. Beleidigungen undVerleumdungen stehen unter Strafe. Schwierig ist die Abwägung zwischen der Freiheit derBerichterstattung und dem Recht an der eigenen Persönlichkeit, zu dem der Schutz der Privat- undIntimsphäre, der persönlichen Ehre und das Recht am eigenen Bild gehören. Bei unrichtigenTatsachenbehauptungen – nicht aber bei Werturteilen und Meinungsäußerungen – besteht einAnspruch auf eine Gegendarstellung.

Auflagenhöhe überregionaler Zeitungen und Magazine

Überregionale Tageszeitungen verkaufte Auflage

Süddeutsche Zeitung 442.159

Frankfurter Allgemeine Zeitung 369.690

Frankfurter Rundschau 151.649

Sonntagszeitungen verkaufte Auflage

Bild am Sonntag 1.685.287

Welt am Sonntag 402.882

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 344.016

Straßenverkaufszeitungen verkaufte Auflage

Bild (Hamburg) 3.233.196

BZ (Berlin) 177.001

Express (Köln) 163.724

Abendzeitung (München) 141.954

Wochenzeitungen verkaufte Auflage

Die Zeit 501.524

Rheinischer Merkur 70.052

Das Parlament 10.280

Magazine verkaufte Auflage

Der Spiegel 1.029.558

Focus 656.776

Quelle: IVW-Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e.V., 2/2009 (www.ivw.de).

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Zeitungen und Zeitschriften

Zeitungs- und Zeitschriftenverlage sind fast ausnahmslos in privatem Besitz. Sie geben 384 Zeitungen(Tages-, Wochen- und Sonntagszeitungen) mit einer Gesamtauflage von 25,31 Millionen Exemplarenheraus. Viele Tageszeitungen erscheinen mit mehreren Lokalausgaben unter verschiedenen Namen.Man nennt das "Publizistische Einheiten". Sie haben eine Vollredaktion und für die verschiedenenLokalausgaben jeweils eine Lokalredaktion. 2009 gab es 134 Publizistische Einheiten mit 1.511Zeitungsausgaben. Daneben erscheinen "Publikumszeitschriften" mit einer Auflage von 113,74Millionen Exemplaren. Dazu zählen Illustrierte, Programm-, Frauen-, Jugend-, Kinderzeitschriften.Außerdem gibt es noch "Fachzeitschriften" mit einer Auflage von 13,43 Millionen Exemplaren. (AlleZahlen: 2. Quartal 2009)

Zeitungen und Zeitschriften unterscheiden sich in Niveau, Zielgruppen und Verbreitungsgebiet, so dieTageszeitungen in

• überregionale Zeitungen mit hohem Anspruch: Süddeutsche Zeitung, Frankfurter AllgemeineZeitung,Die Welt, Frankfurter Rundschau,

• regionale und lokale Abonnementszeitungen,

• Straßenverkaufszeitungen ("Boulevard-Blätter"): Bild, Abendzeitung, BZ, Express.

Für die politische Meinungsbildung sind außerdem wichtig

• Wochenzeitungen: Die Zeit, Rheinischer Merkur, Das Parlament

• Sonntagszeitungen: Welt am Sonntag, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung,

• Magazine: Der Spiegel, Focus.

Eine meinungsführende Rolle kommt neben dem Fernsehen den überregionalen Tageszeitungen undden großen Wochenzeitungen und Magazinen zu, weil sie von vielen politisch besonders Interessiertengelesen werden, die Einfluss auf die Meinungen ihrer Umgebung haben ("Meinungsführer"). An ihnenorientieren sich auch Journalisten vieler anderer Zeitungen.

Zur Meinungsbildung trägt auch das Internet in nicht unerheblichem Umfang bei. Besonderserwähnenswert sind die Internet-Plattformen der Zeitungen, Newsletter, ein umfangreiches Angebotan weiterführenden Hintergrundinformationen und vor allem auch der Zugang zu Archiven. DasAngebot der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender und Hörfunkanstalten im Internet stellt ebenfallseine deutliche Bereicherung an Informationen und ein weiteres Angebot zur Meinungsbildung dar.

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Hörfunk und Fernsehen

Bei Hörfunk und Fernsehen (Rundfunk) existieren öffentlich-rechtliche und private Anbieternebeneinander. Nach 1945 wurden selbstständige Rundfunkanstalten öffentlichen Rechts gegründet.Sie sollten unabhängig vom Staat und von mächtigen Wirtschaftsinteressen sein. Daher sollten siesich durch Gebühren ihrer Hörer (und später Zuschauer) finanzieren. Inzwischen erzielen sie einenerheblichen Teil ihrer Einnahmen mit Werbeeinblendungen. Kontrolliert werden die öffentlich-rechtlichen Anstalten durch Rundfunk- und Verwaltungsräte, die sich aus Vertretern gesellschaftlichwichtiger Gruppen zusammensetzen.

Weil die Kultur in die Zuständigkeit der Länder fällt, wurden Landesrundfunkanstalten gegründet, dieseit 1950 zusammen die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen RundfunkanstaltenDeutschlands (ARD) bilden. Nach dem Beitritt der neuen Länder, aber auch durch Zusammenschlüsse,gibt es neun Landesrundfunkanstalten. Sie verbreiten eigene Hörfunk- und Fernsehprogramme undstrahlen zusammen das Gemeinschaftsprogramm Erstes Deutsches Fernsehen aus, das 2008 eineEinschaltquote von 13,4 Prozent aufwies. 1961 wurde durch die Länder eine neue bundesweiteFernsehanstalt gegründet, das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF). 2008 lag die Einschaltquote bei13,1 Prozent.

Private Sender bieten seit 1984 Hörfunk- und Fernsehprogramme an. Sie finanzieren sich durchWerbeeinnahmen oder durch Gebühren, die die Zuschauer für empfangene Sendungen zahlen (Pay-TV). Die erfolgreichsten privaten Sender sind RTL – mit einer Einschaltquote von 11,7 Prozent (2008)liegt er fast gleichauf mit den beiden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – und SAT 1 (10,3Prozent/2008).

Das Bundesverfassungsgericht hat den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten die Aufgabe der"Grundversorgung" der Bevölkerung zugeschrieben. Im "Gebührenfestsetzungsurteil" von 1994 heißtes, der öffentlich-rechtliche Rundfunk habe zu gewährleisten, "dass der klassische Auftrag desRundfunks erfüllt wird, der neben seiner Rolle für die Meinungs- und Willensbildung, nebenUnterhaltung und Information seine kulturelle Verantwortung umfasst. (...) In der Sicherstellung derGrundversorgung der Bevölkerung mit Rundfunkprogrammen im dualen System findet dieGebührenfinanzierung ihre Rechtfertigung."

Kritik an den Medien

Die Macht der Medien und die Art und Weise, wie sie mit ihr umgehen, stößt auf Kritik. Umstritten istschon die Kontrollfunktion der Medien. Man wendet ein, als "Vierte Gewalt" fehle ihnen diedemokratische Legitimation, Journalisten müssten sich keiner Wahl stellen. Viele Journalisten ließenin die Berichterstattung ihre persönliche, parteiische Meinung einfließen. Kritik wird auch an derVermittlung von Politik durch die Medien geübt:

Vor allem Fernsehen und Boulevardzeitungen

• vereinfachten unzulässig komplizierte Sachverhalte,

• dramatisierten unbedeutende Ereignisse,

• personalisierten sachliche Problemstellungen,

• spielten ein Thema für kurze Zeit hoch, um es plötzlich völlig fallen zu lassen,

• verbreiteten fast ausschließlich negative Meldungen und zeichneten ein durchgängigpessimistisches Bild der Welt.

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Trotz dieser Kritik sollte nicht übersehen werden, dass freie Medien ein unverzichtbarer Bestandteileiner demokratischen Gesellschaft sind. Sie machen politische Entscheidungen durchschaubar(transparent) und üben eine wichtige Kontrollfunktion aus, indem sie Machtmissbrauch, Ämterwillkürund Korruption aufdecken. Diese Macht der Medien erfordert gleichzeitig ein hohesVerantwortungsbewusstsein der "Medienmacher", das heißt die Orientierung an einer Medienethik,die eine Verletzung der Menschenwürde und eine Propagierung von Gewalt ausschließt.

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Parlament12.4.2010

Bundestag, Bundesrat, Abgeordnetenhaus, Bürgerschaften und Landtage: In den Parlamenten werdendie politischen Themen diskutiert und Gesetze erarbeitet. Die Bürger werden dort von ihren gewähltenParlamentariern vertreten. Der Bundesrat hat eine Sonderstellung: Er ist die zweite Kammer aufBundesebene und nimmt dort die Interessen der Länder wahr.

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BundestagVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Die Bundestagsabgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Im Parlament sind sie inAusschüssen und Fraktionen organisiert. Sie sind nicht an Aufträge und Weisungen ihrerWähler oder Partei gebunden, sondern nur ihrem Gewissen verpflichtet.

Artikel 20(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durchbesondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

Art. 20 Abs. 2 GG legt für die Staatsordnung der Bundesrepublik Deutschland den Grundsatz derrepräsentativen Demokratie fest. Das Volk übt die Staatsgewalt nicht direkt aus, sondern überträgt sieauf gewählte Körperschaften, die Parlamente, für den Gesamtstaat auf den Bundestag, für die Länderauf die Landtage, für Kreise, Städte und Gemeinden auf kommunale Selbstverwaltungskörperschaften.Die Parlamente sind die einzigen Verfassungsorgane, die vom Volk direkt gewählt werden. Das verleihtihnen eine besondere Legitimation.

Die übrigen Verfassungsorgane werden von den Parlamenten bestellt. So wählen die Parlamente dieRegierungschefs, der Bundestag den Bundeskanzler und die Landtage die Ministerpräsidenten. DerBundestag wählt – zusammen mit dem Bundesrat – die Richter des Bundesverfassungsgerichts und –zusammen mit Delegierten aus den Landesparlamenten in der Bundesversammlung – denBundespräsidenten.

Abgeordnete

Artikel 38(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicherund geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nichtgebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

Freies Mandat

In der Bundesrepublik Deutschland gilt, wie in allen anderen repräsentativenDemokratien, der Grundsatz des freien Mandats. Die Abgeordneten gelten als Vertreter des ganzenVolkes. Sie sind daher nicht an Aufträge und Weisungen ihrer Wähler und ihrer Partei gebunden undnur ihrem Gewissen unterworfen.

Das Gegenteil des freien Mandats ist das imperative Mandat, wie es in den Ständeversammlungenbis ins 19. Jahrhundert hinein üblich war. Dort waren die Ständevertreter ihren Wählern Rechenschaftschuldig und konnten abberufen werden, wenn sie deren Weisungen nicht nachkamen. Ein imperativesMandat führt dazu, dass Abgeordnete in allen Entscheidungen von der "Basis" abhängen. Sie müssenjedes Mal darauf achten, dass ihr Stimmverhalten die Zustimmung ihrer Wähler findet. Damit werden

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Kompromisse erschwert oder unmöglich gemacht.

Der Grundsatz des freien Mandats steht in einem Spannungsverhältnis zu der in Art. 21 GG verankertenRolle der Parteien als wesentlichen Trägern der politischen Willensbildung. Im Parteienstaat ist dasParlament, so könnte man argumentieren, auch von der Verfassung her ein Parteienparlament.Abgeordnete, die als Angehörige einer Partei gewählt wurden, wären dann an die Anweisungen ihrerPartei gebunden. Dagegen schützt sie Art. 38 GG.

Das freie Mandat bedeutet nicht, dass Abgeordnete nach Belieben und ohne Rücksicht auf ihre Wähler,ihre Partei oder Fraktion abstimmen können. Es bewahrt sie jedoch davor, bei einem Konflikt mit ihrerFraktion ihr Mandat zu verlieren. Das von den Grünen 1987 vereinbarte, aber bald gescheiterte"Rotationsprinzip" – ihre Abgeordneten sollten nach der Hälfte der Legislaturperiode ihrBundestagsmandat niederlegen und Nachfolgern Platz machen – ist nur auf freiwilliger Basis erlaubt,ein Zwang wäre verfassungswidrig.

Artikel 46(1) Ein Abgeordneter darf zu keiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung, dieer im Bundestage oder in einem seiner Ausschüsse getan hat, gerichtlich oder dienstlich verfolgt odersonst außerhalb des Bundestages zur Verantwortung gezogen werden. Dies gilt nicht fürverleumderische Beleidigungen.(2) Wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung darf ein Abgeordneter nur mit Genehmigung desBundestages zur Verantwortung gezogen oder verhaftet werden, es sei denn, daß er bei Begehungder Tat oder im Laufe des folgenden Tages festgenommen wird.

Artikel 47Die Abgeordneten sind berechtigt, über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete oderdenen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst dasZeugnis zu verweigern. Soweit dieses Zeugnisverweigerungsrecht reicht, ist die Beschlagnahme vonSchriftstücken unzulässig.

Rechte

Die Unabhängigkeit der Abgeordneten wird durch eine Reihe von Vorrechten geschützt, die imGrundgesetz verankert sind:

• Indemnität: Abgeordnete dürfen nach Art. 46 Abs. 1 GG wegen ihres Abstimmungsverhaltensoder wegen Äußerungen im Bundestag – außer "für verleumderische Beleidigungen" – nichtverfolgt oder belangt werden. Die Indemnität dauert auch nach Beendigung des Mandats fort undkann nicht aufgehoben werden. Sie garantiert, dass Abgeordnete ihrem Gewissen folgen und vonihrer Redefreiheit Gebrauch machen können, ohne Nachteile befürchten zu müssen.

• Immunität: Abgeordnete sind – zunächst – vor Strafverfolgung geschützt. Nach Art. 46 Abs. 2 GGdürfen sie für Straftaten nur dann zur Verantwortung gezogen werden,wenn der Bundestag dem zustimmt. Die Immunität besteht nur, solange die Abgeordneten ihrMandat ausüben.

• Zeugnisverweigerungsrecht: Abgeordnete brauchen nach Art. 47 GG über Personen, die ihnenvertrauliche Mitteilungen gemacht haben, keine Auskunft zu geben.

Diäten

Die Abgeordneten des Bundestages und zumeist auch der Landtage beziehen für ihre Tätigkeit einEinkommen. Sie sind Berufspolitiker, die eine Ganztagsbeschäftigung ausüben und einen Anspruch

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auf eine angemessene Entlohnung haben. Diese Entlohnung muss "für sie und ihre Familien eineausreichende Existenzgrundlage abgeben können. Sie muss außerdem der Bedeutung des Amtesunter Berücksichtigung der damit verbundenen Verantwortung und Belastung und des diesem Amt imVerfassungsgefüge zukommenden Ranges gerecht werden"("Diätenurteil" des BVerfG, 1975).

Als vergleichbar mit Bundestagsabgeordneten wurden Bürgermeister von Gemeinden mit 50.000 bis100.000 Einwohnern und Richter an einem obersten Gerichtshof des Bundes angesehen. DieJahresbezüge dieser Personengruppen wurden bisher nicht erreicht. Die Abgeordnetenentschädigungbetrug seit dem 1. Januar 2008 monatlich 7.339 Euro und beträgt seit dem 1. Januar 2009 7.668 Euro.Die Entschädigungen sind einkommensteuerpflichtig.

Darüber hinaus erhalten die Abgeordneten eine steuerfreie Kostenpauschale. Davon sind vor allemdie Kosten für das Büro im Wahlkreis sowie für die Zweitwohnung und den Lebensunterhalt amParlamentssitz zu bestreiten. Die Pauschale wird jährlich zum 1. Januar an die Lebenshaltungskostenangepasst. Sie belief sich im Jahr 2009 auf 3868 Euro im Monat. Dem Abgeordneten stehen überdiesmonatlich 14.712 Euro zu, um Mitarbeiter (Assistenten, Hilfskräfte) zu bezahlen. Der Abgeordneteerhält diese Summe nicht selbst, sondern die Bundestagsverwaltung bezahlt die von den Abgeordneteneingestellten Mitarbeiter unmittelbar.

Die Einkünfte der Abgeordneten werden in der Öffentlichkeit immer wieder kritisiert. Unbestritten ist,dass die Abgeordneten einen Anspruch auf Entlohnung haben. Umstritten ist jedoch die Höhe derEinkünfte und die Tatsache, dass die Abgeordneten sie selbst beschließen. Letzteres ist jedoch in dem"Diätenurteil" vom Bundesverfassungsgericht festgelegt worden. Die Entlohnung liegt weit über demDurchschnittseinkommen, reicht aber nicht an die vieler freier Berufe (Ärzte, Rechtsanwälte) und vonAngehörigen des mittleren Managements in der Wirtschaft (Abteilungsleiter, Leiter einer Bankfiliale)heran. Eine unabhängige Kommission kam 1990 zu dem Ergebnis, dass Entschädigung und Pauschaleum 30–40 Prozent unter dem angemessenen Betrag liegen. Die Entschädigung ist von 1977 (7.500DM) bis 2008 (7.339 Euro) um 91 Prozent erhöht worden; dieser Anstieg blieb hinter der allgemeinenEntwicklung der Einkommen zurück.

Fraktionen

Die Abgeordneten einer Partei im Parlament bilden eine Fraktion. Zur Bildung einer Fraktion ist eineMindestzahl von Abgeordneten nötig. Im Bundestag sind es 5 Prozent, was bei 622 Abgeordneten im17. Deutschen Bundestag eine Mindestfraktionsstärke von 31 ergibt. Bleiben die Abgeordneten einerPartei unter dieser Fraktionsstärke, können sie sich zu einer Gruppe zusammenschließen und alssolche durch Bundestagsbeschluss anerkannt werden. Sie haben nicht so weitreichende Rechte wieFraktionen.

Die Fraktionen organisieren und steuern die Arbeit im Parlament. Sie besetzen entsprechend ihrerStärke das Präsidium, den Ältestenrat und die Ausschüsse. Nur Fraktionen oder so viele Abgeordnete,wie es der Mindeststärke einer Fraktion entspricht, sind zu Initiativen berechtigt. Beispielsweise könnensie Gesetzesvorlagen einbringen oder Große und Kleine Anfragen beim Präsidium einreichen. DieseBestimmung verhindert, dass einzelne Abgeordnete mit einer Vielzahl von Anträgen oder Anfragendie Arbeit des Parlaments lahmlegen. Jeder Abgeordnete hat jedoch das Recht, ohne Beschränkungmündliche Anfragen zu stellen.

Die Fraktionen selbst sind straff organisiert. An ihrer Spitze steht der Fraktionsvorsitzende, zumVorstand gehören seine Stellvertreter und die Parlamentarischen Geschäftsführer. DieFraktionsvorsitzenden sind die einflussreichsten Abgeordneten; die der Regierungsparteien stimmendie politische Willensbildung von Fraktionen und Regierung aufeinander ab, der Vorsitzende dergrößten Oppositionsfraktion ist im Bundestag Gegenspieler des Bundeskanzlers und oftKanzlerkandidat der Opposition.

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Die Parlamentarischen Geschäftsführer sorgen für den reibungslosen Ablauf der parlamentarischenArbeit. Sie bereiten Sitzungen vor, planen die Tagesordnung und sorgen für Präsenz undGeschlossenheit ihrer Fraktionen. Die Fülle der Politikbereiche erfordert eine Arbeitsteilung in derFraktion. Der einzelne Abgeordnete spezialisiert sich auf bestimmte Sachgebiete. In Arbeitskreisenund Arbeitsgruppen beraten diese Sachverständigen Gesetzesentwürfe und andere Anträge undbereiten die Entscheidungen vor. Die Fraktion folgt in der Regel den Vorschlägen ihrerSachverständigen.

Fraktionsdisziplin/Fraktionszwang

Abgeordnete sind als Mitglieder ihrer Partei gewählt, deren grundlegende politische Überzeugungensie mit den anderen Mitgliedern ihrer Fraktion teilen. Sie haben das Interesse, dass die politischenVorstellungen ihrer Partei sich durchsetzen und diese die nächsten Wahlen gewinnt. Nur wenn dieFraktion geschlossen auftritt, erscheint sie entscheidungs- und handlungsfähig. ÖffentlicheAuseinandersetzungen und abweichendes Stimmverhalten werden als "Zerstrittenheit" gewertet undmindern die Wahlchancen.

Abgeordnete können für ihre Auffassungen in den Arbeitskreisen/Arbeitsgruppen, in informellenGesprächsrunden oder im Fraktionsplenum werben. Vor der entscheidenden Abstimmung kommt esmanchmal zu heftigen Auseinandersetzungen. Wenn die Fraktion mit Mehrheit entschieden hat, sindihre Mitglieder daran gebunden. Die Fraktionsdisziplin, die freiwillige Unterordnung unter dieMehrheitsbeschlüsse der Fraktion, unterscheidet sich vom Fraktionszwang, der dem Grundsatz desfreien Mandats widerspricht. Bei sehr umstrittenen Entscheidungen (Beispiele: Notstandsgesetzgebung1968; Abstimmung über die Ostverträge 1972) haben beträchtliche Minderheiten gegen die Linie ihrerFraktionen gestimmt.

Bei ausgesprochenen "Gewissensfragen" (Beispiele: Abtreibung, Verlängerung der Verjährungsfristfür NS-Verbrechen, Einsätze der Bundeswehr bei UN-Friedensmissionen) gibt die Fraktionsführungdie Abstimmung in der Regel frei.

Ausschüsse

Für den Bundestag als Ganzes gilt wie für die Fraktionen das Prinzip der Arbeitsteilung. Die eigentlicheparlamentarische Arbeit wird in den Ausschüssen geleistet. Die Ausschüsseentsprechen den Arbeitskreisen und Arbeitsgruppen der Fraktionen. Deren Mitglieder sind meistzugleich die Vertreter ihrer Fraktionen in entsprechenden Fachausschüssen. In den Ausschüssenwerden die Gesetzesentwürfe und sonstige Initiativen diskutiert und formuliert, um dann dem Plenumzur Beschlussfassung vorgelegt zu werden.

Die Ausschüsse tagen in der Regel nicht öffentlich. Daher kann dort ungezwungener und sachlicherdebattiert werden als in den öffentlichen Sitzungen des Plenums. Auch die Ausschussmitglieder derOpposition haben so die Chance, einen erheblichen Einfluss auszuüben. Es gibt ständige Ausschüsse,die die gesamte Legislaturperiode über bestehen, und solche, die für eine bestimmte Aufgabe gebildetund nach deren Erledigung wieder aufgelöst werden, zum Beispiel "Untersuchungsausschüsse". InArt. 45, 45a GG ist festgelegt, dass Ausschüsse für Angelegenheiten der Europäischen Union, fürauswärtige Angelegenheiten und für Verteidigung gebildet werden müssen.

Ständige AusschüsseDer Bundestag hat zu Beginn der 17. Legislaturperiode 22 ständige Ausschüsse gebildet, denenzwischen 13 und 41 Abgeordnete angehören. Die Fraktionen besetzen die einzelnen Ausschüsseentsprechend ihrem Stärkeverhältnis, ebenso werden die Ausschussvorsitzenden anteilmäßig vonden Fraktionen gestellt.

Die Arbeitsgebiete der meisten Ausschüsse entsprechen denen der Bundesministerien. Jedem

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Ministerium ist in der Regel ein Fachausschuss zugeordnet, zum Beispiel der Auswärtige Ausschussdem Auswärtigen Amt und der Rechtsausschuss dem Bundesministerium der Justiz.

Einige Ausschüsse haben besondere Aufgaben, die nicht an ein bestimmtes Fachressort gebundensind. Dazu gehören der Petitionsausschuss und der wichtigste und mächtigste Ausschuss, derHaushaltsausschuss. Er entscheidet über die Höhe der Geldmittel, die den einzelnen Ministerien undBehörden zugewiesen werden. Außerdem hat er ein Mitspracherecht bei allen Gesetzen, die mitGeldausgaben verbunden sind. Sein Vorsitzender ist traditionell ein Mitglied der größtenOppositionsfraktion.

Plenum

Themengrafik Bundestag: Fraktionen haben eine besondere Rolle im Bundestag. Zum Öffnen der PDF-Version (78KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/pdf/VK5O5B.pdf)

Das Plenum ist die "Vollversammlung", eigentlich der Bundestag schlechthin. Nur dasBundestagsplenum kann rechtswirksame Beschlüsse fassen. Der Bundestag ist beschlussfähig, wennmindestens die Hälfte seiner Mitglieder anwesend ist. Viele Beschlüsse kommen allerdings zustande,wenn weit weniger Abgeordnete anwesend sind. In den Fraktionen und Ausschüssen ist nämlich vorabgeklärt, ob einer Vorlage alle Fraktionen zustimmen oder ob sie zwischen Regierungsmehrheit undOpposition strittig ist. Im ersten Fall spielt es keine Rolle, wie viele Abgeordnete anwesend sind, imletzten genügt es, wenn mehr Abgeordnete der Regierungsmehrheit als der Opposition an derAbstimmung teilnehmen. Nur wenn mindestens 5 Prozent der Abgeordneten oder eine Fraktionwährend der Sitzung die Beschlussfähigkeit "bezweifeln", was äußerst selten vorkommt, kann derPräsident dieselbe Tagesordnung auf einen späteren Zeitpunkt am selben Tag verschieben, um dieerforderliche Anzahl von Abgeordneten zu erreichen (mindestens die Hälfte der Abgeordneten).

Bei besonders wichtigen Entscheidungen, zum Beispiel bei der Wahl des Bundestagspräsidenten oderder Abstimmung über eine vom Bundeskanzler gestellte Vertrauensfrage, ist die absolute Mehrheit

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erforderlich, das heißt eine Stimme mehr als die Hälfte aller Abgeordneten. Eine Zweidrittelmehrheitist notwendig, um die Verfassung zu ändern. Abstimmungen sind im Allgemeinen offen, nur bei derWahl des Bundespräsidenten, des Bundestagspräsidiums, des Bundeskanzlers und desWehrbeauftragten wird geheim abgestimmt.

Namentliche Abstimmungen können von einer Fraktion oder von mindestens 5 Prozent deranwesenden Abgeordneten beantragt werden. Das geschieht bei besonders wichtigen Abstimmungen,wenn die persönliche Verantwortung der einzelnen Abgeordneten für ihre Entscheidung festgestelltund festgehalten werden soll.

ArbeitsparlamentDas Bild des Bundestages in der Öffentlichkeit wird durch die Debatten im Plenum bestimmt. Hörfunkund Fernsehen übertragen wichtige Debatten oder berichten aus den Plenarsitzungen. Wenn dieFernsehkamera über den Plenarsaal schwenkt, sieht der Zuschauer, dass oft nur 30 oder 50Abgeordnete anwesend sind, von denen ein Teil auch noch Akten studiert oder Zeitung liest. Das führtzu dem weitverbreiteten Missverständnis, die Abgeordneten kämen ihren Pflichten nicht nach.

Dieser Kritik liegt die Vorstellung zugrunde, das Plenum sei der eigentliche Ort der parlamentarischenArbeit. Dort würden die wichtigsten Probleme des Landes in Rede und Gegenrede zwischenRegierungsmehrheit und Opposition debattiert, und die besseren Argumente setzten sich durch.Diesem Idealbild kommt am ehesten das britische Unterhaus nahe, das als "Redeparlament" gilt. Derandere Typ ist das "Arbeitsparlament", in dem, wie vor allem im amerikanischen Kongress, derSchwerpunkt auf der Gesetzgebungsarbeit in Ausschüssen liegt.

Der Bundestag wird oft als eine Mischung aus den beiden Parlamentstypen bezeichnet. Nimmt manden Zeitaufwand als Maßstab, so leisten die Bundestagsabgeordneten ihre Arbeit weit überwiegendin Ausschüssen, Fraktionen, Arbeitskreisen und Arbeitsgruppen. In den bisher 16 Wahlperioden (1949 –2009) fanden über 3.600 Plenarsitzungen statt, wohingegen allein die Zahl der Ausschusssitzungenden zehnfachen Wert übersteigt.

Haben die Experten in wochen- und monatelangen Beratungen alle Argumente ausgetauscht und sinddie Standpunkte geklärt, ist es nicht verwunderlich, wenn die meisten Beschlüsse im Plenum ohneDebatte oder nach kurzer Diskussion gefasst werden. Eine Anwesenheit der vielen Abgeordneten, dienicht mit der Materie vertraut sind, wäre daher pure Zeitverschwendung.

Die großen Debatten über wichtige Themen, wie zum Beispiel die Haushaltsdebatte, haben nicht dieFunktion, die jeweils andere Seite zu überzeugen. Es handelt sich um Reden, die für die Öffentlichkeitbestimmt sind. Dem Bürger sollen die unterschiedlichen Meinungen und die Gründe, die etwa zu dieseroder jener Entscheidung geführt haben, deutlich gemacht werden.

PräsidiumDie Sitzungen des Bundestages werden vom Bundestagspräsidenten geleitet. Traditionell wird er vonder stärksten Fraktion gestellt. Als Präsident des obersten Verfassungsorgans nimmt er nach demBundespräsidenten und noch vor dem Bundeskanzler den zweiten Platz im Staate ein. Der Bundestagwählt den Präsidenten und je Fraktion mindestens einen Vizepräsidenten. Gemeinsam bilden sie dasPräsidium.

Der Bundestagspräsident repräsentiert den Bundestag nach außen und ist zugleich obersterDienstvorgesetzter der Bundestagsverwaltung. Seine wichtigste Aufgabe ist die Leitung derBundestagssitzungen, in der er sich mit den derzeit fünf gewählten Vizepräsidenten ablöst.

ÄltestenratDer Ältestenrat sorgt für den reibungslosen Ablauf der Parlamentsarbeit. So setzt er die Tagesordnungund die Redezeiten der Plenarsitzungen fest und verständigt sich über die Besetzung der

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Ausschussvorsitze. Der Ältestenrat setzt sich zusammen aus dem Bundestagspräsidenten, denVizepräsidenten und 23 weiteren von den Fraktionen zu benennenden Abgeordneten. Es sindkeineswegs die ältesten Mitglieder des Hauses, sondern zumeist besonders erfahrene Abgeordnete,darunter die Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen.

Wissenschaftliche DiensteTrotz der Arbeitsteilung könnten die Abgeordneten auf sich allein gestellt mit den Experten derMinisterialbürokratie und der Verbände nicht Schritt halten, sofern sie nicht die Möglichkeit hätten, aufeigene Hilfsdienste zurückzugreifen.

Jeder Abgeordnete hat einen oder mehrere Assistenten zur Verfügung, die aus der Kostenpauschalezu bezahlen sind. Das sind zum Teil wissenschaftlich vorgebildete Mitarbeiter, zum Teil Bürohilfskräfte.Darüber hinaus verfügt jede Fraktion über einen umfangreichen Stab von Fraktionsassistenten,Referenten, Sachbearbeitern und technischem Personal.

Die Abgeordneten können schließlich auf die wissenschaftlichen Dienste des Bundestageszurückgreifen. Dazu gehören die Bibliothek, das Parlamentsarchiv, die Pressedokumentation, eineDatenbank, ferner ebenso Fachdienste, die Gutachten, Dokumentationen und Auswertungenzusammenstellen, sowie auch Ausschusssekretariate, die die Arbeit der einzelnen Ausschüsseorganisieren und unterstützen.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 61-72.

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Aufgaben des BundestagesVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Die wichtigste Aufgabe des Bundestages ist die Gesetzgebung. Er wählt aber auch denBundeskanzler und kontrolliert die Regierung. In Plenardebatten werden wichtige politischeThemen diskutiert und unterschiedliche Standpunkte vorgetragen.

Neben dem Reichstag (links), dem Paul-Löbe-Haus (Mitte) und dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus (rechts) ist derBundestag auch im Jakob-Kaiser-Haus untergebracht. Im Berliner Spreebogen befinden sich die meisten Gebäudedes Bundestages. Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de (Wolfgang Staudt)

Das Grundgesetz beschreibt an verschiedenen Stellen die Aufgaben des Bundestages. Nimmt mandie Zahl der Artikel des Grundgesetzes (Art. 70–82) als Maßstab, so wäre die bei Weitem wichtigsteAufgabe die Gesetzgebung (Gesetzgebungsfunktion). Das Parlament wird in der Lehre von derGewaltenteilung als Legislative bezeichnet. Das könnte zu dem Missverständnis führen, demParlament komme allein die Aufgabe der Gesetzgebung zu. Im Grundgesetz wird als weitere Aufgabedes Bundestages die Wahl des Bundeskanzlers und anderer wichtiger Staatsorgane genannt(Wahlfunktion). Einige Artikel (43, 44, 67, 110) weisen dem Bundestag die Aufgabe zu, Regierung undVerwaltung zu kontrollieren (Kontrollfunktion).

Aufgaben und Bedeutung des Bundestages gehen aber über diese "klassischen", im Grundgesetz

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umschriebenen Funktionen hinaus. Er soll die wichtigsten politischen Themen zur Diskussion stellenund Lösungen und Alternativen anbieten (Willensbildungsfunktion). Zugleich sollen im Bundestag dieim Volk vorhandenen Meinungen Ausdruck finden (Artikulationsfunktion).

Regierungsbildung (Wahlfunktion)

Artikel 63(1) Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprachegewählt.(2) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. DerGewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen.(3) Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen vierzehn Tagen nach demWahlgange mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen.(4) Kommt eine Wahl innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgangstatt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Vereinigt der Gewählte die Stimmen derMehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich, so muß der Bundespräsident ihn binnen siebenTagen nach der Wahl ernennen. Erreicht der Gewählte diese Mehrheit nicht, so hat der Bundespräsidentbinnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen.

Wahl des BundeskanzlersDie Wahl des Bundeskanzlers ist in Art. 63 GG geregelt. Bisher sind alle Kanzler im ersten Wahlgangmit der absoluten Mehrheit der Stimmen gewählt worden, sowohl bei der Wahl zu Beginn derLegislaturperiode als auch bei der Wahl des Nachfolgers eines zurückgetretenen Bundeskanzlers. DieBestimmungen in Art. 63 Abs. 3 und 4 GG für den Fall, dass ein Kandidat die "Stimmen der Mehrheitder Mitglieder des Bundestages" verfehlt, blieben bisher gegenstandslos.

Das ist eine Folge des über vier Jahrzehnte stabilen Parteiensystems mit zwei großen Volksparteien,die entweder allein (nur 1957) oder zusammen mit anderen Parteien in einer Koalition eine Regierungbilden konnten. Die beiden großen Parteien gehen mit Spitzenkandidaten, dem amtierenden Kanzlerbzw. dem "Kanzlerkandidaten", in die Wahl. Schon vor der Wahl haben die Parteien also festgelegt,welcher der Kandidaten bei entsprechender Mehrheit Kanzler werden soll, zumeist auch, in welcherKoalition er regieren will. Der Bundestag führt mit der Wahl des Kanzlers letztlich nur den Wählerwillenaus.

