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Dr. Gotthard Fermor, Bonn
Religion in der Popmusik
Vortrag1 auf dem Symposium „Pop-Musik in der Kirche – was ist dran?“, Bonn 2.2.04
I) Phänomene 2003 –persönliche Fundstücke
1. Grönemeyer –Mensch-Tournee 2003 / Ausschnitt-Konzertanfang
Warum zeige ich Ihnen den Anfang dieses sicher beeindruckenden, aber doch auch sehr ver-
gleichbaren Konzerts, um religiöse Dimensionen in der Popmusik im Jahre 2003 aufzuspü-
ren? Antwort: Weil sich mir damit ein familiäres Aha-Erlebnis verbunden hat. Als ich diese
DVD nach Weihnachten das erste Mal anschauen wollte, war mein 2 ½-jähriger Sohn dabei,
und kommentierte diese ersten Minuten der Eingangssequenz mit dem Ausspruch: “Boh,
schau mal: große Gemeinde“! „Richtig“ sagte der Papa, genauso erstaunt wie spontan zu-
stimmend, und hätte sich gerne schon mit diesem kleinen schlauen Kerl und seiner guten intu-
itiven Wahrnehmung über die Vergleichspunkte der Gemeinde bei Grönemeyer und der der
Ev. Trinitatiskirche in Bonn-Endenich unterhalten. Erstere kannte er bis dahin noch nicht,
letztere aber doch sehr wohl, hatte er doch erst kurz vorher beim Krippenspiel – freilich ganz
ungeplant und spontan– erste Bühnenerfahrungen gemacht. Und ja er hat Recht: dort kommen
Menschen in einem besonderen Raum zusammen, um zu singen (das gefällt ihm mit am meis-
ten in der Gemeinde), sie werden nicht selten am Eingang von einem besonderen Menschen
begrüßt; in den Gottesdiensten, die er bisher kennen gelernt hatte, war auch schon mal eine
Band zugegen, es durfte gelacht werden. Er geht dort gerne hin, in diesen besonderen Erleb-
nis-Raum „Gemeinde“, in dem es scheinbar auch immer um etwas sehr Wichtiges geht. Dar-
über würde ich gerne mit ihm weiter philosophieren, wenn er dann einmal 15 Jahre älter ist:
Darüber, dass sich tatsächlich liturgische Qualitäten eines Popkonzertes ausmachen lassen;
darüber, dass hier Menschen sich in und mit der Musik in den ästhetischen Mitvollzug des
Thematisierens menschlicher Grundfragen mit hineinnehmen lassen, und die Grundelemente
dieser Liturgie sicher beherrschen, wären sie doch vielleicht selbst in einem reformierten ev.
Gottesdienst eher hilflos. Dass sie Kraft aus dieser Gemeinde auf Zeit beziehen; dass die
Songs und Verkündigungsinhalte eines Herbert Grönemeyer sie mit in den Alltag begleiten -
Inhalte, die auf dieser Tournee zu seiner CD „Mensch“ geradezu programmatisch den Men-
schen zwischen Licht und Dunkel, Treue und Verrat, Dummheit und Zukunftshoffnung, so-
1 Teile dieses Vortrages finden sich auch in: G. Fermor, „Damit die Kirchen wieder voller werden“? Die Religio-sität der Popmusik als Herausforderung für Theologie und kirchliche Musikpraxis, in: Arbeitsstelle Gottesdienst 16 (2002), 40-49. Zu dem hier nur angedeuteten vgl. ausführlich: G. Fermor, Ekstasis. Das religiöse Erbe in der Popmusik als Herausforderung an die Kirche, Stuttgart u.a.1999.
wie immer wieder: zwischen Tod und Leben zeichnen, und im Mitsingen Anteil an einer reli-
giösen Ausrichtung geben, in einem leise, aber vernehmbar angedeuteten Glauben an ein Tra-
gendes in und hinter diesen Polaritäten. Freilich, ohne je das Wort Gott direkt an- oder auszu-
sprechen. Persönliches Fundstück Nr. 1 also, bei dem ich gerne zugebe, dass mich der Song
„Der Weg“, in dem er den frühen Krebstod seiner Frau verarbeitet, im vergangenen Jahr mehr
als einmal tief angerührt hat, und ich gerne im Konzert dabei gewesen wäre. Aber: DVD sei
Dank, so gab es immerhin dieses familiäre Aha-Erlebnis.
2. Sting – Sacred Love CD 2003 / Text und Musik Mein zweites Fundstück im Jahre 2003 stammt von einem meiner Lieblingspopmusiker, des-
sen Spurensuche zwischen Religion und Musik mich schon lange begleitet: von Sting.
