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Pestizide – wie groß ist das Risiko? 8. Juni 2017 Dr. Hans-Jörg Martin Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler, CAU Kiel

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Pestizide – wie groß ist das Risiko?

8. Juni 2017

Dr. Hans-Jörg Martin Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler, CAU Kiel

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 2

Pestizide – Vor- und Nachteile

Einschränkung oder Verzicht würden bedeuten:

● kleinere Vielfalt des Angebots

● geringere Erträge durch

– Konkurrenzpflanzen

– Schädlinge

– Pflanzenkrankheiten

● höhere Preise

● Zunahme des Fleischverbrauchs

● weniger Schutz vor bestimmtenKrankheiten (Malaria, Typhus, u.a.)

By Dungodung, Wikimedia Commons

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 3

Pestizide — Vor- und Nachteile

Einschränkung oder Verzicht würden bedeuten:

● geringere Erträge durch

– Konkurrenzpflanzen

– Schädlinge

– Pflanzenkrankheiten

● höhere Preise

● Zunahme des Fleischverbrauchs

● kleinere Vielfalt des Angebots

● weniger Schutz vor bestimmtenKrankheiten (Malaria, Typhus, u.a.)

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Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 4

Inlandsabgabe von Wirkstoffen in Prozent (2012):

„Die Dosis macht das Gift“Abgabe von Pflanzenschutzmitteln in Deutschland 2012: ca. 46 000 t

Inlandsabgabe und Export von Wirkstoffen in Pflanzenschutzmitteln 2012Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL)

Summe: 111 405 tInland: 45 527 tExport: 66 528 t

Gesamtzahl der Mittel 729 Handelsnamen 1358 Wirkstoffe 261

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 5

Zeitlicher Trend der Abgabe von Wirkstoffen

2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 201628000

30000

32000

34000

36000

31819

33431

34664

30162

31425

33067

33814

32551

3451534752

Inlandsabgabe von Wirkstoffen

(Ohne inerte Gase)

Jahr

To

nn

en

Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL)

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 6

Höchstmengen und Grenzwerte

Verbraucherschutz

• Acceptable Daily Intake (ADI)

• Akute Referenzdosis (ARfD)

– Menge einer Substanz, die in 24h oder weniger ohne Gefährdung aufgenommen werden kann.

– → ADI nicht geeignet zur Berurteilung derGefährdung bei kurzzeitig überschrittenerExposition mit Stoffen hoher Toxizität.

Anwenderschutz

• Acceptable Operator Exposure Level (AOEL)

Rückstandshöchstgehalte (engl.: maximum residue level, MRL)

– nicht toxikologisch begründet. Sie werden festgesetzt mit Daten zur Toxikologie, Verzehrsmenge und zur „guten landwirtschaftlichen Praxis“

– bei Überschreitungen ist ein Lebensmittel nicht verkehrsfähig

– bis zur Festlegung eines spezifischen Wertes für ein Produkt gilt ein Wert von 0,01 mg/kg

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Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 7

Pflanzenschutzmittelrückstände in Lebensmitteln 2011

ohne Rückstände (nicht quantifizierbar)

mit Rückständen

Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL)

Konventioneller Anbau Ökologischer Anbau

39,8 %60,2 %

82,2 %

17,8 %

Geringe Belastung von Lebensmitteln aus ökologischem Landbau

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 8

Pflanzenschutzmittel-Mehrfachrückstände

• 2011: Ca. 41 % aller untersuchten Lebensmittel mit Mehrfachrückständen

• Zur Zeit gültige Praxis:– Lebensmittel ist verkehrsfähig, wenn

kein Rückstandshöchstgehalt überschritten wird

• Zukünftig angestrebt:Bewertungskonzept durch Summation der Gehalte derjenigen Wirkstoffe mit ähnlicher Wirkung

Die meisten Mehrfachrückstände (2011)