Konstruktives Misstrauensvotum

Artikel 67(1) Der Bundestag kann dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur dadurch aussprechen, daß er mit derMehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, denBundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muß dem Ersuchen entsprechen und denGewählten ernennen.(2) Zwischen dem Antrage und der Wahl müssen achtundvierzig Stunden liegen.

Der Bundestag kann nach Art. 67 GG den Bundeskanzler abwählen, indem er mit der absoluten"Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt". Damit wird gesichert, dass der Bundeskanzlernur dann aus dem Amt entfernt werden kann, wenn sich im Bundestag in der Folge eine neueRegierungsmehrheit zusammenfindet.

Verhindert wird dadurch, dass, wie in der Weimarer Republik, negative Mehrheiten, die sich allein inder Ablehnung der Regierung einig sind, die Regierung stürzen können. Die Bestimmung in Art. 67wird als "konstruktives Misstrauensvotum" bezeichnet.

"Misstrauensvotum" bedeutet hier nur das Gegenteil von "Vertrauensvotum", mit dem der Kanzler sichin seinem Amt bestätigen lassen kann; es enthält keinerlei Vorwurf, etwa den einer

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Amtspflichtverletzung. Ein konstruktives Misstrauensvotum hat es im Bundestag bisher zweimalgegeben, das gescheiterte gegen Bundeskanzler Willy Brandt 1972 und das erfolgreiche gegenBundeskanzler Helmut Schmidt 1982.

Vertrauensfrage

Artikel 68(1) Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmungder Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag desBundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur Auflösungerlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt.

Mit der Vertrauensfrage kann der Bundeskanzler prüfen, ob im Bundestag noch eine Mehrheit derAbgeordneten hinter ihm steht. Er kann die Vertrauensfrage mit einer Sachfrage (etwa mit einemGesetzesentwurf) verknüpfen, um seine Politik durchzusetzen. Er kann die Vertrauensfrage aber auchnutzen, um darzulegen, dass er keine parlamentarische Mehrheit mehr findet und Neuwahlen anstrebt.

Dies ist bisher dreimal geschehen. Im Jahr 1972 stellte Willy Brandt nach dem gegen ihn gescheitertenMisstrauensvotum die Vertrauensfrage, um die parlamentarische Pattsituation zu beenden undNeuwahlen herbeizuführen. 1983 nutzte Helmut Kohl – ohne die Absicht eine Mehrheit zu finden – dieVertrauensfrage, um nach dem durch konstruktives Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt (1982)erfolgten Regierungswechsel Neuwahlen zu erreichen und seine Parlamentsmehrheit zu vergrößern.Gerhard Schröder strebte auf gleiche Weise 2005 vorgezogene Neuwahlen an, die er allerdings nichtgewann.

Bereits 1983 war das Vorgehen von Bundeskanzler Kohl auf heftige Kritikgestoßen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit diesem Fall befasst und klargestellt, dass Art.68 GG dem Bundeskanzler nicht gestattet, sich zum geeignet erscheinenden Zeitpunkt dieVertrauensfrage mit dem Ziel negativ beantworten zu lassen, die Auflösung des Bundestages undNeuwahlen zu betreiben. Die Mehrheit des Gerichts billigte dem Bundeskanzler im speziellen Fall abereine außergewöhnliche Lage zu.

Gesetzgebung (Gesetzgebungsfunktion)

In einem Bundesstaat wie der Bundesrepublik Deutschland gibt es Bundesgesetze, die für das gesamteGebiet des Bundes gelten, und Landesgesetze, die nur im jeweiligen Bundesland verbindlich sind.Landesgesetze dürfen Bundesgesetzen nicht widersprechen (Art. 31 GG: Bundesrecht brichtLandesrecht). Damit soll gesichert werden, dass überall im Bundesgebiet die "Lebensverhältnissegleichwertig" gestaltet werden können.

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Themengrafik Gesetzesentstehung: Der Bundestag ist maßgeblich an der Gesetzgebung beteiligt. Zum Öffnen derPDF-Version (286 KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/pdf/1WBWNH.pdf)

Ausschließliche Gesetzgebung des BundesDas Grundgesetz regelt sehr ausführlich die Zuständigkeiten der Gesetzgebung von Bund undLändern. Mit der Föderalismusreform aus dem Jahr 2006 wurden die Zuständigkeiten neu austariert.Art. 73 GG zählt 17 Gebiete auf, in denen der Bund das Recht der ausschließlichen Gesetzgebung hat.

Dazu gehören beispielsweise die Auswärtigen Angelegenheiten, die Verteidigung, dieStaatsangehörigkeit, die Währung, die Einheit des Zoll- und Handelsgebietes bis hin zum Urheberrechtund zur Statistik des Bundes. Hinzu kommen noch weitere Gebiete, für die das Grundgesetz an andererStelle die Zuständigkeit des Bundes festlegt, beispielsweise die Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs.3 GG) und die Parteien (Art. 21 Abs. 3 GG).

Ausschließliche Gesetzgebung der LänderZu den bedeutendsten Rechtsfragen, die den Ländern vorbehalten sind, zählen das Bildungs- undSchulwesen, die Kulturpolitik, das Polizeirecht und die Gemeindeordnung. Als Ausgleich für denVerzicht auf die Mitwirkung bei vielen Bundesgesetzen erhielten die Länder im Zuge derFöderalismusreform 2006 neue Zuständigkeiten: für das Dienstrecht der Landes- undKommunalbeamten, für den Strafvollzug, das Heimrecht, das Ladenschluss- und Gaststättenrecht,das Versammlungsrecht. Überdies steht den Ländern ein "Abweichungsrecht" zu (Art. 72 Abs. 3 GG);sie können bei bestimmten Materien vom Bundesrecht abweichen und eigene Regelungen treffen, vorallem beim Umweltrecht, bei der Hochschulzulassung und dem Hochschulabschluss.

Konkurrierende GesetzgebungFür viele Rechtsgebiete sind nach dem Grundgesetz Bund und Länder nebeneinander zuständig. Dassind die Gebiete der konkurrierenden Gesetzgebung (c Seite 76, 95). Der Bund hat hier ein Vorrecht.

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Nur wenn er davon keinen Gebrauch macht, können die Länder ihre eigenen Gesetze erlassen. In derPraxis hat der Bund, um die "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" zu wahren (Art. 72 Abs. 2, Art.106 Abs. 3 GG), von seinem Vorrecht weitgehend Gebrauch gemacht.

Zuständigkeiten von Bund und Ländern in der Gesetzgebung

Bund

Ausschließliche Gesetzgebung (Art. 71, 73 GG; Auszüge)

• Auswärtige Angelegenheiten

• Verteidigung, Zivilschutz

• Staatsangehörigkeit

• Passwesen

• Währungs- und Geldwesen

• Zölle und Außenhandel

• Luftverkehr und Eisenbahnen

• Post und Telekommunikation

• Post und Telekommunikation

• Waffen- und Sprengstoffrecht

• Erzeugung und Nutzung der Kernenergie

Bund und Länder

Konkurrierende Gesetzgebung (Art. 72, 74 GG; Auszüge)

• Bürgerliches Recht

• Strafrecht

• Personenstandswesen

• Vereinsrecht

• Aufenthaltsrecht für Ausländer/innen

• Arbeitsrecht

• Wirtschaftsrecht

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• Schifffahrt

• Straßenverkehr

Länder

Ausschließliche Gesetzgebung

• Kultur

• Polizeiwesen

• Bildungs- und Schulwesen

• Gesundheitswesen

• Kommunalwesen

Der Katalog der Gebiete, die der konkurrierenden Gesetzgebung unterliegen, ist ständig erweitertworden und umfasst jetzt 33 Punkte (Art. 74). Dazu gehören das bürgerliche Recht, das Strafrecht,das Personenstandswesen, das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht der Ausländer, das Arbeitsrecht,Schifffahrt, Straßenverkehr, die Abfallbeseitigung, die Luftreinhaltung, die Lärmbekämpfung, derNaturschutz und die Landschaftspflege, die Raumordnung, die Hochschulzulassung und dieHochschulabschlüsse.

RahmengesetzgebungBis zum Jahr 2006 besaß der Bund das Recht einer Rahmengesetzgebung, das bedeutet, er konnteeinen gesetzlichen Rahmen für einige Rechtsgebiete schaffen, den die Länder durch eigeneRegelungen im Einzelnen ausfüllen konnten. Der entsprechende Artikel des Grundgesetzes (Art. 75)entfiel im Zusammenhang mit der Föderalismusreform.

Kontrolle von Regierung und Verwaltung (Kontrollfunktion)

Nach dem traditionellen Verständnis von der Teilung der drei Gewalten hat das (Gesamt-)Parlamentdie Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren. Für parlamentarische Demokratien ist jedoch eine andereForm der Gewaltenteilung charakteristisch: Regierung und Mehrheitsfraktionen steht dieparlamentarische Opposition gegenüber. Die Kontrollfunktion nimmt hier vor allem die Opposition wahr.Sie nutzt verschiedene Instrumente, beispielsweise Anfragen und Untersuchungsausschüsse, um dieRegierung öffentlich zu kritisieren und zu kontrollieren. Die Mehrheitsfraktionen werden die Regierungnur in Ausnahmefällen kritisieren. In der Regel stimmt die Regierung ihre Vorhaben vorher mit den sietragenden Fraktionen ab, sodass Konflikte hier eher die Ausnahme darstellen.

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Themengrafik Bundestag: Der Bundestag übernimmt wichtige Aufgaben in der Demokratie. Zum Öffnen der PDF-Version (167 KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/pdf/8UVU6Y.pdf)

AnfragenIm Grundgesetz sind nur wenige Kontrollrechte ausdrücklich festgehalten, so in Art. 43 das Recht,jedes Mitglied der Bundesregierung herbeizurufen. In der Geschäftsordnung des Bundestages istdieses Fragerecht im Einzelnen geregelt:

Große Anfragen können von einer Fraktion oder mindestens 31 Abgeordneten gestellt werden. Siemüssen schriftlich eingereicht werden. Sobald die Regierung ebenfalls schriftlich geantwortet hat, wirdeine Debatte im Plenum angesetzt. Große Anfragen werden vor allem von der Opposition genutzt, umdie Regierung zu zwingen, in wichtigen politischen Fragen öffentlich Rede und Antwort zu stehen, aufderen Schwächen aufmerksam zu machen und die eigenen Alternativen darzustellen. Große Anfragender Koalitionsfraktionen sollen der Regierung Gelegenheit verschaffen, ihre Erfolge herauszustellenund die Kritik der Opposition zu entkräften.

Kleine Anfragen müssen gleichfalls von mindestens 31 Abgeordneten eingereicht werden. Ihr Ziel istes, von der Regierung Informationen über einen bestimmten Sachverhalt zu bekommen. Sie sollteninnerhalb von 14 Tagen schriftlich beantwortet werden; es gibt aber keine Debatte. Befriedigt dieAuskunft nicht, kann der Abgeordnete in der Fragestunde Zusatzfragen stellen.

Die Fragestunde findet einmal wöchentlich (mittwochs) statt. Sie dauert 120 Minuten. JederAbgeordnete darf pro Sitzungswoche bis zu zwei Fragen an die Bundesregierung stellen. Sie müsseneinige Tage vorher eingereicht werden, bei dringendem öffentlichen Interesse noch am Vortag.Beantwortet werden sie meist vom zuständigen Parlamentarischen Staatssekretär oder Minister. DerFragesteller kann zwei, jeder andere Abgeordnete eine Zusatzfrage stellen. Oftmals kommt es zueinem lebhaften Rededuell, besonders wenn sich mehrere Abgeordnete verabredet haben, dieRegierungsvertreter in die Enge zu treiben. Die Fragestunde anlässlich der "Spiegelaffäre" 1962, in

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der mehrere Abgeordnete der Opposition zahlreiche Fragen und Zusatzfragen stellten, trug zum Sturzdes damaligen Bundesverteidigungsministers bei.

Die Befragung der Bundesregierung findet wie die Fragestunde einmal wöchentlich (mittwochs) statt.Die Mitglieder des Bundestages können an die Bundesregierung Fragen von aktuellem Interesse imRahmen ihrer Verantwortlichkeit richten, vorrangig zu der vorangegangenen Kabinettssitzung. Esantworten die angesprochenen Mitglieder der Bundesregierung.

Aktuelle Stunden können wie die Großen und Kleinen Anfragen von einer Fraktion oder von 31Abgeordneten zu einem Thema von aktuellem Interesse beantragt werden. Jeder Diskussionsbeitragdarf nicht länger als fünf Minuten dauern. Die Aktuelle Stunde wird häufig von der Opposition genutzt,um spontan ein umstrittenes Thema aufzugreifen und die Regierung zu kritisieren.

Beispiele für Themen, die 2007/08 in Aktuellen Stunden behandelt wurden

08.03.2007, CDU/CSU, SPD: Airbusrestrukturierung – Kernkompetenzen und Zukunftstechnologienin Deutschland erhalten und ausbauen

10.05.2007, CDU/CSU, SPD: Aktuelle wirtschaftliche Entwicklung und Lage auf dem Arbeitsmarkt

11.05.2007, FDP, B90/Grüne: Haltung der Bundesregierung zur Finanzierung des geplanten Ausbausvon Kinderkrippen

04.07.2007, B90/Grüne: Bundeswehreinsatz beim G-8-Gipfel

19.09.2007, FDP: Haltung der Bundesregierung zu den Äußerungen des Bundesministers derVerteidigung, Dr. Franz Josef Jung, in Terrorabsicht entführte Flugzeuge ohne gesetzliche Grundlageabschießen zu lassen

08.11.2007, CDU/CSU, SPD, B90/Grüne: Jüngste Entwicklung in Pakistan

16.01.2008, B90/Grüne: Haltung der Bundesregierung zur Bekämpfung der Jugendkriminalitäthinsichtlich der Prävention, Straffälligenhilfe und Ausstattung der Jugendgerichte

20.02.2008, Die Linke, B90/Grüne: Fehlende Strategien der Bundesregierung in der Bekämpfung vonSteuerhinterziehung und Konsequenzen

12.03.2008, FDP, Die Linke: Haltung der Bundesregierung zu den Konsequenzen aus dem Urteil desBerliner Verwaltungsgerichts zum Mindestlohn für Briefdienste

09.04.2008, B90/Grüne: Unterschiedliche Auffassungen innerhalb der Bundesregierung zur Erhöhungder Biospritbeimischung

08.05.2008, CDU/CSU, SPD: Wachstum und Beschäftigung als Grundlage wirtschaftlicher Sicherheit –Haltung der Bundesregierung zur Entwicklung des Arbeitsmarktes und zu den Wachstumsperspektivenfür Deutschland

Quelle:Deutscher Bundestag

UntersuchungsausschüsseDer Bundestag muss auf Antrag von mindestens einem Viertel seiner Mitglieder einenUntersuchungsausschuss einsetzen (Art. 44 GG), um Missstände und Verfehlungen aufzuklären. EinUntersuchungsausschuss kann Zeugen und Sachverständige vorladen und Beweise erheben. Die

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Beratungen der Ausschüsse sind grundsätzlich nicht öffentlich; erweiterte öffentlicheAusschussberatungen und öffentliche Anhörungssitzungen sind aber möglich.

Untersuchungsausschüsse werden zumeist gebildet, um Skandale und Affären aufzuklären. In derRegel fordert die Opposition solche Untersuchungen, wenn Mitglieder der Regierung oder derRegierungsparteien belastet sind. In den Untersuchungsausschüssen, die wie alle anderenAusschüsse entsprechend der Stärke der Fraktionen besetzt sind, haben die Fraktionen derRegierungsparteien die Mehrheit. Sie sind naturgemäß nicht daran interessiert, ihrer Regierung zuschaden. Ihr Eifer, den Sachverhalt bis ins Letzte aufzuklären, hält sich daher in Grenzen. Oftmalsenthalten die Abschlussberichte ein Mehrheits- und ein Minderheitsvotum.

Enquete-KommissionenDas französische Wort enquête bedeutet Untersuchung. Anders als die Untersuchungsausschüsse,die sich nur aus Abgeordneten zusammensetzen, werden Enquete-Kommissionen aus Abgeordnetenund Sachverständigen gebildet. Ihre Aufgabe ist es, zu einem wichtigen Themenkomplex alleverfügbaren Informationen zusammenzutragen und Entscheidungen des Bundestages langfristigvorzubereiten. Ihre Berichte werden auch in der Öffentlichkeit beachtet. Themen, mit denen sichEnquete-Kommissionen befassen, sind beispielsweise: "Globalisierung der Weltwirtschaft –Herausforderungen und Antworten", "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements", "DemographischerWandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik","Recht und Ethik der modernen Medizin" und "Kultur in Deutschland".

BudgetrechtDas Budgetrecht, das Recht, Steuern und Abgaben zu bewilligen, ist das klassische Kontrollrecht desParlaments.Zuerst erkämpfte es sich das englische Parlament, im 19. Jahrhundert wurde es in dieVerfassungen der konstitutionellen Monarchien aufgenommen. Die Parlamente nutzten dieses Recht,um die Steuern möglichst niedrig zu halten und die Ausgaben zu beschränken.

Die Bundesregierung legt jedes Jahr einen Haushaltsplan vor, der die erwarteten Einnahmen und dievorgesehenen Ausgaben enthält. Der Haushaltsplan wird vom Haushaltsausschuss beraten undanschließend vom Bundestag als Gesetz verabschiedet (Art. 110 GG).

Die Regierungsfraktionen, die im Haushaltsausschuss die Mehrheit haben, unterstützen die Vorlageder Regierung, die sie vorher mit ihr abgestimmt haben, sodass die Opposition kaum Chancen hat,Änderungen zu erreichen. 80 bis 90 Prozent der Ausgaben sind ohnehin gesetzlich festgelegt, sodassder Spielraum gering ist. Die Bundesregierung kann nach Art. 113 GG Einspruch gegen Gesetzeeinlegen, welche die von ihr vorgeschlagenen Ausgaben des Haushaltsplans erhöhen oder dievorgesehenen Einnahmen vermindern.

Der Haushaltsplan ist das "Regierungsprogramm in Zahlen". Die Opposition nutzt daher dieabschließende Beratung des Haushalts im Plenum des Deutschen Bundestages, die alljährliche"Haushaltsdebatte", um die Regierung zu attackieren und mit ihrer Politik abzurechnen.

Petitionen

Artikel 17Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oderBeschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden.

Das Recht, sich mit Petitionen, das sind Bitten und Beschwerden, an die Volksvertretung zu wenden,ist ein Grundrecht, das allen Bürgerinnen und Bürgern zusteht. Unter Bitten sind insbesondereVorschläge zur Gesetzgebung (Änderung und Aufhebung von Gesetzen) zu verstehen. Beschwerdenrichten sich gegen das Handeln der Verwaltung. Der Petitionsausschuss des Bundestages hat nichtnur, wie jeder andere Ausschuss des Bundestages, das Recht, Mitglieder der Bundesregierung

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herbeizurufen, er kann auch von der Regierung und den Behörden Auskunft und Einsicht in Aktenverlangen, Sachverständige und Zeugen hören sowie Zutritt zu ihren Einrichtungen verlangen. NachAbschluss der Ermittlungen fasst der Petitionsausschuss seine Meinung in einer Abschlussempfehlungan den Bundestag zusammen. Hierin kann beispielsweise vorgeschlagen werden, das Anliegen desEinsenders (Petenten) gegenüber der Bundesregierung zu unterstützen.

Nach der Wiedervereinigung hatte sich die Anzahl der jährlichen Eingaben nahezu verdoppelt (1992:rund 24.000). 2008 gingen 18.096 Petitionen ein. Sie zeigen dem Bundestag, wo in Gesetzgebungund Verwaltung Lücken, Fehler und Härten auftreten. So hat der Petitionsausschuss beispielsweisemit Erfolg empfohlen, die Rentenregelung für die Bürger der neuen Länder zu verbessern und dieVerjährungsfrist für DDR-Staatsunrecht erst am Tag der Wiedervereinigung beginnen zu lassen.

Auch Soldaten können sich an den Petitionsausschuss wenden; für sie gibt es aber noch eine eigeneBeschwerdeinstanz, den Wehrbeauftragten.

Wehrbeauftragter

Artikel 45 bZum Schutz der Grundrechte und als Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung derparlamentarischen Kontrolle wird ein Wehrbeauftragter des Bundestages berufen. Das Nähere regeltein Bundesgesetz.

Der Wehrbeauftragte soll die Entwicklung der Bundeswehr zu einer demokratischen Armee fördernund kontrollieren. Zugleich ist er eine Art Frühwarnsystem für die Probleme der Bundeswehr. Er kenntdie Nöte und die Stimmung der Truppe besser als jeder andere. Sein Jahresbericht an den Bundestagwird auch in der Öffentlichkeit stark beachtet.

Das Amt des Wehrbeauftragten hat sein Vorbild im schwedischen Ombudsman, einem "Bürgeranwalt",der die Rechte der Bürger gegenüber der Verwaltung wahren soll. Es wurde 1956 vom Bundestageingerichtet.

Der Wehrbeauftragte wird für fünf Jahre vom Bundestag gewählt. Er schreitet ein, wenn Grundrechteder Soldaten oder die Grundsätze der Inneren Führung verletzt werden. Er kann jederzeitunangemeldet die Truppe besuchen, dabei Auskünfte von Vorgesetzten verlangen und ohneAnwesenheit von Vorgesetzten mit Soldaten sprechen.

Jeder Soldat kann sich unter Umgehung des Dienstweges direkt an ihn wenden. Der Wehrbeauftragteerhält jedes Jahr mehrere tausend Eingaben, die sämtlich überprüft werden. Wenn Beschwerdenberechtigt sind, gibt der Wehrbeauftragte eine Empfehlung, der in der Praxis fast immer entsprochenwird.

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Teilnahme an der politischen Willensbildung (Willensbildungsfunktion)

Das Parlament soll das "Forum der Nation" sein. Hier sollen die wichtigen politischen Themen diskutiertund Konzepte zur Lösung von Problemen entwickelt werden. Die unterschiedlichen Standpunkte sollenin verständlicher Form vorgetragen und die Gründe für Entscheidungen erkennbar gemacht werden.Das geschieht in den großen Plenardebatten, in denen die Bundesregierung sowieRegierungsfraktionen und Opposition ihre Positionen vor der Öffentlichkeit darlegen und begründen.

Doch solche großen Debatten sind selten, und sie finden nicht immer die Aufmerksamkeit derÖffentlichkeit, die ihnen zukommen sollte. Es gehört zu der gängigen Kritik am Bundestag, dass erdie informierende Funktion nicht ausreichend wahrnimmt. Politische Meinungs- und Willensbildungfindet heute vor allem auf dem Weg über die Massenmedien statt. Regierungsmitglieder und führendeAbgeordnete der Koalitionsparteien und der Opposition teilen ihre Meinungen der Öffentlichkeit inFernsehen (beispielsweise in Talkshows), Hörfunk und Zeitungen mit. Dabei geht jedoch verloren, wasnur eine Debatte leisten kann: die Auseinandersetzung, das Ringen um bessere Lösungen in Redeund Gegenrede.

Wenn der Bundestag nicht der zentrale Ort politischer Auseinandersetzung ist, hat das auch mit seinemSelbstverständnis als Arbeitsparlament zu tun. Die politische Willensbildung vollzieht sich in denFraktionen und den Ausschüssen, dort fallen auch die politischen Entscheidungen. Diese intensiveund effiziente Detailarbeit geschieht zwangsläufig unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Repräsentation der Bevölkerung und Artikulationsfunktion

Im Parlament soll zur Sprache kommen, was die Bürger politisch bewegt. Die Wähler erwarten, dassihre eigenen Ansichten zu politischen Themen in den Debatten ausgesprochen (artikuliert) werdenund dass ihre Wünsche und Interessen im Parlament vertreten (repräsentiert) sind.

Häufig wird beklagt, die Bürger dürften alle vier Jahre zur Wahl gehen, danach hätten sie keinenEinfluss mehr auf die politischen Entscheidungen. Doch Abgeordnete wollen wiedergewählt werden.Die Wünsche der Wähler hören sie in ihrem Wahlkreis. Meinungsumfragen geben ständig ein Bild vonder Stimmung der Bürger. Zahlreiche Landtags- und Kommunalwahlen finden im Laufe einerLegislaturperiode statt und bieten den Wählern Gelegenheit, ihre Zufriedenheit oder Unzufriedenheitmit der Regierungspolitik zu bekunden. Das alles hat Rückwirkungen auf die Politik der Regierung undauf das Verhalten der einzelnen Abgeordneten.

Das bedeutet nicht, dass Bundestag und Regierung lediglich den Willen der Bevölkerungnachvollziehen sollen. Politische Führung heißt, eine als richtig erkannte Politik auch gegenMeinungsumfragen durchzusetzen. Wenn diese Politik erfolgreich ist, wird sie später von den Wählernhonoriert. So hat die Regierung Adenauer gegen den Willen der Mehrheit die Einbindung in daswestliche Bündnissystem vollzogen, die Regierung Schmidt und die ihr folgende Regierung Kohl habendie Nachrüstung aufgrund des NATO-Doppelbeschlusses betrieben und durchgesetzt.

Repräsentation und SozialstrukturKann der Bundestag, wird häufig gefragt, seine Repräsentationsfunktion angemessen wahrnehmen,wenn er nicht die soziale Struktur in der Zusammensetzung seiner Wählerschaft widerspiegelt?Tatsächlich weicht das "Sozialprofil" des Bundestages sehr weit von dem seiner Wählerschaft ab.

Am auffälligsten ist die Unterrepräsentation der Frauen. Obwohl sie mehr als die Hälfte der Wählerstellen, lag ihr Anteil an den Abgeordneten von 1949 bis 1987 regelmäßig unter 10 Prozent. Dem 17.Bundestag gehören immerhin 33 Prozent Frauen an.

Deutlich überrepräsentiert sind Abgeordnete mit Universitätsabschluss und Abschluss einerFachhochschule oder Pädagogischen Hochschule. Bei der Aufschlüsselung der Berufsangaben fälltauf, dass Angehörige des öffentlichen Dienstes besonders häufig vertreten sind, sie stellen traditionell

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etwa zwei Fünftel der Abgeordneten. Relativ hoch ist der Anteil der Verbandsvertreter. Sehr gering istdagegen die Zahl der Arbeiter.

Der Aussagewert von Berufsangaben ist gering. Sehr viele Abgeordnete haben einen wechselvollenLebensweg hinter sich, wobei sie mehrere Berufe ausgeübt haben, von denen sie einen angeben,manchmal zeitweilige Tätigkeiten im öffentlichen Dienst oder als kommunale Wahlbeamte. Der Wegeines Arbeiters in die Politik führt in der Regel über die Gewerkschaft oder den zweiten Bildungswegund berufliche Tätigkeiten als Gewerkschaftssekretär, Redakteur oder Angestellter einer Partei, erzählt dann nicht mehr als Arbeiter. Die mangelnde Repräsentation der Frauen wird auf das Systemder Kandidatenaufstellung zurückgeführt, bei dem Männer – entgegen den Mahnungen derParteivorstände – ihre Mehrheiten ausnutzen. Der Anteil der Frauen an den Parteimitgliedern liegt beietwa einem Viertel. Wenn man dies als Maßstab nimmt, wären sie im 17. Bundestag etwasüberproportional vertreten.

Das Prinzip der Repräsentation besagt nicht, dass jede Gruppe entsprechend ihrem Anteil an derBevölkerung im Parlament vertreten sein muss. Das wäre einer Ständegesellschaft angemessen. DieÜberzeugungen und Interessen der Abgeordneten werden nicht in erster Linie vom Geschlecht, vonder sozialen Herkunft oder vom beruflichen Werdegang bestimmt, sondern von ihrer politischenSozialisation. Dennoch müssen größere Anstrengungen unternommen werden als bisher, um allzukrasse Unterschiede zwischen Sozialstruktur der Bevölkerung und der Abgeordneten, insbesonderedie Unterrepräsentation der Frauen, abzubauen.

Gewaltenteilung/Gewaltenverschränkung

Das Grundgesetz legt in Art. 20 fest, die Staatsgewalt werde durch "besondere Organe derGesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt".

Es knüpft damit an die klassische Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative an, die vondem französischen Staatsphilosophen Montesquieu formuliert worden ist. Ihr liegt der Gedankezugrunde, dass in einer politischen Ordnung die Freiheit nur gesichert ist, wenn die staatliche Machtnicht, wie in den absoluten Monarchien, in einer Hand liegt, sondern geteilt ist. Montesquieu sah dieseGewaltenteilung im England seiner Zeit verwirklicht: Das Parlament aus zwei Kammern übte diegesetzgebende Gewalt aus, der König hatte die ausführende Gewalt, und unabhängige Richtersprachen Recht.

Nach diesem Modell, wenn auch in abgewandelter Form, ist die Präsidialdemokratie der USAkonstruiert. Die drei Gewalten sind streng getrennt, können aber ihre Macht nicht allein ausüben. Durchein System von "Hemmungen und Gegengewichten" (checks and balances) sind sie bei der Ausübungihrer Funktionen aufeinander angewiesen.

In parlamentarischen Demokratien wie der Bundesrepublik Deutschland hat sich eine andere Formder Gewaltenteilung herausgebildet. Die Trennlinie verläuft nicht mehr zwischen Parlament undRegierung, sondern zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung auf der einen und der Oppositionauf der anderen Seite. Die Regierung geht aus den Mehrheitsfraktionen hervor und wird von ihnengetragen. Die Mitglieder der Regierung sind in der Regel auch Mitglieder des Parlaments.Gegenspielerin von Regierung und Parlamentsmehrheit ist die Opposition.

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Verfassungsorgane und Gewaltenverschränkung: Machtbegrenzung durch Kontrolle und Verflechtung Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

In Bundesstaaten wird die Macht des Bundes auch durch die Länder begrenzt. Die staatliche Gewaltund die staatlichen Aufgaben sind zwischen Bund, Ländern und Gemeinden aufgeteilt. In derBundesrepublik Deutschland wirken die Länder durch den Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundesmit. Die Verwaltung, der die Ausführung der Gesetze und Rechtsverordnungen obliegt, ist überwiegendSache der Bundesländer und auf der untersten Ebene Aufgabe der Kommunen.

Statt durch eine strikte Trennung der Gewalten ist die parlamentarische Demokratie gekennzeichnetdurch eine Gewaltenverschränkung. Legislative und Exekutive sind miteinander verknüpft, getrenntvon ihnen ist dagegen die Rechtsprechung. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Beschränkungund Kontrolle der Macht der Regierenden gewährleistet durch:

• die Opposition im Bundestag,

• das föderalistische System mit der Aufteilung der staatlichen Gewalt und der staatlichen Aufgabenauf Bund, Länder und Gemeinden,

• die unabhängige Justiz, vor allem die weitreichenden Befugnisse des Bundesverfassungsgerichts,

• die öffentliche Meinung.

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Opposition

Im Grundgesetz kommt der Begriff "Opposition" nicht vor, ebenso wenig in den meistenLandesverfassungen. In Deutschland hat sich das Verständnis für die Bedeutung der Opposition nurlangsam durchsetzen können. Opposition wurde lange mit Obstruktion, mit bloßer Verneinunggleichgesetzt. In England wurde die Opposition schon im 18. Jahrhundert neben dem Prinzip derRepräsentation als die zweite große Erfindung des parlamentarischen Systems bezeichnet. In derBundesrepublik Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht 1952 das "Recht aufverfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition" zu den "grundlegenden Prinzipien derfreiheitlichen demokratischen Grundordnung" gezählt. Die Opposition hat die Aufgabe, die Regierungzu kritisieren, zu kontrollieren und Alternativen anzubieten.

KritikDas Programm und die Politik der Regierung unterliegen ständiger Kritik seitens der Opposition. Sienimmt diese Funktion nicht so sehr mit Blick auf das Parlament wahr, sondern wendet sich an dieÖffentlichkeit, um die nächsten Wahlen für sich zu entscheiden.

KontrolleDie Instrumente der parlamentarischen Kontrolle, wie Anfragen und Untersuchungsausschüsse,werden vorwiegend von der Opposition genutzt, um Fehler und Schwächen der Regierungaufzudecken.

AlternativenDie Opposition steht zur Ablösung der Regierung bereit. Für diesen Fall bietet sie sachliche undpersonelle Alternativen an. Die Sachalternativen werden sich auf wenige wichtige und umstrittenePolitikbereiche beschränken. Als personelle Alternative zur Regierung präsentiert sie denKanzlerkandidaten und eine Mannschaft aus fähigen Persönlichkeiten. Jede Opposition steht vor derFrage, ob sie in erster Linie die Auseinandersetzung mit der Regierung suchen oder ob sie durchZusammenarbeit Einfluss auf Entscheidungen nehmen will. In der parlamentarischen Praxis derBundesrepublik wechselten sich Phasen der Auseinandersetzung (Konfrontation) und derZusammenarbeit (Kooperation) ab. Scharfe Auseinandersetzungen gab es, wenn entscheidendepolitische Weichenstellungen bevorstanden, zum Beispiel die Wiederbewaffnung 1956 und dieOstpolitik der sozial-liberalen Koalition 1969–1972. Bei der Gesetzgebung hat die Opposition zumeistauf Kooperation gesetzt und versucht, die Gesetze in ihrem Sinne zu verbessern.

Im Bundestag kann die Opposition gegen die Mehrheit wenig bewirken. Chancen, auf die Politik derRegierung Einfluss zu nehmen, eröffnet das bundesstaatliche System. Es sieht eine Mitwirkung desBundesrates an der Gesetzgebung vor. Wenn im Bundesrat Landesregierungen die Mehrheit haben,die der Opposition im Bundestag entsprechen, muss sich die Regierung bei Gesetzen oder auch beiaußenpolitischen Verträgen mit der Opposition verständigen, um nicht einen (aufschiebenden)Einspruch oder eine Ablehnung im Bundesrat zu riskieren. Das war von 1969 bis 1982 der Fall, alsder sozial-liberalen Koalition eine Mehrheit der unionsregierten Länder im Bundesrat gegenüberstand,und galt von 1991 bis 1998, als die SPD-geführten Landesregierungen im Bundesrat die Mehrheiterreicht hatten und eine von CDU/CSU und FDP gebildete Bundesregierung amtierte.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 61-86.