Schon vor 10 Jahren hat er gesungen: Mag sein, dass ich meinen Glauben an die Kirche, die
Politik, an die Wissenschaft verloren habe, wenn ich meinen Glauben an dich verliere, bleibt
mir nichts mehr zu tun. Dieses „Du“ bleibt dabei geschickter Weise geheimnisvoll in der
Schwebe und ist damit Ausweis für etwas, was wir mit dem Soziologen Ulrich Beck die „irdi-
sche Religion der Liebe“ nennen: die irdische Liebeserfahrung als Erfahrungsraum der Spur
von Transzendenz Auf seiner aktuellen CD „Sacred Love“ findet diese Spurensuche aus mei-
ner Sicht ihren vorläufigen Höhepunkt. – Einspielung -
Im Titelsong „Sacred Love“ unternimmt der christlich geschulte Sting den Versuch, seinem
Thema der irdischen Religion der Liebe auf der Spur zu bleiben, indem er die körperliche
Liebeserfahrung mit geprägten theologischen Sprachfiguren umschreibt. Die Liebe ist für ihn
das alles aufschließende religiöse Existential schlechthin. Diese Liebe ist tatsächlich als irdi-
sche Liebe religiös, im Profanen heilig, in der Naturerfahrung transzendent, so Sting. Dies hat
in der Popmusik eine lange Tradition, worauf ich noch zurückkommen werde.
Der theologische Clou dieser Platte ist für mich dabei, dass diese irdisch-transzendierende
Liebeserfahrung im Horizont christlicher Sprachgestaltung reflektiert wird:
(Ich paraphrasiere) Das geliebte Gegenüber ist für ihn seine Kirche, der heilige Gral, ist seine
Religion, das Ende der Sünde. In der Liebeserfahrung wird ihm deutlich, was das heißt: Das
Wort wurde Fleisch, der Geist schwebt über den Wassern. Wie das Wahrwerden der Prophe-
zeiungen im Heiligen Buch, so erlebt er es, bis hin zum noch fehlenden 11. Gebot: Du sollst
nicht daran zweifeln, dass diese Liebe wirklich ist. Selbst die Engel und Heiligen im Himmel
knien in einer imaginierten Gebetserfahrung vor dieser „Blume der Schöpfung“ nieder, was
ihm die Gewissheit beschert, dass alle Menschen zu dieser heiligen Liebe zusammenfinden
werden. Er betont, dass er nachgedacht habe über Religion, über das, an was wir glauben,
über Adam und Eva, über den Garten Eden, über den Baum der Erkenntnis und des Lebens,
über die verbotene Frucht, über Mann und Frau, kurzum: über heilige Liebe. Diese Liebe ist
für ihn lebensweltlich-religiöse Erschließung der biblischen Schöpfungsgeheimnisse.
Dass dies nicht nur – bei allem Augenzwinkern – theologische Koketterie und /oder Spielerei
ist, macht der Kontext des gesamten Albums deutlich. Neben einigen Songs, die diese Liebe
noch einmal kräftig alltagsgebunden erden, finden wir Beispiele ernsthafter Nachfolgechristo-
logie (ich bin schon ich vielen Fußsstapfen gewandert, bis ich seine gefunden habe: now I’m
walking in his grace heißt es in dem Song „Dead Man’s rope“). Diese Nachfolge muss sich in
Zeiten des Irak-Krieges friedensethisch bewähren (so in „This war“), und entwirft sich von
dieser naturreligiösen Basis aus in eschatologischer Perspektive: Sende diese Liebe in die
Zukunft dieses apokalyptischen Planeten, so in „Send your love“. Die christliche Sprache
wird nicht verworfen (im Gegenteil!), aber im Horizont der irdischen Religion der Liebe als
Transzendenzerfahrung reformuliert – dieses Fundstück Nr.2 ist ein Beispiel kreativer le-
bensweltlicher Theologie, wie ich meine, bei der wir nicht gleich die Hände über dem Kopf
zusammen schlagen sollten.
3. Madonna – Die another day, Video 2003
Im WS 2002/03 hatte ich die Ehre an der KiHo Wuppertal einen Lehrauftrag im Bereich Kir-
chenmusik/Liturgie mit dem Schwerpunkt Popmusik zu versehen. In der Einheit über Video-
clips war auch das damals aktuelle Video von Madonna „Die another day“ Thema. Der Song
war zugleich der Titelsong des gleichnamigen James-Bond-Films.