Lebensmittel Proben mit Mehr-fachrückständen / %

Maximale Anzahlan Rückständen

Johannisbeeren 87,1 12

Tafeltrauben 74,7 23

Erdbeeren 70,1 12

Brombeeren 68,8 10

Kirschen 67,2 11

Orangen 65,7 10

Himbeeren 64,2 13

Feldsalat 64,2 7

Mandarinen 64,1 13

Kraussalat 64,0 10

Aprikosen 63,6 15

Birnen 63,5 13

Zitronen 59,6 13

Grapefruit, Pomelo

58,9 12

Pfirsiche 58,7 14

Äpfel 56,1 13

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 9

Kieler Nachrichten, 14. Dez. 2013

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 10

Totalherbizid Glyphosat — ein Streitthema

Long term toxicity of a Roundup herbicide and a Roundup-tolerant genetically modified maize. Séralini GE et al., Food Chem Toxicol. 2012 Nov; 50(11):4221-31

DER SPIEGEL, 25/2011

→ Weiterhin umstritten bei Umweltschützern und Umweltverbänden auf Grund der Vielzahl (teilweise widersprüchlicher) Studien und des häufigen Gebrauchs

• Umstrittene Studie von Séralini et al.; später zurückgezogen

● Kernaussage: „Genmais“ verursacht bei Ratten Tumorbildung

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 11

Glyphosat — Zulassung und Bewertung

• Bundesinstitut für Risikobewertung, BfR, 2014: Keine Hinweise auf

– krebserzeugende,– reproduktionsschädigende,– fruchtschädigende Wirkungen

• IARC (WHO), 2015: Gruppe 2a Kanzerogen• Zulassung sollte am 31. 12. 2015 auslaufen • Okt. 2015: Zulassung auf den

30. 6. 2016 verlängert• 16. 5. 2016: JMPR (WHO); kein

krebserzeugendes Risiko für den Menschen aus Rückständen von Glyphosat in der Nahrung zu erwarten

• Juni 2016: EU-Kommission erteilt Zulassung für weitere 18 Monate. Wartet auf Entscheidung der ECHA (europ. Chemikalienagentur)

• März 2017: „Glyphosate not classified as a carcinogen by ECHA“

• Trotzdem umstritten:

– In kleinen Mengen im Urin von vielen Probanden gefunden

– Verdacht als endokriner Disruptor

– Missbildungen im Tierversuch

– Zusatzstoffe erhöhen Giftigkeit

– Vorsitzender und stellvertretender Vorsitzender von JMPR auch in Führungspositionen des International Life Science Institute (ILSI), das von der Lebensmittelindustrie finanziert wird

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 12

Wieso die unterschiedliche Bewertung von Glyphosat seitens EFSA und IARC?

● EFSA– Bewertet nach EU-Recht nur

den reinen Wirkstoff

– Keine Hinweise auf kanzerogene Wirkung aus epidemiologischen Studien oder Tierstudien (Studien mit pos. Trends wurden als qualitativ unzureichend betrachtet)

– Ergebnis: nicht krebserregend für den Menschen

● IARC– Bewertet den Wirkstoff und

Glyphosat basierte Formulierungen

– Benutzte statistische Methodik ergab Signifikanzen bzgl. Krebsentstehung

– Ergebnis: Einstufung als wahrscheinlich krebserregend für Menschen (Klasse 2a)

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 13

„Bienensterben“ – wie schlimm ist es?

1960 1970 1980 1990 2000 20100,00E+00

1,00E+07

2,00E+07

3,00E+07

4,00E+07

5,00E+07

6,00E+07

7,00E+07

8,00E+07

9,00E+07

0,00E+00

2,00E+05

4,00E+05

6,00E+05

8,00E+05

1,00E+06

1,20E+06

1,40E+06

1,60E+06

1,80E+06

Welt

Jahr

An

za

hl B

ien

en

stö

ck

e

Ho

nig

/ t

http://www.fao.org/faostat/en/#data

● 2008: Bienensterben in Süddeutschland

● USA: Colony Collaps Disorder, CCD

1960 1970 1980 1990 2000 20100,00E+00

5,00E+03

1,00E+04

1,50E+04

2,00E+04

2,50E+04

3,00E+04

3,50E+04

4,00E+04

4,50E+04

0

500000

1000000

1500000

2000000

2500000

Deutschland

Jahr

An

za

hl B

ien

en

stö

ck

e

Ho

nig

/ t

FAO-Daten von 1961 – 2014

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 14

Verdächtig: Neonicotinoide (Insektizide)