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Arbeitswoche eines Bundestagsabgeordneten15.12.2009

Der Arbeitsplatz eines Abgeordneten ist zweigeteilt: In den Sitzungswochen liegt derSchwerpunkt auf der Arbeit in Berlin, an den Wochenenden und sitzungsfreien Wochenbetreuen die Abgeordneten meist ihren Wahlkreis und berichten über ihreAbgeordnetentätigkeit.

Sitzungswoche

Im Jahr 2010 sind 22 Sitzungswochen geplant. Diese Wochen folgen einer klaren Grundstruktur mitfeststehenden Terminen:

Am Montag bereiten sich die Abgeordneten zusammen mit ihren Mitarbeitern auf die Woche vor. AmNachmittag treffen sich dann die Führungsgremien von Partei und Fraktion.

Dienstags bestimmt die Arbeit in den Fraktionen den Tag. Vormittags kommen die Parlamentarier inArbeitsgruppen zusammen und besprechen die Ausschusssitzungen. Am Nachmittag trifft sich danndie gesamte Fraktion und diskutiert über die Fraktionspolitik der Sitzungswoche.

Die Ausschusssitzungen finden am Mittwoch statt. In den ständigen Ausschüsse wird der größte Teilder inhaltlichen Arbeit geleistet. Hier präsentieren alle Fraktionen ihre Ansichten zu Gesetzesvorhaben,verhandeln Kompromisse und bereiten die Entscheidungen des Plenums vor.

Das Plenum startet in der Regel am Mittwoch. Den Fragestunden und Regierungsbefragungen amMittwochnachmittag folgen die abschließenden Plenarsitzungen am Donnerstag und Freitag.

Die parlamentarische Arbeit im Plenum, und den Ausschuss-, Arbeitsgruppen- und Fraktionssitzungenwird durch viele weitere Termine ergänzt. Die Vorbereitung auf Reden, die Teilnahme anFachkonferenzen, Anhörungen und Presseterminen, aber auch die Betreuung von Besucher- oderSchülergruppen aus dem Wahlkreis stehen im Terminkalender der Abgeordneten.

Exemplarischer Wochenkalender in einer Sitzungswoche

Montag

9:00-10:30 Mitarbeiterbesprechung AG Kultur und Medien

10:30-12:00 Büro – Vorbereitung der Rede für Donnerstag(Weltgipfel)

12:00 Mitarbeiterberatung AG Bildung und Forschung

13:00 Gespräch Generalsekretär Deutsches Studentenwerk

14:30-16:30 Anhörung Ausschuss Wirtschaft und Arbeit("Telekommunikationsgesetz")

17:00-19:00 Sitzung Fraktionsvorstand

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19:30 Landesgruppe Baden-Württemberg (Landesvertretung)

Dienstag

8:30-09:00 Kurze Absprache "Innovationsoffensive" mit stv.Fraktionsvorsitzendem

09:30-12:30 Sitzung AG Bildung und Forschung

13:00-15:00 AG Sitzung Kultur und Medien

15:00-17:00 Fraktionssitzung (Am Rande kurz: KoordinationBundestagsantrag "Ressortforschung")

19:00-21:00 Parlamentarischer AbendTelekommunikationsfirmen

Mittwoch

7:30-08:30 Frühstück mit Parl. Staatssekretär (VorbereitungAusschusssitzung)

09:00-09:30 Sitzung der Obleute Bildung und Forschung

09:30-12:30 Ausschusssitzung Bildung und Forschung (anschl.Innenausschuss)

13:00-14:00 Fragestunde Plenarsaal

15:00-17:15 Ausschuss Kultur und Medien

17:30 Gespräch im Bundeskanzleramt (Innovationsoffensive)

19:00 Parlamentarischer Abend BDA

20:00 Koalitionsrunde im Bundesministerium für Bildung undForschung

Donnerstag

08:00 Frühstück mit Medienvertretern zum Mediendatenschutz

09:00 Beginn Plenarsitzung Bundestag / Plenarsaal

11:00 Rede zum "Weltgipfel Informationsgesellschaft" imPlenum

12:30 Mittagessen mit Siemens-Vertreter im BT-Restaurant

13:30 Journalistenrunde "Hochschulfinanzierung"

14:30-15:00 Obleuterunde "Neue Medien"

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15:00 Sitzung Unterausschuss "Neue Medien"

17:00 Ausschuss "Immunität und Geschäftsordnung"

19:00

Empfang Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG),Wissenschaftsforum evtl. noch vorbeischauen:Ausstellungseröffnung Parlamentarische Gesellschaft(ab 20.00 Uhr)

Freitag

08:00-09:00 Parlamentariergruppe Südkaukasus, Georgien,Armenien, Aserbaidschan

09:00-14:00 Plenum Bundestag

11:00-11:30 Gespräch Bundesbeauftragter Datenschutz

13:00-15:00Mittagessen mit Besuchergruppe und anschl.Diskussionsrunde, Seniorenverband Baden-Württemberg

15:00 Bürorunde (Referenten, Mitarbeiter)

17:00 Empfang Humboldt-Uni

19:00 Rückflug nach Mannheim (ab Schönefeld)

Sitzungsfreie Woche

Egal ob Listenkandidat oder Gewinner eines Wahlkreismandats: Im Wahlkreis stehen die Abgeordnetenden Bürgern Rede und Antwort. Regelmäßige Sprechstunden dienen dazu, die Probleme vor Ort zukennen und die Interessen der Bürgerinnen und Bürger im Bundestag vertreten zu können.

In den sitzungsfreien Wochen halten die Abgeordneten den Kontakt zu lokalen Parteigremien,Unternehmen, Verbänden und Vereinen aus ihrem Wahlkreis.

Exemplarischer Wochenkalender in einer sitzungsfreien Woche

Montag

9:00-11:00 Bürobesprechung Wahlkreisbüro

11:00-12:30 Montagsrunde Partei-Landesgeschäftsstelle

13:00 Geschäftsführender Landesvorstand

15:00-17:00 Betriebsbesichtigung

17:00 Büro (Rede für Landesparteitag schreiben)

20:00-21:30 Kreisvorstandssitzung (Partei)

Dienstag

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9:00 Büro

10:00-11:30 Treffen mit der Handwerkskammer

12:00 Rede für Landesparteitag besprechen

13:30-14:30 Mittagessen mit Kompetenzteam

16:00 Treffen mit Werbeagentur

18:00 Büro

19:30-21:00 Jahreshauptversammlung Freiw. Feuerwehr

Mittwoch

09:30-11:00 Besuch in Klasse 9b des Gymnasiums

11:00 Pressekonferenz

13:00 Mittagessen französisches Konsulat

15:00 Treffen mit Gewerbetreibenden

16:30 Besichtigung der neuen Kläranlage

18:00 Büro

19:00 Podiumsdiskussion zur Bildungspolitik

Donnerstag

09:00-11:00 Treffen Wirtschaftsminister (Verkehrswegeplan)

12:00 Meeting in der Steuerberaterkammer

14:00 Büro

16:00-18:00 Bürgersprechstunde

18:00 Ortsvorstandssitzung Homburg (mit Wahlen undEhrungen)

Freitag

09:00 Vorstellungsgespräch neuer Wahlkreismitarbeiter

10:30 Endfassung Rede Parteitag

12:00-13:00 Treffen mit Bürgermeistern und Landrat wegenOrtsumgehung (Rathaus)

14:00 IHK-Werberundfahrt für Ausbildungsplätze (TreffpunktIHK)

19:00 evtl. Konzert im Landestheater

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Samstag

10:00-12:00 Infostand Partei am Marktplatz

14:00 Eröffnung Landesparteitag

17:00 Rede auf Landesparteitag

ca. 21:00 60. Geburtstag von Kreisvorsitzendem Müller

Sonntag

09:00-13:00 Fortsetzung Landesparteitag

Quelle Wochenkalender: Deutscher Bundestag

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BundesratVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Der Bundesrat ist eines der fünf Verfassungsorgane des Bundes. Als zweite Kammer desParlaments nimmt er die Interessen der Länder in der Bundesrepublik wahr.

In einem Bundesstaat besteht das Parlament aus zwei Kammern (Häusern). Die Volksvertretung, inDeutschland der Bundestag, wird immer vom Volk direkt gewählt. Die andere Kammer kann aufunterschiedliche Weise gebildet werden, beispielsweise durch direkte Wahl in den Bundesstaaten,wie der amerikanische Senat, in den jeder Staat unabhängig von der Einwohnerzahl zwei Senatorenentsendet. Die zweite Kammer kann auch aus Regierungsmitgliedern der Länder bestehen, wie inDeutschland der Bundesrat. Der Bundesrat ist eines der fünf Verfassungsorgane des Bundes. Er istdas gemeinsame Organ der Länder auf Bundesebene und soll die Interessen der Länder in derBundesrepublik wahrnehmen.

MitgliederDie 16 Bundesländer entsenden zwischen drei und sechs Mitglieder in den Bundesrat und habenebenso viele Stimmen. Jedes Land hat mindestens drei Stimmen, Länder mit mehr als zwei MillionenEinwohnern haben vier, mit mehr als sechs Millionen fünf und mit mehr als sieben Millionen Einwohnersechs Stimmen (Art. 51 Abs. 2 GG). Bundesratsmitglieder sind die Regierungschefs, die Minister fürBundesangelegenheiten und weitere Fachminister. Die Stimmen eines Landes werden geschlossenabgegeben. Jede Landesregierung legt ihr Stimmverhalten fest.

Zum Präsidenten des Bundesrates wird für ein Jahr reihum der Regierungschef eines Bundeslandesgewählt. Der Bundesratspräsident ist Stellvertreter des Bundespräsidenten (Art. 57 GG). Wie imBundestag wird die eigentliche Arbeit in den Ausschüssen geleistet. Der Bundesrat hat 16Fachausschüsse gebildet, in die jedes Land ein Mitglied entsendet. Es sind die jeweils zuständigenFachminister, die sich in der Regel durch Ministerialbeamte vertreten lassen. Jedes Land hat eineStimme, Beschlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefasst.

Das Plenum tagt gewöhnlich alle drei Wochen. Von den 69 Stimmen sind mindestens 35 für einenBeschluss erforderlich. Die Haltung der einzelnen Landesregierungen ist vorher festgelegt, dieBeschlüsse sind durch die Ausschüsse vorbereitet worden. Die Entscheidungen werden nur nochmündlich dargelegt und begründet. Daher herrscht in der Regel eine sachliche Atmosphäre.

Aufgaben

Artikel 50Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und inAngelegenheiten der Europäischen Union mit.

Die wichtigste Aufgabe des Bundesrates ist die Mitwirkung an der Gesetzgebung des Bundes. Siewird im folgenden Abschnitt beschrieben. Der Bundesrat wirkt auch bei der Verwaltung des Bundesmit. Die Art. 80 und 83 GG regeln diese Mitwirkung bei Rechtsverordnungen undVerwaltungsvorschriften.

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Rechtsverordnungen werden aufgrund eines Gesetzes erlassen. Es gibt zwei- bis dreimal so vieleRechtsverordnungen wie Gesetze. Auch die Rechtsverordnungen bedürfen der Zustimmung desBundesrates. Eine Rechtsverordnung ist beispielsweise die Straßenverkehrsordnung.Verwaltungsvorschriften weisen die Behörden an, wie sie Gesetze und Rechtsverordnungenauszuführen haben. Damit soll gesichert werden, dass sie überallim Bundesgebiet einheitlich gehandhabt werden. Die Steuerrichtlinien beispielsweise sindVerwaltungsvorschriften.

KontrollfunktionDer Bundesrat wacht darüber, dass die Gesetzgebung des Bundes nicht die Kompetenzen der Länderaushöhlt. Fast alle wichtigen Gesetze sind von seiner Zustimmung abhängig. Damit hat er einebedeutende Kontrollfunktion gegenüber Bundestag und Bundesregierung. Auseinandersetzungen umpolitisch strittige Gesetze finden vor allem statt, wenn im Bundesrat andere Mehrheitsverhältnisse alsim Bundestag herrschen.

Es kann nicht ausbleiben, dass die Oppositionsmehrheit im Bundesrat ihren Vorteil nutzt, um wichtigeGesetze aufzuhalten und die Regierung in Schwierigkeiten zu bringen, indem sie Gegenvorschlägeunterbreitet. In der Regel geht es aber um gleichartige Länderinteressen, zum Beispiel um die Verteilungder Steuern zwischen Bund und Ländern. In vielen Fällen meldet der Bundesrat umfangreicheÄnderungswünsche an. Zumeist wird im Vermittlungsausschuss – manchmal erst nach längerenAuseinandersetzungen – ein Kompromiss gefunden, der die unterschiedlichen Interessen ausgleicht.

Nicht zuletzt fließen in die Gesetzgebung durch den Bundesrat die Erfahrungen der Länderbürokratienein, die die Gesetze ausführen müssen. Die Vertreter der Länder, in der praktischen Arbeit ein Stabvon Ministerialbeamten, bringen ihren Sachverstand und ihre Verwaltungserfahrung ein. Sie achtendarauf, dass Gesetze und Verordnungen praktikabel sind.Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 86-87.

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Ein Gesetz entstehtVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Gesetze dienen dazu, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu gestalten. Mit ihnen greift der Staatin alle Lebensbereiche ein und reagiert auf aktuelle soziale und wirtschaftliche Entwicklungen.

Das Verfahren der Gesetzgebung ist kompliziert und auf den ersten Blick schwer durchschaubar. Wennein Gesetz zahlreiche Stufen in verschiedenen Instanzen durchläuft, so soll damit gesichert werden,dass möglichst alle Gesichtspunkte und alle Interessen berücksichtigt werden. Zugleich dienen dievielfältigen Mitwirkungsrechte der Machtverteilung und Machtkontrolle.

Was ist ein Gesetz?

In den ersten 16 Legislaturperioden (1949–2009) hat der Bundestag mehr als 6.600 Gesetzebeschlossen. In dieser Gesetzesfülle spiegelt sich ein Wandel der Gesetzgebungsfunktion in denletzten Jahrzehnten. Gesetze sind nicht mehr wie im 19. Jahrhundert allgemeingültige Vorschriften,die die vorgegebene Ordnung dauerhaft sichern sollen. Der moderne Sozialstaat greift in alleLebensbereiche ein. Gesetze dienen dazu, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu gestalten und zusteuern. Gesetze regeln das Wirtschaftsleben, die soziale Sicherheit, den Arbeitsmarkt, dieBerufsausbildung, das Gesundheitswesen, die Erhaltung der Umwelt, den Datenschutz und vielesandere mehr. Damit werden Gesetze zu einem Mittel der Politik und zur Gestaltung derLebensverhältnisse. Die Parteien verkünden ihre politischen Absichten in Wahlprogrammen,Regierung und Koalitionsfraktionen formulieren sie im Regierungsprogramm und setzen sie auf demWege der Gesetzgebung um.

Gesetze sind aber nicht nur Umsetzungen politischer Programme. Anstöße für neue Gesetze könnenvon einzelnen Bürgern, Interessenverbänden, Bürgerinitiativen und Petitionen ausgehen.Sachverständigenkommissionen, Untersuchungsausschüsse, wissenschaftliche Beiräte gebenEmpfehlungen für gesetzliche Regelungen. Aktuelle soziale und wirtschaftliche Entwicklungen könnenneue Gesetze erfordern. Länder- und Gemeindebehörden melden Änderungswünsche an, wenn beider Ausführung von Gesetzen Schwierigkeiten auftreten. Wenn das Bundesverfassungsgericht einGesetz als nicht vereinbar mit dem Grundgesetz erklärt, ist eine neue Regelung erforderlich. Vieleinternationale Verträge bedürfen eines Gesetzes (Ratifizierung), um in Kraft zu treten. Immer häufigersind Gesetze erforderlich, die sich aus der Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Unionergeben und europäisches in deutsches Recht umsetzen.

Als "Gesetz" wird bezeichnet, was nach dem vorgeschriebenen Verfahren vom Gesetzgeberbeschlossen wird. Wichtige Gesetze, umfassende Neuregelungen, die oft politisch umstritten sind,werden in den Ausschüssen intensiv beraten und im Plenum debattiert. Die meisten Gesetze sindÄnderungen oder Ergänzungen bestehender Gesetze, so genannte Novellierungen, die der Bundestagals Gesetz beschließen muss. 90 Prozent aller Gesetze "passieren" das Bundestagsplenum nur, siewerden ohne Beratung oder nach kurzer Debatte beschlossen.

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Gesetzesinitiative

Nach dem Grundgesetz (Art. 76 Abs. 1) kann ein Gesetzesentwurf:

• durch die Bundesregierung,

• aus der Mitte des Bundestages,

• durch den Bundesrat eingebracht werden (Gesetzesinitiative).

In den ersten 14 Legislaturperioden (1949–2002) sind drei Fünftel aller Gesetzesentwürfe von derBundesregierung eingebracht worden. Von den verabschiedeten Gesetzen gingen 57 Prozent aufInitiativen der Bundesregierung zurück, 35 Prozent hatten Bundestagsabgeordnete, 8 Prozent hatteder Bundesrat eingebracht. In der 16. Legislaturperiode waren von den insgesamt 972 eingebrachtenGesetzesvorhaben 55 Prozent Vorlagen der Regierung. Vom Bundestag verabschiedet wurden 488Regierungsvorlagen, 89 Gesetze auf Initiativen des Bundestages, 19 auf solche des Bundesrates.

Das Übergewicht der Gesetzesvorlagen der Regierung erklärt sich daraus, dass nur die Regierungüber einen umfangreichen bürokratischen Apparat verfügt, der in der Lage ist, komplizierteGesetzgebungsmaterien in entscheidungsreife Gesetzesvorlagen umzusetzen. Davon profitieren dieMehrheitsfraktionen. Wenn die Mehrheit und die von ihr getragene Regierung ihr Programm in Gesetzeumsetzen wollen, so liegt es nahe, dass die Entwürfe von den Ministerien erarbeitet und von derRegierung eingebracht werden. Gesetzesinitiativen des Bundestages können nur von den Fraktionenoder von 5 Prozent der Abgeordneten, der Mindeststärke einer Fraktion, ausgehen. Solche Initiativenergreift in den meisten Fällen die Opposition, die damit aber naturgemäß wenig Erfolg hat. DieRegierungsfraktionen werden häufig bei eiligen Gesetzen aktiv. Der Bundesrat kann mit der Mehrheitseiner Mitglieder Gesetzesentwürfe einbringen. Davon wird verhältnismäßig selten Gebrauch gemacht.

Gang der Gesetzgebung

Ein Regierungsentwurf durchläuft bis zur Verabschiedung folgende Stationen:

ReferentenentwurfDer zuständige Fachreferent eines Ministeriums macht sich den Sachverstand und die Praxiserfahrungder von der geplanten Regelung betroffenen Verbände und Organisationen zunutze. Er fordert vonihnen Informationen und Stellungnahmen an und lädt sie zu Besprechungen ein. Er hört Fachleuteaus der Wissenschaft an und setzt sich mit den Behörden der Länder und Gemeinden in Verbindung.Der Entwurf wird innerhalb des Ministeriums und mit anderen beteiligten Ministerien abgestimmt. Auchdie Länderbürokratien werden schon sehr früh eingeschaltet, um deren Sachverstand zu nutzen, aberauch, um später einen reibungslosen Durchgang im Bundesrat zu sichern.

KabinettsvorlageDer Gesetzesentwurf wird vom Kabinett, dem Kollegium der Bundesregierung, als Regierungsentwurfbeschlossen.

Erster Durchgang im BundesratDer Regierungsentwurf wird dem Bundesrat zugeleitet, der innerhalb von sechs Wochen dazu Stellungnehmen kann. Der Bundesrat prüft die Vorlage sehr genau und macht häufig konkreteÄnderungsvorschläge. Der Bundestag, dem der Entwurf mit den Vorschlägen des Bundesrates undder Stellungnahme der Bundesregierung dazu nun zugeleitet wird, ersieht daraus schon zu Beginndes Gesetzgebungsverfahrens, wo Interessen der Länder berührt sind, welche Einwände derBundesrat geltend machen könnte und wie die Bundesregierung diese Einwände beurteilt.

Erste Lesung im Bundestag

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Jeder Gesetzesentwurf durchläuft im Plenum des Bundestages drei Beratungen (Lesungen). In derersten Lesung findet nur bei politisch wichtigen Gesetzesentwürfen eine Aussprache statt, wennRegierung und Fraktionen der Öffentlichkeit ihre grundsätzlichen Auffassungen zu dem Vorhabendarlegen wollen. In jedem Fall wird der Entwurf am Ende der ersten Lesung an einen oder mehrereAusschüsse überwiesen. Ein Ausschuss ist "federführend", er ist verantwortlich für den Fortgang desVerfahrens.

AusschussberatungDies ist die wichtigste Stufe im Gesetzgebungsverfahren. Hier wird die Vorlage in Anwesenheit vonMitgliedern der Regierung oder deren Vertretern, des Bundesrates und der zuständigenMinisterialbeamten unter allen denkbaren Gesichtspunkten geprüft. Bei politisch bedeutsamenVorhaben findet fast immer eine öffentliche Anhörung (Hearing) von sachverständigenWissenschaftlern und Verbandsvertretern statt. Während der Ausschussberatungen befassen sichArbeitskreise und Arbeitsgruppen der Fraktionen mit dem Entwurf, um ihre Positionen festzulegen.Fast alle Gesetzesentwürfe werden im Laufe der Ausschussberatungen mehr oder minder starkverändert. Nach Abschluss der Beratungen gibt der Ausschuss dem Bundestagsplenum eineBeschlussempfehlung.

Themengrafik Gesetzesentstehung: Der Bundestag ist maßgeblich an der Gesetzgebung beteiligt. Zum Öffnen derPDF-Version (286 KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/pdf/1WBWNH.pdf)

Zweite Lesung im BundestagIn der zweiten Beratung wird jede Bestimmung des Entwurfs einzeln diskutiert und zur Abstimmungaufgerufen, ebenso Änderungsanträge, die häufig von der Opposition gestellt werden. Sie sind seltenaussichtsreich und sollen vor allem der Öffentlichkeit die abweichenden Standpunkte der Oppositionverdeutlichen.

Dritte Lesung im BundestagAn die zweite schließt sich zumeist sofort die dritte Lesung an, in der nochmals die grundsätzlichen

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Probleme erörtert werden, bei herausragenden Gesetzesvorhaben in Reden von Spitzenpolitikern,deren Adressat die Öffentlichkeit ist. Die dritte Lesung endet mit der Schlussabstimmung.

Zweiter Durchgang im BundesratJedes vom Bundestag beschlossene Gesetz wird nochmals vom Bundesrat geprüft. Gesetze, die dieRechte und Interessen der Länder berühren, bedürfen seiner ausdrücklichen Zustimmung.

Zustimmungsgesetze

Zustimmungsgesetze sind Gesetze, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Das sind:

• Gesetze, die die Verfassung ändern: Sie erfordern die Zustimmung nicht nur von zwei Dritteln derMitglieder des Bundestages, sondern auch von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates.

• Gesetze, die Auswirkungen auf die Finanzen der Länder haben: Das sind vor allem Gesetze überSteuern, an deren Aufkommen die Länder oder Gemeinden beteiligt sind, etwa die Lohn- undEinkommensteuer, die Körperschaftsteuer, die Mehrwert- und die Kraftfahrzeugsteuer.

• Gesetze, die von den Ländern auszuführen sind: Die meisten wichtigen Bundesgesetze werdenvon den Ländern ausgeführt. Die Föderalismusreform von 2006 hat die bis dahin bestehendeRegelung abgeschafft, dass ein Bundesgesetz zustimmungspflichtig ist, wenn es irgendwelcheVerwaltungsvorschriften, etwa Gebührenregelungen, enthält. Damit soll die Zahl derzustimmungspflichtigen Gesetze deutlich reduziert und Blockaden von Gesetzesinitiativen derRegierung erschwert werden.

Einfache Gesetze (Einspruchsgesetze)

Einfache Gesetze sind alle übrigen Gesetze, für die im Grundgesetz nicht ausdrücklich die Zustimmungdes Bundesrates vorgesehen ist. Gegen sie kann der Bundesrat Einspruch einlegen. Sie werdendeshalb auch Einspruchsgesetze genannt. Der Bundestag kann diesen Einspruch in einer erneutenAbstimmung mit der Mehrheit seiner Mitglieder zurückweisen.

Vermittlungsausschuss

Kommt es wegen eines Gesetzentwurfes zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundestag,Bundesregierung und Bundesrat, kann der Vermittlungsausschuss angerufen werden (vgl. Art. 77 Abs.2 GG und die Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates). Er besteht aus 16 Mitgliederndes Bundestages, zusammengesetzt nach der Stärke der Fraktionen, und 16 Vertretern desBundesrates. Jedes Land entsendet ein Mitglied. Den Vorsitz führt je ein Mitglied aus Bundestag undBundesrat, die einander vierteljährlich ablösen. Traditionell wird der eine Vorsitzende von der stärkstenBundestagsfraktion gestellt, der andere ist ein Mitglied des Bundesrates aus der Partei mit derzweitstärksten Bundestagsfraktion.

Die Aufgabe des Vermittlungsausschusses ist es, einen Kompromissvorschlag auszuarbeiten. SeineMitglieder sind in ihren Entscheidungen frei. Die Bundestagsabgeordneten sind nach Art. 38 GGohnehin nicht an Weisungen gebunden, und die Bundesratsvertreter sind in diesem Falle nicht vonihrer Landesregierung abhängig. Sie sind für die gesamte Legislaturperiode bestellt und aufeinandereingespielt. Ihre Verhandlungen sind streng vertraulich. Alle diese Voraussetzungen haben dazugeführt, dass nach oft langen Verhandlungen meist eine Einigung gelingt. Von 1949 bis Anfang 2008wurde der Vermittlungsausschuss bei 836 Gesetzesvorlagen angerufen, davon scheiterten geradeeinmal 11 Prozent.

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Der Vermittlungsausschuss kann vorschlagen, das umstrittene Gesetz unverändert zu verabschieden,es zu ändern oder aufzuheben. Im ersten Fall muss der Bundesrat zustimmen. In den beiden letzterenFällen muss der Bundestag noch einmal einen Beschluss fassen, bei Änderungen stimmt er nur überdiese ab, nicht noch einmal über den ursprünglichen Gesetzesbeschluss.

Ausfertigung und Verkündung

Ist das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen, wird das beschlossene Gesetz "ausgefertigt":Zunächst unterzeichnen es der oder die zuständigen Fachminister, anschließend der Bundeskanzler,danach der Bundespräsident. Damit kann es im Bundesgesetzblatt "verkündet" werden und in Krafttreten.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 88-92.

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LandesparlamenteVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Die Landesparlamente kontrollieren die Regierungen und Verwaltungen in den Ländern. Beider Gesetzgebung hat ihre Rolle jedoch abgenommen: Hier stehen sie im Schatten desBundestags.

Die parlamentarischen Vertretungen heißen in den 13 Flächenstaaten der Bundesrepublik Landtag,in den Stadtstaaten Abgeordnetenhaus (Berlin) oder Bürgerschaft (Hamburg, Bremen). Anders als aufBundesebene besteht in den meisten Bundesländern die Möglichkeit direkter demokratischerBeteiligung. Die Bürger können mit einem Volksbegehren verlangen, ein Gesetz zu erlassen, zu ändernoder aufzuheben. Kommt die Volksvertretung dem Begehren nicht nach, kann ein Volksentscheiddarüber stattfinden.

Aufgaben

Die Aufgaben der Landesparlamente entsprechen denen des Bundestages. Ihnen obliegt die Wahldes Regierungschefs, des Ministerpräsidenten. In den meisten Ländern können dieMinisterpräsidenten ihr Kabinett nur mit Zustimmung des Landtages berufen, in den Stadtstaaten wähltdas Parlament sogar alle Mitglieder der Landesregierung in Einzelwahl. Die Regierungsfraktionenhaben damit einen größeren Einfluss auf die Regierungsbildung als im Bundestag.

Bei der Gesetzgebung hat das Gewicht des Bundes im Laufe der Zeit immer weiter zugenommen.

Artikel 70(1) Die Länder haben das Recht der Gesetzgebung, soweit dieses Grundgesetz nicht dem BundeGesetzgebungsbefugnisse verleiht.(2) Die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern bemißt sich nach den Vorschriftendieses Grundgesetzes über die ausschließliche und die konkurrierende Gesetzgebung.

Die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes umfasst alle Politikfelder, die gesamtstaatlich zu regelnsind. Aber auch in den Bereichen der konkurrierenden Gesetzgebung und der allerdings 2006entfallenen Rahmengesetzgebung hat der Bund seine Vorrechte voll genutzt und durchGrundgesetzänderungen sogar immer neue Zuständigkeiten für sich in Anspruch genommen.

In der Öffentlichkeit stehen die Landesparlamente im Schatten des Bundestages. Nur bei wichtigenStreitfragen interessieren sich die Wähler in der Regel für die Debatten im Landesparlament, etwawenn es um Schulpolitik oder um Umweltprobleme geht.

Bedeutsam ist die Kontrollfunktion der Landesparlamente: Da die Verwaltung fast ausschließlich Sacheder Länder ist, stellt die Kontrolle der Verwaltung – und der Regierung – daher eine wichtige Aufgabeder Landesparlamente dar, die sie intensiv wahrnehmen.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 93-95.

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Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländernbei der GesetzgebungVon Roland Sturm 15.12.2009

Mit der Föderalismusreform wurden 2006 die Kompetenzen von Bund und Ländern neu verteilt.Die Rahmengesetzgebung wurde abgeschafft und die Länder erhielten neue Kompetenzen, z.B. beim Ladenschluss.

Ausschließliche Gesetzgebung des Bundes (Art. 73 GG)

Auswärtige Angelegenheiten, Staatsangehörigkeit, Passwesen, Einwanderung, Währung,Warenverkehr, Luftverkehr, Eisenbahn, Post und Telekommunikation, Beamtenrecht, Urheberrecht,Bundeskriminalamt, Statistik für Bundeszwecke.

... nach der Föderalismusreform erweitert um:Melde- und Ausweiswesen, Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland, Abwehrvon Gefahren des internationalen Terrorismus, Waffen- und Sprengstoffrecht, Versorgung derKriegsbeschädigten, Kernenergie

Konkurrierende Gesetzgebung (Art.: 74 GG, 74a GG)

Strafrecht, Strafvollzug, Notariat, Personenstandswesen, Vereins- und Versammlungsrecht,Aufenthaltsrecht. Ausländer, Waffen- und Sprengstoffrecht; Flüchtlinge und Vertriebene, öffentlicheFürsorge, Kriegsschäden und Wiedergutmachung, Versorgung der Kriegsbeschädigten, Kriegsgräber,Recht der Wirtschaft (u.a. Ladenschluss), Kernenergie, Arbeitsrecht, Ausbildungsbeihilfen, Recht derEnteignung, Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Macht, Förderung von Landwirtschaft undFischerei, Bodenrecht, Zulassung zu Heilberufen und Verkehr mit Arzneimitteln, wirtschaftlicheSicherung der Krankenhäuser, Pflanzen- und Tierschutz, Schifffahrt, Straßenverkehr,Abfallbeseitigung, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung, Staatshaftung, künstliche Befruchtung,Besoldung und Versorgung im öffentlichen Dienst der Länder

... nach der Föderalismusreform reduziert um:Strafvollzug, Waffen- und Sprengstoffrecht, Versorgung der Kriegsbeschädigten, Kernenergie, beimRecht der Wirtschaft: Recht des Ladenschlusses, der Gaststätten, der Spielhallen, der Schaustellungvon Personen, der Messen, der Ausstellungen und der Märkte, Heimrecht (Teil der öffentlichenFürsorge), Recht der Flurbereinigung (Teil der Förderung der Landwirtschaft), Teile desWohnungswesens, Sport- und Freizeitlärm und Lärm von Anlagen mit sozialer Zweckbestimmung

... nach der Föderalismusreform erweitert um:Statusrechte und -pflichten der Angehörigen des öffentlichen Dienstes, Jagdwesen, Naturschutz undLandschaftspflege, Bodenverteilung, Raumordnung, Wasserhaushalt und Hochschulzulassung und -abschlüsse

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Rahmengesetzgebung (Art. 75 GG)

Statusrechte und -pflichten der Angehörigen des öffentlichen Dienstes, Grundsätze desHochschulwesens, Rechtsverhältnisse der Presse, Jagdwesen, Naturschutz und Landschaftspflege,Bodenverteilung, Raumordnung, Wasserhaushalt, Melde- und Ausweiswesen, Schutz deutschenKulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland

Die Rahmengesetzgebung wurde mit der Föderalismusreform abgeschafft.

Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91 a/b)

Ausbau und Neubau von Hochschulen, Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur,Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes, Bildungsplanung

... nach der Föderalismusreform reduziert um:Hochschulbau, aber weiterhin Förderung von Großgeräten und Wissenschafts- undForschungsförderung, und um Bildungsplanung, aber weiterhin Kooperation bei der Feststellung derLeistungsfähigkeit des Bildungswesens

Kompetenzen der Länder

Nach Art. 70 GG haben die Länder das Recht der Gesetzgebung, soweit das GG nicht im obigen Sinneden Bund involviert

Durch die Reform fallen in die Kompetenzen der Länder zurück Strafvollzug, Versammlungsrecht, Heimrecht, Ladenschluss, Gaststättenrecht, Spielhallen/Schaustellung von Personen, Messen, Ausstellungen, Märkte, Teile des Wohnungswesens,landwirtschaftlicher Grundstückverkehr und Pachtwesen, Flurbereinigung, Siedlungs- undHeimstättenwesen, Sport-, Freizeit und "sozialer" Lärm, Besoldung, Versorgung und Laufbahnrechtder Landesbeamten und Richter, Großteil des Hochschulrechts, Hochschulbau, allgemeineRechtsverhältnisse der Presse

Neue Länderkompetenz Abweichungsgesetzgebung (Art. 72 (3) GG): Jagdwesen (ohne das Recht der Jagdscheine),Naturschutz und Landschaftspflege (ohne die Grundsätze des Naturschutzes, das Recht desArtenschutzes oder den Meeresnaturschutz), die Bodenverteilung, die Raumordnung, derWasserhaushalt (ohne stoff- oder anlagenbezogene Regelungen), die Hochschulzulassung und dieHochschulabschlüsse.

Quelle: Roland Sturm, "Die Föderalismusreform 2006 – Deutschland in bester Verfassung?", in:Gesellschaft – Wirtschaft – Politik, Nr. 55/4 2006, S. 459-470.