- kurze Einspielung -
Im Video (wie im Film) geht es – wie so oft – um Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Tod und
Leben. Das allein ist nichts besonders Aufregendes. Aufregend – zumindest für uns Theolo-
gen/innen – war, dass Madonna vor Ihrer geplanten Hinrichtung die jüdischen Gebetesriemen
anlegt sowie die hebräischen Schriftzeichen auf Madonnas Arm, die auch auf dem elektri-
schen Stuhl in der nordkoreanischen Folterkammer erscheinen, nachdem sie auf wunderbare
Weise vom ihm erlöst worden ist: Lamed, Alef, Wav, l – a- w. Was sollte das? Ornament,
Pseudo-Symbolik ohne Hintergrund und Tiefe? Mitnichten, wie eine Studentin (Friederike
Voswinkel), die diese Frage nicht los ließ, in einem ausführlichen Referat zu belegen wusste:
Diese Buchstaben beziehen sich auf die Zahlensymbolik der jüdischen Kabbala, und stehen
für den am Geburtstag Madonnas zugeordeneten Schutzengel im 11. Genius. Madonna, die
sich schon länger mit Kabbala auseinandersetzte hat diese Spur mit ins Video übernommen –
und mit noch mehreren anderen vernetzt, die ich hier nicht referieren kann. Die mehr als be-
eindruckende Videoanalyse dieser Theologiestudentin, die einen ganzen Kosmos religiöser
Bezüge (von unbewusster Religiosität bis zu Alchemie) im Video zu Tage förderte, hat mir
einmal mehr Lust gemacht, in diese religiös angereicherte Zeichenwelt von Videoclips hin-
einzutauchen, und in ihrer Nach-lese zu staunen, was dort so alles in 3-5 Minuten an mir vor-
beirauscht. Fundstück Nr. 3.
So weit so gut. Nun könnten Sie einwenden: Typische Fundstücke eines Theologen, der fin-
det, wonach er suchet. Stimmt sage ich. Aber ich sage auch: Machen Sie selbst den Test: Ge-
hen Sie in einen CD-Laden und schauen sich nur die Neuveröffentlichungen an, ob sich reli-
giös erkennbare Stücke, Bilder, Texte darauf finden. Schauen Sie einmal 1-2 Stunden MTV
oder Viva, ob sich religiös erkennbare Symbole, Bilder, Inszenierungen finden. Gehen Sie
einmal in ein Konzert von Grönemeyer, Pur, Santana, Madonna oder schauen sich die DVDs
an. Ich garantiere: Sie werden staunen, was sich sehen lässt!
Doch die Frage bleibt: Was vollzieht sich, wenn wir von solchen Phänomenen in der Popmu-
sik reden? Was ist an den Konzerten, Texten, Videos, den verwendeten Symbolen, musikali-
schen Strukturen, den Rollenspielen, der Aufführungspraxis denn tatsächlich ‘religiös’? Ist
das nicht alles postmodernes Spiel, eingebettet im kulturindustriellen Verkaufszirkel, der sich
quasi-religiöser Gefühle bedient, um die Verkaufszahlen zu steigern? Sicher ist fast alles, was
wir an Popmusik öffentlich wahrnehmen können, Teil eines u.a. auch stark globalisierten
Marktes. Aber ist die religiöse Wirkkraft dieser offenen Kunstwerke (denn das bleiben sie in
der Rezeption trotz Markt immer) denn damit schon verstrahlt? Ich meine – trotz des Fehlens
umfassender empirischer Forschung zu dieser Frage – nein. Doch wird es an dieser Stelle nun
immer dringender zu klären, wovon hier vorläufig die Rede sein soll, wenn ich immer wieder
das Wort ‚Religion’ im Mund führe, bevor wir uns der Frage zuwenden, welche Antworten es
auf die Frage geben könnte, warum soviel Religion in der Popmusik zu finden ist.
II. Verständigungen
Von Popmusik ist hier die Rede in bezug auf den meist synästhetisch gestalteten Phänomen-
komplex, der sich aus der Schnittstelle des Rock’n’Roll als des Schaniers zwischen afro-
amerikanischer Musiktradition und der sich von daher herleitenden Popmusik, entwickelt hat.
Auf eine weitergehende, immer nötige Differenzierung der musikalischen Merkmale von
Popmusik auf der körperlich-bewegten, der imaginativen und der geistigen Ebene verzichte
ich hier nur aus Platzgründen.
Ich glaube, dass man Religion in der Popmusik aufspüren, analysieren und (kirchlicherseits)
als Herausforderung begreifen kann, wenn man zumindest drei Fragerichtungen berücksich-
tigt:
1. In ‘traditionsgeschichtlicher’ Perspektive kann gezeigt werden, dass Popmusik in einem erheblichen Maße in
Texten, Musik und Bildinszenierungen auf geprägte Traditionsgehalte von Religionen und Religionsgemein-
schaften selektiv-synkretistisch Bezug nimmt. Unter Traditionsgehalten sind hier Erzählungen, geprägte Begrif-
fe, Symbole, Mythen, Bild - und Musikelemente zu verstehen.