● Saatbeizung

– Behandlung von Saatgut mit Pflanzenschutzmitteln

– Verteilung in der Pflanze(Neonicotinoide: 2-20 % des eingesetzten Wirkstoffs):systemische Insektizide

– Neonicotinoide sind Nervengifte

● Frankreich, 1994 ff

– Imidacloprid (Gaucho®) 1994 als Beizmittel für Sonnenblumen

– Imker verzeichnen massive Verluste

– 1999:: Beiz-Verbot von Sonnenblumenkernen

● Deutschland, 2008

– Verlust von ca. 11000 Bienenvölkern

– Ursache: Clothianidin gebeizter Mais

– Beizung mangelhafter Qualität

– Daraufhin: Ruhen der Zulassung für mit Neonicotinoden gebeizten Mais seit 2008

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 15

Aussagen/Studien zur Bienengefährlichkeit von Imidacloprid (Science of the Total Environment 376 (2007) 1-17)

... ...

Bienensterben in Frankreich nach dem Einsatz von IMC auf Sonnenblumen

Eigene Studien zeigen:keine neg. Effekte

IMC-Konz. inNektar/Pollen0 oder < LOQ

Genaue Konz. bestimmt: 3,3/1,9 ppb in Pollen/Nektar.Nach außen kommuniziert: 0-5 ppb. LOQ: 5 ppb

Qualität der von Bayer finanzierten Studienwird von unabh. Forschern bemängelt.

Bay

erU

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Fo

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un

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IMC gelangt nichtdie Blüte

LOEC: 5000 ppb

LOEC: 20 ppb

Risiken für Nicht-Ziel-Organismen: „akzeptabel“oder „nicht vorhanden“

Sublethale Effekteab 3 ppb

Detektionsgrenze: 0,3/0,8 Pollen/NektarLOQ: 1 ppb

Imker in der Nähe von Sonnenblumenfeldernbeobachten massive Verluste von Bienen, die Honigernte geht um 40-70 % zurück.

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 16

EU: Bienen-Tests sind unzureichendEFSA Journal 2013;11(7):3295

Dieser Ansatz berücksichtigt nicht:

● die chronische oder wiederholte Exposition

● das Risiko für Bienenlarven

● die Exposition von Hummeln oder Einzelbienen

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 17

Saatgutbeizung mit Neonicotinoiden ist unvereinbar mit dem Prinzip des integrierten Pflanzenschutz

● EU Direktive 2009/128/EC zum Nachhaltigen Einsatz von Pestiziden: – Einsatz nur kleiner Mengen

– kleinst-mögliches Risiko für Mensch und Umwelt

– Einsatz von Mitteln, die möglichst nur den Zielorganismus beeinträchtigen

– Priorität liegt bei nicht-chemischen Methoden

● Neonicotinoide aus gebeiztem Saatgut gelangen direkt in die Umwelt

● Neonicotinoide werden proyphylaktisch eingesetzt, nicht als letztes Mittel

● Neonicotinoide wirken nicht selektiv

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 18

Ausrüsten von Einzelbienen mit RFID-Transpondern

Mickaël Henry et al. Science 2012;336:348-350

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 19

Min.

Wieviele Bienen finden den Weg zurück?

Sublethale Thiamethoxam-Dosis pro Biene: 1,34 ng (ca. 4 ppb)(LD50: 5 ng/Biene (oral), 24 ng/Biene, Kontakt)

Mickaël Henry et al. Science 2012;336:348-350

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 20

Wie ist die Korrelation zwischen Bienensterben und der eingesetzten Menge an Neonicotinoiden?

NATURE | VOL 521 | 21 MAY 2015

Zunahme des Neonicotinoid-Verbrauchs spiegelt nicht den winterlichen Verlust von Bienenvölkern wider.

Zunahme des Neonicotinoid-Verbrauchs spiegelt nicht den winterlichen Verlust von Bienenvölkern wider.

