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1 Dreht sich die Erde wirklich um die Sonne? Zum Begriff der Wahrheit in Mathematik und Naturwissenschaften Holger Stephan Weierstraß Institut f¨ ur Angewandte Analysis und Stochastik (WIAS), Berlin 24. Tag der Mathematik 11. Mai 2019, Beuth Hochschule f ¨ ur Technik Berlin

Dreht sich die Erde wirklich um die Sonne? Zum Begriff der ... · Zum Begriff der Wahrheit in Mathematik und Naturwissenschaften 2 Mathematische Modellierung I Was macht die angewandte

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Dreht sich die Erde wirklich um die Sonne?Zum Begriff der Wahrheit in Mathematik und

Naturwissenschaften

Holger Stephan

Weierstraß Institut fur AngewandteAnalysis und Stochastik (WIAS), Berlin

24. Tag der Mathematik11. Mai 2019, Beuth Hochschule fur Technik Berlin

Zum Begriff der Wahrheit in Mathematik und Naturwissenschaften 2

Mathematische Modellierung

I Was macht die angewandte Mathematik?

I Wechselspiel zwischen mathematischen undrealen/physischen Objekten.

I Wechselspiel zwischen mathematischen Wahrheiten undNaturgesetzen (Wahrheiten in den Naturwissenschaften).

I Kann man aus der Mathematik auf die Realitat schließen?

I Was hat man tatsachlich modelliert?

I Ist das Ergebnis objektiv? (Hangt nicht vom Subjekt ab.)I Wer macht mit beim Modellieren:

I MathematikerI Naturwissenschaftler (Entdecker)I Ingenieure (Erfinder, fruher: kreative Handwerker)

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Vortragsubersicht

I Der Satz des Pythagoras

I Geo- vs. heliozentrisches Weltbild

I Galileis Fallgesetz

I Das Atommodell

I Das Perpetuum mobile

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Mathematischen Wahrheiten

Typisches Beispiel: Der Satz des Pythagoras.Zusammenhang zwischen einem geometrischen Objekt(rechtwinkliges Dreieck) und einem algebraischen Objekt(Gleichung).

Typische Eigenschaften in der Mathematik:

I Wahrheit wird nicht durch die Erfahrung sondern durch dieLogik (den Beweis) vermittelt.

I Jeder kann den Beweis jederzeit uberprufen.I Die Wahrheit ist absolut (unveranderbar, ewig,

unabhangig von Raum und Zeit)I In der Mathematik gibt es keine Lugner, keine Demagogen.I In der Mathematik gibt es keine “Meinungen”.

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Der Satz des Pythagoras in der Anwendung

I Ingenieur: ZwolfknotenschnurI Agypten: Harpedonapten

(Seilspanner)I Die Umkehrung: Die

Zwolfknotenschnur verstehen.I Ist der Satz des Pythagoras ...

I ... eine Entdeckung odereine Erfindung?

I ... ein Naturgesetz?

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Mathematiker und Ingenieure als Philosophen

Ziele:

I Mathematiker: Der Beweis muß gefunden werden.I Ingenieur: Das Ding muß funktionieren.

Philosophische Schlusse (Ist die Welt erkennbar?)

I Mathematiker:Alle interessanten wahren Satze sind auch prinzipiell beweisbar.David Hilbert: “In der Mathematik gibt es keinen Ignorabimus.”Ignoramus et ignorabimus(lat. ”Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen“)Der Godelsche Unvollstandigkeitssatz widerspricht dem nicht!

I Ingenieur: Dem Ingenieur ist nichts zu schwor.

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Geo- oder heliozentrisches Weltbild

I 1543 Hauptwerk von Nikolaus KopernikusDe revolutionibus orbium coelestium(dt.: Uber die Umschwunge der himmlischen Kreise)

I Vorher: geozentrisch; Nachher: heliozentrischI Historie:

I Bonaventura 1221-1274(Christus als Sonne in der Mitte der Schopfung)

I Nikolaus von Oresme 1330-1382I Nikolaus Kopernikus 1473-1543

I Geozentrisches Weltbild wurde bis ins 19 Jh. praktisch benutzt.

I Wer dreht sich denn nun um wen? Experiment?

I Heute: Alles ist relativ.

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Warum der ganze Streit?

I Mal sind die einen die Ketzter, mal die anderen.I Was passierte damals noch?

I Nikolaus Kopernikus 1473-1543I Pierre de Fermat 1607-1655

rechtwinklige KoordinatenI Rene Descartes 1596-1650

Verlegt das Koordinatensystem aus dem Menschen heraus.

I Die Sicht des Menschen auf die Welt hat sich verandert.

I Wie sehen es alternative Wissenschaftler?

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Das Fallgesetz. Galileis Beweis

I Aristoteles: Doppelt so schwere Korper fallen doppelt so schnell.

I Galilei: Alle Korper fallen gleichschnell.

I Galileis Beweis: Rein logisch, kein Experiment!