2. Religionssoziologisch: Lebensweltliche Phänomene als ‘religiöse’ kommen in dieser heuristischen Perspektive
in den Blick, wenn sie sich auf besondere Organis ationsformen (z.B. als Kult, Ritual, an ‘heiligen’ Orten...),
besondere Zeiten (Festzeit, Ritualzeit...) und Rollen (Priester, Schamane, Messias, Prophet, Stellvertreter...)
ansprechen lassen.
3. Religionsphänomenologisch: Transzendenz kann in popmusikalischen Phänomenzusammenhängen als
Schwellenerfahrung bestimmt werden. Phänomene in der Popmusik lassen sich als ‘religiöse’ ansprechen, wenn
sie als ‘liminale’ Phänomene identifiziert werden können (von lat. limes = Grenze, Grenzwall). Als religiöse
Phänomene in der Popmusik sind unter diesem Gesichtspunkt also solche anzusprechen, die als Grenzerfahrung,
als ent-grenzende Phänomene wahrgenommen werden können. Diese Entgrenzungserfahrung kann dann sinnvol-
ler Weise als eine transzendierende aufgenommen werden, wenn sie in der Beanspruchung kultureller Zeichen
(also wie z.B. in der synästhetisch inszenierten Popmusik) auf ein Unverfügbares, in ihrer Gestaltung nicht Ein-
holbares, verweist.
Nicht in jedem Beispiel, aber enorm häufig lassen sich alle drei Suchrichtungen zur Bestim-
mung der Religiosität von Popmusik positiv beantworten. Die letzte Perspektive ist dabei
auch immer kritisch anzuwenden.
Die Art und Weise der Thematisierung und Inszenierung von Religion in der so aufgespürten
Popmusik ist Bedingungen unterworfen, die die Popmusik mit den Kennzeichen der Lebbar-
keit von Religion in der heutigen Erlebnis- und Mediengesellschaft insgesamt teilt. Diese
Kennzeichen können hier nur in einigen wenigen Stichworten markiert werden. Zu nennen
sind zumindest die Aspekte der Erlebnis- und Wahlreligiosität, der pluralen und synkretisti-
schen Auffächerung sowie der Individualisierung und Privatisierung von Religion.
Funktionale Theorien ordnen Popmusikphänomenen auf dem Horizont solcher gesamtgesell-
schaftlicher Beschreibung den Status von funktionalen Äquivalenzen zu, wobei man bei der
Erklärung der Phänomene diese oft zu Koordinaten einer Ersatzreligion degradiert. Ob dieser
Sprachgebrauch die Phänomene trifft, kann ich hier nur bezweifeln.
Dieser eher negativen Lesart der Phänomene möchte ich eine anders begründete positive ent-
gegensetzen: Popmusik ist potentiell eine religionsgenerierende Erfahrung. Inwiefern?
III. Das religiöse Erbe der Popmusik
Ich habe in meiner bisherigen Forschungsarbeit versucht zu zeigen, dass auch die musikali-
schen Strukturen von Popmusik religionsproduktiv und -generierend wirken. Weil Popmusik
in ihren verschiedensten Kontexten am Erbe der afro-amerikanischen ekstatischen Musikreli-
giosität partizipiert, ist Religion in ihr kein Zufallsprodukt. Ich behaupte: Produzenten und
Rezipienten von Popmusik spüren u.U., dass sie durch die Art eines spezifischen Musikerle-
bens sozusagen auf Religion stoßen oder gestoßen werden, dass sie teilhaben an einem Erbe,
das man getrost als ‘religiös’ bezeichnen kann und dem sie sich mehr oder weniger bewusst
sind. Ganz so abwegig scheint diese Behauptung dann nicht mehr, wenn wir uns vor Augen
führen, welchen Traditionen sich die Popmusik verdankt, welches ihre Wurzeln sind. Sie ent-
stammt musikalisch aus religiösen Traditionen: der verwickelten Geschichte der afro-
amerikanischen Musik zwischen Spirituals und Blues, zwischen ekstatischem Gemeindegot-
tesdienst und ekstatischen Tanz- und Konzertabenden. Diese Spannung war ihr Ferment und
ist bis heute ihr religiöses Erbe.
Die expressiven, performativen Gehalte der Stimmgebung, das Gemeinschaftserlebnisse er-
möglichende call & response-Prinzip, die ekstatisch-transzendierenden Wirkungen des
Rhythmus, das Paradox von Wiederholung und Ekstase in der Melodik und Harmonik, der
offen-entgrenzende, spielerisch-präsentative Charakter der Improvisationen - all dies sind
musikalische Strukturen, die sich u.a. der afro-amerikanischen Tradition verdanken. Sie sind
in der Popmusik traditionsbildend geworden und insofern religionsproduktiv, als ‘Bewegung’
(besonders im ekstatischen Ergriffensein) auch meta-physich als ein Moment von Trans-
zendenz ausgerichtet sein kann. D.h: diese Musik hat als diese Musik das Potential in sich,
über sich hinauszuweisen.