(USA) (USA)

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 21

Kosten und Nutzen bei Einsatz von Neonicotinoiden

EASAC, Ecosystem Services, Agriculture and Neonicotinoids | April 2015

Schätzungen:

● Wert von Bestäubung durch Insekten (Europa): 14,6 Mrd. €

● Gewinne der Industrie mit Neonicotinoiden: 2 Mrd. €

● Rolle von Bodenorganismen:weltweit: 20 Mrd. US$

● Wert der natürlichen Schädlingskontrolle,weltweit: 100 Mrd. US$

Nutzen von Pestizidenfür die● Landwirtschaft● Chem. Industrie

Nutzen durch● Ökosystem-

dienstleistungen

Kosten-Nutzen-Abwägung durch einen wissenschaftlichen Beirat der EU (EASAC)

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 22

Kosten und Nutzen bei Einsatz von Neonicotinoiden

EASAC, Ecosystem Services, Agriculture and Neonicotinoids | April 2015

Schätzungen:

● Wert von Bestäubung durch Insekten (Europa): 14,6 Mrd. €

● Gewinne der Industrie mit Neonicotinoiden: 2 Mrd. €

● Rolle von Bodenorganismen:weltweit: 20 Mrd. US$

● Wert der natürlichen Schädlingskontrolle,weltweit: 100 Mrd. US$

Nutzen von Pestizidenfür die● Landwirtschaft● Chem. Industre Nutzen durch

● Ökosystem-dienstleistungen

Kosten-Nutzen-Abwägung durch einen wissenschaftlichen Beirat der EU (EASAC)

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 23

Blick über den Tellerrand...

Pestizidvergiftungen – weltweit

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 24

Akute Pestizidvergiftungen pro Jahr

Pestizide und Gesundheitsgefahren – Daten und Fakten, PAN Germany, 2012

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 25

Pestizide als Krankheitsursache

● EFSA, 2013: Auswertung von 603 Veröffentlichungen mit epidemiologischen Daten (Ntzani et al., 2013: EN-497)

● Signifikanter Zusammenhang bei– Morbus Parkinson

– Leukämie bei Kindern

● Das Bundesinstitut für Risikoberwertung (BfR, 2006) sieht keine Gefährdung– biologische Plausibilität experimentell nicht hinreichend abgeleitet

– „Ein kausaler Zusammenhang zwischen einer Pestizidaufnahme und dem Entstehen der Krankheit beim Menschen kann somit derzeit nicht belegt werden.“

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 26

UN: Pestizideinsatz verstößt gegen Menschenrechte

Report of the Special Rapporteur on the right to food, März 2017

● Katastrophale Auswirkungen auf– Umwelt

– menschliche Gesundheit

– Gesellschaft als Ganzes

● Nötige Konsequenzen– Abschied von der industriellen

Landwirtschaft

– Hinwendung zur nachhaltigen Landwirtschaft durch Anwendung von Konzepten der Agrarökologie

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 27

Fazit: Wie groß ist das Risiko?

Für den Menschen● In Deutschland und Industrieländern: gering● In Entwicklungsländern: hoch

Für die Umwelt● hoch, durch den Verlust von

– Bestäubern– Biodiversität– intakten Ökosystemen

Ein Verzicht oder eine starke Reduktion der eingesetzten Pestizidmengen ist möglich, um die Nahrungsmittelproduktion weltweit sicherzustellen. Voraussetzung sind genaue Kenntnisse der ökologischen Zusammenhänge und deren Nutzung.

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 28

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 30

Seit 2013, EU-Verordnung: Einschränkung der Anwendung von drei Neonicotinoiden

• EU-Verordnung 485/2013: Ruhen der Zulassung für bestimmte Anwendungen

• Neubewertung erwartet für Januar(?) 2017

– Mai 2013: Durchführungsverordnung wird umgesetzt

– August 2013: Bayer und Syngenta verklagen die EU

– Dezember 2013: Verordnung tritt in Kraft

– Juli 2015: Eilverordnung des BMEL mit Verbot des Imports, des Inverkehrbringens und der Aussaat von behandeltem Wintergetreide

– März 2016: Laut Süddeutscher Zeitung plant das BMEL eine Wiederzulassung bei Unterschreitung gewisser Grenzwerte