I Exakter:Es seien mi –Masse, v(mi) –GeschwindigkeitenZ.z. v(m1) = v(m2). Galilies Beweis (indirekt):

I Annahme: m1 < m2 =⇒ v(m1) < v(m2)

I Voraussetzung 1: m1 + m2 > m1,m2

I Voraussetzung 2: v(m1) < v(m1 + m2) < v(m2)

I =⇒ Widerspruch zur Annahme

Galileo Galilei

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Was ist ein Naturgesetz?

I Naturgesetz = Zwangsverhalten der Natur

I Naturgesetz rein logisch hergeleitet!Warum muß sich die Natur an die Logik halten?

I Schizophrenie:I Wir beobachten: Jeder Korper fallt wie er will.I Wir wissen: In Wirklichkeit fallen alle Korper gleichschnell.

I Darf die Natur sich nicht an die Logik halten?I Hegel: “Wenn die Tatsachen nicht mit der

Theorie ubereinstimmen – umso schlimmerfur die Tatsachen.”

I Woher kommen Galiles Voraussetzungen?1: m1 + m2 > m1,m22: v(m1) < v(m1 + m2) < v(m2) Georg Wilhelm

Friedrich Hegel

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Intensive und extensive Großen

I Wie verhalt sich eine physikalische Große,wenn man zwei Korper in Kontakt bringt?

I Es gibt nur zwei Typen physikalischer Großen:Extensive Intensive

m12 = m1 + m2 > m1,m2 v12 =αv1 + βv2

α + β∈ [v1, v2]

I Intensive Großen sind z.B.: Temperatur, Geschwind., Kraft,Helligkeit, Prozentanteile, Preis

I Extensive Großen sind z.B.: Lange (Weg), Zeitintervall,Volumen, Masse, Stuckzahl, Impuls, Energie

I Der Mensch interessiert sich fur nichts anderes!I Intensive Großen konnen wir beobachten und vergleichen.I Extensive Großen konnen wir durch zahlen messen.

Extensive Großen erhalten sich!

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Intensive und extensive Großen und Galileis Beweis

I Galilei: Wie verhalt sich eine intensive Große (Geschwindigkeit),wenn sie nur von einer extensive Große (Masse) abhangt?

I Stellt sich heraus: Sie muß konstant bleiben.

I Diese Eigenschaft steckt in den gewahlten Großen bereits drin.Wir wußten es nur nicht.

I Das Fallgesetz ist ein mathematischer Satz.Ob wir ihn anwenden konnen hangt von der Situation ab.

I Satz gilt nicht fur Temperatur anstelle der Masse.

I Satz gilt nicht bei komplizierteren Abhangigkeiten.

I Moral: Verwechsle nicht Naturgesetz und mathematischer Satz!

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Das Atommodell

I Hypothese: Alle Materie ist aus diskreten Objekten (Atomen)zusammengesetzt (seit Demokrit).

I Das Atommodell war im 19.Jh stark umstritten.Heute scheint es sich durchgesetzt zu haben.

I Fruher umstritten. Heute bewiesen?

I Das Atommodell hat sich entwickelt (die Atome sindkomlizierter geworden, haben mehr Freiheitsgrade erhalten).

I Ernst Mach war Gegner des Atommodells.

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Ernst Mach. Physiker und Philosoph

I Werke:I Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von

der Erhaltung der Arbeit (1872)I Die Mechanik in ihrer Entwickelung

historisch-kritisch dargestellt (1883)I Die Principien der Warmelehre (1896)I Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur

Psychologie der Forschung (1905) Ernst Mach

Was ist Wissenschaft?Man fuhrt ungewohnliche Unverstandlichkeitenauf gewohnliche Unverstandlichkeiten zuruck.

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Der radioaktive Zerfall

I Ausgangspunkt: Atommodell.Es gibt diskrete Atome, die zerfallen.

I Herleitung einer Gleichung fur die Stoffmenge x zu denZeitpunkten t und t + ∆t:

I In einer Zeiteinheit ∆t zerfallen k Atome.I Gleichung: x(t + ∆t) = x(t)− kI Wir nehmen an, daß k proportional zu ∆t und zu x(t) ist:

k = a ·∆t · x(t) mit der Zerfallsrate a. Das ergibt:

x(t + ∆t) = x(t)− a ·∆t · x(t) =⇒ x(t + ∆t)− x(t)∆t

= −ax(t)

I Grenzwert: ∆t−→ 0. Das ergibt:

ddt

x(t) = −ax(t) =⇒ x(t) = x0e−at

I Was haben wir tatsachlich modelliert? Ein Kontinuum!I Moral: Eine raumlich diskrete Welt vertragt sich nicht

mit einer kontinuierlichen Zeit!

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Naturwissenschaftler als Philosophen

I Naturwissenschaftler (Physiker) bilden die Brucke zwischender geistigen Welt (der Mathematiker) undder physischen Welt (der Ingenieure).