Dieses Erleben bedarf dann auch der symbolischen Verarbeitung. Somit ziehen die spezifi-
schen musikalischen Strukturen und Erlebnisgehalte der Popmusik visuelle und sprachliche
Manifestationen verschiedener religiöser Traditionen an. Bilder, Texte, Symbole, Mythen sind
nötig um diesen Erleben auf der Text- und Bildebene von Musik zu spiegeln. Dies erklärt
m.E. die Häufigkeit der verwendeten Symbole, Bildwelten und Erzählungen aus religiösen
Traditionen.
Ebenso dienen die kultischen und rituellen Inszenierungen, als die sich z.B. Popkonzerte prä-
sentieren, dazu, diese transzendenzoffenen Gehalte sozial zu erleben und die dafür notwendi-
gen Übergangsräume zu gestalten. Die Übergangsenergien, die in diesem Musikerleben frei
werden, wollen gestaltet werden.
Meine These ist: Durch die Teilhabe an diesen musikalischen Erleben, das wir in einem Beg-
riff als ekstatische Musikreligiosität zusammenfassen können, ist ein musikalisches Erbe prä-
sent, das immer schon im Kontext religiöser Vollzüge gestanden hat.
Diese Beerbungslinie, die im Erleben aktiv ist, beginnt mit der westafrikanischen Musikreli-
giosität, in der der Rhythmus strukturierendes Prinzip allen Lebens ist. Er verbindet Welten,
stiftet Gemeinschaft, strukturiert das Leben. In seiner ekstatischen Qualität ist er vor allem
dadurch entscheidend wichtig, da er das wesentliche Medium der Kommunikation mit der
anderen Welt ist: auch die Götter und Ahnen sind dem Rhythmus unterworfen und man kann
so mit ihnen in Kontakt treten. Im Rhythmus kreuzen sich die Welten unserer Wirklichkeit.
Dieses religiöse Erbe des Rhythmus bleibt erhalten, als die frühen Sklaven in Amerika diese
Religiosität zwar ohne Trommeln, aber doch wippend, klatschend, schwingend in die ihnen
nahegebrachten Hymnen der Baptisten und Methodisten hineinsangen: es entstanden die Spi-
rituals, in denen – ganz auf der Linie ihrer Herkunft – das wie des Musizierens genauso wich-
tig war wir das was der textlichen Inhalte, womit sie diese nicht selten auch verändert haben.
Noch etwas stärker haben das afrikanische Erbe die Bluesmusiker/innen erhalten, indem sie
sich z.T. bewusst auf Vorstellungen afrikanischer Religiosität beriefen, um sich von der wei-
ßen Christen abzusetzen, die ihre Unterdrücker waren. Bluessongs waren oft Protestsongs.
Und – das haben sie in der gemeinsamen Wurzel aus den work songs mit den Spirituals ge-
meinsam – sehr alltagsnah. Ein Thema, durchaus auch religiöser Natur, unterscheidet aller-
dings schon die Blues von den Spirituals: das Thema Liebe, Sex und Eros.
Und diese Spannung sollte für die Weiterentwicklung des religiösen Erbes in der Popmusik
entscheidend werden, wir sprechen von einer doppelten Wurzel der Popmusik in den Spiritu-
als und den Blues, bzw. der Weiterentwicklungen im Gospel und dem Rhythm & Blues.
Denn schon die ersten Protagonisten des Rock’n’Roll, der das wesentliche Schanier zwischen
afro-amerikanischer Musikentwicklung und der der Popmusik ist, sind nahezu alle in charis-
matischen, meist pfingstlerischen Kirchen groß geworden, haben dort durchaus ekstatische
Musik im Gottesdienst kennen- und liebengelernt, aber die gleiche Musik auch samstags in
den Kneipen (den juke joints) gehört mit einem entscheidenden Unterschied: nun war da auch
von Sex und Liebe die Rede. Diese Spannung zwischen samstagabends und sonntagmorgens
musste sich irgendwohin auflösen, bei den meisten zugunsten des Samstags, aber eben nicht
ohne die religiösen Wurzeln ihrer Musikpraxis zu vergessen. Im Gegenteil: Sie nahmen den
Prediger nun mit auf die Bühne, genauso wie das Empfinden von Ritual, von musikalischer
Gemeinde, von der transzendierenden Kraft der Musik, auch in den Texten. Und so konnte
aus der religiös-musikalischen Verehrung Gottes, die eines geliebten irdischen Gegenübers
werden, aber doch als higher love, in der die göttliche Macht der Liebe erfahrbar ist. Und dies
hält sich durch bis heute, und ist aus meiner Sicht das religiöse Erbe der Popmusik, das sie mit
seinen Wurzeln in der Spannung der afro-amerikanischen Musikkultur verbindet.