– Letzter Stand: Verordnung bleibt unverändert in Kraft

Clothianidin

Imidacloprid

Thiamethoxam

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 31

Zulassungbestimmungen

Bienenschutzverordnung

● Bienengefährlich (B1)– Keine Aufbringung auf von Bienen

beflogene Pflanzen

● Bienengefährlich (B2)– Erlaubt zur Anwendung nach 23.00

Uhr

● Bienengefährlich (B3)– Im Rahmen der Zulassung nicht

bienengefährdend

● Bienengefährlich (B4)– Bis zur höchsten Aufwandmenge

nicht bienengefährdend

VERORDNUNG (EG) Nr. 1107/2009

… wird nur genehmigt, wenn ... festgestellt wird, dass seine Verwendung

● zu einer vernachlässigbaren Exposition von Honigbienen führt, oder

● unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf Honigbienenlarven und das Verhalten von Honigbienen keine unannehmbaren akuten oder chronischen Auswirkungen auf das Überleben und die Entwicklung des Bienen­volks hat.

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 32

Was sind „Pestizide“?

Verordnung (EU) Nr. 528/2012, 1107/2009 und Richtlinie 91/414/EWG

lat. pestis (Seuche, Unglück) und -cidere (töten)engl. pest: Schädling

Überbegriff für Pflanzenschutzmittel (Herbizide)und Schutzmittel gegen Schadorganismen wie Nager (Biozide):

• Hauptsächlich organische Verbindungen

• Daneben wenige anorganische Verbindungen: Schwefel, Kupersalze (obsolet: Hg-, Pb-, As-Verbindungen)

„Biozidprodukt“

Jeglicher Stoff oder Stoffgemisch der/das auf andere Art als durch bloße physikalische oder mechanische Einwirkung Schadorganismen

• zerstört,

• abschreckt,

• unschädlich macht

• oder Schadorganismen auf andere Art bekämpft.

„Pflanzenschutzmittel“

Wirkstoffe und Gemische, die Pflanzen

• vor Schadorganismen schützen oder ihrer Einwirkung vorbeugen

• in einer anderen Weise als ein Nährstoff die Lebensvorgänge von Pflanzen beeinflussen (z. B. Wachstumsregler);

• Pflanzenerzeugnisse konservieren

• unerwünschte Pflanzen vernichten oder deren Wachstum hemmen.

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 33

Schicksal von Neonicotinoiden in der Umwelt

EASAC, Ecosystem Services, Agriculture and Neonicotinoids | April 2015

Neonicotinoide von gebeizten Samen gelangen zu 100 % in die Umwelt.

Neonicotinoide von gebeizten Samen gelangen zu 100 % in die Umwelt.

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 34

Rückgang von Wildbienen durch Neonicotinoide

NATURE COMMUNICATIONS | 7:12459 | 2016

● 2016: Nature Veröffentlichung „Impacts of neonicotinoid use on long term population changes in wild bees in England“

● Auswertung von Daten aus 18 Jahren

● 62 Spezies

● Eindeutige Korrelation des Rückgangs der Wildbienen mit dem Gebrauch von mit Neonicotionoiden behandelter Rapssaat

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 35

Industrie-finanzierte Studien sehen keine Hinweise auf schädliche Wirkungen durch Neonicotinoide

● Environ Toxicol Chem. 2016 Oct 18. doi: 10.1002/etc.3655. [Epub ahead of print]. Ecological risk assessment for aquatic invertebrate communities exposed to imidacloprid as a result of labeled agricultural and nonagricultural uses in the United States– Overall, the results of this assessment indicated that the aquatic

invertebrate community is unlikely to be adversely affected by acute or chronic exposure to imidacloprid resulting from currently registered uses of imidacloprid in the United State

● Ecotoxicology. 2016 Nov;25(9):1617-1629. Epub 2016 Oct 5. Review of field and monitoring studies investigating the role of nitro-substituted neonicotinoid insecticides in the reported losses of honey bee colonies (Apis mellifera).– Overall then, the available monitoring data indicates that there is no

widespread correlation between neonicotinoids such as clothianidin (either in terms of use or residues present in bee matrices) and observed trends in honey bee performance, either in general or in terms of colony losses.