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Bundespräsident, Regierung undVerwaltung

12.4.2010

Viele Menschen kümmern sich um die Aufgaben des Staates: Der Bundespräsident repräsentiertDeutschland nach außen, die Regierungen organisieren politischen Willen und setzen ihn um, und dieBundeswehr sorgt nicht nur für die Landesverteidigung. Aber auch in Schulen, bei der Müllabfuhr undin vielen Ämtern sorgen Millionen von Menschen für ein funktionierendes Gemeinwohl.

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BundespräsidentVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Der Bundespräsident übernimmt als Staatsoberhaupt vor allem repräsentative Tätigkeiten undhat im internationalen Vergleich verhältnismäßig wenig Macht. In parlamentarischenKrisensituationen kann er aber eine wichtige Rolle spielen.

Der Bundespräsident ist das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland. Er repräsentiert dieEinheit des Staates. Über diese repräsentative Rolle hinaus weist ihm das Grundgesetz nur geringepolitische Kompetenzen zu.

Der Parlamentarische Rat hat nach den Erfahrungen der Weimarer Republik die Befugnisse desPräsidenten bewusst beschränkt. Der Reichspräsident, vom Volk auf sieben Jahre gewählt, hatte nachder Weimarer Verfassung eine bedeutende Machtfülle. Er konnte Grundrechte außer Kraft setzen undmit Notverordnungen regieren. Reichspräsident von Hindenburg hat diese Vollmachten in derEndphase der Weimarer Republik in unheilvoller Weise genutzt. Eine solche Macht sollte nach demWillen der Verfassungsgeber des Grundgesetzes nicht noch einmal in einer Hand liegen.

Wahl

Der Bundespräsident wird von der Bundesversammlung für fünf Jahre gewählt. Einmalige Wiederwahlist zulässig. Diese Wahl ist die einzige Aufgabe der Bundesversammlung. Sie wird gebildet aus denMitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von Delegierten, die von denLandesparlamenten entsprechend der Fraktionsstärke entsandt werden. Zumeist sind esLandtagsabgeordnete, zum Teil auch Kommunalpolitiker und Persönlichkeiten des öffentlichenLebens. Die Wahl erfolgt ohne Aussprache. Wählbar ist jeder Deutsche, der das 40. Lebensjahrvollendet hat.

Die Wahl der Bundespräsidenten seit 1949. Zum Öffnen der PDF-Version (16 KB) klicken sie bitte aufdas Bild.Zum Bundespräsidenten ist gewählt, wer die Mehrheit der Stimmen der Bundesversammlung(absolute Mehrheit) auf sich vereinigt. Erreicht kein Kandidat im ersten und zweiten Wahlgang dieabsolute Mehrheit, genügt im dritten Wahlgang die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (relativeMehrheit). Bei der Konstruktion der Bundesversammlung hat sich der Parlamentarische Rat von zweigrundlegenden Prinzipien der Verfassungsordnung leiten lassen: dem repräsentativen Prinzip – derBundespräsident wird durch Volksvertreter gewählt – und dem föderalistischen Prinzip – an der Wahlsind die Parlamente des Bundes und der Länder gleichermaßen beteiligt.

Immer wieder wird die direkte Wahl durch das Volk diskutiert. Sie würde diese Prinzipien bei der Wahldes Bundespräsidenten außer Kraft setzen. Das Amt des Bundespräsidenten erhielte damit eineeigene, vom Parlament unabhängige Legitimation, die vom Grundgesetz nicht gewollt ist.

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Aufgaben

Der Bundespräsident hat die üblichen Funktionen eines Staatsoberhauptes. Dazu gehören:

die Repräsentation der Bundesrepublik Deutschland nach innen und außen: nach innen durch seinöffentliches Auftreten bei staatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Veranstaltungen, durch Redenbei besonderen Anlässen, durch Besuche in den Bundesländern und Gemeinden; nach außen durchStaatsbesuche und den Empfang ausländischer Staatsgäste;

die völkerrechtliche Vertretung der Bundesrepublik Deutschland: durch Unterzeichnung der Verträgemit anderen Staaten, durch förmliche Bestellung (Beglaubigung) der deutschen diplomatischenVertreter und die Entgegennahme der Beglaubigungsschreiben der ausländischen Diplomaten.

Bei der Wahrnehmung weiterer Rechte kann der Bundespräsident nicht selbstständig, sondern nur imZusammenwirken mit anderen Verfassungsorganen handeln. Seine Anordnungen und Verfügungen"bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder durch denzuständigen Bundesminister" (Art. 58 GG). Damit übernehmen diese die politisch-parlamentarischeVerantwortung.

Das gilt für die

Unterzeichnung (Ausfertigung) von Gesetzen (Art. 82 GG): Gesetze werden vomBundespräsidenten ausgefertigt und verkündet, das heißt unterzeichnet und im Bundesgesetzblattveröffentlicht. Nach überwiegender Meinung kann der Bundespräsident prüfen, ob das Gesetz inverfassungsgemäßer Form zustande gekommen ist und inhaltlich dem Grundgesetz entspricht. 1991hat sich beispielsweise Bundespräsident Richard von Weizsäcker geweigert, das Gesetz zurPrivatisierung der Flugsicherung zu unterzeichnen, weil nach Art. 87 GG die "Luftverkehrsverwaltungin bundeseigener Verwaltung geführt" wurde. Bundespräsident Horst Köhler unterschrieb im Oktober2006 das Gesetz zur Neuregelung der Flugsicherung wegen Unvereinbarkeit mit Art. 87d Abs. 1 GGnicht. Im Dezember 2006 wies er das Verbraucherinformationsgesetz zurück, weil es aus seiner Sichtim Widerspruch zu Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG steht, der es im Ergebnis der Föderalismusreform verbietet,den Gemeinden durch Bundesgesetz Aufgaben zu übertragen.

Ernennung von Bundesministern (Art. 64 GG): Der Bundespräsident muss die vom Bundeskanzlervorgeschlagenen Bundesminister ernennen und entlassen; er kann lediglich Bedenken gegen einenMinisterkandidaten geltend machen.

Ernennung von Bundesrichtern, Bundesbeamten, Offizieren und Unteroffizieren (Art. 60 Abs. 1GG): Auch hier wird der Bundespräsident den Vorschlägen der Regierung oder andererVerfassungsorgane folgen, außer bei extremen Fehlentscheidungen; Bundespräsident Lübke hatbeispielsweise die Ernennung eines Bundesrichters wegen dessen NS-Vergangenheit abgelehnt.

Der Bundespräsident übt nach Art. 60 Abs. 2 GG für den Bund das Begnadigungsrecht aus.

Politisch eigenständig handeln kann der Bundespräsident in bestimmten parlamentarischenKrisensituationen:

Erhält bei der Kanzlerwahl ein Kandidat auch im dritten Wahlgang nicht die absolute, sondern nur dieeinfache Mehrheit, kann der Bundespräsident ihn zum Kanzler einer Minderheitenregierungernennen oder den Bundestag auflösen und Neuwahlen herbeiführen (Art. 63 Abs. 4 GG).Angesichts stabiler Mehrheiten ist dieser Fall bisher nicht eingetreten.

Findet der Bundeskanzler bei einer Vertrauensabstimmung keine Mehrheit, kann der Bundespräsidentauf Antrag des Bundeskanzlers den Bundestag auflösen (Art. 68 GG).

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Zu einer Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten ist es gekommen, als Willy Brandt1972, Helmut Kohl 1982 und Gerhard Schröder 2005 einen entsprechenden Antrag stellten, umNeuwahlen herbeizuführen und so zu versuchen, eine sichere Parlamentsmehrheit zu bekommen.

Integrationsfunktion

Die Bedeutung des Bundespräsidentenamtes reicht weit über diese formalen Kompetenzen hinaus.Als eine unabhängige, über dem parteipolitischen Streit stehende Persönlichkeit repräsentiert er dasGemeinsame. Er soll Vertrauen vermitteln, moralische Maßstäbe setzen, Ratschläge erteilen, inKontroversen ausgleichend wirken, nicht zuletzt Würde ausstrahlen.

Allen bisherigen Amtsinhabern gelang es, diese Integrationsfunktion wahrzunehmen, wenn sie dabeiauch unterschiedliche Akzente gesetzt haben. In der Regel ist ihr Beliebtheitsgrad höher als der alleroder der meisten anderen Politiker. Das Amt des Bundespräsidenten wird von mehr Bürgern positivbewertet als jedes andere politische Amt.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 97-103.

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BundesregierungVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Die Bundesregierung besteht aus der Bundeskanzlerin und den Bundesministern. Sie soll denpolitischen Willen der parlamentarischen Mehrheit in praktische Politik umsetzen.

Die Bundesregierung hat die Aufgabe der politischen Führung. Sie soll den politischen Willen derparlamentarischen Mehrheit in praktische Politik umsetzen und die inneren Verhältnisse sowie dieauswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland gestalten. Sie hat außerdem dieVerantwortung für die Ausführung der Gesetze durch die Bundesbehörden.

Bildung der Bundesregierung

Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern, die zusammen dasKabinett bilden. Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestaggewählt. Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidentenernannt. In der politischen Praxis geht die Regierungsbildung der Wahl des Bundeskanzlers voraus.Der designierte (vorgesehene) Kanzler, bisher immer Führer der stärksten Fraktion, handelt zusammenmit den an der Regierung teilnehmenden Parteien (Koalitionspartnern) das Regierungsprogramm ausund legt Anzahl und Zuständigkeitsbereiche der Bundesminister fest. Er überlässt ihnen bestimmteKabinettssitze und deren personelle Besetzung. Ebenso muss er darauf achten, dass wichtige Gruppenund Strömungen seiner eigenen Partei, starke Landesverbände und nicht zuletzt Frauen bei derVerteilung der Ministerposten angemessen berücksichtigt werden.

Befugnisse

Verantwortung und Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung legt das Grundgesetz fest:

Artikel 65Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalbdieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigenerVerantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet dieBundesregierung. Der Bundeskanzler leitet ihre Geschäfte nach einer von der Bundesregierungbeschlossenen und vom Bundespräsidenten genehmigten Geschäftsordnung.

Der Artikel enthält die drei Prinzipien, die für die Arbeit der Bundesregierung bestimmend sind:

• das Kanzlerprinzip,

• das Ressortprinzip,

• das Kollegialprinzip.

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Bundeskanzler

Der Bundeskanzler hat in der Bundesregierung eine herausragende Stellung (Kanzlerprinzip). Siezeigt sich darin, dass er

• als einziges Mitglied der Bundesregierung vom Bundestag gewählt ist und damit über einebesondere demokratische Legitimation verfügt;

• allein den Antrag stellen kann, der Bundestag möge ihm das Vertrauen aussprechen; beiAblehnung der Vertrauensfrage Neuwahlen herbeiführen kann;

• allein durch ein Misstrauensvotum zu stürzen ist, wobei auch alle seine Minister ihr Amt verlieren;

• das Recht hat, die Bundesminister zur Ernennung und Entlassung vorzuschlagen (Art. 64 GG),während der Bundestag keinen Minister zum Rücktritt zwingen kann;

• die Richtlinien der Politik bestimmt und für sie die alleinige Verantwortung trägt.

Die Richtlinienkompetenz ist die wichtigste Befugnis des Kanzlers. Sie weist ihm die Führungsrolle imKabinett zu (Art. 65). Er kann von einer Mehrheit im Kabinett nicht überstimmt werden.

Die Verfassung gibt dem Kanzler die Möglichkeit, sein Kabinett straff zu führen. Wie er sie nutzt, hängtab von seiner Persönlichkeit, von dem Rückhalt in seiner Partei und Fraktion sowie vom Gewicht seinerKoalitionspartner.

Der erste Bundeskanzler, Konrad Adenauer (1949–1963), hatte eine so unangefochteneMachtposition, dass für seine Regierungszeit das Schlagwort von der "Kanzlerdemokratie" geprägtwurde. Im Rückblick zeigt sich, dass Adenauers starke Position sich nicht so sehr aus derRichtlinienkompetenz herleitete, sondern auf seine Persönlichkeit und auf die politische Konstellationzurückzuführen war.

Die nachfolgenden Bundeskanzler haben ihre Richtlinienkompetenz je nach den politischenGegebenheiten und ihrem persönlichen Führungsstil auf sehr unterschiedliche Weise genutzt.

BundeskanzleramtDer Bundeskanzler verfügt im Bundeskanzleramt über einen personell umfangreichen Apparat, derals Koordinierungsstelle für die Regierungspolitik dient. Das Amt hält Kontakt mit den Ministerien undBundesbehörden, sodass es den Bundeskanzler jederzeit über deren Arbeit unterrichten und ihn fürdie Kabinettsberatungen mit der notwendigen Sachkenntnis ausstatten kann. Zugleich hat es die Rolleeines Sekretariats der Bundesregierung. Es bereitet die Sitzungen und Beschlüsse des Kabinetts vor.Der Chef des Bundeskanzleramtes hat den Rang eines Bundesministers.

BundespresseamtDem Bundeskanzler untersteht auch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (kurz:Bundespresseamt). Es wird geleitet von einem Staatssekretär, der zugleich Regierungssprecher ist.Das Bundespresseamt informiert die Öffentlichkeit im In- und Ausland über die Politik derBundesregierung. Es gibt das Bulletin, Pressemitteilungen und Informationsschriften heraus und hältVerbindung mit den Medien.

Der Regierungssprecher und die Sprecher der Ministerien treten regelmäßig vor derBundespressekonferenz auf, der Vereinigung der Korrespondenten in der Hauptstadt Berlin, umamtliche Stellungnahmen der Bundesregierung abzugeben und Fragen zu beantworten. Zugleich hat

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das Amt die Aufgabe, Nachrichten zu sammeln und auszuwerten und die Bundesregierung über dieöffentliche Meinung im In- und Ausland zu unterrichten.

Bundesminister

Dem Kabinett gehören derzeit 14 Bundesminister/innen mit eigenem Ressort und ein Bundesministerfür besondere Aufgaben/Chef des Bundeskanzleramtes an. In der Zahl und den Zuständigkeiten derMinister spiegelt sich die ständige Ausweitung der Staatsaufgaben.

In früheren Zeiten genügten für die Staatszwecke der Gewährleistung der Sicherheit im Innern undnach außen die "klassischen" Ministerien: Innen-, Außen-, Verteidigungs-, Justiz- undFinanzministerium, die schon 1809 durch die Preußische Verwaltungsreform des Freiherrn vom Steingeschaffen worden waren. Sie zählen auch heute zu den wichtigsten und begehrtesten Ministerien.Der Finanzminister hat vom Grundgesetz her eine herausgehobene Stellung. Er stellt denHaushaltsplan auf und koordiniert die Finanzanforderungen der übrigen Ministerien. In der Praxiskönnen ohne seine Zustimmung keine Ausgaben getätigt werden. Der Justiz- und der Innenministerprüfen jedes Gesetz auf seine Verfassungs- und Rechtsförmlichkeit.

Themengrafik Bundesregierung: Dem Kabinett gehören die Bundesminister und der Bundeskanzler an. Zum Öffnender PDF-Version (230 KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/11-Bundeskanzler-Regierung.pdf)

Vom Sozialstaat des 21. Jahrhunderts wird erwartet, dass er für das Wohlergehen aller Bürger sorgt,vor allem die wirtschaftliche Stabilität garantiert, die sozialen Unterschiede ausgleicht und alleEinrichtungen und Leistungen bereitstellt, die in der Industriegesellschaft lebensnotwendig sind. Diestaatlichen Aufgaben der Daseinsvorsorge erforderten die Einrichtung entsprechender Ministerien,vor allem für Wirtschaft, für Arbeit und Soziales, für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, fürGesundheit, und für Verkehr.

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Neue Staatsaufgaben führten zur Schaffung weiterer Ministerien, etwa für Bildung, Forschung undTechnologie und vor allem für Umwelt und Naturschutz.

Manche Ministerien haben lediglich die Aufgabe, Gesetze und die entsprechendenRechtsverordnungen zu erlassen, anderen unterstehen außerdem Verwaltungsbehörden.

RessortprinzipJeder Bundesminister leitet innerhalb der vom Bundeskanzler bestimmten Richtlinien für die gesamteRegierungspolitik seinen Geschäftsbereich selbstständig und in eigener Verantwortung. DieVerantwortlichkeit der Minister erfordert eine genaue Abgrenzung der Ressorts. Das ist nicht immermöglich. So ist beispielsweise für die Entwicklungshilfe in erster Linie das Bundesministerium fürwirtschaftliche Zusammenarbeit zuständig, sie berührt aber auch Angelegenheiten des AuswärtigenAmtes und des Wirtschaftsministeriums.

KollegialprinzipBei Meinungsverschiedenheiten zwischen Ministern entscheidet durch Mehrheitsbeschluss dieBundesregierung. Damit ist gesagt, dass das Kabinett ein Kollegium gleichberechtigter Minister ist.Das Kabinett berät auch alle wichtigen politischen Fragen, es kann aber den Bundeskanzler nichtüberstimmen. Ein Minister ist verpflichtet, Entscheidungen des Kabinetts auch dann zu vertreten, wenner ihnen nicht zugestimmt hat (Kabinettsdisziplin).

In der Praxis sind von den drei Prinzipien des Art. 65 GG das Kanzlerprinzip und das Ressortprinzippolitisch wirksam geworden. Bei allen Unterschieden in der Amtsführung hat der Kanzler immer dieallgemeine Politik bestimmt, und die konkreten Initiativen sind von den Ministern ausgegangen.

Das Kabinett hingegen spielt keine bedeutende Rolle als politisches Entscheidungsgremium. In ihmgibt es einflussreiche und einflusslose Minister. Noch wichtiger ist, dass Persönlichkeiten mit großempolitischen Gewicht dem Kabinett nicht angehören, etwa die Fraktionsvorsitzenden.

Organisation eines MinisteriumsDie politische Leitung eines Bundesministeriums besteht aus dem Minister und einem oder mehrerenParlamentarischen Staatssekretären (im Bundeskanzleramt und im Auswärtigen Amt tragen sie denTitel Staatsminister). Dieses Amt wurde 1967 geschaffen, zunächst für sieben Ressorts. In der seit2009 amtierenden Bundesregierung gibt es fünf Staatsminister und 25 ParlamentarischeStaatssekretäre. Sie sind gleichzeitig Abgeordnete und sollen vor allem die Verbindung zwischen ihremMinisterium und dem Bundestag halten. Sie vertreten den Minister in den Ausschüssen und in derFragestunde, aber auch bei Kabinettssitzungen und in der Öffentlichkeit.

An der Spitze der Ministerialbürokratie steht ein "beamteter" Staatssekretär, in der Regel einVerwaltungsfachmann. In größeren Ministerien gibt es zwei oder drei Staatssekretäre. JedesMinisterium ist in mehrere Abteilungen gegliedert, diese wiederum in Unterabteilungen mit mehrerenReferaten. Arbeitseinheit ist das Referat, das jeweils für ein bestimmtes Fachgebiet zuständig ist.Große Ministerien haben bis zu 100 Referate.

Staatssekretäre und Abteilungsleiter sind politische Beamte. Sie können jederzeit in den "einstweiligenRuhestand" versetzt werden. Das geschieht gelegentlich bei einem Ministerwechsel und häufig beieinem Wechsel der Regierung. Der neue Minister soll sich Spitzenbeamte aussuchen können, die mitihm auch politisch übereinstimmen.

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Koalitionsrunde

Die wichtigen Entscheidungen werden seit Langem in informellen Gremien getroffen. Schon dieRegierungserklärung, die ausführliche Darlegung des Programms einer neuen Regierung zu Beginnder Legislaturperiode, wird in einer Koalitionsvereinbarung ausgehandelt. Danach tritt bei politischemEntscheidungsbedarf die Koalitionsrunde zusammen. Ihr gehören neben dem Kanzler, einigenMinistern, den Fraktionsvorsitzenden der Koalitionsparteien weitere einflussreiche Abgeordnete undeinige Spitzenbeamte an. Dieses Gremium berät anstehende Gesetzesvorhaben, wichtige politischeWeichenstellungen und die dabei anzuwendende Strategie und schlichtet Konflikte zwischen denKoalitionspartnern.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 105-109.

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LandesregierungenVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

In Hessen anders als in Rheinland-Pfalz: Die Regierungsbildung und die Kompetenzen desRegierungschefs und der Minister sind in den Ländern unterschiedlich geregelt.

An der Spitze der Landesregierungen (in Bayern, Sachsen und Thüringen Staatsregierung, in denStadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg Senat genannt) steht der Ministerpräsident (in Berlin derRegierende Bürgermeister, in Bremen der Bürgermeister, in Hamburg der Erste Bürgermeister).

Die Regierungsbildung und die Kompetenzen des Regierungschefs sowie der Minister sind in denBundesländern unterschiedlich geregelt. Das Kanzlersystem nach dem Modell des Bundes mitRichtlinienkompetenz, Ernennung der Minister durch den Regierungschef und konstruktivemMisstrauensvotum, gilt in Baden-Württemberg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. In den übrigen Flächenstaaten haben die Parlamente mehr Rechte als im Bund. In Rheinland-Pfalz kann beispielsweise jedem Minister das Vertrauen durch das Landesparlament entzogen werden.

Ein reines Kollegialsystem haben Bremen und Hamburg eingeführt. Dort wird der Bürgermeister vonden Mitgliedern des Senats gewählt, und der Senat bestimmt als Kollegium die Richtlinien der Politik.In den Hansestädten und in Berlin werden die Senatoren einzeln gewählt.

Die meisten Landesministerien haben Vollzugsaufgaben und dirigieren einen mehr oder minder großenVerwaltungsapparat. Die Ministerien mit den größten eigenständigen Kompetenzen sind neben denInnenministerien die Kultusministerien. Sie sind wegen der "Kulturhoheit" der Länder nicht nur alleinzuständig für die Schulgesetzgebung, sondern verordnen auch Richtlinien und Lehrpläne undkontrollieren über die Schulaufsicht die gesamte schulische Erziehung und Bildung. Desgleichen sindsie für Universitäten, Fachhochschulen und andere Hochschulen zuständig. Eine herausragendeFunktion im jeweiligen Kabinett haben die Finanz- und Justizminister. Der Finanzminister hat einVetorecht, wenn Finanzfragen berührt sind, der Justizminister, wenn geltendes Recht verletzt ist.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 110.

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Verwaltung: Organisation und GrundsätzeVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

4,5 Millionen Bedienstete waren 2008 im öffentlichen Dienst beschäftigt - fast jeder fünfzigsteEinwohner. 1913 war nur jeder Hundertste im öffentlichen Dienst tätig. Seitdem weitete derStaat seine Aufgaben aus.

Öffentlicher Dienst

Das Bild, das sich die Bevölkerung vom öffentlichen Dienst macht, ist vorwiegend negativ: DieBesoldung der dort Beschäftigten verschlingt einen großen Teil der Staatsausgaben. Sie verschwendenSteuergelder. Sie sind unkündbar und daher nicht übermäßig arbeitsfreudig, zudementscheidungsschwach, formalistisch, ineffizient, womöglich bestechlich. Öffentlicher Dienst wird mitVerwaltung, mit Schreibtischarbeit, mit Bürokratie gleichgesetzt. Dabei trifft der Bürger im Alltagüberwiegend auf öffentliche Bedienstete, die nicht in dieses Bild passen. Öffentlicher Dienst, das sinddie Männer, die morgens die Mülltonnen leeren, die Omnibusfahrer, die Straßenbahnlenkerin, dieLehrerinnen und Lehrer der Kinder, die Polizisten im Streifenwagen, die Ärztin und der Krankenpflegerin der Klinik oder der Bademeister im Freibad.

2008 waren im öffentlichen Dienst 4,5 Millionen Bedienstete beschäftigt, das sind 18 pro 1.000Einwohner. Im Jahre 1913 waren es noch 10 pro 1.000 Einwohner. Die Personalvermehrung ist eineFolge der Ausweitung der Staatsaufgaben und Staatstätigkeiten.

Solange sich der Staat auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung beschränkte,kam er mit wenig Personal aus (Ordnungsverwaltung). Die klassischen Staatsfunktionen erfüllenPolizei, Zoll, Gewerbeaufsicht und die Finanzbehörden.

Sehr viel mehr Bedienstete sind erforderlich, um die vielfältigen Dienstleistungen bereitzustellen, dieder Bürger vom Staat erwartet (Leistungsverwaltung): Kindergärten, Schulen, Universitäten,Jugendheime, öffentliche Verkehrsmittel, Müllabfuhr, Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwerke.Verwaltungsbehörden mit zahlreichem Personal erfüllen Aufgaben der sozialen Sicherung und dessozialen Ausgleichs: Sozialämter, Arbeitsagenturen, Ämter für Ausbildungsförderung, Jugendhilfe,Wohngeld.

Wieder andere Behörden haben Aufgaben der Planung und der Abwehr von möglichen Gefahren(planende Verwaltung). In den Gemeinden stellen sie Flächennutzungs- und Bebauungspläne auf.Seit die Erhaltung der Umwelt als eine wichtige Staatsaufgabe erkannt worden ist, hat die Bedeutungvorausschauender Planung zugenommen. Bei der Planung von Eisenbahnstrecken, Fernstraßen,Flughäfen, Müllverbrennungsanlagen und Mülldeponien hat der Schutz der Umwelt einen hohenStellenwert.

Im öffentlichen Dienst sind Beamte und angestellte Arbeitnehmer tätig. 2008 waren von den 4,5Millionen öffentlichen Bediensteten 1,67 Millionen Beamte, 2,65 Millionen angestellte Arbeitnehmerund 183.600 Berufs- und Zeitsoldaten. Beamte nehmen "hoheitsrechtliche Befugnisse" wahr.Hoheitsrechtliche Aufgaben sind beispielsweise die Erhebung von Steuern durch das Finanzamt, die

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Anklage eines Gesetzesbrechers durch den Staatsanwalt, die Verhaftung eines Tatverdächtigen durchdie Polizei. Auch Lehrer und Universitätsprofessoren sind Beamte. Die Unterschiede zwischenBeamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes sind fließend. Auch Angestellte könnenhoheitsrechtliche Befugnisse haben, und immer mehr Beamte nehmen Dienstleistungs- undPlanungsaufgaben wahr. Arbeiter des öffentlichen Dienstes sind beispielsweise Müllwerker oderKraftfahrer einer Behörde, sie bekommen kein Monatsgehalt, sondern werden für die geleistetenArbeitsstunden entlohnt. Bei den drei Postunternehmen ist noch eine Vielzahl von Beamten tätig. Siezählen jedoch nicht mehr zum öffentlichen Dienst.

Beamte haben besondere Rechte, dazu zählt vor allem die Unkündbarkeit, aber auch besonderePflichten. Von ihnen wird erwartet, dass sie ihre Aufgaben mit ganzer Kraft, unparteiisch, gerecht undunter Beachtung des Gemeinwohls erfüllen. Anders als die Angestellten und Arbeiter des öffentlichenDienstes dürfen sie nicht streiken.

Von den Beamten und den anderen öffentlichen Bediensteten wird verlangt, dass sie jederzeit für diefreiheitliche demokratische Grundordnung eintreten. Ein Erlass des Bundeskanzlers und derMinisterpräsidenten der Länder aus dem Jahre 1972 (Extremistenbeschluss), nur Bewerbereinzustellen, die diese Voraussetzung erfüllen, blieb umstritten und wurde unterschiedlich angewendet.In erster Linie ging es um die Art und Weise der Überprüfung. Unbestritten ist, dass von einemöffentlichen Bediensteten Treue zur Verfassung zu fordern ist. Nach dem Beitritt der Länder derehemaligen DDR erhielt die Frage der Verfassungstreue des öffentlichen Dienstes eine neue Aktualität:Welcher Grad von Belastung schließt Funktionsträger der DDR von der Übernahme in den öffentlichenDienst aus?

Grundsätze

Rechtsstaatliche BindungDie Klage über den Formalismus der Verwaltung übersieht oft, dass Verwaltungshandeln aus gutenGründen streng an formale Regelungen gebunden ist. Die Bindung an das Gesetz ist eines derklassischen Merkmale des Rechtsstaates. Inzwischen hat sich die Staatstätigkeit auf nahezu alleLebensbereiche ausgeweitet. Die Einhaltung von Vorschriften ist Voraussetzung dafür, dass dieRechtssicherheit und Gleichbehandlung jedes Bürgers gewährleistet ist.

GesetzmäßigkeitNach Art. 20 Abs. 3 GG ist die vollziehende Gewalt "an Gesetz und Recht gebunden". Das bedeutet,dass die Verwaltung

• keine Maßnahmen treffen darf, die gegen bestehende Rechtsvorschriften verstoßen (Vorrang desGesetzes);

• nur tätig werden kann, wenn sie dazu durch ein Gesetz ermächtigt ist (Vorbehalt des Gesetzes).

Beispielsweise darf das Finanzamt nur aufgrund von Steuergesetzen einen Steuerbescheid erlassen,und ein Polizeibeamter darf nur aufgrund von Vorschriften der Straßenverkehrsordnung einegebührenpflichtige Verwarnung aussprechen.

Pflichtgemäßes Ermessen, Verhältnismäßigkeit, Übermaßverbot Im Alltag ist die Rechtslage nicht immer eindeutig. Daher verfügen die Behörden in vielen Fällen übereinen Ermessensspielraum. Damit ist ihnen nicht freigestellt, beliebig oder gar willkürlich zu handeln,sie müssen vielmehr nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden.

Dabei müssen sie neben dem Gleichbehandlungsgebot ein weiteres wichtiges rechtsstaatliches Gebotbeachten, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, anders ausgedrückt: das Übermaßverbot. Das

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bedeutet, dass eine Behörde in die Rechte eines Bürgers nur so weit eingreifen darf, als es erforderlichist, und dass der Zweck und die Mittel in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen müssen.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist beispielsweise Richtschnur für die Bestimmungen über denSchusswaffengebrauch durch die Polizei. Das einschlägige Gesetz besagt, dass ein Polizeibeamternur von der Schusswaffe Gebrauch machen darf, um schwere Straftaten zu verhüten oder um dieFlucht von Straftätern zu verhindern, und auch dann nur, um den Verdächtigen angriffs- oderfluchtunfähig zu machen.

Eine Baubehörde darf ein Gebäude nicht einfach abbrechen lassen, weil es ohne Baugenehmigungerrichtet wurde. Sie muss prüfen, ob der Bau nicht nachträglich genehmigt werden kann oder ob demzwingende baurechtliche Vorschriften entgegenstehen.

Eine Demonstration darf nicht schon deshalb verboten werden, weil der Verkehr behindert zu werdendroht oder weil Geschäftsleute Umsatzeinbußen befürchten. Die Behörde kann aber Auflagen machen,beispielsweise dass die Demonstration außerhalb der Innenstadt stattfindet.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 110-112.

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Verwaltung des BundesVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Staatsaufgaben wie Verteidigung und auswärtige Beziehungen sind allein Sache des Bundes.Auch Bundesrechnungshof und Bundespresseamt gehören zur Verwaltung des Bundes.

Aufgaben

Von den 4.505.100 öffentlichen Bediensteten (einschließlich Teilzeitkräften und Bundeswehr) waren2008 beim Bund 10,3 Prozent, bei den Länder 42,8 und bei den Kommunen einschließlich derZweckverbände (Zusammenschlüsse von Gemeinden, beispielsweise für Aufgaben derWasserversorgung oder des öffentlichen Personennahverkehrs) 28,3 Prozent beschäftigt. BeimBundeseisenbahnvermögen waren 1 Prozent tätig und im mittelbaren öffentlichen Dienst (zum BeispielBundesagentur für Arbeit oder Sozialversicherungsträger) 17,5 Prozent.

Das Grundgesetz schreibt in Art. 83 vor, dass die Bundesgesetze grundsätzlich von der Verwaltungder Länder ausgeführt werden, mit einigen Ausnahmen, die in Art. 87 aufgezählt sind. Das sindStaatsaufgaben, die eindeutig in die Kompetenz des Bundes fallen und nicht den Ländern überlassenwerden können, vor allem die Verteidigung und die auswärtigen Beziehungen.

Für diese Bereiche gibt es eine eigene Verwaltung des Bundes mit dem entsprechenden Unterbau.Die zahlenmäßig stärkste ist die (zivile) Verwaltung der Bundeswehr, die dem Bundesministerium derVerteidigung unterstellt ist. Über eine eigene Verwaltung verfügen auch das Auswärtige Amt mit demauswärtigen Dienst, das Finanzministerium mit der Verwaltung der Bundesfinanzen und des Zolls, dasVerkehrsministerium, das für die Schifffahrt und die Bundeswasserstraßen zuständig ist, das Arbeits-und das Innenministerium.

Im Zuge zweier Reformen wurden die beiden großen Dienstleistungsunternehmen Bundesbahn undBundespost aus dem öffentlichen Dienst ausgegliedert. Die Post wurde in drei selbstständigeBereiche – Postdienst, Telekom und Postbank – aufgeteilt, die seit dem 1. Januar 1995privatwirtschaftlich geführt werden. 1994 sind auch die Deutsche Bundesbahn und die DeutscheReichsbahn der DDR in ein privatwirtschaftlich organisiertes Unternehmen, die Deutsche Bahn AG,umgewandelt worden, in der der Bund die Mehrheit der Anteile hält, um die Gemeinwohlbindungsicherzustellen.

Der Bund unterhält darüber hinaus eine große Anzahl von zentralen Behörden und Institutionen fürspezielle Aufgaben. Die wichtigsten und personell starken werden als Bundesoberbehördenbezeichnet. Ihre Zuständigkeit erstreckt sich auf das gesamte Gebiet des Bundes, und sie unterstehenunmittelbar einer obersten Bundesbehörde, in der Regel dem Bundeskanzleramt oder einemBundesministerium. Bundesoberbehörden sind zum Beispiel das Bundesamt für Verfassungsschutz,das Bundeskartellamt, das Statistische Bundesamt, das Umweltbundesamt, der Bundesnachrichtendienstoder die Bundesagentur für Arbeit.

Organisatorisch mit ihnen verwandt sind kleinere Bundesbehörden und -anstalten, die vorwiegend imWissenschafts- und Informationsbereich tätig sind, zum Beispiel die Bundeszentrale für politische

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Bildung, das Bundesarchiv, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die Physikalisch-technische Bundesanstalt, die Bundesanstalt für Arbeitsmedizin. Insgesamt gibt es ungefähr 100solcher zentralen Einrichtungen, die jeweils einem Ministerium unterstellt sind.