Dass Musiker/innen sowie Musikrezipierende sich dieses Erbes bewusst sind, ist natürlich
keineswegs zwingend, die ekstatischen Aspekte im Popkonzert können auch nur im hedonisti-
schen Rahmen verbleiben.
IV. Religion in der Popmusik - Herausforderungen für die Theologie
Ich kann mich hier nur mit einigen Andeutungen begnügen, die eher programmatisch den
Horizont aufzeigen sollen, worüber hier nachgedacht werden könnte
1. Die Spuren der ekstatischen Musikreligiosität in der eigenen jüdisch-christlichen Tradition
müssen stärker bewusst gemacht werden. Tanz und Musik im AT und NT sind keine Rand-
phänomene, sondern veritable Ausdrucksformen einer reichen Glaubensmedialität. Allein der
Gebrauch der Musikinstrumente macht Vergleichspunkte z.B. auch zu schamanistischem Mu-
sizieren, wie dies in der Popmusik häufig bemüht wird, möglich und auch nötig.
2. Die theologische Beurteilung von Naturreligiosität, die nicht selten den Hintergrund für
Phänomene ekstatischer Musikreligiosität bilden, ist neu zu prüfen. Schon im AT bilden sich
hier Ablehnungshaltungen, die gegenüber Musikpraktiken wie denen im Dionysos-Kult in
neutestamentlicher Zeit wiederaufleben, die schöpfungstheologisch auch als höchst fragwür-
dig einzustufen wären.
Denn das ist ja die wirklich sprechende Herausforderung dieser ekstatischen Musikreligiosi-
tät, dass sie – um einmal in der Sprache der Popmusik zu bleiben – body language ist, eine
entgrenzend-musikalische Sprache, die nach anderer Sprache in Text, Bild und Symbol ver-
langt, und dass sie sex und religion im Zusammenhang sieht. Gut, wir kennen das aus der mit-
telalterlichen Brautmystik, aber doch nicht wirklich, oder? Und: dass sie music as religion
erfährt. Bevor wir offenbarungstheologisch nervös werden, ist es mir wichtig, an dieser Stelle
diese Herausforderung zu benennen, auch um einer vorschnellen kirchlichen Funktionalisie-
rung von Musik zu wehren, die Musik als religiöse Erfahrung dann entwertet, wenn sie sie nur
als Transportmittel von Eigentlicherem degradiert.
3. Was wir brauchen ist eine wahrnehmungsoffene sowie deutungskompetente Kulturtheolo-
gie, die sich in Aneignung und Kritik in den Brennpunkten zwischen Schöpfungstheologie
und Pneumatologie den Phänomenen einer ekstatischen Musikreligiosität so zuwendet, dass
sie in ihnen auch Phänomene geist-licher Musik zu benennen vermag. Ihre transformative
Praxis müsste jedoch im Stande sein, den integrierenden Impulsen des Geistes Christi folgen
zu können, wenn sie zu kirchlichen Musikpraxis werden würde.
4. Wir brauchen spezifischer eine pneumatologisch inspirierte Musiktheologie, also eine, die
von der Phänomenologie des Heiligen Geistes auch außerhalb der Kirche her arbeitet, die ihre
Wahrnehmungs-, Deutungs- und Inszenierungskompetenz interdisziplinär z.B. im Gespräch
mit der Kulturanthropologie, der Religionssoziologie sowie der Religionsphänomenologie
entwirft. So kommen der Ritual- und Schwellen- bzw. Entgrenzungscharakter von Musiker-
fahrungen, ihre Inszenierung als kleine und große Transzendenzen in den Zwischenräumen
des Alltags bis zu den kultischen Kontexten eines Pokonzerts bzw. Technoraves sowie ihr
grundsätzlicher Verweischarakter auf ein sie Überschreitendes in den Horizont der theologi-
schen Sprachbildung.
Popmusik ist und war auch immer ein Stück Befreiungstheologie, die auf die Freiheit der
theologischen Sprachprozesse verweist.
Frage: Welche Theologie an welchen Hochschulen (kirchenmusikalischer wie theologischer
Art) thematisiert dieser Herausforderungen? Besonders im Bereich der Kulturtheologie sehe
ich hier enorme Entwicklungen.