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 36

Fazit

● Das Phänomen „Bienensterben“ ist lokal unterschiedlich stark ausgeprägt

● Neonicotinoide sind nicht allein verantwortlich für Schäden an Honigbienen

● Neonicotinoide sind mitverantwortlich für den Rückgang von u. a. Wildbienen, Hummeln, weiteren Bestäubern, Wasserinsekten, Vögeln

● Das Bienensterben ist nur ein Symptom einer tiefergehenden Problematik: Der Einsatz von Pestiziden führt zur Abnahme von – Bestäubern

– Biodiversität

– intakten Ökosystemen

und damit zu höheren (teilweise irreversiblen) Verlusten als der Einsatz großer Mengen Pestizide

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 37

Verdächtig: Neonicotinoide (Insektizide)

● Mit am häufigsten benutzte Insektizide

● Zugelassen in 120 Ländern● Ein Drittel des Insektizid-Marktes● Derivate des Nikotins; ebenfalls

Nervengifte

Nikotin

● Nikotin

– Alkaloid von Nachtschattengewächsen; 1828 zum ersten Mal isoliert

– Stark wirksames Nervengift;LD, Mensch, ca. 500 mg

– Abwehr von Fraßfeinden

– Anwendung als Pestizid seit Anfang 1980 verboten

Carver, Jonathan, Wikimedia Commons

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 38

Bienensterben – welche Ursachen gibt es?

● Parasiten– Befall mit der Milbe Varroa destructor

● Viren, Pilze● Schwächung des Immunsystems● Klimaveränderung

● Erhöhte CO2-Konzentration in der Atmosphäre

● Klimaverschiebung● Transgene Pflanzen?● Mobilfunk?● Zerstörung des Lebensraums, Abnahme der Biodiversität

– Pestizide

By CSIRO, CC BY 3.0 https://commons.wikimedia.org/

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 39

Neonicotinoide – Wirkmechanismus

● Neonicotinoide sind Nervengifte

● Neonicotinoide aktivieren den nicotinischen Acetylcholin-Rezeptor von Insekten.

● Kumulative Wirkung

● Nur schwache Wirkung am humanen Rezeptor:

→ Relativ geringe Humantoxizität

Wikimedia Commons

Acetylcholin

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 40

Honigbienen sind kein empfindlicher Indikator zur Beurteilung von Neonicotinoiden

● Das Vorkommen ist abhängig von Hobbytrends, Honigpreisen u. a.

● Honigbienen können Verluste relativ gut ausgleichen

● Hummelvölker haben viel weniger Individuen

● Einzelbienen haben keine Reserven

● Erweiterte Betrachtung:„Ökosystem-Dienstleistungen“– Bestäubung

– genetische Biodiversität

– Natürliche Schädlingsbekämpfung

– fruchtbare Böden

– Kohlenstoff-Senke, ...

EASAC, Ecosystem Services, Agriculture and Neonicotinoids | April 2015

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 41

Das erste Neonicotinoid (Imidacloprid)wurde 1991 zugelassen

EASAC, Ecosystem Services, Agriculture and Neonicotinoids | April 2015

Nikotin

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 42

Neonicotinoid-Konzentrationen in der UmweltRaps-Feld, Samen mit Thiamethoxam behandelt (4,2 g/kg)

CLOTMX IMC THCErdreich

● Schneller photolytischer Abbau● Halbwertszeiten im Boden:

Tage bis Jahre

EASAC, Ecosystem Services, Agriculture and Neonicotinoids | April 2015 |

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 43

Neonicotinoid-Konzentrationen in der UmweltRaps-Feld, Samen mit Thiamethoxam behandelt (4,2 g/kg)

CLOTMX IMC THC

Pollen

Nektar

Neonicotinoide finden sich auch auf unbehandelten Flächen.

Neonicotinoide finden sich auch auf unbehandelten Flächen.

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 44

Glyphosat: Resistenzbildung

Hans-Jörg Martin, Pestizide

● Insbesondere in den USA gibt es immer mehr resistente Pflanzen („super weeds“)

– Das Herbizid2,4-D (=2,4-Dichlor-phenoxyessig-säure) wirkt noch.

– Neue genveränderte, 2,4-D-resistente Nutzpflanzen stehen in den USA kurz vor der Zulassung.