Für bestimmte bundesstaatliche Aufgaben sind "bundesunmittelbare" Körperschaften, Anstalten undStiftungen eingerichtet worden. Sie sind selbstständig für ihren Sachbereich im gesamtenBundesgebiet zuständig und unterstehen der Aufsicht eines Ministeriums. Die größte ist dieBundesagentur für Arbeit mit einem eigenen Unterbau aus Regionaldirektionen und örtlichen Agenturenfür Arbeit. Andere haben wissenschaftliche und kulturelle Aufgaben, wie die Stiftung PreußischerKulturbesitz und die Deutsche Bibliothek.

Organisation

Die Bundesministerien, das Bundespräsidialamt, das Bundeskanzleramt, das Bundespresseamt und –wegen seiner Bedeutung und seiner Unabhängigkeit von der Bundesregierung – derBundesrechnungshof sind oberste Bundesbehörden.

Bundesministerien haben politische Funktionen, sie bereiten die Entscheidungen des Ministers vor,vor allem die Gesetzgebung, und erlassen die notwendigen Rechtsverordnungen undVerwaltungsvorschriften. Zugleich sind sie oberste Verwaltungsbehörden. Soweit die Exekutive beimBund liegt, sind nachgeordnete Bundesbehörden, die den Weisungen ihres Ministeriums unterliegen,damit betraut. Bei den Ministerien mit einem eigenen Verwaltungsunterbau sind sie in drei Stufengegliedert: Bundesoberbehörde als Zentrale (z.B. Bundesamt für Finanzen, Bundeswehrverwaltungsamt),Bundesmittelbehörden, die regional zuständig sind (z.B. Wehrbereichsverwaltung, Oberfinanzdirektion,Wasser- und Schifffahrtsdirektion), und die örtlichen unteren Bundesbehörden (z.B.Kreiswehrersatzamt, Hauptzollamt, Wasser- und Schifffahrtsamt).

Den meisten Ministerien ohne eigene Verwaltungsorgane sind mehrere der erwähntenBundesoberbehörden oder Bundesanstalten mit Spezialaufgaben nachgeordnet.

Bundesrechnungshof

Der Bundesrechnungshof kontrolliert die Einnahmen und Ausgaben aller Behörden und Unternehmendes Bundes und der Institutionen, an die der Bund Zuschüsse zahlt. Dabei wird nicht nur geprüft, obdie Ausgaben ordnungsgemäß erfolgt sind, beispielsweise, ob sie mit dem Haushaltsplanübereinstimmen, sondern auch, ob die Mittel zweckmäßig und sparsam verwendet worden sind.Mängel werden den jeweiligen Behörden mitgeteilt und alljährlich in einem Prüfungsberichtzusammengefasst. Der Rechnungshof kann Vorschläge zur Beseitigung der Mängel machen, kannaber keine Weisungen erteilen. Die Mitglieder des Bundesrechnungshofes besitzen richterlicheUnabhängigkeit und haben richterliche Befugnisse (Art. 114 Abs. 2 GG). Seit 1998 wird derBundesrechnungshof durch neun weisungsgebundene Prüfämter des Bundes unterstützt.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 113-115.

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Verwaltung der LänderVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Strafvollzug, Schulen oder Forstämter: Die Verwaltung fällt überwiegend in die Zuständigkeitder Länder. Sie führen Landes- oder Bundesgesetze in eigener Verantwortung aus oder handelnim Auftrag des Bundes.

Artikel 30Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache derLänder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt.

Die Verwaltung fällt im Unterschied zur Gesetzgebung, die der Bund weitgehend an sich gezogen hat,überwiegend in die Zuständigkeit der Länder. Sie führen als landeseigene Verwaltung dieLandesgesetze aus und als Verwaltung im Auftrag des Bundes oder in eigener Verantwortung dieBundesgesetze.

Landeseigene Verwaltung

Die Länder sind in erster Linie für die Gesetzgebung und damit auch für die Verwaltung in den BereichenBildung, Erziehung, Wissenschaft, Kultur sowie öffentliche Ordnung und Sicherheit zuständig. Dergrößte Teil des Personals ist in diesen beiden großen Dienstleistungsbereichen tätig, nur eineMinderheit der Länderbediensteten hat Verwaltungsaufgaben im engeren Sinne.

Zum ersten Bereich gehören Schulen, Fachhochschulen, Universitäten, Museen, Theater, Bibliothekenund zahlreiche wissenschaftliche Einrichtungen, zum zweiten Polizei und Strafvollzug.

Eine wichtige Aufgabe der Länder, die von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird, ist dieLandesplanung. Ihr Ziel ist es, für alle Bürger des Landes möglichst gleichwertige Lebensbedingungenzu schaffen. Sie sorgt dafür, dass in dünn besiedelten Räumen alle notwendigen Einrichtungen destäglichen Lebens – Schulen, Geschäfte, Ärzte, Apotheken – in zumutbarer Entfernung an einemzentralen Ort eingerichtet werden und dass in wirtschaftlich unterentwickelten Gebieten dieVoraussetzungen für die Ansiedlung von Gewerbe und Industrie geschaffen werden. Ein nicht wenigerwichtiges Ziel der Landesplanung ist der Schutz und die Erhaltung der Umwelt: Das bedeutetBewahrung von Naturlandschaften, sparsame Nutzung nicht vermehrbarer Naturgüter (Wasser, Luft,Boden), Beschränkung von "Landschaftsverbrauch" durch Industrie- und Verkehrsanlagen.

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Ausführung von Bundesrecht

Artikel 83Die Länder führen die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, soweit dieses Grundgesetz nichtsanderes bestimmt oder zuläßt.

Artikel 84(1) Führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, so regeln sie die Einrichtungder Behörden und das Verwaltungsverfahren. Wenn Bundesgesetze etwas anderes bestimmen,können die Länder davon abweichende Regelungen treffen. (...)

Die meisten Bundesgesetze werden von den Ländern als eigene Angelegenheiten in eigenerVerantwortung vollzogen. Der Begriff "eigene Angelegenheit" besagt, dass die Länder eigene Behördenund Einrichtungen mit dem entsprechenden Personal zur Verfügung stellen. Sie müssen beispielsweiseeine Behörde zur Auszahlung von Wohngeld einrichten oder die notwendigen Unterkünfte fürAsylbewerber bereitstellen. Dabei sind sie frei, wie sie die Auszahlung des Wohngeldes regeln, wiesie Sozialwohnungen vergeben, wie sie Personalausweise ausstellen oder wie sie den Aufenthalt, dieEinbürgerung oder die Abschiebung von Ausländern regeln.

Der Bund kann lediglich die Rechtmäßigkeit des Vollzugs seiner Gesetze kontrollieren, er hat dieRechtsaufsicht. Er kann aber nicht ein anderes Verfahren anordnen, weil es zweckmäßiger erscheint,er hat grundsätzlich nicht die Fachaufsicht.

Einige Bundesgesetze vollziehen die Länder im Auftrag des Bundes (Art. 85 GG). Das gilt zum Beispielfür die Verwaltung der Autobahnen, der Bundesstraßen und der Bundeswasserstraßen, für dieGenehmigung von Flughäfen und von Kernkraftwerken, Wiederaufbereitungsanlagen undLagerstätten für radioaktives Material. Hier hat der Bund die Fachaufsicht. Er kann denLandesbehörden Weisungen erteilen. Das geschieht selten, weil die Zusammenarbeit zwischen Bundund Ländern normalerweise problemlos ist, doch hat zum Beispiel das Bundesumweltministeriummehrfach Landesbehörden angewiesen, den Betrieb von Kernkraftwerken und Wiederaufbereitungsanlagenzu genehmigen.

Organisation

Die Landesbehörden sind ebenso wie die Verwaltung des Bundes in Ebenen gegliedert. ObersteLandesbehörden sind der Ministerpräsident, dessen Behörde in den Flächenstaaten Staatskanzleiheißt, und die Landesministerien (in Berlin und Bremen Senatsverwaltungen, in HamburgFachbehörden).

Zentrale Landesbehörden für spezielle Aufgaben unterstehen als nachgeordnete Behörden(Landesoberbehörden) einem Ministerium, wie die Landeskriminalämter, die Landesämter fürVerfassungsschutz, für Datenverarbeitung und Statistik, für Straßenbau, die Landesvermessungsämterund zumeist die Landeszentralen für politische Bildung.

In den Flächenstaaten außer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, dem Saarland, Schleswig-Holstein und Thüringen sind für die allgemeine Verwaltung Landesmittelbehörden eingerichtet,Regierungspräsidien oder Bezirksregierungen genannt, mit dem Regierungspräsidenten an der Spitze.Ihnen unterstehen die zahlreichen unteren Landesbehörden auf der Kreisebene: etwaKreisverwaltungen bzw. Landratsämter, Polizeipräsidenten, Gewerbeaufsichtsämter, Schulämter,Straßenbauämter, Gesundheitsämter, Forstämter.

Die Landesrechnungshöfe haben in den Ländern dieselben Funktionen wie der Bundesrechnungshoffür die Bundesverwaltung.

Nicht zur unmittelbaren öffentlichen Verwaltung gehören zahlreiche Körperschaften mit öffentlichen

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Aufgaben, die unter der Aufsicht der Landesregierungen stehen. Sie sind aufgrund eines Gesetzeserrichtet, und für die jeweilige Berufsgruppe ist die Mitgliedschaft Pflicht. Die Industrie- undHandelskammern und die Handwerkskammern beispielsweise regeln die Berufsausbildung undnehmen die Abschlussprüfungen der Auszubildenden ab, benennen Sachverständige und erstellenGutachten für Behörden und Gerichte. Gesetzliche Körperschaften sind auch die gesetzlichenKrankenkassen, die Landesversicherungsanstalten, die Ärzte- und Anwaltskammern.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 116-119.

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GemeindenVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

In den Gemeinden kommt der Einzelne am unmittelbarsten mit öffentlichen Angelegenheitenin Berührung: Stromversorgung, Müllabfuhr und Sozialhilfe sind kommunale Aufgaben.Zugleich hat der Bürger hier am ehesten Möglichkeiten, mitzuwirken.

Artikel 28(1) (...) In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die ausallgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. (...) InGemeinden kann an die Stelle einer gewählten Körperschaft die Gemeindeversammlung treten.(2) Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichenGemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch dieGemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe derGesetze das Recht der Selbstverwaltung. (...)

In den Gemeinden kommt der Einzelne am unmittelbarsten mit öffentlichen Angelegenheiten inBerührung. Zugleich hat der Bürger in der Gemeinde am ehesten Möglichkeiten, an den öffentlichenAngelegenheiten mitzuwirken.

Die Selbstverwaltung der Gemeinden, die Art. 28 GG garantiert, hat in Deutschland eine lange Tradition.Ihre Anfänge gehen zurück auf das Mittelalter, als in den Städten die Gilden der Kaufleute und dieZünfte der Handwerker die Beteiligung an der Stadtregierung durchsetzten.

Als Geburtsstunde der kommunalen Selbstverwaltung gilt die preußische Städteordnung des Freiherrnvom Stein von 1808, auch wenn nur jenen Bürgern das Recht zur Wahl der Stadtverordneten zustand,die über Grundbesitz verfügten oder die selbstständig ein Gewerbe ausübten, und Frauen überhauptkein Wahlrecht hatten.

Rechtliche Stellung

Im föderalistischen System der Bundesrepublik Deutschland stehen die Gemeinden nach dem Bundund den Ländern auf der untersten Ebene des dreistufigen Verwaltungsaufbaus. Sie haben im Rahmender Selbstverwaltung eigene Zuständigkeiten und eine eigene Finanzwirtschaft. Staatsrechtlichgehören sie aber zur Ebene der Länder. Die Landtage bestimmen die Kommunalverfassungen unddie Gemeindegrenzen. Bund und Land weisen ihnen Aufgaben zu und entscheiden, welcheFinanzmittel ihnen zustehen. Die Landesregierungen üben die Aufsicht über dieGemeindeverwaltungen aus. Die Kommunen haben keine Vertretung mit weitreichendenverfassungsrechtlichen Mitwirkungsbefugnissen, wie etwa die Länder im Bundesrat.

Sytematik des Selbstverwaltungsrechts der Gemeinden

Die Personalhoheit: Sie räumt den Gemeinden das Recht ein, das Personal auszuwählen,

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anzustellen, zu befördern und zu entlassen.

Die Organisationshoheit: Sie umfasst das Recht der Gemeinden zur eigenen Gestaltung derVerwaltungsorganisation.

Die Planungshoheit: Sie räumt den Gemeinden das Recht ein, Bauleitpläne (Flächennutzungs- undBebauungspläne) in eigener Verantwortung aufzustellen, um das Gemeindegebiet zu ordnen und zugestalten.

Die Rechtsetzungshoheit: Sie enthält das Recht, kommunale Satzungen zu erlassen.

Die Finanzhoheit: Sie gibt den Gemeinden das Recht zu eigenverantwortlicher Einnahmen- undAusgabenwirtschaft.

Die Steuerhoheit: Sie räumt den Gemeinden das Recht zur Erhebung von Steuern ein (soweit diesesRecht nicht durch übergeordnete Gesetze zum Finanzausgleich wieder rückgängig gemacht wurde).

Quelle: Wolfgang Gisevius, Leitfaden durch die Kommunalpolitik, Bonn 1991, S. 24.

Aufgaben

Aus dieser rechtlichen Stellung der Kommunen folgt, dass sie eigene Aufgaben im Rahmen derSelbstverwaltung und Aufgaben im Auftrag von Bund und Land wahrnehmen.

Eigene Aufgaben sind die ursprünglichen Angelegenheiten einer jeden Gemeinde; sie gehören zum"eigenen Wirkungskreis". Sie können freiwillig sein oder vom Staat als Pflicht vorgeschrieben werden.Hier mischt sich der Staat nicht in die Ausführung ein, er gibt keine Weisungen.

Die Gemeinden haben aber auch viele Aufgaben zu erfüllen, die ihnen der Staat überträgt, das sindAufgaben des "übertragenen Wirkungskreises". Der Staat bedient sich der Behördenorganisation derGemeinden und überwacht mittels Weisungen die Ausführung, damit sie überall im Lande einheitlicherfolgt.

Freiwillige Aufgaben erfüllt eine Gemeinde nach eigenem Ermessen und nach ihren finanziellenMöglichkeiten. Sie entscheidet, ob sie ein neues Schwimmbad baut, neue Busse anschafft, einHeimatmuseum einrichtet, welche Zuschüsse das Stadttheater und die örtlichen Vereine erhalten.

Pflichtaufgaben ohne Weisung sind beispielsweise die Müllabfuhr, die Versorgung mit Strom, Gas undWasser, der Bau von Kindergärten und Schulen. Der Kommune ist überlassen, wie sie das regelt.Zunehmend werden diese Aufgaben privaten Unternehmen übertragen. Pflichtaufgaben nach Weisungmüssen von der Gemeinde nach staatlichen Vorgaben erledigt werden; dazu gehören die Auszahlungvon Sozialhilfe und Wohngeld, die Bereitstellung von Feuerwehr, Rettungsdiensten undKatastrophenschutz, die Durchführung von Gemeindewahlen.

Staatliche Auftragsangelegenheiten führt die Kommunalverwaltung für ihren Bereich als unterstestaatliche Behörde aus, zum Beispiel eine Volkszählung, die Erfassung der Wehrpflichtigen, dieDurchführung der Bundestags- und Landtagswahlen.

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Finanzen

Die Einnahmen der Gemeinden kommen etwa zu je einem Drittel aus folgenden Quellen:

• Steuern werden von der Gemeinde selbst festgesetzt: Gewerbesteuer, Grundsteuer undverschiedene Steuern mit geringem Aufkommen, wie die Getränkesteuer und die Hundesteuer.Außerdem erhalten die Gemeinden15 Prozent der Lohn- und Einkommenssteuer ihrer Bürger. Dafür müssen sie einen Teil ihrerGewerbesteuereinnahmen an den Bund und das Land abgeben.

• Gebühren und Beiträge werden erhoben für Dienstleistungen und Einrichtungen, zum BeispielEintrittsgelder für Bäder, Teilnehmerentgelte für Volkshochschulen, Gebühren für die Ausstellungeines Personalausweises und für die standesamtliche Trauung.

• Finanzzuweisungen von Bund und Ländern: Den Gemeinden steht ein Teil der Steuereinnahmender Länder zu, die nach einem Schlüssel verteilt werden. Dabei werden die Unterschiede zwischen"reichen" und "armen" Gemeinden in einem gewissen Maß ausgeglichen (Finanzausgleich). DieGemeinden können über diese zugewiesenen Mittel frei verfügen.

Darüber hinaus gibt es zweckgebundene Zuweisungen. Das sind Zuschüsse für Investitionen, wieWohnungsbau, öffentliche Verkehrsmittel, Stadtsanierung oder Erneuerung des Ortskerns. Hierbehalten sich die Zuschussgeber vor, über die Verwendung mitzuentscheiden. Manche Projektewerden nur deshalb realisiert, weil es dafür Zuschüsse gibt. Inzwischen können Gemeinden auchzweckgebundene Zuschüsse von der Europäischen Union erhalten.

Kommunalverfassungen

Im wiedervereinigten Deutschland gab es am 30. Juni 2009 12.137 Gemeinden, davon 8.481 in denalten Bundesländern (ohne Berlin-West) und 3.655 in den neuen Ländern (ohne Berlin-Ost) und Berlingesamt. Wie zuvor in den alten Bundesländern senken inzwischen Gebietsreformen die Zahl derselbstständigen Gemeinden auch in den neuen Bundesländern drastisch. Das ist notwendig, weilgrößere Gemeinden ihre Aufgaben organisatorisch und finanziell besser erfüllen können. So lassensich die kommunalen Einrichtungen vom Schwimmbad bis zur Kläranlage für größere Gebiete besserplanen.

Gemeinden (auch Kommunen, von lateinisch communis = öffentlich, gemeinsam) im politisch-administrativen Sinne sind alle Gebietskörperschaften vom Dorf bis zur Millionenstadt. Die Gemeindeneines bestimmten Gebietes (Kreisgebiet) bilden einen Gemeindeverband, den Landkreis. Große Städtesind kreisfrei, sie gehören zu keinem Landkreis, sondern bilden selbst einen Stadtkreis. EineBesonderheit stellen die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen dar. Sie sind zugleich Land undGemeinde.

Die Zuständigkeit für die Gemeinden liegt bei den Ländern. Sie erließen nach 1945 per Gesetz jeweilseigenständige Kommunalverfassungen (Gemeindeordnungen), entsprechend den Traditionen derSelbstverwaltung auf ihrem Gebiet. Auch Einflüsse der Besatzungsmächte haben eine Rolle gespieltund zu vier sehr unterschiedlichen Modellen geführt. Inzwischen hat sich fast überall die SüddeutscheRatsverfassung durchgesetzt, manchmal mit geringen Abweichungen. Sie wird so genannt, weil sienach dem Zweiten Weltkrieg in Baden-Württemberg und Bayern eingeführt worden ist. Lediglich inHessen gilt noch die Magistratsverfassung, die auf die preußische Städteordnung des Freiherrn vomStein von 1808 zurückgeht.

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Rat und Bürgermeister

Das oberste beschließende Organ einer Gemeinde ist die gewählte Vertretung der Bürger. Sie trägtunterschiedliche Bezeichnungen: Gemeinderat, Stadtrat, Gemeindevertretung, Stadtverordnetenversammlung.

Der Rat ist kein Parlament. Seine Verfahrensabläufe ähneln jedoch denen anderer Volksvertretungen.Es gibt Ausschüsse und Fraktionen, einflussreiche Ausschuss- und Fraktionsvorsitzende.

Der Bürgermeister hat in der Süddeutschen Ratsverfassung eine starke Stellung. Er ist Vorsitzenderdes Rates und zugleich Chef der Verwaltung, schließlich auch Repräsentant und Rechtsvertreter derGemeinde. Er wird von den Bürgern direkt gewählt und verfügt damit über eine eigenständigedemokratische Legitimation. Das verstärkt seine Durchsetzungskraft, weil er seine Vorstellungen unterBerufung auf den Volkswillen in die Tat umsetzen kann.

Die Direktwahl des Bürgermeisters ist nicht das einzige basisdemokratische Element, das mit derÜbernahme der Süddeutschen Ratsverfassung in ganz Deutschland eingeführt worden ist. Dazu gehörtauch das Kumulieren und das Panaschieren bei den Wahlen zum Gemeinderat. Die Wähler müssensich nicht strikt an die vorgegebenen Listen halten, sondern können als besonders geeigneteingeschätzte Kandidaten durchsetzen.

Landkreise

Aufgaben, die die Leistungsfähigkeit einer Gemeinde übersteigen, übernimmt der Landkreis. Sounterhalten Landkreise Schulen, Krankenhäuser und Kreisstraßen. Sie sind ferner zuständig für dieMüllbeseitigung und den öffentlichen Personennahverkehr. Die Institutionen der Landkreiseentsprechen denen der Gemeinden. Die gewählte Vertretung ist der Kreistag, an der Spitze derVerwaltung steht der Landrat. Ebenso wie die Bürgermeister in den Städten werden in den meistenLändern die Landräte direkt von der Bevölkerung gewählt (Ausnahme: Baden-Württemberg,Brandenburg).

Bürgerbegehren und BürgerentscheidIn den Kommunalverfassungen aller Bundesländer gibt es Elemente direkter Demokratie. Die Bürgerkönnen dort in einem Bürgerantrag verlangen, dass eine wichtige Gemeindeangelegenheit,beispielsweise die Einrichtung eines Gymnasiums, der Bau eines Schwimmbades oder einerStadthalle, auf die Tagesordnung des Gemeinderates gesetzt wird. Sie können darüber hinaus in einemBürgerbegehren verlangen, dass die Entscheidung in einer solchen Angelegenheit von ihnen selbstin einer Abstimmung, dem Bürgerentscheid, getroffen wird. Der Rat kann auch von sich aus einenBürgerentscheid ansetzen.

Alle diese Mitwirkungsrechte sind an eine Mindestbeteiligung gebunden. Einen Bürgerantrag müssenzwischen 5 und 10 Prozent der Abstimmungsberechtigten unterzeichnen, ein Bürgerbegehren mussvon 10 bis 15 Prozent unterstützt werden, und um einem Bürgerentscheid zum Erfolg zu verhelfen,muss die Mindestbeteiligung 25 bis 30 Prozent der Abstimmungsberechtigten ausmachen.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 120-125.

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BundeswehrVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Seit 1955 hat die Bundesrepublik eigene Streitkräfte: die Bundeswehr. Ihre Aufgaben sind dieLandesverteidigung, aber auch der Einsatz in Krisen und Konflikten weltweit. 2008 dienten inder Bundeswehr 245.000 Frauen und Männer.

Als die Bundesrepublik Deutschland 1949 gegründet wurde, besaß sie keine Streitkräfte. Zu denKriegszielen der Alliierten gehörte, Deutschland für lange Zeit zu entwaffnen. Auch die Deutschenwaren weit davon entfernt, sich so kurz nach dem Krieg wieder deutsche Soldaten zu wünschen. DerOst-West-Konflikt und die Bedrohung durch die Sowjetunion veränderten die Lage und ließen einendeutschen Verteidigungsbeitrag notwendig erscheinen.

Nachdem die Bundesrepublik 1955 im Deutschlandvertrag die Souveränität wiedererlangt hatte, tratsie der Westeuropäischen Union und der NATO (North Atlantic Treaty Organization) bei undverpflichtete sich, eigene Streitkräfte aufzustellen.

Rechtsgrundlagen

Artikel 87a(1) Der Bund stellt Streitkräfte zurVerteidigung auf. Ihre zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge ihrerOrganisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergeben.(2) Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetzes ausdrücklich zuläßt.

Das Grundgesetz hatte in der vom Parlamentarischen Rat verabschiedeten Fassung in Art. 26 Abs. 1die Vorbereitung eines Angriffskrieges verboten. Der 1956 neu eingefügte Art. 87a erlaubt dieAufstellung von Streitkräften zur Verteidigung gegen einen bewaffneten Angriff auf das Bundesgebiet.In Verbindung mit den Art. 12a, Art. 73 Ziffer 1 und Art. 115b ist diese VerfassungsbestimmungGrundlage der so genannten Wehrverfassung, durch die die Grundentscheidung zur bewaffnetenLandesverteidigung getroffen wurde.

Im Innern darf die Bundeswehr nur im Fall eines außergewöhnlichen Notstandes eingesetzt werden,der in der "Notstandsgesetzgebung" von 1968 genau definiert worden ist:

• bei einer Naturkatastrophe oder einem besonders schweren Unglücksfall (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG),

• im Verteidigungs- oder im Spannungsfall zum Schutz ziviler Objekte (Art. 87a Abs. 3 GG),

• zur Abwehr von Gefahren für den Bestand des Staates oder die freiheitliche demokratischeGrundordnung, beim Schutz von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter undbewaffneter Aufständischer (Art. 87a Abs. 4 GG).

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Politische Führung und parlamentarische Kontrolle

Die Bundeswehr ist Teil der Exekutive des Bundes und untersteht ziviler Führung: Die Befehls- undKommandogewalt liegt im Frieden beim Bundesminister der Verteidigung (Art. 65a GG); imVerteidigungsfall geht sie auf den Bundeskanzler über (Art. 115b GG).

Die parlamentarische Kontrolle übt der Bundestag aus durch:

• das Budgetrecht (Art. 87a Abs. 1 GG); Stärke und Organisation sind im Haushaltsplan festgelegt;

• den Verteidigungsausschuss (Art. 45a GG), der als ständiger Ausschuss im Grundgesetzvorgeschrieben ist und zugleich die Rechte eines Untersuchungsausschusses hat;

• den Wehrbeauftragten (Art. 45 b GG).

Auftrag und Stärke

Auftrag der Bundeswehr ist es, zusammen mit den Verbündeten einen bewaffneten Angriff auf dieBundesrepublik Deutschland abzuwehren. Bis 1989 war die Bundeswehr im Rahmen der NATO aufdie Abschreckung und notfalls Abwehr einer groß angelegten Aggression der Warschauer-Pakt-Staatenfestgelegt. Nach der Auflösung des Warschauer Paktes und dem Zerfall der Sowjetunion ist eine solcheAggression extrem unwahrscheinlich

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts muss der Auftrag der Bundeswehr der verändertensicherheitspolitischen Lage angepasst werden. Die Bundeswehr sollte auch in Zukunft fähig sein, dasdeutsche Territorium zu verteidigen, doch steht die klassische Landesverteidigung nicht mehr an ersterStelle ihrer Aufgaben. Im Zusammenwirken mit den Verbündeten muss die Bundeswehr weltweit aufKrisen und Konflikte angemessen reagieren.

Gemäß Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, 2006 vomVerteidigungsministerium herausgegeben, hat die Bundeswehr den Auftrag,

• die außenpolitische Handlungsfähigkeit zu sichern,

• einen Beitrag zur Stabilität im europäischen und globalen Rahmen zu leisten,

• die nationale Sicherheit und Verteidigung zu gewährleisten,

• zur Verteidigung der Verbündeten beizutragen und

• die multinationale Zusammenarbeit und Integration zu fördern.

Aus diesem Auftrag leiten sich die Aufgaben der Bundeswehr ab:

• Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung, einschließlich des Kampfes gegen deninternationalen Terrorismus,

• Unterstützung von Bündnispartnern,

• Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger,

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• Rettung und Evakuierung,

• Partnerschaft und Kooperation,

• Hilfeleistungen (Amtshilfe, Naturkatastrophen, besonders schwere Unfälle).

Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Einsatzes der Bundeswehr nach Art. 24 Abs. 2 GG (soinnerhalb von NATO- oder UN-Mandaten) hat das Bundesverfassungsgericht am 12. Juli 1994 geklärt.Dieses Urteil enthält auch den Parlamentsvorbehalt für den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfteim Ausland. Zu Beginn des Jahres 2009 standen nennenswerte Kontingente deutscher Soldaten inBosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Afghanistan und im Sudan, Schiffe der Bundeswehr kreuzen mitunterschiedlichen Aufträgen im Mittelmeer und im Arabischen Meer.

Die Bundeswehr sollte ursprünglich 500.000 Soldaten umfassen. Diese Stärke hat sie nie erreicht,1989 waren es 480.000 Mann. 2008 dienten in der Bundeswehr 245.000 Soldatinnen und Soldaten.Die Bundeswehr befindet sich gegenwärtig in einem Prozess der Transformation. Schwerpunkt ist dieFähigkeit zu multinationalen Einsätzen zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung. Bis zum Jahr2010 soll die neue Struktur stehen. Es werden drei Arten von Streitkräften geschaffen: Eingreifkräftefür multinationale kurze Operationen zur Friedenserzwingung (35.000 Soldaten), Stabilisierungskräftefür längere Operationen zur Friedensstabilisierung (70.000 Soldaten), Unterstützungskräfte zurUnterstützung der Eingreif- und Stabilisierungskräfte und für den "Grundbetrieb" der Bundeswehreinschließlich der Ausbildung (145.000 Soldaten).

Wehrpflicht

Artikel 12a(1) Männer können vom vollendetenachtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, imBundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.

Die Bundeswehr ist eine Wehrpflichtarmee. Die allgemeine Wehrpflicht wurde 1956 eingeführt. DerBundestag hat sich, der demokratischen Tradition folgend, die auf die Französische Revolutionzurückgeht, für die Wehrpflicht und gegen eine Berufsarmee entschieden. Wehrpflichtig sind alleMänner vom 18. bis zum 45. Lebensjahr, im Verteidigungsfall bis zum 60. Lebensjahr. Seit 2001 könnenFrauen in allen Einheiten der Streitkräfte Dienst tun. Die Dauer des Wehrdienstes beträgt seit 2002neun Monate. Nach Ableistung können die Wehrpflichtigen zu Wehrübungen einberufen werden. DieWehrpflicht kann auch durch den Dienst im Bundesgrenzschutz abgeleistet werden.Zivilschutzverbände sind bislang nicht aufgestellt worden.

Staatsbürger in Uniform

Die Bundeswehr ist Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft. Der Dienst in der Bundeswehrwird bestimmt durch die Grundsätze der Inneren Führung. Ihr liegt das Leitbild des Staatsbürgers inUniform zugrunde. Der Soldat soll als verantwortungsbewusster Staatsbürger seine Pflichten ausinnerer Überzeugung erfüllen. Voraussetzung dafür ist, dass seine Menschenwürde geachtet wird undseine Freiheit und seine staatsbürgerlichen Rechte nur insoweit eingeschränkt werden, als dermilitärische Auftrag es erfordert. Soldaten haben daher das aktive und das passive Wahlrecht und dieKoalitionsfreiheit, das heißt das Recht, sich zur Vertretung ihrer Interessen und Belangezusammenzuschließen.

Eine Bewährungsprobe haben die Bundeswehr und die Innere Führung bestanden, als nach derWiedervereinigung die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR aufgelöst und neueBundeswehrtruppenteile aus Angehörigen der Bundeswehr und der ehemaligen NVA aufgestelltwurden. Fast 11.000 Offiziere und Unteroffiziere der NVA wurden in die Bundeswehr übernommenund mit den Grundsätzen der Inneren Führung vertraut gemacht. Die Bundeswehrsoldaten, die mit

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der Zusammenfügung zweier bis dahin feindlichen Armeen beauftragt waren, haben dieseorganisatorisch und vor allem menschlich ungewöhnlich schwierige Aufgabe mit Takt undEinfühlungsvermögen gelöst und damit einen wichtigen Beitrag zur inneren Einheit geleistet. Dasselbegilt für die Soldaten der ehemaligen NVA, die sich in ein völlig fremdes System einfügen mussten.

Kriegsdienstverweigerung/Zivildienst

Artikel 4(3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. DasNähere regelt ein Bundesgesetz.

Artikel 12a(2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienstverpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen.Das Nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darfund auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muß, die in keinem Zusammenhang mit denVerbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sieht kein Wahlrecht zwischen Wehr- und Zivildienstvor. Nur derjenige, der als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen anerkannt ist, kannZivildienst leisten. Das Verfahren der Überprüfung der Gewissensentscheidung wurde im Laufe derZeit mehrfach geändert. Seit 1984 gilt die gesetzliche Regelung, dass das Bundesamt für den Zivildienstüber den Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer entscheidet.

Kriegsdienstverweigerer leisten einen zivilen Ersatzdienst (Zivildienst). Seine Dauer betrug 1995 15Monate, ein Viertel länger als der Wehrdienst. Diese Regelung war umstritten. DasBundesverfassungsgericht hatte entschieden, dass die längere Dauer zulässig ist, weil der Wehrdienstauch Wehrübungen und die Verfügungsbereitschaft umfasst. Seit 1. Oktober 2004 beträgt derZivildienst wie der Wehrdienst neun Monate.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 126-129.

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Rechtsprechung12.4.2010

Vor dem Gesetz sind alle Bürger gleich. Der Rechtsstaat beugt Konflikten vor und legt Streitigkeitenfriedlich bei. Unabhängige Richter sowie verschiedene Zuständigkeiten und Instanzen garantieren dasRecht jedes Einzelnen auf eine unparteiische Rechtsprechung. Das Bundesverfassungsgericht, alshöchstes Gericht des Bundes, ist Hüter der Verfassung.

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Funktionen des RechtsVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Das Recht sichert Frieden und gewährleistet Freiheit. Es verbietet Vergeltung und Faustrechtund dient so der Vorbeugung von Konflikten. Die Rechtsordnung sorgt dafür, dass Streitigkeitenfriedlich in einem geregelten Verfahren ausgetragen werden.

Das Recht gewährleistet die Freiheit. Foto: Lizenz: cc by-sa/2.0/de (Toni_V)

In der Bundesrepublik Deutschland leben die Menschen friedlich zusammen. Es herrschen Recht undGesetz, wenn es auch keine perfekte Sicherheit vor dem Verbrechen gibt.

Das ist keineswegs selbstverständlich. In vielen Ländern der Welt herrschen keine rechtsstaatlichenVerhältnisse. In einigen Staaten hat sich die Rechtsordnung förmlich aufgelöst. In sinnlosen Kriegenwird keine Rücksicht auf die wehrlose Zivilbevölkerung genommen. Frauen, Kinder und alte Menschenwerden vertrieben, terrorisiert oder getötet.