V. Religion in der Popmusik – Herausforderungen für die Kirche(nmusik)
Wenn wir darüber nachdenken, ob es etwas dran sein könnte an der Popmusik in der Kirche,
ist es zunächst wichtig wahrzunehmen, dass wir in den Gemeinden auch von kulturellen Mi-
lieus her argumentieren, wie sie beispielsweise G. Schulze für die schon oft zitierte Erlebnis-
gesellschaft differenziert hat. Entscheidend scheint es mir darauf hinzuweisen, dass wir diese
Milieugebundenheit unserer Argumentation über Musik in der Gemeinde als kulturelles Phä-
nomen wahrnehmen und nicht schon eine theologische Gewichtung verleihen. Bachs Choräle
haben theologisch zunächst keine höhere Gewichtigkeit als ein Popsong von Madonna, der
nach dem Verhältnis von Gebet, Liebe und Christus fragt. Bach hat kulturell-geschichtlich
eine höheres Gewicht in den meisten Kirchengemeinden, aber daraus kann nicht auch schon
ein Anspruch abgeleitet werden, immer schon die Inhalte des Evangeliums für einen Großteil
des Kirchenvolkes angemessener inszenieren zu können als ein Popsong. Theologisch muss
man m.E. in der Diskussion nach den musikalischen Präferenzen in der Gemeinde von dem
bewährten paulinischen Modell der Charismenlehre ausgehen, um die kulturellen und die
theologischen Fragen hilfreich zuordnen zu können: In ihrem theologischen Status unter-
scheidet sich die kulturelle Gabe der Orgelimprovistaion über einen Cantus Firmus in keiner
Weise von der der ekstatischen Inszenierung eines Rockkonzertes. Beide können Ausdruck
des Glaubens sein und dem Aufbau der Gemeinde dienen und es wäre weder den Möglichkei-
ten der Schöpfung noch den Möglichkeiten der Entfaltung des Geistes gegenüber angebracht,
hier in der Gemeinde kulturell vorzensieren zu wollen. Eine Ausblendung von Popmusik in
der Gemeinde lässt den Reichtum an Glaubenspraxis verarmen. Wenn wir diese offene Kul-
turtheologie, die uns Paulus grundsätzlich bietet, nicht ernst nehmen, dann bedient Kirche, da
sie unausweichlich an der kulturellen Segmentierung der Erlebnisgesellschaft partizipiert,
immer nur ganz bestimmte wenige Gruppen unserer Gesellschaft, beispielsweise diejenigen,
die G. Schulze als ‘hochkulturell’ bezeichnen würden. Und ich möchte hier argumentieren:
das können wir uns nicht nur unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Breitenwirkung
von Gemeinde nicht leisten, sondern vor allem aus theologischen Argumenten her nicht. Der
Geist Gottes befreit zum Leben und das heißt auch: zu allem möglichen musikalischen Leben.
Wir sollen die Möglichkeiten der Schöpfung nutzen und auch darin Evangelium verkünden
und sie nicht vorzensieren. Von Paulus her ist es zentral zu sagen: nicht ein Musikgeschmack
kann in der Gemeinde herrschen. Kulturelle Neigungen dürfen nicht zu Spaltungen führen,
indem sie theologisch überhöht werden. Als der Geist Gottes ist er auch der Geist Christi, und
der führt immer in eine Gemeinschaft. Hier liegt allerdings auch der Angelpunkt für eine kri-
tisch-konstruktive kulturelle Zeitgenossenschaft von Kirchengemeinden, wie ich sie mir in
dreifacher Weise vorstellen würde. Wir sind aufgerufen, die vielfältigen religiösen Inszenie-
rungen auch in der Popkultur wahrzunehmen; wir sind aufgerufen, den Menschen, denen dies
ihre Glaubenskultur ist, Räume zur Verfügung zu stellen und diese nicht zu verweigern, aber
wir sind auch aufgerufen, die Erlebnisprodukte einer solchen Religiosität auf ihre Relevanz
für den Alltag und das gemeinsame Leben hin zu befragen, eben: Er-leb-nis und Leben im
Zusammenhang zu betrachten. Dieser Traditionsschatz der christlichen Kirchen, für die Reli-
gion auch immer religio im Sinne der Anbindung an eine gelebte Gemeinschaft ist, ist in der
Popkultur nicht unbedingt immer schon mitthematisiert. Das heißt, dass das Kriterium der
Integration hier deutlich einzufordern ist, damit die entgrenzenden und transformierenden
Potentiale der religiösen Erfahrungen in und mit Popmusik nicht wieder verspielt werden.
Geschieht dies, so träume ich, dann könnte Kirche wieder eine nicht geahnte Attraktivität er-
langen. Im Rahmen der Erlebnisreligion eines Popkonzertes wird diese Frage oft gestellt:
„Wie wollen wir leben?“ Aber ihre Beantwortung kann und darf den Alltag nicht ausblenden.