DER SPIEGEL 39/2014

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 45

Comparison of honey bee population dynamics between simulated colonies exposed to thiamethoxam (red lines) or not exposed (blue lines), following six demographic scenarios.

Simulation der Anzahl der Bienen im Stock

Mickaël Henry et al. Science 2012;336:348-350

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 46

Saatgutbeizung mit Neonicotinoiden ist unvereinbar mit dem Prinzip des integrierten Pflanzenschutz

● EU Direktive 2009/128/EC zum Nachhaltigen Einsatz von Pestiziden: – ‚Member states shall take all

necessary measures to promote low pesticide-input pest management, giving wherever possible priority to non-chemical methods, so that professional users of pesticides switch to practices and products with the lowest risk to human health and the environment. ...’‘The pesticides applied shall be as specific as possible for the target ...‘

● Neonicotinoide aus gebeiztem Saatgut gelangen direkt in die Umwelt

● Neonicotinoide werden proyphylaktisch eingesetzt, nicht als letztes Mittel

● Neonicotinoide wirken nicht selektiv

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 47

Herbizide — Glyphosat

● ein Totalherbizid● 1974 von Monsanto auf den Markt gebracht (Roundup®)● Weltweit das am meisten eingesetzte Herbizid● inhibiert das Enzym 5-Enolpyruvylshikimat-3-phosphat-

Synthase (EPSPS) des Shikimatwegs, ein Stoffwechselweg der nur in Pflanzen vorkommt

● Gelangt über die Blätter in die Pflanze● Verwendung

– auf Bahngleisen

– Vernichtung von Unkräutern (statt Pflügen)

– zusammen mit durch Gentechnik veränderten resistenten Pflanzen („Genmais“, noch keine Zulassung in der EU)

DER SPIEGEL, 25/2011

Hans-Jörg Martin, Pestizide

P NH

OH

OO

OH

OH

Glyphosat, N-(Phosphono-methyl)glycin

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 48

Glyphosat — (Öko-)Toxikologie

• LD50 von reinem Glyphosat, Ratte, oral: 4280 mg/kg

– im Handel erhältliche Produkte: LD50 ca. 3x niedriger

(→Trägerstoffe)

• ADI-Wert: 0,3 mg/kg

• Geringe Flüchtigkeit (Feststoff)

• Halbwertszeiten im Boden und in Gewässern: ca. 1-2 Wochen

• Schneller mikrobieller Abbau zu – AMPA, dann weiter zu

– Formaldehyd

– Kohlendioxid

– Phosphat– Ammonium

• → akut geringe Ökotoxizität, aber Verarmung der Landschaft an Wildpflanzen (Totalherbizid)

Hans-Jörg Martin, Pestizide

Glyphosat

Aminomethylphosphonsäure, AMPA

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 49

Bundesamt für Naturschutz, Artenschutz-Report 2015

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 50

Gesundheitsbeeinträchtigung durch Pestizide weltweit

Pesticide poisoning: an important method of fatal self-harm, WHO 2004

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 51

Welche Pestizide finden sich in Pollen?

PLOS ONE 2014 | Volume 9 | Issue 4 | e94482

Neonicotinoide

161 Pestizide sind in Bienenstöcken gefunden worden (2014).

161 Pestizide sind in Bienenstöcken gefunden worden (2014).

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 52

Welche Pestizide finden sich im Nektar?

PLOS ONE 2014 | Volume 9 | Issue 4 | e94482

Neonicotinoide

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 53

Nationale Berichterstattung Pflanzenschutzmittelrückstände in Lebensmitteln 2011

Rückstände > Höchstgehalt (268) -beanstandet-

ohne Rückstände (nicht quantifizierbar) (6625)

mit Rückständen (10036)

Rückstände > Höchstgehalt (457)

Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL)

Hans-Jörg Martin, Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler 54

Geringe Belastung von Lebensmitteln aus ökologischem Landbau, 2011

0,5 %

0,3 %

Rückstände > Höchstgehalt (7)-beanstandet-

ohne Rückstände (nicht quantifizierbar) (1166)

Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL)

mit Rückständen (253)

Rückstände > Höchstgehalt (11)

Rückstände meist im Spurenbereich.4 der 7 beanstandeten Proben: Glyphosat in getrockneten Linsen.