I David Hilbert:“Die Physik ist fur die Physiker eigentlich viel zu schwer.”

I Schließen von den mathematischen Eigenschaften des Modellsauf die Eigenschaften der Natur.

I Vorherbestimmtheit der Entwicklung (weil unseremikroskopischen Gleichungen deterministisch sind).

I Schmetterlingseffekt (weil dynamische Systeme chaotischesVerhalten zeigen).

I Warmetod (weil die Boltzmanngleichung und andere dissipativeGleichungen irreversibel ist).

I Feinabstimmung der Naturkonstanten

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Das Perpetuum mobile (erster Art)

Typischer Dialog zwischen Ingenieur und Physiker:

I Ein Perpetuum mobile war’ schon toll. Kann man sowas bauen?I Nein!I Schade. Warum denn nicht?I Wegen des Energieerhaltungssatzes.I Und warum gilt der?I Der folgt aus dem Satz von Emmi Noether.

Satz von Emmy Noether (Differentialgeometrie, 1918):Zu jeder kontinuierlichen Symmetrie eines physikalischen Systemsgehort eine Erhaltungsgroße.

Merke: Ein mathematischer Satz wird zur Ikone erhobenund bremst die Kreativitat des Ingenieurs.

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Die Geschichte der Unmoglichkeit(in umgekehrter chronologischer Reihenfolge)

I 1918: Satz von Emmy Noether

I 1847: Hermann von Helmholtz leitet den Energieerhaltungssatzfur einfachste mechanische Systeme (n Punktmassen) her.

I 1842: Julius Robert von Mayer (mechanischenWarmeaquivalent).

I 1775: Die Pariser Akademie der Wissenschaften beschloß,keine Patentantrage auf ein Perpetuum mobilemehr zur Prufung anzunehmen,da eine immerwahrende Bewegung nicht moglich sei.

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Der Energieerhaltungssatz

I Wikipedia: Der Energieerhaltungssatz druckt dieErfahrungstatsache aus, dass die Energie eine Erhaltungsgroßeist, dass also die Gesamtenergie eines abgeschlossenen Systemssich nicht mit der Zeit andert.

I Falsch: Wenn wir beschließen, nach den Eigenschaften derEnergie zu fragen, haben wir bereits festgelegt, daß wir uns fureine extensive Große – also eine Erhaltungsgroße – interessieren.

I Denke uberall “Lange” anstelle von “Energie”.

I Das besondere beim Energieerhaltungssatz ist das Experiment,namlich das Konnen, in einem abgeschlossenen Systemverschieden “Energiearten” moglichst ohne Verlust ineinanderumzuwandeln.

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Energieerhaltungssatz und Perpetuum mobile

I Konstruiere ein Perpetuum mobile bedeutet nicht:Konstruiere eine Maschine, die den EES verletzt.

I Das ist dasselbe wie:Finde eine ungerade Zahl, die durch 2 teilbar ist.

I Konstruiere ein Perpetuum mobile bedeutet:Konstruiere etwas, wo mehr Energie herauskommt,als man hineingesteckt hat.Naturlich in einem offenen System!

Und das machen wir jeden Tag ohne Muhe.Z.B. In Solaranlagen (seit kurzem).

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Das Zetler-Lexikon

I Johann Heinrich ZetlersGroßes vollstandigesUniversal-Lexicon AllerWissenschafften und Kunste

I Erschien in den Jahren1731 bis 1754

I Umfangreichste Enzyklopadieim Europa des 18. Jh

I 64+4 Bande, 63.000 Seiten,284.000 Eintrage

Die Aufgaben eines Mathematick-Lehrers 22

Mathematick-Lehrer, Mathematicus, ... ... die einige Sachen aus derausubenden Mathematick verstehen, z.B.die geometrischen Figuren sauber auf das Papier zu zeichnen,oder ein Feld zu messen,oder ein Brenn-, Fern- oder Vergroßerungs-Glas zu schleifen,oder einen Calender zu machen,oder eine Sonnen-Uhr zu verfertigen,oder ein Wetter-Glas zuzubereiten,oder eine Kugel (Globum) aufzuziehen, oder einen schonen bunten Rißvon einer Festung oder einem Gebaude zu machen,oder durch vieles Versuchen eine Maschine,ja wol gar vermeyntes Perpetuum mobile heraus zu bringen, oder ewasanders dergleichen zu thun vermogend sind...

In eigener Sache 23

Ausbildung am WIAS

I Beobachtung (empirische Feststellung):Nicht jeder Schuler, der gut in Mathe ist, will studieren.

I Das WIAS bildet Lehrlinge (Azubis) zum

Mathematisch-technischen Softwareentwickler(MATSE)

aus.

I Dreijahrige duale Ausbildung:1 Woche Berufsschule, 2 Wochen Arbeit am WIAS

I Im Herbst beginnt die Bewerbungsphase fur den neuenAusbildungszyklus 2020-2023.

I Betrifft Schuler, die jetzt in der 11. Klasse sind.