Das war in früheren Jahrhunderten in Europa nicht anders. Das ganze Mittelalter war gekennzeichnetdurch Friedlosigkeit, der die "Friedensbewegungen" jener Zeit, die Gottesfriedens- und dieLandfriedensbewegung, nur mit geringem Erfolg entgegenzuwirken vermochten. Die Erfahrungen dermörderischen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts führten schließlich zu der Einsicht, dass

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die Wahrung des Friedens die wichtigste Aufgabe des Gemeinwesens sei und dass allein der Staatdie Befugnis zur Gewaltausübung haben dürfe. Das staatliche Gewaltmonopol ist ein Wesensmerkmaldes neuzeitlichen Staates. Später trat die Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz hinzu. Beidezusammen begründen den Rechtsstaat.

Das Recht sichert den Frieden

Die wichtigste Funktion des Rechts ist offenkundig die Sicherung des inneren Friedens. In einerGesellschaft gibt es unterschiedliche Interessen, die unausweichlich zu Konflikten führen. Das Rechtsorgt dafür, dass sie auf friedliche Weise in einem geregelten Verfahren ausgetragen werden.

Die Rechtsordnung verbietet, privat Vergeltung zu üben oder das Recht auf eigene Faustdurchzusetzen. Das Opfer einer Straftat darf an dem Täter keine Rache nehmen. Ein Gläubiger darfnicht das Auto des säumigen Schuldners entwenden, um es bis zur Zahlung der Schuld als Pfand zubehalten. Der Bürger muss sich an die Gerichte wenden und sein Recht mithilfe der Staatsgewaltdurchsetzen.

Bei Straftaten steht die Strafgewalt allein dem Staat zu, Anklage erhebt der Staatsanwalt. Auch beieinem zivilrechtlichen Streit setzt das Recht an die Stelle der gewaltsamen, ungeregeltenAuseinandersetzung das geregelte Verfahren. Es kann seine befriedende Wirkung nur entfalten, wennes für einen gerechten Ausgleich der Interessen sorgt. Der Gesetzgeber muss beim Erlass der Gesetzedie unterschiedlichen Interessen und möglichen Konflikte vorwegnehmen. Das Recht dient so derVorbeugung von Konflikten.

Das Mietrecht beispielsweise legt Rechte und Pflichten von Mietern und Vermietern unter Abwägungihrer Interessen genau fest. Es regelt Voraussetzungen und Fristen einer Kündigung, Fristen undUmfang einer Mieterhöhung, Höhe und Verzinsung einer Kaution und anderes mehr.

Kommt es dennoch zum Streit, muss ein gerichtliches Verfahren eine Lösung des Konfliktsherbeiführen. Sie soll möglichst von allen Beteiligten als gerecht empfunden werden. In jedem Fallsetzt sie dem Konflikt ein Ende und stellt den Rechtsfrieden wieder her.

Das Recht gewährleistet die Freiheit

Das Recht sichert nicht nur den inneren Frieden, sondern gewährleistet auch die Freiheit des Einzelnen.Das erscheint auf den ersten Blick paradox, denn das Recht schränkt gerade die Freiheit auf vielfältigeWeise ein. In einer Gesellschaft, in der viele Menschen auf engem Raum zusammenleben, kann esaber keine uneingeschränkte Freiheit geben. Freiheit endet dort, wo das Recht des anderen beginnt.

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Themengrafik Rechtsprechung: Die Rechtsprechung gewährleistet den inneren Frieden und die Freiheit der Bürger,auch gegenüber dem Staat. Zum Öffnen der PDF-Version (303 KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/pdf/XPG1FC.pdf)

Die französische "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789 hat das so ausgedrückt: "DieFreiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. So hat die Ausübungder natürlichen Rechte eines jeden Menschen nur die Grenzen, die den anderen Gliedern derGesellschaft den Genuss der gleichen Rechte sichern. Diese Grenzen können allein durch Gesetzfestgelegt werden." Wenn das Recht diese Funktion nicht erfüllt, entstehen "rechtsfreie Räume", esherrscht Willkür, unter der die Schwachen leiden.

Das Recht regelt die privaten Rechtsbeziehungen

Das Recht schützt nicht nur Frieden und Freiheit in der Gesellschaft, es stellt auch ein System vonrechtlichen Regeln bereit, in dem der Einzelne seine Rechtsbeziehungen in eigener Verantwortung(autonom) gestalten kann. Die Juristen nennen das Privatautonomie.

Wenn jemand beispielsweise ein Haus bauen will, erwirbt er per Kaufvertrag zunächst ein Grundstück.Er wird als neuer Eigentümer in das Grundbuch eingetragen, damit ist sein Eigentum gesichert. Dannschließt er Verträge mit dem Architekten und den verschiedenen Handwerkern über die Bauausführung.Ihre Leistungen kann der Bauherr mit den Mitteln des Rechts einfordern, ebenso wie seineVertragspartner ein Recht auf die vereinbarte Bezahlung ihrer Leistungen haben. SolcheVereinbarungen sind "rechtswirksam", die Rechtsordnung garantiert, dass sie eingehalten werden.

Derartige rechtliche Regelungen sind Bestandteil des täglichen Lebens. Jeder Kauf kommt durch einenKaufvertrag zustande. Das Mietrecht ist ein weiteres Beispiel für rechtlich geregelte Beziehungenzwischen Vertragspartnern. Das Erbrecht sieht sogar Verfügungen über den Tod hinaus vor.

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Das Recht gestaltet die Gesellschaft

Die Sicherung des Friedens und der Freiheit und die Gewährleistung der Privatautonomie sindKernbestandteile des liberalen Rechtsstaates.

Der soziale Rechtsstaat greift darüber hinaus aktiv in alle Bereiche des persönlichen, sozialen undwirtschaftlichen Lebens ein. Gesetzliche Regelungen schützen die Schwächeren und sorgen für denAusgleich sozialer Gegensätze.

Das Arbeitsrecht beispielsweise enthält zahlreiche Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmer:Kündigungsschutz, Arbeitszeitbegrenzung, Lohnfortzahlung, Schutz vor den Gefahren desArbeitslebens, Mutter- und Jugendschutz, Mitbestimmung.

Das Kartellrecht sichert den wirtschaftlichen Wettbewerb. Es verbietet beispielsweise Preisabsprachenvon Unternehmern und soll verhindern, dass sich einzelne Unternehmen eine marktbeherrschendePosition verschaffen können.

Der rasche gesellschaftliche Wandel, die begrenzten natürlichen Lebensgrundlagen, die Entwicklungneuer Technologien zwingen den Staat, steuernd und gestaltend in immer neue Lebensverhältnisseeinzugreifen. Auch hier bedient sich der Staat vor allem des Rechts. Dem Schutz der Umweltbeispielsweise dienen das Immissionsschutzgesetz, das Atomgesetz, das Chemikaliengesetz undandere mehr. Das Gentechnikgesetz von 1990 legt den rechtlichen Rahmen für die Anwendung derGentechnik fest und soll vor deren Gefahren schützen.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 131-133.

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Grundsätze der RechtsprechungVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Die Rechtsprechung in Deutschland wird von unabhängigen Richtern ausgeübt, die nur demGesetz unterworfen sind. Jeder Bürger hat Anspruch auf rechtliches Gehör.

Aufgabe der Rechtsprechung ist die Wahrung und Durchsetzung des Rechts. Dafür hat der StaatGerichte eingerichtet. Sie entscheiden bei Rechtskonflikten zwischen Staat und Bürger und zwischeneinzelnen Bürgern in einem Verfahren nach festgelegten Regeln, was rechtens ist.

Ihre Entscheidung, der Rechtsspruch, ist unanfechtbar und für alle Beteiligten bindend, sobald sierechtskräftig ist. Notfalls kann sie zwangsweise durchgesetzt werden.

Das Grundgesetz garantiert in einer Reihe von Verfassungsbestimmungen eine Rechtsprechung nachden Prinzipien des Rechtsstaates.

Richterliche Unabhängigkeit

Die Rechtsprechung ist nach Art. 92 GG den Richtern anvertraut. Richter sind unabhängig und nurdem Gesetz unterworfen (Art. 97 GG). Sie unterliegen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben keinerleiWeisungen.

Ein Richter muss auch dann nach dem Gesetz entscheiden, wenn es seiner Rechtsauffassungwiderspricht. Hält ein Richter in einem konkreten Einzelfall das anzuwendende Gesetz für nichtvereinbar mit dem Grundgesetz, muss er nach Art. 100 GG eine Entscheidung des zuständigenVerfassungsgerichts einholen. Das ist bei Landesgesetzen das Landesverfassungsgericht, beiBundesgesetzen das Bundesverfassungsgericht.

Richter können nicht abgesetzt oder versetzt werden. Eine Dienstaufsicht sorgt lediglich dafür, dasssie ihre Amtsgeschäfte ordnungsgemäß erledigen. Nur bei schweren Dienstpflichtverletzungen, etwaUnterschlagung von Beweismaterial, kann ein Richter entlassen werden.

Die richterliche Unabhängigkeit soll eine unparteiische Rechtsprechung sichern. Darüber hinausenthält das Grundgesetz eine Anzahl von Bestimmungen, die dem Schutz des Bürgers in einemGerichtsverfahren dienen, die so genannten justiziellen Grundrechte (Art. 101, 103, 104 GG).

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Recht auf den gesetzlichen Richter

Artikel 101(1) Ausnahmegerichte sind unzulässig. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.(2) Gerichte für besondere Sachgebiete können nur durch Gesetz errichtet werden.

Das Grundgesetz verbietet Ausnahmegerichte. Es darf beispielsweise keine Sondergerichte geben,die nur politische Straftaten oder nur Sittlichkeitsdelikte aburteilen. Durch Gesetz ist geregelt, welchesGericht für eine Sache zuständig ist, zum Beispiel das Amtsgericht, das Verwaltungsgericht, dasArbeitsgericht.

Auch innerhalb der Gerichte legt ein Geschäftsverteilungsplan fest, welcher Richter einen Fall zuübernehmen hat. Es wäre unzulässig, einen Fall dem nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständigenRichter zu entziehen und einem anderen zu übertragen, weil dieser als besonders streng oder mildegilt. Hierzu gehört auch das Recht, einen Richter wegen Befangenheit abzulehnen. Es kommt nichtdarauf an, ob der Richter wirklich befangen ist, schon die begründete Vermutung, er könne nichtobjektiv entscheiden, genügt zur Antragstellung. Über den Antrag entscheidet ein Gericht.

Anspruch auf rechtliches Gehör

Artikel 103(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

Wer vor Gericht steht, als Partei in einem Zivilprozess oder als Angeklagter in einem Strafverfahren,muss Gelegenheit haben, sich zu dem Sachverhalt zu äußern. Das Gericht darf nur solche Tatsachenberücksichtigen, zu denen alle Beteiligten Stellung nehmen konnten.

Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs geht auf sehr alte Rechtstraditionen zurück und findet einenprägnanten Ausdruck in der römischen Formel "Audiatur et altera pars" (Auch die andere Seite sollgehört werden). Drei Viertel aller Verfassungsbeschwerden nach Art. 93 Abs. 4a haben eine Verletzungdieses Grundsatzes zum Gegenstand.

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Themengrafik Rechtsprechung: Die Rechtsprechung in der Bundesrepublik baut auf mehreren im Grundgesetzverankerten Prinzipien auf. Zum Öffnen der PDF-Version (303 KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/pdf/XPG1FC.pdf)

Garantien für das Strafverfahren

Artikel 103(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tatbegangen wurde.

Zu den elementaren Grundsätzen eines Rechtsstaates gehören zwei Garantien, die für dasStrafverfahren gelten: das Verbot der Rückwirkung und das Verbot der Doppelbestrafung.

Die präzise Formulierung von Art. 103 Abs. 2, der "Magna Charta des Strafrechts", geht auf denrömischen Rechtsgrundsatz "Nullum crimen, nulla poena sine lege" (Kein Verbrechen, keine Strafeohne Gesetz) zurück. Das Rückwirkungsverbot hatte und hat eine zentrale Bedeutung bei der Ahndungvon Verbrechen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems und des SED-Staates. Täter könnennur wegen solcher Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, die auch damals schon strafbarwaren, das gilt zum Beispiel für Mord.

Artikel 103(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraftwerden.

Ein rechtmäßig bestrafter oder freigesprochener Täter kann wegen derselben Tat nicht noch einmalangeklagt werden. Nur bei besonders schwerwiegenden Gründen, etwa wenn entscheidende neueBeweise vorliegen, ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig. Ein Wiederaufnahmeverfahrenkann zu einer schwereren Bestrafung oder auch zu einer milderen Strafe bzw. zu einem Freispruchdes Verurteilten führen.

Art. 104 GG legt im Einzelnen fest, unter welchen Voraussetzungen die Freiheit einer Person

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eingeschränkt oder entzogen werden kann. Die historischen Wurzeln dieser Rechte reichen bis zu derenglischen Habeas-Corpus-Akte aus dem Jahr 1679 zurück.

Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung

Artikel 104(1) Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtungder darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Festgehaltene Personen dürfen wederseelisch noch körperlich mißhandelt werden.(2) Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung hat nur der Richter zu entscheiden.Bei jeder nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung ist unverzüglich einerichterliche Entscheidung herbeizuführen. Die Polizei darf aus eigener Machtvollkommenheitniemanden länger als bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen in eigenem Gewahrsam halten.Das Nähere ist gesetzlich zu regeln.(3) Jeder wegen des Verdachtes einer strafbaren Handlung vorläufig Festgenommene ist spätestensam Tage nach der Festnahme dem Richter vorzuführen, der ihm die Gründe der Festnahme mitzuteilen,ihn zu vernehmen und ihm Gelegenheit zu Einwendungen zu geben hat. Der Richter hat unverzüglichentweder einen mit Gründen versehenen schriftlichen Haftbefehl zu erlassen oder die Freilassunganzuordnen.

Freiheitsentziehung, das Festhalten einer Person, kann nur von einem Richter angeordnet werden.Die Polizei benötigt zur Verhaftung eines Verdächtigen einen richterlichen Haftbefehl. Sie kann ihnvorläufig festnehmen, wenn er auf frischer Tat ertappt wurde oder Fluchtgefahr besteht. Spätestensam folgenden Tage muss der Festgenommene einem Richter vorgeführt werden, der über Freilassungoder Fortdauer der Haft entscheidet.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 134-136.

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RechtssystemVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Das Rechtssystem ist in Privatrecht und öffentliches Recht unterteilt. Mit Rechtsmitteln - wieBerufung und Revision - kann man eine gerichtliche Entscheidung anfechten und ihreNachprüfung durch ein höheres Gericht verlangen.

Öffentliches Recht und Privatrecht

Man teilt das Recht ein in die beiden großen Rechtsgebiete Privatrecht und öffentliches Recht. DasPrivatrecht regelt die Rechtsbeziehungen der einzelnen Bürger zueinander.

Sein Kern ist das bürgerliche Recht, das im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) niedergelegt ist. Es enthältRegelungen für den bürgerlichen Alltag, zum Beispiel für Kauf und Verkauf, für Pacht, Leihe undSchenkung, für Eheschließung und Ehescheidung, für Unterhaltsansprüche und Vormundschaft, fürErbschaft.

Zum Privatrecht gehören auch das Handelsrecht, das nur unter Kaufleuten gilt, und das Arbeitsrecht,soweit es die Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern (mit Ausnahme derBeamten) umfasst, sowie das Urheber- und Patentrecht.

Das öffentliche Recht regelt die Beziehungen des Einzelnen zur öffentlichen Gewalt (Staat, Land,Gemeinde, öffentliche Körperschaft) und die Beziehungen der öffentlichen Gewalten zueinander, zumBeispiel zwischen Bund und Ländern. Zum öffentlichen Recht gehören das Verwaltungsrecht, dasStraf- und Prozessrecht sowie das Verfassungsrecht, das Staatsrecht und das Völkerrecht.

Zweige der Gerichtsbarkeit

Die Recht sprechende Gewalt ist in der Bundesrepublik Deutschland in fünf selbstständigeGerichtszweige gegliedert, die mit den Begriffen "ordentliche" und "besondere Gerichtsbarkeit"unterschieden werden.

Die "ordentliche Gerichtsbarkeit" umfasst die Zivil- und Strafgerichte, zur "besonderen Gerichtsbarkeit"zählen Verwaltungsgerichte, Arbeitsgerichte, Sozialgerichte und Finanzgerichte.

Die Bezeichnung "ordentliche Gerichtsbarkeit" erklärt sich historisch daraus, dass früher nur die Zivil-und Strafgerichtsbarkeit mit unabhängigen Richtern besetzt war. Dagegen wurde die Verwaltungs-und Finanzgerichtsbarkeit von weisungsgebundenen Beamten ausgeübt. Dies änderte sich mit demGerichtsverfassungsgesetz von 1877. Die Artikel 92 und 97 GG geben der richterlichen UnabhängigkeitVerfassungsrang.

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Bundes- und Landesgerichte

In allen Gerichtszweigen gibt es jeweils Gerichte der Länder und des Bundes. Innerhalb der einzelnenGerichtszweige bestehen mehrere Instanzen, das sind Stufen des gerichtlichen Verfahrens, dieeinander übergeordnet sind. In der Regel gibt es drei Instanzen, die ersten beiden sind Gerichte derLänder, die oberste Instanz ist ein Bundesgericht.

Die Instanzen der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind Amtsgerichte, Landgerichte, die je nach Bedeutungeines Falles erste oder zweite Instanz sein können, Oberlandesgerichte und der Bundesgerichtshof.

Die Verwaltungs-, Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit ist dreistufig, die Finanzgerichtsbarkeit zweistufig.Die obersten Instanzen sind das Bundesverwaltungsgericht, das Bundesarbeitsgericht, dasBundessozialgericht und der Bundesfinanzhof.

Für Streitigkeiten bei der gewerblichen Nutzung von Patenten, die für Erfindungen beimBundespatentamt beantragt und erteilt werden können, ist ein Bundesgericht, dasBundespatentgericht, eingerichtet.

Eine Sonderstellung nimmt die Verfassungsgerichtsbarkeit ein.

Zivilgerichte

Zivilgerichte sind für bürgerliche (zivile) Rechtsstreitigkeiten zuständig, das sind Streitigkeiten, die zumBereich des Privatrechts gehören.

Sie werden angerufen, wenn es etwa Streit um einen Kaufvertrag gibt, wenn ein Schuldner seinerZahlungspflicht nicht nachkommt, wenn ein Mieter eine Mieterhöhung für ungerechtfertigt hält. Siescheiden Ehen und legen die Unterhaltszahlungen und das Sorgerecht für die Kinder fest. Sieentscheiden über Haftung und Schadensersatz, wenn jemand einem anderen einen Schaden zugefügt,ihn verletzt oder bestohlen hat, sie fällen aber auch ein Urteil, wenn ein öffentlicher Bediensteter seineAmtspflicht verletzt hat. Alle diese Streitigkeiten gehören zur "streitigen Gerichtsbarkeit".

Zur Zivilgerichtsbarkeit gehört auch die "freiwillige Gerichtsbarkeit". Sie ist vor allem fürVormundschaftssachen und Nachlassangelegenheiten zuständig (Vormundschafts- undNachlassgerichte).

Zivilprozess

Ein Zivilprozess beginnt mit der Erhebung einer Klage. Kläger und Beklagter heißen Parteien. DieParteien stehen sich gleichberechtigt gegenüber. Der Kläger begründet seinen Antrag, der Beklagtebestreitet die Behauptungen insgesamt oder teilweise. Beide Parteien können Beweismittel vorlegenund Zeugen beibringen. Das Gericht prüft nur, was die Parteien vorbringen, es ermittelt nicht selbstvon Amts wegen. Man spricht deshalb im Zivilprozess von Parteiherrschaft.

InstanzenDas Amtsgericht ist die erste Instanz bei einem Streitwert bis einschließlich 5000 Euro. Der Streitwertist der Wert des Streitgegenstandes. Wenn nicht ohnehin eine bestimmte Geldsumme eingeklagt wird,setzt das Gericht ihn fest. Nach dem Streitwert bestimmen sich die Gerichtskosten undAnwaltsgebühren. Außerdem werden vom Amtsgericht Mietstreitigkeiten, Ehescheidungen und diesich daraus ergebenden Streitigkeiten verhandelt. Für alle übrigen Rechtsstreitigkeiten ist dasLandgericht zuständig.

Das Verfahren in der ersten Instanz endet mit einem Urteil, soweit es nicht auf andere Weiseabgeschlossen wurde, etwa durch Rücknahme der Klage oder durch gütliche Einigung, einen Vergleich.

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Das Urteil ist rechtskräftig, wenn die Parteien keine Rechtsmittel einlegen oder wenn die Einlegungvon Rechtsmitteln nicht mehr zulässig ist. Unter Rechtsmitteln versteht man die Möglichkeit, einegerichtliche Entscheidung anzufechten und ihre Nachprüfung durch ein höheres Gericht (höhereInstanz) zu verlangen.

Berufung und RevisionDie wichtigsten Rechtsmittel sind Berufung und Revision. Bei einer Berufung überprüft die höhereInstanz sowohl den Sachverhalt als auch die rechtliche Seite des Falles, der Prozess wird neu aufgerollt.Die Berufung gegen Urteile des Amtsgerichts wird vom Landgericht verhandelt, gegen Urteile desLandgerichts vom Oberlandesgericht. Berufung kann nur eingelegt werden, wenn der Beschwerdewert(der vom Streitwert abweichen kann) 600 Euro überschreitet.

Bei der Revision wird nur geprüft, ob die Vorinstanz das Recht richtig angewandt hat. Revision kannnur gegen Berufungsurteile des Oberlandesgerichts beim Bundesgerichtshof beantragt werden.

Die Revision ist im Allgemeinen nur zulässig, wenn der Fall grundsätzliche Bedeutung hat oder wennein Urteil von der Entscheidung des Bundesgerichtshofes in einem ähnlich gelagerten Fall abweicht.Auf diese Weise soll die einheitliche Auslegung der Gesetze gesichert werden.

Strafgerichte

Strafgerichte sind für die Anwendung des Strafrechts zuständig, das im Strafgesetzbuch (StGB)niedergelegt ist. Strafrechtsvorschriften enthalten aber auch viele andere Gesetze, zum Beispiel dasBetäubungsmittelgesetz, das Versammlungsgesetz, das das "Vermummungsverbot" enthält, und dasAußenwirtschaftsgesetz, das Waffenexporte in bestimmte Länder verbietet.

Strafprozess

Ein Strafverfahren beginnt mit der Erhebung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft.Vorausgegangen ist gewöhnlich eine Strafanzeige bei der Polizei, beim Amtsgericht oder bei derStaatsanwaltschaft. In dem nun einsetzenden Ermittlungsverfahren stellt die Staatsanwaltschaft inZusammenarbeit mit der Polizei fest, ob ein hinreichender Verdacht auf eine strafbare Handlungvorliegt. Ist das der Fall, so muss Anklage erhoben werden. Die Staatsanwaltschaft handelt nach demLegalitätsprinzip, sie ist zur Verfolgung einer Straftat verpflichtet. Ausgenommen sind so genannteAntragsdelikte (Beleidigung, leichte oder fahrlässige Körperverletzung, Hausfriedensbruch undandere). Ist das Antragsdelikt zugleich ein Privatklagedelikt, wird nur dann Anklage erhoben, wenndies im öffentlichen Interesse liegt; andernfalls bleibt dem Verletzten nur die Möglichkeit einerPrivatklage.

Ablauf des StrafverfahrensBei Verdacht auf eine Straftat wird ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Ist der Beschuldigte hinreichendverdächtig, wird das Hauptverfahren eröffnet.

Mit dem Eröffnungsbeschluss wird der Beschuldigte zum Angeklagten. Das Gericht hat den Sachverhaltzu ermitteln und dem Angeklagten seine Schuld nachzuweisen. Es ist dabei nicht an die vomStaatsanwalt vorgelegten Beweise gebunden, sondern kann selbst Beweise erheben, Zeugenvernehmen, Sachverständige heranziehen.

Der Angeklagte hat das Recht auf Verteidigung. Er kann sich durch einen Rechtsanwalt vertretenlassen, bei schweren Straftaten ist dies vorgeschrieben. Kann er den Verteidiger nicht bezahlen, bestelltdas Gericht auf Staatskosten einen Pflichtverteidiger.

Das Strafverfahren endet mit einem Urteil. Sofern keine Rechtsmittel eingelegt werden, wird esrechtskräftig und wird vollstreckt.

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Instanzen der StrafjustizIn erster Instanz entscheidet

• der Strafrichter als Einzelrichter bei Vergehen, wenn eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren odereine Geldstrafe zu erwarten ist;

• das Schöffengericht beim Amtsgericht (ein oder zwei Richter, zwei Schöffen) bei Verbrechen undVergehen mit Freiheitsstrafen bis zu vier Jahren;

• die Große Strafkammer beim Landgericht (zwei oder drei Richter, zwei Schöffen) bei schwerenVerbrechen, als Schwurgericht bei Tötungsverbrechen;

• der Große Strafsenat beim Oberlandesgericht (fünf Richter) bei Staatsschutzsachen(Landesverrat, terroristische Gewalttaten).

Schöffen sind ehrenamtliche Richter, die nicht juristisch vorgebildet sind. Sie haben in der Verhandlungund bei der Beratung über das Urteil dieselben Rechte und Pflichten wie Berufsrichter. Durch ihreMitwirkung soll die Lebens- und Berufserfahrung der Bürger bei der Rechtsprechung genutzt werden.

RechtsmittelGegen das Urteil kann der Verurteilte Rechtsmittel einlegen. Berufung ist nur bei Urteilen derAmtsgerichte zulässig. Gegen erstinstanzliche Urteile der Landgerichte ist nur Revision beimBundesgerichtshof zugelassen.

OrdnungswidrigkeitenVon Straftaten zu unterscheiden sind Ordnungswidrigkeiten. Das sind Verstöße gegen staatlicheGebote und Verbote, die nicht so schwerwiegend sind, dass eine Strafe verhängt werden müsste. Siewerden von Verwaltungsbehörden geahndet, die per Bußgeldbescheid ein Bußgeld auferlegen.Geringfügige Ordnungswidrigkeiten, deren häufigste die Geschwindigkeitsüberschreitung imStraßenverkehr und das Falscheparken sind, werden mit einem Verwarnungsgeld belegt.

JugendgerichteFür Straftaten Jugendlicher (14–18 Jahre) gilt das Jugendstrafrecht. Es wird häufig auch beiHeranwachsenden (18–21 Jahre) angewandt. Das Jugendstrafrecht sieht Erziehungsmaßregeln vor,zum Beispiel die Weisung, eine gemeinnützige Arbeit zu verrichten, oder das Verbot, Gast- undVergnügungsstätten zu besuchen, bis hin zur Anordnung der Fürsorgeerziehung. Reicht das nicht aus,können Zuchtmittel verhängt werden, zum Beispiel die Auflage, den Schaden wieder gutzumachen,oder Jugendarrest. Wegen besonders schweren oder wiederholten Straftaten wird Jugendstrafeverhängt. Sie wird in einer Jugendstrafanstalt verbüßt und beträgt mindestens sechs Monate,höchstens zehn Jahre.

Über straffällige Jugendliche entscheiden Jugendgerichte, und zwar je nach Schwere des Falles derJugendrichter als Einzelrichter, das Jugendschöffengericht (ein Jugendrichter, zwei Jugendschöffen)oder die Jugendkammer beim Landgericht (drei Jugendrichter, zwei Jugendschöffen).

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Verwaltungsgerichte

Verwaltungsgerichte sind zuständig für Streitigkeiten zwischen den Bürgern und der Staatsgewalt. Siebieten dem Bürger Rechtsschutz, wenn er sich durch eine Maßnahme der Verwaltung in seinen Rechtenverletzt glaubt. Verwaltungsgerichte entscheiden beispielsweise, wenn gegen die Versagung einerBaugenehmigung geklagt wird.

Sie können gegen die als ungerecht empfundene Benotung eines Schülers ebenso angerufen werdenwie etwa bei Auseinandersetzungen über den Bau eines neuen Flughafens, einer Autobahn oder einesHochtemperaturreaktors.

Gegen einen als rechtswidrig empfundenen Verwaltungsakt muss der Betroffene zunächstWiderspruch einlegen. Im Widerspruchsverfahren soll die Behörde noch einmal prüfen, ob ihreEntscheidung rechtmäßig und zweckmäßig ist. Wird der Widerspruch abgelehnt, kann dasVerwaltungsgericht angerufen werden.

Erste Instanz ist das Verwaltungsgericht, Berufungsinstanz das Oberverwaltungsgericht, in einigenBundesländern Verwaltungsgerichtshof genannt, Revisionsinstanz das Bundesverwaltungsgericht.Bei Streitigkeiten über technische Großprojekte und bei Vereinsverboten ist dasOberverwaltungsgericht die erste Instanz.

Themengrafik Rechtsprechung: Die Rechtsprechung gewährleistet den inneren Frieden und die Freiheit der Bürger,auch gegenüber dem Staat. Zum Öffnen der PDF-Version (303 KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/pdf/XPG1FC.pdf)

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Arbeitsgerichte

Arbeitsrechtliche Streitigkeiten ergeben sich in der Regel aus Verträgen zwischen Arbeitgebern undArbeitnehmern und sind somit eigentlich zivilrechtliche Konflikte. Allerdings sind die Arbeitsgerichteauch für entsprechende Streitigkeiten im öffentlichen Dienst zuständig. Die Einrichtung einerbesonderen Arbeitsgerichtsbarkeit, erstmals 1926 in Deutschland, trägt der besonderen Bedeutungdes Arbeitslebens in der Industriegesellschaft Rechnung.

Außer für Streitigkeiten aus Arbeitsverhältnissen – zum Beispiel wegen Gehalts- bzw. Lohnzahlungen,Kündigung, Arbeitsschutz – sind Arbeitsgerichte für Auseinandersetzungen über Mitbestimmungzuständig. Diese betreffen sowohl die Rechte des Betriebsrates als auch die Konflikte zwischen denGewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden um Tarifverträge und um die Rechtmäßigkeit einesStreiks.

Die Arbeitsgerichtsbarkeit ist dreistufig. Erste Instanz ist das Arbeitsgericht, zweite dasLandesarbeitsgericht und höchste das Bundesarbeitsgericht. Arbeitsgerichte sind mit Berufsrichternund ehrenamtlichen Richtern besetzt. Die ehrenamtlichen Richter kommen je zur Hälfte aus denKreisen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Arbeitsgerichtsverfahren sind kostengünstiger als andere Gerichtsverfahren. Die Parteien können denRechtsstreit selbst führen oder sich, für Mitglieder kostenlos, durch Prozessvertreter der Gewerkschaftbzw. des Arbeitgeberverbandes vertreten lassen. Vorab wird eine gütliche Einigung versucht. EinigeSondervorschriften dienen der Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens.

Sozialgerichte

Sozialgerichte entscheiden über Rechtsstreitigkeiten in Angelegenheiten der Sozialversicherung, derArbeitslosen- und Unfallversicherung, der Kriegsopferversorgung und des Kindergeldes.Beispielsweise kann das Sozialgericht angerufen werden, damit es feststellt, dass eineArbeitsunfähigkeit Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ist, sodass Anspruch auf eineUnfallrente besteht. Das Gericht muss den Sachverhalt von Amts wegen erforschen.

Die drei Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit sind die Sozialgerichte, die Landessozialgerichte alsBerufungs- und das Bundessozialgericht als Revisionsinstanz. In allen Instanzen wirken nebenBerufsrichtern ehrenamtliche Richter mit, sie werden aus dem mit der speziellen Materie vertrautenPersonenkreis berufen. Vor Sozialgerichten, außer vor dem Bundessozialgericht, kann sich jeder selbstvertreten oder sich durch Experten einschlägiger Verbände vertreten lassen. BeiSozialgerichtsverfahren entstehen keine Gerichtskosten.

Finanzgerichte

Finanzgerichte sind bei Streitigkeiten von Bürgerinnen und Bürgern mit den Finanzbehörden zuständig.Das sind in der überwiegenden Zahl der Fälle Klagen gegen Steuerbescheide. Zuvor muss gegeneinen Bescheid des Finanzamtes Einspruch eingelegt werden. Bleibt dieser erfolglos, kann Klage beimFinanzgericht erhoben werden.

Gegen Urteile der Finanzgerichte ist Revision an den Bundesfinanzhof zulässig. Es gibt nur diesebeiden Instanzen. Finanzgerichte sind mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richternbesetzt, der Bundesfinanzhof mit fünf Berufsrichtern.

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Kritik an der Rechtsprechung

Die Recht sprechende Gewalt genießt in Deutschland hohes Ansehen. Es wird allgemein anerkannt,dass die Richter und die anderen Justizorgane nach besten Kräften die Gesetze anwenden und Rechtsprechen. Dennoch gibt es vielfältige Kritik an der Rechtsprechung.

Sie richtet sich meist nicht gegen die Justizorgane, sondern gegen Missstände, die sich im Laufe derZeit herausgestellt haben und die letztlich der Gesetzgeber zu verantworten hat.

Unter den Missständen leiden die Bürger, die in irgendeiner Weise mit den Gerichten in Berührungkommen, ebenso wie die Bediensteten der Justiz. Kritik wird gerade auch von Juristen geübt.

Dabei stehen folgende Kritikpunkte im Vordergrund:

• Es gibt zu viele Gesetze: Ständig werden neue Gesetze verabschiedet, wird vorhandenes Recht geändert oder außer Kraftgesetzt. Immer mehr Lebensbereiche unterliegen immer komplizierteren Regelungen. DieFachleute sprechen von einer "Normenflut".

• Die Gesetze sind zu kompliziert:Ihr Inhalt ist abstrakt, sie sind in einer künstlichen Sprache abgefasst und enthalten Begriffe, dieim täglichen Leben nicht verwendet werden. Das Zivilrecht, das Recht des Alltagslebens, ist fürden Laien kaum noch durchschaubar. Im "Paragrafendschungel" des Steuer- und Sozialrechtsfinden sich selbst Spezialisten nicht mehr zurecht.

• Die Gerichtsverfahren dauern zu lange: Privatrechtliche Streitigkeiten, in denen es auf schnelle Entscheidung ankommt, werden oft erstnach langwierigen Verfahren abgeschlossen, in allzu vielen Fällen erst nach Ausschöpfung desRechtsweges. Kritiker sprechen vom "Rechtswegestaat". Strafprozesse werden vielfach über allezulässigen Instanzen geführt. Manche Prozesse werden regelrecht verschleppt, durch immer neueBeweisanträge, durch zahlreiche Befangenheitsanträge, durch endloses Vorlesen von Urkunden.Es gibt Prozesse, die drei Jahre und länger dauern, enorme Kosten verursachen und dannwomöglich ohne Urteil enden.