Hier ist die Popkultur nicht immer eine Hilfe. Wollen wir ein Grönemeyer-Konzert in seinen
religiösen Erlebniskomponenten nicht kopieren, was unsinnig wäre, sondern wollen wir uns in
kirchlich-kultureller Zeitgenossenschaft darauf dialogisch beziehen, so bleibt viel Arbeit, die-
se Brücken der Beziehung überhaupt erst zu schlagen. Und es wird entscheidend sein, die
eben benannten Herausforderungen in diesen Dialog tatsächlich mit einzubeziehen, also sich
selbstkritisch zu fragen: wie dialogisch sind wir wirklich? Ich will es einmal klar sagen: Mir
hilft der beste Reggae-Groove nichts gegen ein banales, süßliches oder einengendes Gottes-
bild, das darüber gesungen wird. Insofern sollten wir in der Kirche die sog. säkulare Popmu-
sik als veritablen theologischen Gesprächspartner tatsächlich ernst nehmen, vor allem dann,
wenn er nicht von unverrückbaren Sprachwendungen religiöser Inhalte ausgeht, die dann mu-
sikalisch transportiert werden, sondern sich diese kreativ, prozesshaft, kritisch aneignet – mu-
sikalisch wie symbolisch. Ich will es auch an diesem Punkt einmal klar sagen: Nicht wir in
der Kirche wissen immer schon die Theologie, die für diese Musik richtig ist, und holen uns
sozusagen auf dem Rückweg diese Musik, da sie scheinbar gut ankommt, in die Kirche hin-
ein, um diese Theologie zeitgemäß rüberzubringen, sondern wir sind aufgerufen, im kriti-
schen Dialog von diesem Partner auch zu lernen, wie musikalisch Theologie getrieben wird,
dass Theologie ein lebendiges, kulturoffenes Geschehen ist, dass über einen steten Cantus
firmus (wie z.B. der Geschenk des Lebens aus der Gnade Gottes) beständig variiert – bitte:
Machen wir ernst mit dieser Polyphonie!
D.h: Diese Musik muss dann in unseren Gemeinden vorkommen können: in
Jugendgottesdiensten, aber auch als Baustein oder Grundlage einer Predigt im
Sonntagsgottesdienst; als festes Unterrichtsmedium im Konfirmandenunterricht, als
Erlebnismedium in der Jugendarbeit (passive und aktive Musikpraxis), aber auch bei
Beerdigungen und Hochzeiten (wo sie zunehmend verlangt wird). Sie soll die Gemeindearbeit
so wenig dominieren wie die Choralmusik des 16. und 17. Jahrhunderts. Im Nebeneinander
musischer Neigungen sollte sich eine gelebte Charismenlehre bewähren können.
Die Wahrnehmung und Praxis von Popmusik in der Gemeinde fordert in einem weiteren
Schritt die gemeindliche Bildungsarbeit heraus: Die unzähligen religiösen und christlichen
Traditionen in der Popmusik sind ein Schatz für die Deutungsarbeit, die in der Gemeinde ge-
leistet werden kann, um sich in kultureller Zeitgenossenschaft über die wesentlichen Impulse
des Glaubens zu verständigen. Dies umfasst ein großes Spektrum der Gemeindearbeit von
KU- und Jugendarbeit, über die Gesprächskreise bis hin zu speziellen Gemeindevorträgen und
-seminaren, einer Kolumne im Gemeindebrief bis hin zu Podiumsdiskussionen anlässlich
wichtiger aktueller kultureller Veranstaltungen. Es ist meine Erfahrung, dass gerade die un-
gewohnte Art der Verarbeitung und Inszenierung von Glaubenserfahrungen in der Popmusik
ungeheuer anregend wirken kann für das Nachdenken und Erleben des eigenen Glaubens, und
dies quer durch alle Milieus in der Gemeinde hindurch.
3. Damit die Kirchen wieder voller werden?
Wir sollten, was unsere kirchliche Musik- und Gottesdienstpraxis angeht, nicht neidisch oder
strategisch einer Massenkultur hinterherschielen, sondern der Fülle der musikalischen Cha-
rismen Raum geben, damit die Kirchen voll werden und bleiben von dem Reichtum an musi-
kalischer Vielfalt, der in ihr möglich ist. Darum ginge es mir in dem Versuch einer Antwort
auf diese Frage und auf die Herausforderungen der religiösen Dimensionen der Popmusik.
Der ekstatischen Musikreligiosität der Popmusik ist, so möchte ich schließen, ihr Ort im theo-
logischen Nachdenken sowie in der kirchlichen Musikpraxis, neben so vielen, was sich weiter
bewährt, nicht zu verwehren, denn: sie hat dort auch ihre Ursprünge. Ihr nicht-kirchliche Rea-
lisation ist als dialogisch-konstruktiver Gesprächspartner immer auch eine Möglichkeit die
kirchliche Inszenierung von Musik an ihren medialen Reichtum und ihre theologische Kreati-
vität zu erinnern. Für diesen Dialog schlägt mein Herz und ich wünsche mir, dass wir ihn in-
nerhalb und außerhalb der Kirche praktizieren. Das ist m.E. mehr als „dran“!