• Gerichte entscheiden über politische Fragen: Sie greifen immer mehr in Bereiche ein, die in die Kompetenz der Legislative und der Exekutivefallen. Politische Konflikte werden zu Rechtsstreitigkeiten. Verwaltungsgerichte werden insteigendem Maße angerufen, um Maßnahmen der demokratisch legitimierten Organe, von derAnlage eines Kinderspielplatzes bis zum Bau eines Großflughafens, zu verzögern oder zuverhindern.

Gegen diese Kritikpunkte wird eingewandt:

• Die Klage über die große Zahl von Gesetzen gibt es bereits seit Einführung des BürgerlichenGesetzbuches, das die Rechtsverhältnisse der Industriegesellschaft regeln soll. Die Gesetze sindso kompliziert,weil unsere Lebenswelt kompliziert ist. Den Gerichten ist im politischen System auch eine politischeRolle zugewiesen.

• In der modernen Gesellschaft wird ständig neu geplant und geregelt; daher wächst die Zahl derEingriffe in die Sphäre des Einzelnen. Vor dem Hintergrund einer sich wandelnden politischenKultur nimmt die Bereitschaft der Bürger zu, gegen solche Eingriffe den Schutz der Gerichteanzurufen.

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Justizreform

Reformen des Gerichtswesens zielen darauf ab, die Dauer der Verfahren zu verkürzen und die Gerichtezu entlasten. Um in Zivilverfahren die Zuständigkeit des Amtsgerichts zu erweitern, wurden dieStreitwertgrenzen immer wieder heraufgesetzt, von 1000 DM im Jahre 1950 bis auf 5000 Euro heute.Ebenso wurde die Berufungssumme auf 600 Euro erhöht.

Vorschläge, die darauf abzielen, die Rechtsmittel einzuschränken, etwa Amtsgerichte und Landgerichtezu einem einheitlichen Eingangsgericht zusammenzulegen, sind bisher nicht realisiert worden.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 137-143.

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Bundesverfassungsgericht und Verfassungsgerichteder LänderVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Das Bundesverfassungsgericht ist die Kontrollinstanz für die Verfassungsmäßigkeit despolitischen Lebens. Es interpretiert die Regelungen des Grundgesetzes und passt dieInterpretation immer wieder dem gesellschaftlichen Wandel an.

Das Grundgesetz ist die oberste Richtschnur allen staatlichen Handelns. Eine eigene Institution, dasBundesverfassungsgericht, wacht darüber, dass Parlament, Regierung und Rechtsprechung dieVerfassung einhalten. Als Hüter der Verfassung kann es jeden Akt der gesetzgebenden Gewalt, derRegierung und Verwaltung und jede Entscheidung der Gerichte auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen.Dabei schützt es besonders die Grundrechte der Bürger.

Außer dem Schutz der Verfassung hat das Bundesverfassungsgericht die Aufgabe, das Grundgesetzrechtsverbindlich zu interpretieren. Eine Verfassung enthält nur grundsätzliche und allgemeinformulierte Regeln. Sie muss ständig neu ausgelegt und – dem gesellschaftlichen Wandelentsprechend – fortentwickelt werden. Das Grundgesetz gilt so, wie das Bundesverfassungsgerichtes auslegt. Es gibt kaum einen Artikel, zu dem keine interpretierende Entscheidung des Gerichtsvorläge.

Gericht und Verfassungsorgan

"Das Bundesverfassungsgericht ist ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbstständigerund unabhängiger Gerichtshof des Bundes." So lautet Paragraf 1 Abs. 1 des "Gesetzes über dasBundesverfassungsgericht". Das bedeutet, dass es einerseits ein Gericht und andererseits einVerfassungsorgan ist.

Als Gericht ist es ein Teil der Recht sprechenden Gewalt. Allen anderen Gerichten gegenüber hat eseine einzigartige Stellung. Es ist das höchste Gericht des Bundes, die letzte Instanz für die Kontrolleder Verfassungsmäßigkeit des politischen Lebens. Es kann die Entscheidungen aller anderen Gerichteaufheben, wenn sie der Prüfung auf die Verfassungsmäßigkeit nicht standhalten. SeineEntscheidungen sind für alle verbindlich. Soweit sie die Rechtswirksamkeit von Bundes- undLandesgesetzen betreffen, haben sie sogar Gesetzeskraft und werden im Bundesgesetzblattverkündet.

Die herausragende Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts kommt darin zum Ausdruck, dass esein Verfassungsorgan ist, gleichen Ranges mit den anderen Verfassungsorganen, dem Bundestag,dem Bundesrat, der Bundesregierung und dem Bundespräsidenten.

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Zuständigkeit

Das Bundesverfassungsgericht wird nicht von sich aus tätig, sondern nur auf Antrag, es muss voneiner Person oder Institution angerufen werden.

Seine Zuständigkeit ist in verschiedenen Artikeln des Grundgesetzes geregelt, die wesentlichenAufgaben sind in den umfangreichen Art. 93 und Art. 100 detailliert aufgeführt.

VerfassungsbeschwerdeMit einer Verfassungsbeschwerde kann jeder Bürger das Gericht anrufen, der glaubt, durch dieöffentliche Gewalt in seinen Grundrechten verletzt worden zu sein. Das kann ein Verwaltungsakt, eineGerichtsentscheidung oder auch ein Gesetz sein.

Seit Gründung des Gerichts im September 1951 sind bis Ende 2008 rund 176.000Verfassungsbeschwerden eingegangen. Die tatsächliche Verletzung von Grundrechten ist seltener,als diese Flut von Beschwerden vermuten lassen könnte. Nur 3.094, das sind 1,76 Prozent allerVerfassungsbeschwerden, waren erfolgreich.

Verfassungsbeschwerde kann erst dann eingelegt werden, wenn der Rechtsweg ausgeschöpft ist,das heißt, wenn zuvor alle Instanzen der zuständigen Gerichtsbarkeit angerufen worden sind.Kammern, die mit je drei Bundesverfassungsrichtern besetzt sind, prüfen jede eingereichteBeschwerde auf ihre Zulässigkeit. Die Kammer kann die Beschwerde einstimmig annehmen oder ohneBegründung ablehnen, wenn sie unzulässig oder aussichtslos ist. Die weit überwiegende Mehrheitder Verfassungsbeschwerden scheitert an dieser Hürde.

Verfassungsbeschwerden müssen schriftlich eingereicht werden. Es besteht kein Anwaltszwang. DasVerfahren ist kostenlos. Um zu verhindern, dass das Gericht in offensichtlich unbegründeten Fällen inAnspruch genommen wird, kann in Fällen von Missbrauch eine Gebühr von 2.600 Euro auferlegtwerden.

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Themengrafik Bundesverfassungsgericht: Das Bundesverfassungsgericht übt seine Aufgaben im Rahmenverschiedener Verfahren aus. Zum Öffnen der PDF-Version (83 KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-sa/3.0/de (http://www.bpb.de/system/files/pdf/CEH2X8.pdf)

NormenkontrolleVon großer politischer Bedeutung ist die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für dieNormenkontrolle. Es kontrolliert, ob ein Gesetz, eine Norm, mit dem Grundgesetz übereinstimmt. Esgibt zwei Arten von Verfahren der Normenkontrolle:

• Konkrete NormenkontrolleWenn ein Gericht bei der Verhandlung eines konkreten Falles zu der Überzeugung gelangt, dassdas anzuwendende Gesetz nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, muss es das Verfahrenunterbrechen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (bei Landesgesetzen desLandesverfassungsgerichts) einholen.

So haben beispielsweise 1992 mehrere Gerichte das Bundesverfassungsgericht angerufen, weilsie es für verfassungswidrig hielten, den Umgang mit Haschisch, vom Besitz über die Weitergabebis zum Handel, unter Strafe zu stellen. In seinem viel diskutierten "Haschisch-Urteil" hat dasBundesverfassungsgericht entschieden, dass das einschlägige "Betäubungsmittelgesetz"verfassungsgemäß ist, welches Besitz und Handel mit Haschisch verbietet. Lediglich derEigenverbrauch geringer Mengen von Haschisch kann straffrei bleiben.

In seinem "Extremistenurteil" von 1975 zur Beschäftigung verfassungsfeindlich eingestellterPersonen im öffentlichen Dienst hat das Bundesverfassungsgericht Stellung genommen, nachdemes von einem Landesverwaltungsgericht angerufen worden war.

Das Bundesverfassungsgericht ist bei Anträgen auf konkrete Normenkontrolle zurückhaltend undüberprüft streng die Zulässigkeit. In der Mehrzahl der Fälle wird der Antrag zurückgenommen.

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• Abstrakte NormenkontrolleAuf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder mindestens eines Viertels derBundestagsabgeordneten prüft das Bundesverfassungsgericht, ob Bundes- oder Landesrecht mitdem Grundgesetz vereinbar ist. Das Gericht entscheidet in solchen Verfahren "abstrakt" über dieVerfassungsmäßigkeit eines Gesetzes oder eines Vertrages, bevor das Gesetz in einem"konkreten" Fall angewendet worden bzw. der Vertrag rechtsgültig geworden ist.

Hier geht es um Entscheidungen in wichtigen Fragen, oftmals um zentrale politische Kontroversen.In der Regel wird das Gericht von der parlamentarischen Opposition, entweder von derBundestagsfraktion oder von einer Landesregierung gleicher parteipolitischer Färbung, gegenEntscheidungen der regierenden Mehrheit angerufen. In anderen Fällen klagt die Bundesregierunggegen eine Landesregierung.

So klagte die sozialdemokratische Opposition 1952/53 erfolglos gegen einen finanziellendeutschen Verteidigungsbeitrag an die NATO. Eine Normenkontrollklage der bayerischenStaatsregierung 1973 gegen den Grundlagenvertrag mit der DDR wurde abgewiesen, das Gerichtlegte aber den Vertrag in wichtigen Punkten einschränkend aus. Gesetze in Hamburg undSchleswig-Holstein, die Ausländern das kommunale Wahlrecht einräumen sollten, wurden 1990vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig und damit für nichtig erklärt. Das Gerichthat festgestellt, dass nach dem Grundgesetz nur Deutsche ein Wahlrecht auf Bundes-, Länder-und auch auf kommunaler Ebene ausüben können. Wer Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaatesder Europäischen Union ist, hat jedoch seit dem 1. November 1993 nach dem EU-Vertrag dasRecht, sich bei Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat an dessen Kommunal- und Europawahlen zubeteiligen.

Normenkontrollverfahren waren auch die Streitigkeiten um das Mitbestimmungsgesetz von 1976,die Kriegsdienstverweigerung, die Abtreibung und das Asylrecht.

• Meinungsverschiedenheiten zwischen VerfassungsorganenVerfassungsstreitigkeiten zwischen Verfassungsorganen sind verhältnismäßig selten. Dabei gehtes um Meinungsverschiedenheiten über die Rechte und Pflichten von Bund und Ländern oder umStreitigkeiten zwischen Ländern. Antragsberechtigt sind die Bundesregierung oder dieLandesregierungen.

Auf eine Klage der hessischen Landesregierung hin erging das "Fernsehurteil" von 1961, in demeine von der Bundesregierung in Aussicht genommene "Bundesfernsehanstalt" fürverfassungswidrig erklärt wurde.

Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen des Bundes nennt man Organstreitigkeiten.Prozessparteien können die obersten Bundesorgane (Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung,Bundespräsident), aber auch Bundestagsfraktionen und einzelne Abgeordnete sein, zubestimmten Streitfragen (Zulassung zur Wahl, Parteienfinanzierung, Fünfprozentklausel) auchParteien.

Eine Organklage wurde beispielsweise von vier Bundestagsabgeordneten angestrengt, alsBundeskanzler Kohl 1983 mit dem Instrument der Vertrauensfrage die Auflösung des Bundestagesherbeiführte. Die Frage, ob nicht auf diesem Wege faktisch die Selbstauflösung des Bundestageseingeführt worden sei, die im Grundgesetz nicht vorgesehen ist, verneinte dasBundesverfassungsgericht.

Organklagen waren auch die Klagen der SPD- und FDP-Bundestagsfraktionen gegen dieBundeswehreinsätze in Somalia und bei der militärischen Überwachung des Embargos gegen

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Serbien, über die 1994 vom Bundesverfassungsgericht entschieden worden ist. Von den weiterenZuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts ist vor allem die Aufgabe hervorzuheben, überdie Verfassungsmäßigkeit von Parteien zu entscheiden und gegebenenfalls ein Parteienverbotauszusprechen.

Organisation und Richterwahl

Das Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei Senaten mit je acht Richtern. Die Richter jedesSenates werden je zur Hälfte durch einen Wahlausschuss des Bundestages (zwölf Abgeordnete) undvom Bundesrat jeweils mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Die Amtsdauer der Richter beträgt zwölf Jahre,höchstens bis zum 68. Lebensjahr. Eine Wiederwahl ist nicht zulässig.

Die Bedeutung des Gerichts macht die Besetzung jeder Richterstelle zu einem Politikum. DieKandidaten werden nach einem Proporz von den Fraktionen ausgehandelt. Dabei kommt esgelegentlich zu heftigen Kontroversen, die teilweise in der Öffentlichkeit ausgetragen werden. DasErfordernis der Zweidrittelmehrheit zwingt zu Kompromissen und schließt die Wahl von parteipolitischbesonders exponierten Kandidaten aus.

Die Nähe zu einer Partei hat sich als viel weniger bedeutungsvoll erwiesen, als der Parteienstreitvermuten ließe. Es besteht Übereinstimmung darüber, dass bei der Auswahl der Richter die fachlicheQualifikation die entscheidende Rolle spielt.

Zwischen Recht und Politik

Das Bundesverfassungsgericht genießt ein hohes Maß an Respekt und Ansehen. Umfragen zeigen,dass ihm die Bürger mehr Vertrauen entgegenbringen als den meisten anderen staatlichenInstitutionen.

Es gibt auch Kritik am Bundesverfassungsgericht. Ihm wird vorgeworfen, es urteile über Fragen, dieeigentlich in die Kompetenz des Bundestages fallen, es politisiere die Justiz oder verrechtliche diePolitik.

Naturgemäß können sich Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht nur gegen bestehende Gesetzeoder gegen Entscheidungen der Exekutive richten. Daher ist es in der Regel die Opposition, die dasGericht gegen Beschlüsse der Regierungsmehrheit anruft, um sie auf diesem Wege zu korrigieren,und es ist die Regierungsmehrheit, die sich darüber beklagt.

Tatsächlich sind in der Geschichte der Bundesrepublik die großen politischen Kontroversen und vieleweniger wichtige Streitfragen mit verfassungsrechtlichen Argumenten vor dem Bundesverfassungsgerichtausgetragen worden.

Die Problematik der gerichtlichen Entscheidung politischer Konflikte sieht das Bundesverfassungsgerichtsehr wohl. Es bekennt sich zu dem Grundsatz richterlicher Selbstbeschränkung (judicial self-restraint),der vom amerikanischen Obersten Bundesgericht entwickelt worden ist.

In der Regel liegt es jedoch nicht im Ermessen des Gerichts, die Behandlung einer politischenStreitfrage abzulehnen, wenn es angerufen wird. Man kann auch eine zunehmende Tendenz feststellen,unpopuläre Entscheidungen dem Bundesverfassungsgericht zuzuschieben, weil sie dann in derÖffentlichkeit eher Akzeptanz finden, als wenn sie vom Parlament getroffen werden. DieAuseinandersetzung um den Bundeswehreinsatz außerhalb des NATO-Bereichs ist dafür ein aktuellesBeispiel. Das Bundesverfassungsgericht gibt allerdings immer wieder ungefragt Hinweise, wie es inbestimmten Fragen denkt. Die Referenten in den Ministerien prüfen daher Gesetzesentwürfe daraufhin,ob sie im Falle der Anrufung des Gerichts Bestand haben.

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Die richterliche Selbstbeschränkung kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass das Gericht in derRegel die Übereinstimmung von Gesetzen und Verträgen mit der Verfassung feststellt und bestätigt,was die Politik entschieden hat. Ein neueres Beispiel sind die Entscheidungen zu den Enteignungenzwischen 1945 und 1949 in der damaligen sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Für Besitz,der in diesem Zeitraum enteignet wurde, besteht laut Einigungsvertrag von 1990 kein Anspruch aufRückerstattung oder Entschädigung. Diese Regelung ist vom Bundesverfassungsgericht in zweiEntscheidungen 1991 und 1996 mit der – umstrittenen – Begründung bestätigt worden, anders sei dieWiedervereinigung nicht zu erreichen gewesen.

Das Gericht kann überdies auch eine nur teilweise Verfassungswidrigkeit von Regelungen feststellenoder aber deren verfassungskonforme Auslegung für geboten erachten, wie zum Beispiel in seinerEntscheidung zum Grundlagenvertrag.

Seit 1970 können die Bundesverfassungsrichter, wenn sie mit der Entscheidung der Mehrheit nichtübereinstimmen, ihre abweichende Meinung in einem Sondervotum kundtun und begründen. SolcheSondervoten, die naturgemäß vor allem bei besonders umstrittenen Entscheidungen des Gerichtsabgegeben werden, stoßen in der Öffentlichkeit auf großes Interesse. Sie zeigen, dass derMeinungsbildungs- und Entscheidungsprozess auch in einem solchen Kollegium nicht immer einhelligverläuft. Die Verfassungsrichter bestätigen damit, dass unterschiedliche Auffassungen, die in deröffentlichen Diskussion geäußert werden, auch verfassungsrechtliche Gründe für sich in Anspruchnehmen können, selbst wenn dies im politischen Meinungsstreit oft bestritten wird.

Die Autorität des Bundesverfassungsgerichts beruht darauf, dass seine Urteile von den verschiedenenpolitischen Richtungen akzeptiert werden. Auch wenn an einzelnen Urteilen heftige Kritik geübt wird,herrscht doch der Eindruck vor, das Gericht entscheide unparteiisch und wahre die Balance zwischenRechtsinterpretation und politischer Wertung.

Verfassungsgerichte der Länder

In einem Bundesstaat ist die Staatsgewalt zwischen Bund und Ländern aufgeteilt. Die Länder derBundesrepublik Deutschland haben eigene Verfassungen und jeweils eine eigeneLandesgesetzgebung. Sie haben daher auch eine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit, dieselbstständig neben dem Bundesverfassungsgericht besteht. Schleswig-Holstein hat die Zuständigkeitfür Verfassungsstreitigkeiten dem Bundesverfassungsgericht übertragen (nach Art. 99 GG).

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Themengrafik Gewaltenverschränkung: Die Landesverfassungsgerichte kontrollieren die Gesetzgebung derLänderparlamente und nehmen Klagen der Bürger entgegen. Zum Öffnen der PDF-Version (974 KB) klicken Sie bitteauf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/pdf/I8KTIV.pdf)

Die Landesverfassungsgerichte sind wie das Bundesverfassungsgericht Hüter der Verfassung. Ihrewichtigste Aufgabe ist es, die Vereinbarkeit von Landesgesetzen mit der Landesverfassung zuüberprüfen. Darüber hinaus haben sie unterschiedliche weitere Zuständigkeiten, darunter zumeist dieEntscheidung über Verfassungsbeschwerden.

Der Verfassungsgerichtshof in Rheinland-Pfalz urteilt beispielsweise darüber, ob ein Gesetz oder diesonstige Handlung eines Verfassungsorgans verfassungswidrig ist, ob ein verfassungsänderndesGesetz unzulässig ist und ob die Voraussetzungen für eine Sozialisierung vorliegen, ferner überBeschwerden gegen Entscheidungen des Wahlprüfungsausschusses des Landtages und überAnklagen gegen Mitglieder der Landesregierung.

In Nordrhein-Westfalen liegt ein Schwergewicht der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts in derEntscheidung über Verfassungsbeschwerden der Gemeinden wegen der Verletzung ihresSelbstverwaltungsrechts. Die Verfassungsgerichte der Länder tragen unterschiedlicheBezeichnungen. Sie heißen Staatsgerichtshof, Verfassungsgerichtshof oder Verfassungsgericht.

Da die Landesverfassungsgerichte relativ selten angerufen werden, sind die Richter in der Regel dortnicht ausschließlich tätig, sondern nehmen diese Aufgabe zusätzlich wahr. Zumeist sind esBerufsrichter, die an anderen Gerichten amtieren, zum Teil auch ehrenamtliche Richter, beispielsweiseRechtsprofessoren.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 144-149.

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Deutschland in Europa und der Welt12.4.2010

In der Präambel des Grundgesetzes ist der Wille Deutschlands festgeschrieben, "in einem vereintenEuropa dem Frieden der Welt zu dienen". Dieses Ziel verwirklicht die Bundesrepublik mit derMitgliedschaft in zahlreichen Internationalen Organisationen und Zusammenschlüssen. Herausragendsind dabei die Europäische Union, die NATO und die Vereinten Nationen.

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EuropaVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Der Europarat und die Europäische Union verbinden Deutschland mit den andereneuropäischen Ländern. Während die Europäische Union 27 Mitgliedsstaaten hat, gehören demEuroparat 47 Staaten an.

Das Grundgesetz verkündet schon in der Präambel von 1949 den Verfassungsauftrag, "alsgleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". In Art. 24 bekenntsich das Grundgesetz zu einer "friedliche(n) und dauerhafte(n) Ordnung in Europa und zwischen denVölkern der Welt" und ermächtigt den Bund, "Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen (zu)übertragen" und sich einem "System gegenseitiger kollektiver Sicherheit ein-(zu)ordnen".

Heute ist Deutschland Mitglied zahlreicher internationaler Organisationen, es ist weltweit vielfältigeVerpflichtungen eingegangen.

Europarat

Als erster europäischer Zusammenschluss auf freiheitlich-demokratischer Grundlage wurde 1949 derEuroparat gegründet. Die Bundesrepublik Deutschland trat 1951 bei. 2009 gehörten dem Europarat47 Staaten an, darunter 22 aus dem Bereich des ehemaligen Ostblocks.

Der Europarat ist eine beratende Körperschaft, deren Beschlüsse der Zustimmung der nationalenRegierungen bedürfen. Zahlreiche Vereinbarungen (Konventionen) verpflichten die Mitglieder zurAngleichung ihres Rechtswesens, ihrer Sozial-, Wirtschafts- und Kulturpolitik. Besonders bedeutsamist die 1950 verabschiedete "Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte undGrundfreiheiten". Weitere wichtige Abkommen sind die Europäische Sozialcharta (1961) sowieverschiedene Rechtshilfeabkommen, darunter das Europäische Übereinkommen zur Bekämpfung desTerrorismus (1977).

Die wichtigsten Organe des Europarats sind die Beratende Versammlung (auch ParlamentarischeVersammlung), deren Mitglieder von den Parlamenten der Mitgliedsstaaten bestimmt werden, und dasMinisterkomitee, dem die Außenminister der Mitgliedsstaaten angehören. Sitz des Europarats istStraßburg.

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Europäische Union

Geschichte

Die Bundesrepublik Deutschland gehört mit Frankreich, Italien, Belgien, den Niederlanden undLuxemburg zu den Gründungsmitgliedern der Europäischen Gemeinschaft (EG). Ihre Vorgeschichtereicht bis in das Jahr 1951 zurück, als die sechs Staaten die Europäische Gemeinschaft für Kohle undStahl (EGKS), die Montanunion, gründeten und damit einen gemeinsamen Markt und eine gemeinsameIndustriepolitik für diese damals wichtigsten Grundstoffe vereinbarten. Die Römischen Verträgebegründeten in der Folge am 25. März 1957die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft(EURATOM).

Als erste Stufe schuf die EWG schrittweise eine Zollunion, in der die Zölle im gegenseitigenWarenverkehr abgebaut wurden. Ziel war die Schaffung eines "Gemeinsamen Marktes" mitFreizügigkeit der Arbeitnehmer und freiem Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Die EURATOM solltedie Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie fördern. Die Organe der dreiGemeinschaften EGKS, EWG und EURATOM wurden 1967 zusammengelegt, seither ist dieBezeichnung Europäische Gemeinschaft (EG) üblich.

Die Europäische Gemeinschaft entwickelte eine eigene Dynamik, die sie zum Motor der wirtschaftlichenund zunehmend der politischen Integration Europas werden ließ. Ihre Attraktivität führte zuBeitrittsgesuchen weiterer Länder. 1973 wurden Großbritannien, Dänemark und Irland Mitglieder derEG, Griechenland folgte 1981, Spanien und Portugal schlossen sich 1986 der Gemeinschaft an. 1995sind Österreich, Finnland und Schweden der Europäischen Union (EU) beigetreten, nachdemVolksabstimmungen eine Mehrheit für den Beitritt erbracht hatten. Die Norweger haben sich 1994 mitMehrheit gegen den Beitritt entschieden.

Im Mai 2004 sind der EU weitere zehn Mitglieder beigetreten: Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen,die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern. 2007 folgten Bulgarien und Rumänien. MitKroatien und der Türkei wurden 2005 Beitrittsverhandlungen aufgenommen.Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 151-153.

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Von der EG zur EUVon Horst Pötzsch 15.2.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

1993 trat der Maastrichter Vertrag in Kraft. Mit ihm sollte die Europäische Gemeinschaft zu einerpolitischen Union zusammenwachsen und der gemeinsame Binnenmarkt zu einer Wirtschafts-und Währungsunion werden.

Vertrag von Maastricht

Der Prozess der europäischen Integration hat durch den 1992 in Maastricht geschlossenen Vertragüber die Europäische Union, der 1993 nach Ratifizierung in allen Mitgliedsstaaten in Kraft getreten ist,ein neues Stadium erreicht. Die Europäische Gemeinschaft sollte zu einer politischen Unionzusammenwachsen und der gemeinsame Binnenmarkt zu einer Wirtschafts- und Währungsunionwerden.

Folgende Vereinbarungen dienen diesen Zielen:

• Eine Unionsbürgerschaft gewährleistet völlige Freizügigkeit im Hoheitsgebiet der EuropäischenUnion. Bürger der EU haben das Recht, sich an ihrem Wohnsitz an Kommunal- und Europawahlenzu beteiligen.

• Das Europäische Parlament erhält mehr Kompetenzen. Verordnungen werden künftig vomMinisterrat und vom Parlament beschlossen. Das Parlament kann eine Verordnung in bestimmtenBereichen mit absoluter Mehrheit ablehnen. Die Ernennung der Mitglieder der Kommission wirderst nach der Bestätigung durch das Parlament wirksam. Die Amtsperioden von Parlament undKommission sind künftig gleich.

• Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik soll schrittweise erarbeitet und verwirklichtwerden.

• Eine Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik wird für folgende Gebiete vereinbart:Asylpolitik, Grenzkontrollen, Einwanderungspolitik, Drogenbekämpfung, internationaleKriminalität, Terrorismusbekämpfung.

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Wirtschafts- und Währungsunion

Für die Wirtschafts- und Währungsunion wurden ein Zeitplan und genaue Vorschriften festgelegt:

1998 wurde die Europäische Zentralbank mit Sitz in Frankfurt am Main gegründet. Sie ist unabhängigund dem Ziel der Geldwertstabilität verpflichtet. Die Geldpolitik in den Staaten der Wirtschafts- undWährungsunion liegt in deren Verantwortung.

Der Wirtschafts- und Währungsunion können nur Staaten beitreten, die folgende Voraussetzungenerfüllen: jährliche Neuverschuldung höchstens 3 Prozent, Gesamtverschuldung höchstens 60 Prozentdes Bruttosozialprodukts; Inflationsrate höchstens 1,5 Punkte über dem Durchschnitt der drei Ländermit der niedrigsten Inflationsrate; langjährige Zinsen höchstens 2 Prozent über dem Durchschnitt derdrei Länder mit der niedrigsten Inflationsrate; mindestens zwei Jahre ohne größere Schwankung desWechselkurses der nationalen Währung.

Auch nach dem Beitritt zur Wirtschafts- und Währungsunion müssen die MitgliedsstaatenHaushaltsdisziplin wahren. Überschreitet ihre Neuverschuldung die Obergrenze von 3Prozent desBruttosozialprodukts, können Geldbußen verhängt werden; diese können bis zu einem halben Prozentdes Bruttosozialprodukts ausmachen.

1997 erfüllten elf Staaten die genannten Voraussetzungen und erklärten ihren Beitritt: Belgien,Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal,Spanien.

1999 trat die Wirtschafts- und Währungsunion in Kraft. Die gemeinsame Währung Euro wurde imbargeldlosen Zahlungsverkehr eingeführt (Buchgeld). Die Umrechnungskurse der nationalenWährungen zum Euro traten in Kraft (1 Euro = 1,95583 DM).

Seit dem 1. Januar 2002 ist der Euro das alleinige gesetzliche Zahlungsmittel in derzeit 16 Ländern(siehe Karte auf der nächsten Seite) .

Vertrag von Amsterdam

Der Vertrag von Maastricht sah vor, dass eine Regierungskonferenz 1996 eine Bewertung undgegebenenfalls eine Abänderung des EU-Vertrages vornehmen sollte. Die Überprüfung mündete ineiner Reihe von Änderungsvorschlägen, die 1997 vom Europäischen Rat erörtert wurden. EineKompromisslösung wurde als "Vertrag von Amsterdam" verabschiedet. Er trat 1999 in Kraft.

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Themengrafik Mitgliedsstaaten der EU: Weder im Europäischen Parlament noch im Rat der Europäischen Unionsind die Mitgliedsländer direkt proportional zu ihrer Einwohnerzahl vertreten. Zum Öffnen der PDF-Version (324 KB)klicken Sie bitten auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/mitgliedsstaaten.pdf)

Der Vertrag sieht vor, dass weitere Elemente der Innen- und Justizpolitik ("dritte Säule"), vor allem dieEinwanderungs-, Asyl- und Visapolitik, vergemeinschaftet werden und die Zusammenarbeit vonPolizei- und Justizbehörden intensiviert wird. In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik/GASP("zweite Säule") wurde zwar das neue Amt eines Hohen Vertreters für die GASP (Generalsekretär)geschaffen, substanzielle Fortschritte wurden jedoch nicht erzielt. Entscheidendes Hindernis bleibt dieEinstimmigkeitsklausel, die auf ein Vetorecht jedes einzelnen EU-Mitgliedsstaates hinausläuft.

Gewinner der Amsterdamer Beschlüsse ist das Europäische Parlament. Es kann Entscheidungengleichberechtigt mit dem Europäischen Rat treffen. Bei unterschiedlichen Auffassungen kann dasParlament eine Entscheidung verhindern. Das Parlament hat das Recht, den neu ernanntenPräsidenten der Europäischen Kommission zu bestätigen oder abzulehnen, ebenso das Kollegiumder Kommissionsmitglieder.

Die Position des Kommissionspräsidenten ist gestärkt worden; er verfügt jetzt über eine Art"Richtlinienkompetenz" wie der deutsche Bundeskanzler. Zudem hat er ein Mitspracherecht bei derAuswahl der EU-Kommissare bis hin zur Möglichkeit ihrer Ablehnung.

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Vertrag von Nizza

Die Staaten der EU – anfangs für sechs Mitgliedsstaaten konzipiert – stießen schon mit 15 Mitgliedernan die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit. Auf dem Europäischen Gipfel in Nizza 2000 wurde eineReform der Institutionen beschlossen. In wichtigen Politikfeldern wird im Ministerrat statt der bisherigenEinstimmigkeit die Entscheidung mit qualifizierten Mehrheiten eingeführt. Die Stimmen der einzelnenLänder werden neu gewichtet von 3 (Malta) bis 29 (Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien).Bei einer Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit müssen drei Kriterien erfüllt sein:

• Die Mehrheit der gewichteten Stimmen muss erreicht werden, das sind gegenwärtig 72,3 Prozent.

• Die Mehrheit der Mitgliedsstaaten muss zustimmen.

• Die Mehrheit muss 62 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.

Organe und Funktionen

Die Kommission vertritt die gemeinsamen Interessen der EU. Sie plant die Gemeinschaftspolitik,schlägt dem Ministerrat Verordnungen vor und führt die Entscheidungen aus. Als "Hüterin der Verträge"überwacht sie die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts. Die Kommission besteht aus Mitgliedern, diealle Beschlüsse gemeinsam fassen.

Der Ministerrat ist das "Gesetzgebungsorgan" der EU. Er besteht aus den Ministern derMitgliedsstaaten; die Regierungen entsenden zu den Beratungen jeweils den zuständigenFachminister. Damit ist sichergestellt, dass im Gesetzgebungs-(Verordnungs-) verfahren die Rechteder Einzelstaaten gewahrt werden. Sitz von Kommission und Ministerrat ist Brüssel.

Themengrafik Europaparlament: Die Kompetenzen und Befugnisse des Europäischen Parlaments gliedern sich indie drei Kompetenzbereiche: Gesetzgebung, Haushalt und Kontrollbefugnisse. Zum Öffnen der PDF-Version (138KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/parlament.pdf)

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Das Europäische Parlament wirkt an der Gesetzgebung mit. In den meisten Politikfeldern wird dasMitentscheidungsverfahren angewendet. Gesetze, die bisher nur der Ministerrat einbringen kann,müssen von Rat und Parlament gemeinsam verabschiedet werden. Bei Nichteinigung kann einVermittlungsausschuss angerufen werden. Parlament und Rat verabschieden gemeinsam denHaushalt und kontrollieren die Ausgaben. Das Parlament stimmt der Benennung derKommissionsmitglieder zu und kann den Rücktritt der Kommissare durch ein Misstrauensvotumerzwingen. Seit 1979 dürfen die Bürger der EU ihr Parlament direkt wählen. Eine Wahlperiode dauertfünf Jahre. Die letzte Wahl zum Europäischen Parlament fand in den 27 Mitgliedsstaaten am 7. Juni2009 statt. Es wurden 736 Abgeordneten gewählt, die übernationale Fraktionen gleicher politischerAusrichtung bilden. Die Sitze sind grundsätzlich im Verhältnis zur Bevölkerung eines jeden Landesverteilt. Deutschland stellt mit 99 Abgeordneten die größte Gruppe, gefolgt von Frankreich, Italien undGroßbritannien (je 78 Sitze). Malta entsendet mit 5 Abgeordneten die kleinste Gruppe. DiePlenarsitzungen werden in Straßburg abgehalten.

Als Europäischer Rat treten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten der EuropäischenUnion jährlich mindestens zweimal zusammen, um die Entwicklung der Union voranzutreiben und diepolitischen Ziele und Leitlinien dieser Entwicklung festzulegen. Der Europäische Rat ist rechtlich keinOrgan der EU, tatsächlich trifft er die wesentlichen Grundsatzentscheidungen.

Der Europäische Gerichtshof sorgt für die Einhaltung und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts.Er schlichtet Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern und entscheidet über Klagen gegenVertragsverletzungen. Jeder Mitgliedsstaat entsendet einen Richter. Der Sitz ist Luxemburg.

Grundgesetz und Europäische Union

Die Schaffung der Europäischen Union mit umfassenden rechtlichen Zuständigkeiten in derWirtschafts- und Währungspolitik, künftig auch in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie in der Innen-und Rechtspolitik hat tief greifende Auswirkungen auf die Verfassungsordnung der Bundesrepublik.So musste Art. 24 GG, der die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungenerlaubt, konkretisiert werden. Der 1992 neu eingeführte Art. 23 stellt den europäischenIntegrationsprozess auf eine eigene verfassungsrechtliche Grundlage.

Artikel 23(1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei derEntwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen undföderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesemGrundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzudurch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung derEuropäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbareRegelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solcheÄnderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3.(2) In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat dieLänder mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zumfrühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten.

Dieser Artikel schafft ein System des Zusammenwirkens von Bund und Ländern bei der europäischenIntegration. Die Europapolitik liegt nicht mehr in der ausschließlichen Zuständigkeit des Bundes,sondern wird gemeinsam durch Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat bestimmt. Damit werdenvor allem die Befürchtungen der Bundesländer ausgeräumt, dass die Übertragung von Hoheitsrechtenauf die Europäische Union ihre Kompetenzen immer mehr aushöhlen könnte.

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Themengrafik Deutschland in der EU: Die EU-Politik spielt eine wichtige Rolle bei Gesetzen und Rechtsakten. Anderen Entstehung wirken Deutschland und die anderen Mitgliedsstaaten mit. Zum Öffnen der PDF-Version (261 KB)klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/19-Deutschland-Europa.pdf)

Art. 23 legt in Abs. 4–6 fest, dass künftig jedwede Übertragung von Hoheitsrechten auf die EuropäischeUnion der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Die Beteiligung des Bundesrates ist genau festgelegt.Sie richtet sich abgestuft nach den Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern imGrundgesetz. Sofern der Bund ausschließlich zuständig ist, hat die Bundesregierung dieStellungnahme des Bundesrates lediglich zu berücksichtigen. Wenn ausschließlicheGesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind, werden – als stärkste Mitwirkung – die Rechteder Bundesrepublik Deutschland von einem Vertreter der Länder wahrgenommen. Die Mitwirkung desBundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union wird durch Art. 23 Abs. 3 geregelt. DieBundesregierung hat den Bundestag – ebenso wie den Bundesrat – umfassend und zumfrühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, die siebei den Verhandlungen zu berücksichtigen hat. Insgesamt ist durch die Verfassungsänderung imZusammenhang mit der Gründung der Europäischen Union eine wesentliche Stärkung desbundesstaatlichen Elements erfolgt.

Begleitgesetze, die noch während der 16. Legislaturperiode infolge eines Urteils desBundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 zum Vertrag von Lissabon verabschiedet wurden,konkretisieren die künftige Zusammenarbeit von Parlament und Bundesregierung und stärken dieMitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat in europäischen Angelegenheiten.

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Grenzüberschreitende Zusammenarbeit

Eine Ergänzung des Artikels 24 GG sieht vor, dass Bundesländer Hoheitsbefugnisse auf"grenznachbarschaftliche" Einrichtungen übertragen können. Eine solche Zusammenarbeit wird schonseit Langem auf vielfältige Weise praktiziert, so von Nordrhein-Westfalen mit den benachbartenniederländischen Grenzregionen seit 1965 ("Euregio") und von Rheinland-Pfalz mit Belgien(Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, Wallonien), Luxemburg und Frankreich (Elsass,Lothringen).

Der Vertrag von Maastricht über die Europäische Union sieht die Einrichtung eines Ausschusses derRegionen mit beratenden Befugnissen vor. Dieser nahm 1994 seine Tätigkeit auf.

Perspektiven für die Zukunft

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht die Europäische Union vor großen Herausforderungen. Die Zahlder Mitglieder hat sich auf 27 erhöht, die Zahl ihrer Einwohner ist auf 500 Millionen gestiegen. Andersals bei den bisherigen Erweiterungsrunden liegen die 2004 und 2007 beigetretenen Länder in ihrerwirtschaftlichen Entwicklung zum Teil weit hinter dem bisherigen EU-Durchschnitt zurück. DieAngleichung des Lebensstandards wird Jahrzehnte dauern und enorme Summen erfordern. Diebisherige Agrarmarktordnung und die Strukturpolitik zur Verringerung des Wohlstandsgefälleszwischen reicheren und ärmeren Regionen, die die Hälfte bzw. ein Drittel des EU-Haushaltesausmachen, waren schon für die Union der 15 nicht mehr finanzierbar.

Eine solch große Erweitung macht es erforderlich, die Zusammensetzung und die Funktionsweise dereuropäischen Institutionen so zu verändern, dass die Handlungsfähigkeit gesichert bleibt. Es lag nahe,die Gelegenheit zu nutzen, die bisherigen Verträge, den EG-Vertrag und den EU-Vertrag, mit ihrenzahlreichen komplizierten Bestimmungen, Protokollen und Erklärungen in einem einzigen Vertragzusammenzufassen. So arbeitete ein von den europäischen Staats- und Regierungschefs eingesetzterKonvent einen "Vertrag über eine Verfassung für Europa" aus, mit dem Ziel, die bisherigenZuständigkeiten, Verfahren und Entscheidungsabläufe demokratischer, transparenter und effizienterzu gestalten. Er wurde 2004 in Rom unterzeichnet.

Der Europäische Rat sollte laut Verfassungsvertrag einen von den Ratsmitgliedern auf zweieinhalbJahre gewählten Präsidenten erhalten. Dadurch sollte im Vergleich zu dem bisher halbjährlichenWechsel in der Ratspräsidentschaft für größere Kontinuität gesorgt werden. Bei Entscheidungen imEuropäischen Rat sollte zukünftig statt Einstimmigkeit eine qualifizierte Mehrheit erforderlich sein:Einem Beschluss müssen mindestens 55 Prozent der Mitgliedsstaaten zustimmen, die zugleich 65Prozent der Bevölkerung repräsentieren ("Doppelte Mehrheit").

Die Zahl der Europäischen Kommissare wurde im Vertrag begrenzt. Zuvor war jeder Mitgliedsstaat inder Kommission vertreten. Ab 2014 waren nur noch 18 statt bisher 27 Kommissare vorgesehen.

Das Europäische Parlament sollte gestärkt und seine Kompetenzen ausgeweitet werden. Es sollteüber das Recht der Mitbestimmung in 92 statt bisher 35 Politikbereichen verfügen. Auch sah derVerfassungsvertrag die Mitentscheidung des Parlaments über alle Ausgaben der Union vor, andersals zuvor auch für den Agrarsektor. Schließlich sollte es den Präsidenten der Europäischen Kommissionwählen, allerdings auf Vorschlag des Europäischen Rates.

Des Weiteren wurde im Verfassungsvertrag eine klarere Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischenEU und Mitgliedsstaaten festgelegt. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sollte gestärkt unddas Amt eines Europäischen Außenministers geschaffen werden. Außerdem war die Aufnahme derCharta der Grundrechte in die Verfassung und die Einführung eines europäischen Bürgerbegehrensvorgesehen.

Der "Vertrag über eine Verfassung für Europa" wurde bis 2005 von der Mehrheit der Mitgliedsstaaten

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ratifiziert. In Frankreich fand eine Volksabstimmung statt, bei der 54,8 Prozent der Abstimmendengegen die Verfassung votierten. Eine Volksabstimmung in den Niederlanden ergab sogar 61,6 ProzentNeinstimmen. Damit war das Verfassungsprojekt gescheitert.

Vertrag von Lissabon

Ein neuer Anfang wurde mit dem Vertrag von Lissabon unternommen. Auf dem EU-Gipfel in Brüsselim Juni 2007 einigten sich die EU-Mitglieder auf einen neuen Vertragsrahmen. Der Begriff derVerfassung wurde dabei aufgegeben. Stattdessen soll die Gemeinschaft wie bisher auf den beidengültigen Verträgen beruhen, dem EU-Vertrag und dem EG-Vertrag, der in "Vertrag über die Arbeitsweiseder Europäischen Union" umbenannt wurde. In die beiden Verträge wurde die Substanz desabgelehnten Verfassungsvertrages eingearbeitet.

Das Ziel des Lissabonner Vertrages ist es, die EU demokratischer, transparenter und effizienter zu machen. ZumÖffnen der PDF-Version (167 KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/LV.pdf)

Um bei allen Mitgliedstaaten Zustimmung zu finden, wurden für den neuen Vertragstext einigeKompromisse gefunden:

• Auf Drängen Polens wird der Abstimmungsmodus im Europäischen Rat nach doppelter Mehrheiterst ab 2014 eingeführt; selbst danach kann noch bis 2017 eine Abstimmung nach den Regelnvon Nizza eingefordert werden, um eine Niederlage zu verhindern.

• Die Charta der Grundrechte ist selbst nicht Teil des Vertrages, sie erhält laut Vertrag aber volleRechtsverbindlichkeit und primärrechtlichen Rang. Für die Rechtskraft der Charta inGroßbritannien, Tschechien und Polen wurden Ausnahmeregelungen getroffen.

• Auf Wunsch Großbritanniens wird es außerdem keinen EU-Außenminister geben. DerSpitzendiplomat, der die Posten des bisherigen EU-Außenbeauftragten und des bisherigen

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Außenkommissars in einer Person bündeln wird, heißt zufünftig "Hoher Vertreter der Union fürdie Außen- und Sicherheitspolitik".

• Schließlich wird im Vertrag von Lissabon darauf verzichtet, europäische Symbole wie Flagge undHymne zu bestimmen.

Der Vertrag von Lissabon tritt erst in Kraft, wenn alle 27 Mitgliedsstaaten ihn ratifiziert haben.Ursprünglich sollte dies bereits zum 1. Januar 2009 der Fall gewesen sein. Durch ein negativesReferendum in Irland im Juni 2008 sowie durch Verfahren vor Verfassungsgerichten einiger Länderkam es jedoch zu Verzögerungen. Nach der Unterzeichnung des Vertrages durch den tschechischenPräsidenten, Václav Klaus, im November 2009 kann der Vertrag zum 1. Dezember 2009 in Kraft treten.

Es gilt als sicher, dass der Vertrag von Lissabon von den Bürgern einer Reihe europäischer Staaten,nicht zuletzt Deutschland, abgelehnt worden wäre, hätten sie nur die Möglichkeit gehabt, ihre Meinungin einer Abstimmung zu äußern so wie es beim ersten Referendum 2008 in Irland geschah. Das heißtkeineswegs, dass die Völker Europas gegen Europa eingestellt wären. Das "Eurobarometer", die inregelmäßigen Abständen wiederholte Meinungsumfrage zur Einschätzung der EU, weist im Frühjahr2008 aus, dass 48 Prozent der Europäer ein positives Bild von Europa haben (Deutschland 44 Prozent).Nur 15 Prozent der Voten sind negativ, 35 Prozent sind "neutral", also weder positiv noch negativ.Ausgerechnet in Irland haben 65 Prozent eine positive Meinung, die zweithöchste Zustimmungsratenach Rumänien mit 67 Prozent.

Die EU wird jedoch von weiten Teilen der Bevölkerung, nicht zuletzt von überzeugtenEuropaanhängern, als die übermächtige und unkontrollierte Bürokratie in Brüssel wahrgenommen,die immer mehr Kompetenzen an sich zieht, ohne das Prinzip der Subsidiarität zu beachten. Das wirdals "schleichender Souveränitätsverlust" (Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder) erfahren, denn 84Prozent der deutschen Rechtsakte kommen inzwischen aus Brüssel. Das Europäische Parlamentverfügt nicht über wirkliche Kontrollkompetenzen. Alt-Bundespräsident Roman Herzog, ehemaligerPräsident des Bundesverfassungsgerichts, stellte 2007 fest: "Die institutionellen Strukturen der EUleiden in Besorgnis erregender Weise unter einem Demokratiedefizit und einer faktischen Aufhebungder Gewaltenteilung."

Auch die immer weitere Ausdehnung der EU stößt an die Grenzen der Akzeptanz der Bevölkerung.2005 sind Beitrittsverhandlungen mit Kroatien und der Türkei aufgenommen worden. Mazedonien hatden Status eines Beitrittskandidaten. Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro und Albanien habeneine prinzipielle Beitrittszusage. Vor allem der Beitritt der Türkei wird kontrovers diskutiert.Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 154-163.

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NATOVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Mit der Blockade der Westsektoren Berlins erreichte der Ost-West-Konflikt 1948/49 einen erstenHöhepunkt. Als Reaktion darauf entstand 1949 der Nordatlantikpakt: ein Verteidigungsbündnis,das sich seit 1999 auch auf Osteuropa ausgedehnt hat.

Die NATO (North Atlantic Treaty Organization – Nordatlantikpakt) entstand 1949 im Zuge des sichverschärfenden Ost-West-Konflikts, der mit der Blockade der Westsektoren Berlins 1948/49 einenersten Höhepunkt erreicht hatte. Gründungsmitglieder waren zehn westeuropäische Staaten, die USAund Kanada. Die Bundesrepublik Deutschland trat 1955 bei. Seit 2004 gehören 26 Staaten der NATOan. Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis. Die Vertragspartner haben sich verpflichtet, inÜbereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen "ihre Bemühungen für die gemeinsameVerteidigung und die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen", so in der Präambeldes NATO-Vertrages, und in Art. 1 "sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltanwendungzu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist".

Im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen einen oder mehrere Mitgliedsstaaten sind die anderenverpflichtet, die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, zu treffen, "die sie fürerforderlich halten, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebietes wieder herzustellen und zuerhalten" (Art. 5 NATO-Vertrag). Die NATO versteht sich nicht nur als militärisches Bündnis, sondernauch als eine Wertegemeinschaft. Ihr Ziel ist es, "die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisationihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft desRechts beruhen, zu gewährleisten" (Präambel).

Organe

Die NATO gliedert sich in eine politische und in eine militärische Organisation. Der politischen gehörenalle 26 Mitgliedsstaaten an. Sie bilden das politische Führungsorgan, den Nordatlantikrat aus denRegierungschefs oder den Verteidigungsministern, der zweimal jährlich unter dem Vorsitz des NATO-Generalsekretärs tagt. Ein ständiger NATO-Rat besteht aus den NATO-Botschaftern derMitgliedsstaaten. Höchstes militärisches Organ ist der Militärausschuss, das gemeinsameOberkommando in Friedenszeiten. Ihm gehören die Chefs der Generalstäbe – für die Bundeswehrder Generalinspekteur – an. Im Juni 1996 hat Frankreich seine Rückkehr in die militärische Organisationder NATO erklärt.

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Themengrafik Internationale Organisationen: In der deutschen Außenpolitik spielen internationale Organisationenwie die NATO eine große Rolle. Zum Öffnen der PDF-Version (299 KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/20-Deutschland-International.pdf)

Deutschland in der NATO

Die Stellung Deutschlands in der NATO unterscheidet sich von der anderer Mitglieder:

• Alle Streitkräfte, außer der Territorialverteidigung, unterstehen der integrierten Kommandostrukturder NATO.

• Die Bundeswehr verfügt über keinen Generalstab.

• Die Bundesrepublik hat auf die Produktion und den Erwerb von Atomwaffen verzichtet.

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Die Zukunft der NATO

Die NATO hat 50 Jahre lang den Frieden in Europa gesichert. Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktsund der Auflösung des Warschauer Pakts existiert die bisherige Bedrohung nicht mehr.

Neue Konflikte entstanden durch den Zerfall Jugoslawiens. Im Krieg um Bosnien-Herzegowinaunterstützte die NATO erstmals außerhalb des Bündnisgebietes die Friedenstruppen der VereintenNationen mit Lufteinsätzen. Der Kosovo-Krieg wurde sogar unter Führung der NATO ausgetragen.

Inzwischen sieht sich die NATO vor neue Herausforderungen gestellt: die Bedrohung durch denorganisierten internationalen Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. DerTerrorangriff fanatischer Selbstmordattentäter am 11. September 2001 gegen die USA löste dieBeistandspflicht der NATO aus. Die Militäraktion gegen das Netzwerk der Al Qaida und das Taliban-Regime in Afghanistan wurde jedoch weitgehend von amerikanischen Streitkräften bestritten. Fürkünftige weltweite Einsätze ist eine multinationale Eingreiftruppe (NATO Response Force-NRF)gebildet worden. Sie umfasst 2008 25.000 Soldaten. Die NRF ist keine eigenständige Truppe. Dieteilnehmenden NATO-Mitglieder halten vielmehr Truppenteile in erhöhter Bereitschaft, sodass siejederzeit für Einsätze und Übungen zur Verfügung stehen. Von weltgeschichtlicher Bedeutung ist dieAusdehnung der NATO auf Osteuropa. Waren bereits 1999 mit Polen, Tschechien und Ungarn frühereMitglieder des Warschauer Paktes aufgenommen worden, so folgten zum 1. Januar 2004 Bulgarien,Rumänien, Slowenien und die Slowakei. Mit Estland, Lettland und Litauen traten dann auch frühereSowjetrepubliken dem Bündnis bei. Der Beitritt neuer Mitglieder wird erwartet. Weitere Staaten strebeneinen Beitritt an.Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 164-165

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Vereinte NationenVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Die Vereinten Nationen haben sich die Wahrung des Weltfriedens und der internationalenSicherheit auf Grundlage der Menschenrechte zum Ziel gesetzt. Kritik richtet sich vor allemgegen die Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrates.

Die Vereinten Nationen (United Nations Organization – UNO) sind 1945 gegründet worden.Gründungsmitglieder waren 51 Staaten, die sich mit Deutschland im Kriegszustand befunden hatten.2009 gehörten den Vereinten Nationen 192 Staaten an, das sind fast alle Staaten der Welt, mitAusnahme beispielsweise Taiwans und der Vatikanstadt.

Präambel

Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen,

• künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeitenunsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,

• unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichenPersönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob großoder klein, erneut zu bekräftigen,

• Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungenaus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können,

• den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, undfür diese Zwecke Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben,

• unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren,

• Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nurnoch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und

• internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialenFortschritt aller Völker zu fördern

– haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.

Ziel der Vereinten Nationen ist die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit aufder Grundlage der Menschenrechte durch freundschaftliche Zusammenarbeit aller Mitglieder, durch

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friedliche Schlichtung aller Streitigkeiten, durch Verzicht auf Gewaltanwendung und durchUnterstützung von Maßnahmen zur Erhaltung des Friedens. Die Vereinten Nationen haben sichverpflichtet, das Prinzip der nationalen Souveränität zu wahren und nicht in Angelegenheiteneinzugreifen, die "zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören". Die Grundsätze, die ihre Tätigkeitbestimmen, sind in der UN-Charta vom 26. Juni 1945 sowie in den beiden Menschenrechtspakten"über bürgerliche und politische Rechte" und "über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte"festgelegt, die 1966 verabschiedet worden sind.

Organe

Die Generalversammlung, das zentrale politische Beratungsorgan der Vereinten Nationen, bestehtaus den Vertretern aller Mitgliedsstaaten mit je einer Stimme. Sie kann nur Empfehlungen aussprechen.

Das bedeutendste Organ ist der Sicherheitsrat. Er kann für alle Mitglieder verbindliche Beschlüssefassen, zum Beispiel Sanktionen verhängen oder UN-Friedenstruppen ("Blauhelme") entsenden.

Der Sicherheitsrat hat fünf ständige Mitglieder (USA, Russland, Großbritannien, Frankreich,Volksrepublik China) und zehn von der Generalversammlung für zwei Jahre gewählte nicht ständigeMitglieder. Beschlüsse bedürfen der Zustimmung von mindestens neun Mitgliedern, darunter die allerständigen Mitglieder. Jedes ständige Mitglied kann also durch einen Einspruch (Veto) dasZustandekommen eines Beschlusses allein verhindern.

Ausführendes Organ ist das Sekretariat mit dem Generalsekretär an der Spitze. Sitz der VereintenNationen ist New York.

Der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) ist ein Hilfsorgan der Generalversammlung, zuständig für"internationale Angelegenheiten auf den Gebieten der Wirtschaft, des Sozialwesens, der Kultur, derErziehung, der Gesundheit". Er kann dazu Untersuchungen durchführen, Konferenzen einberufen,Abkommen entwerfen und "Empfehlungen abgeben, um die Achtung und Verwirklichung derMenschenrechte und Grundfreiheiten für alle zu fördern" (Art. 62 UN-Charta).

Die Sonderorganisationen der UNO sind Fachorgane auf der Grundlage zwischenstaatlicherVereinbarungen, die zum Teil schon vor Gründung der Vereinten Nationen entstanden waren (wie derWeltpostverein oder die Internationale Arbeitsorganisation). Die Sonderorganisationen verfügen übereinen eigenen Haushalt, der durch Zahlungen der Mitgliedsstaaten finanziert wird.

Deutschland in den Vereinten Nationen

Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR traten 1973 den Vereinten Nationen bei. Mit derWiederherstellung der deutschen Einheit entfiel die Mitgliedschaft der DDR.

Die Bundesrepublik war nach ihrem Beitritt vollgültiges Mitglied der Vereinten Nationen mit allenRechten und Pflichten. Sie beteiligte sich jedoch mit Rücksicht auf die Teilung Deutschlands und dieeingeschränkte Souveränität nicht an "friedenserhaltenden Maßnahmen" der UN, das heißt anEinsätzen von UN-Friedenstruppen ("Blauhelmen"). Vom wiedervereinigten Deutschland erwartet dieinternationale Staatengemeinschaft auch auf diesem Felde einen angemessenen Beitrag.

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In der deutschen Außenpolitik spielen internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen eine große Rolle.Zum Öffnen der PDF-Version (299 KB) klicken Sie bitte auf das Bild. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/20-Deutschland-International.pdf)

Der Einsatz von deutschen Streitkräften außerhalb des NATO-Bereichs war umstritten. Der Streit gingdarum, ob hierzu die Verfassung geändert werden müsse, ob zumindest die Zustimmung desBundestages erforderlich sei oder ob die Bundesregierung dies allein entscheiden könne.

Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 entschieden, dass grundsätzlich vorher ein Beschluss desBundestages erfolgen müsse. Die Regierung könne "bei Gefahr im Verzuge" die Entsendung vonStreitkräften anordnen, müsse aber umgehend den Bundestag mit der Angelegenheit befassen. Wennder Bundestag nicht zustimme, seien die Streitkräfte zurückzurufen.

Kritik an den Vereinten Nationen

Kritik richtet sich vor allem gegen die Zusammensetzung des Sicherheitsrates. Ständige Mitgliedersind die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges. Nähme man die Einwohnerzahl als Kriterium fürständige Mitgliedschaft, so haben etwa ein Dutzend Länder mehr Einwohner als Großbritannien undFrankreich, darunter Indien, Brasilien, Japan und Deutschland. Die fünf ständigen Mitglieder tragenseit 2002 37 Prozent zum regulären Haushalt der Vereinten Nationen bei. Auf Japan entfallen 20, aufDeutschland 10 Prozent. Eine Erweiterung des Sicherheitsrates würde natürlich zu einer Machteinbußeder bisher bevorzugten Mitglieder führen. Sie sind daher keineswegs gewillt, dem zuzustimmen. Kritikentzündet sich auch an den Privilegien der ständigen Mitglieder, von denen sie reichlich Gebrauchmachen. So nutzen vor allem die USA und die frühere Sowjetunion, jetzt Russland, ihr Vetorecht, umBeschlüsse, die sich gegen ihre Interessen oder die Interessen befreundeter Staaten richten, zuverhindern.

Um den Sicherheitsrat an die geopolitischen Realitäten des 21. Jahrhunderts anzupassen, befürwortenund fordern die Mehrheit der Staaten – so auch Deutschland – eine Erweiterung des Rates um ständige

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und nichtständige Sitze. Denn sowohl wesentliche Regionen, wie Afrika, Asien und Lateinamerika, alsauch Staaten wie Japan und Deutschland, die erhebliche Beiträge für die Vereinten Nationen leisten,sind nicht angemessen vertreten. Bisher vorgelegte Reformkonzepte scheiterten an dergrundsätzlichen Uneinigkeit unter den Staaten über die Größe und Zusammensetzung desSicherheitsrates. Auch Deutschland bemüht sich um einen ständigen Sitz im Rat.

Eine so große Organisation wie die UN läuft Gefahr, schwerfällig zu werden. So zielten 1997 eingeleiteteReformen vor allem auf ein effizienteres Management und Einsparungen bei Personal undVerwaltungskosten zugunsten von Entwicklungsprogrammen ab.

2005 legte der Generalsekretär Kofi Annan erneut Reformpläne vor, die neben der Erweiterung desSicherheitsrates auf 25 Mitglieder die Ersetzung der Genfer Menschrechtskommission durch einenneuen Menschenrechtsrat mit erweiterten Befugnissen (verwirklicht) sowie eine Erweiterung derBefugnisse des Generalsekretärs in Personal- und Haushaltsfragen und eine Straffung der UN-Verwaltung vorsahen. 2006 lehnten die Gruppen der Entwicklungs- und Schwellenländer diesen Planmit 108 gegen 50 Stimmen (der USA, der EU-Länder und Japans) ab, da sie von der Zentralisierungder Organisation einen Verlust ihres Einflusses befürchteten.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 166-169.

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Deutsche Nationalsymbole12.4.2010

Wappen, Flaggen und Hymnen sind Symbole für die Zusammengehörigkeit. Auf Länder- undBundesebene, aber auch für die europäische Integration spielen sie eine wichtige Rolle. Während dienationalen Zeichen aus dem 19. Jahrhundert stammen, greift die europäische Flagge auf eine ältereSymbolik zurück.

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EinleitungVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Flaggen und Wappen sind Sinnbilder der nationalen Zusammengehörigkeit. Die deutschenFarben Schwarz-Rot-Gold stehen seit dem 19. Jahrhundert für die Freiheit und die nationaleEinheit aller Deutschen.

Jede Staatsform bedient sich politischer Symbole. Flaggen und Wappen sind Sinnbilder der nationalenZusammengehörigkeit. Es sind Zeichen der Identifikation mit dem Gemeinwesen, für das siestellvertretend stehen. Die Französische Revolution schuf mit der Trikolore, der dreifarbigen Fahne,ein Symbol des Staates, der sich auf die Volkssouveränität gründet. Auch die deutschen FarbenSchwarz-Rot-Gold haben einen revolutionären Ursprung. Sie stehen seit dem 19. Jahrhundert für dieFreiheit und die nationale Einheit aller Deutschen. Im Herbst des Jahres 1989 waren auf den Straßenund Plätzen Leipzigs und vieler anderer Orte schwarz-rot-goldene Fahnen zu sehen. Sie kündetenvon dem Verlangen des Volkes nach Einheit in Freiheit.

Die bundesstaatliche Struktur findet in den Wappen und Flaggen der Länder Ausdruck. In ihnen wirddie traditionelle Vielfalt der deutschen Regionen und Stämme deutlich. Wie stark diese Traditionenverankert sind, zeigte sich, als schon kurz nach der friedlichen Revolution in der DDR die weiß-grüneFahne Sachsens, die weiß-rote Thüringens und die der anderen Länder gehisst wurden.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 170-171.

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Wappen, Flagge und HymneVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Wappen, Flagge und Hymne der Bundesrepublik haben ihren Ursprung im 19. Jahrhundert:Das "Lied der Deutschen" wurde 1841 verfasst, Schwarz-Rot-Gold 1848 zur Fahne desDeutschen Bundes erklärt und der einköpfige Adler 1871 als Staatswappen des DeutschenReiches eingeführt.

Bundeswappen

Der Adler, das Wappentier des Bundeswappens, war das Herrschaftszeichen der römischen Kaiser.Als Karl der Große das römische Kaiserreich erneuerte, übernahm er dieses Symbol kaiserlicherMacht. Die späteren deutschen Herrscher waren zumeist gleichzeitig deutsche Könige und römischeKaiser. Als deutscher König führte der Herrscher den einköpfigen, als römischer Kaiser dendoppelköpfigen Adler. Nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 gingder Doppeladler auf die österreichische Monarchie über. Der einköpfige Adler wurde zum Staatswappendes 1871 gegründeten Deutschen Reiches, 1919 – schon in der heutigen Form – auch von der WeimarerRepublik übernommen. 1950 bestimmte Bundespräsident Theodor Heuss den Adler als Staatswappender Bundesrepublik Deutschland.

Bundesflagge

Die Farben Schwarz-Rot-Gold dienten erstmals auf dem Wartburgfest 1817 als Erkennungszeichender deutschen Burschenschaft. Diese studentische Vereinigung hatte sich dem Kampf für nationaleEinheit und politische Freiheit in Deutschland verschrieben. Im Revolutionsjahr 1848 bestimmte dieFrankfurter Nationalversammlung Schwarz-Rot-Gold zur Fahne des Deutschen Bundes.

Das von Bismarck gegründete Deutsche Reich gab sich die Fahne Schwarz-Weiß-Rot. Die WeimarerRepublik versuchte einen Kompromiss zwischen den beiden Fahnen: Schwarz-Rot-Gold alsReichsfarben und Schwarz-Weiß-Rot "mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke" alsHandelsflagge. Entfesselt wurde damit aber nur ein endloser "Flaggenstreit". Für denParlamentarischen Rat war es selbstverständlich, dass die Tradition von Schwarz-Rot-Gold als Farbender Einheit und Freiheit wieder aufgenommen wurde. Art. 22 GG bestimmt: "Die Bundesflagge istschwarz-rot-gold."

In der Praxis wird Gold durch Gelb ersetzt, ebenso wie Silber durch Weiß. Als heraldische Farben(Wappenfarben) sind Gold und Gelb sowie Silber und Weiß gleichwertig.

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Die deutsche Nationalhymne

Zu den äußeren Zeichen der Verbundenheit des Bürgers mit seinem Staat gehört eine Hymne, die beifeierlichen Anlässen gemeinsam gesungen wird. Wie die Flagge der Bundesrepublik Deutschland gehtauch die Nationalhymne auf die Zeit vor der Revolution von 1848 zurück: Der Text des "Liedes derDeutschen" wurde im Jahre 1841 auf der Insel Helgoland von August Heinrich Hoffmann vonFallersleben zu einer Melodie von Joseph Haydn verfasst. Er bringt angesichts der damaligenpolitischen Zersplitterung in Deutschland die Sehnsucht der deutschen Bevölkerung nach einemgeeinten Vaterland zum Ausdruck.

Nach dem Ersten Weltkrieg erhob der erste Reichspräsident der Weimarer Republik, Friedrich Ebert,das "Lied der Deutschen" zur deutschen Nationalhymne. Die erste Strophe des Deutschlandliedeswurde, vor allem auch im Ausland, vielfach verkannt und missdeutet. Der als Aufruf gemeinteEinleitungssatz dieser Strophe: "Deutschland, Deutschland über alles" konnte jedoch in der Zeit derpolitischen Uneinigkeit, in der Hoffmann von Fallersleben lebte, nur als ein Bekenntnis verstandenwerden, für das noch nicht geschaffene einige Deutsche Reich die besten Kräfte und Gefühleeinzusetzen.

Im Jahre 1952 wurde in einem Briefwechsel zwischen dem ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss,und Bundeskanzler Konrad Adenauer das Lied wieder als Nationalhymne anerkannt. Adenauer: "Beistaatlichen Veranstaltungen soll die dritte Strophe gesungen werden." Gerade ihr Text – "Einigkeit undRecht und Freiheit für das deutsche Vaterland" – hat den Anspruch aller Deutschen auf Verwirklichungihrer staatlichen Einheit auch in den Jahrzehnten der Teilung wachgehalten. In ihrem Briefwechselvom August 1991 bestätigten Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler HelmutKohl diese Tradition des "Liedes der Deutschen" für das vereinigte Deutschland: "Als ein Dokumentdeutscher Geschichte bildet es in allen seinen Strophen eine Einheit. (...) Die 3. Strophe des Liedesder Deutschen von Hoffmann von Fallersleben mit der Melodie von Joseph Haydn ist die Nationalhymnefür das deutsche Volk."

Die deutsche Nationalhymne

"Einigkeit und Recht und Freiheit

Für das deutsche Vaterland!

Danach lasst uns alle streben,

Brüderlich mit Herz und Hand!

Einigkeit und Recht und Freiheit

Sind des Glückes Unterpfand:

Blüh im Glanze dieses Glückes,

Blühe, deutsches Vaterland!"

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Die deutsche Nationalhymne in deraktuellen Fassung ist die dritteStrophe des Deutschlandliedes(festgelegt durch den Schriftwechselvom 19. beziehungsweise 23. August1991 zwischen Bundeskanzler Kohlund Bundespräsident von Weizsäcker,veröffentlicht im Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundes­regierung Nr. 89/1991 vom 27.August 1991). (© 2010 Presse- undInformationsamt der Bundesregierung) (http://www.bpb.de/mediathek/819/die-nationalhymne-der-bundesrepublik-deutschland)

Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 172.

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EuropaflaggeVon Horst Pötzsch 15.12.2009Der Historiker und Politologe Horst Pötzsch war bis 1992 Leiter der Abteilung "Politische Bildung in der Schule" der Bundeszentralefür politische Bildung.

Die Europaflagge ist blau mit einem Kreis von zwölf goldenen Sternen. Diese Zahl soll an antikeund christliche Vorstellungen erinnern und Vollkommenheit versinnbildlichen.

Übernational ist die Flagge der Europäischen Union, das Symbol für Europa schlechthin. Sie ist blaumit einem Kreis von zwölf goldenen Sternen. Die Zahl der Sterne ist unveränderlich auf zwölffestgesetzt. Diese Zahl soll im Anschluss an antike und christliche Vorstellungen Vollkommenheit undVollständigkeit versinnbildlichen.

Die blaue Europaflagge ist 1955 vom Europarat geschaffen worden. 1985 wurde sie als Flagge derEuropäischen Gemeinschaft übernommen.

Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn:Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 178

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Redaktion6.3.2007

HerausgeberBundeszentrale für politische Bildung/bpb, Bonn © 2010Verantwortlich gemäß § 55 RStV: Thorsten Schilling

RedaktionMartin HetterichStephan TriniusAnny Boc (studentische Mitarbeiterin)

Das Dossier beruht auf Texten aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete undaktualisierte Auflage, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2009.

TitelbildFoto: Wolfgang Staudt (http://http://www.wolfgangstaudt.de), Lizenz: Creative Commons by/2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

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