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Archiv für die Herausgegeben von Reinhard Bork · Jochen Taupitz Gerhard Wagner civilistische Praxis AcP 214 (2014), S. 1–308 Archiv für die civilistische Praxis E 20087 F 214. Band · Heft 1/2 April 2014 Vorwort: Methoden des Privatrechts Rolf Stürner Die Zivilrechtswissenschaft und ihre Methodik Hans-Peter Haferkamp Zur Methodengeschichte unter dem BGB in fünf Systemen Beate Gsell Zivilrechtsanwendung im Europäischen Mehrebenensystem Paul Oberhammer Kleine Differenzen Peter O. Mülbert Einheit der Methodenlehre? Digitaler Sonderdruck des Autors mit Genehmigung des Verlages

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Archiv für die

Herausgegeben vonReinhard Bork · Jochen Taupitz

Gerhard Wagner

civilistische Praxis

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214. Band · Heft 1/2 April 2014

Vorwort: Methoden des Privatrechts

Rolf StürnerDie Zivilrechtswissenschaft und ihre Methodik

Hans-Peter HaferkampZur Methodengeschichte unter dem BGB

in fünf Systemen

Beate GsellZivilrechtsanwendung im Europäischen

Mehrebenensystem

Paul OberhammerKleine Differenzen

Peter O. MülbertEinheit der Methodenlehre?

Digitaler Sonderdruck des Autors mit Genehmigung des Verlages

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Digitaler Sonderdruck des Autors mit Genehmigung des Verlages

Archiv für die civilistische PraxisHerausgegeben von

Reinhard Bork, Jochen Taupitz und Gerhard Wagner

Abhandlungen und Diskussionsberichte

Vorwort: Tagung der Zivilrechtslehrervereinigung zum Thema „Methoden des Privatrechts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1Rolf Stürner: Die Zivilrechtswissenschaft und ihre Methodik – zu rechts-

anwendungsbezogen und zu wenig grundlagenorientiert? . . . . . . . . . . . . . . . . 7Diskussionsbericht zum Referat von Rolf Stürner Referent: Gregor Christandl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55Hans-Peter Haferkamp: Zur Methodengeschichte unter dem BGB in fünf Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60Diskussionsbericht zum Referat von Hans-Peter Haferkamp Referent: Sebastian A.E. Martens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93Beate Gsell: Zivilrechtsanwendung im Europäischen Mehrebenensystem . . . . . . . 99Diskussionsbericht zum Referat von Beate Gsell Referentin: Johanna Kroh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151Paul Oberhammer: Kleine Differenzen – Vergleichende Beobachtungen zur zivilistischen Methode in Deutschland, Österreich und der Schweiz . . . . . . . 155Diskussionsbericht zum Referat von Paul Oberhammer Referent: Gregor Christandl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183Peter O. Mülbert: Einheit der Methodenlehre? – Allgemeines Zivilrecht und Gesellschaftsrecht im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188Diskussionsbericht zum Referat von Peter O. Mülbert Referent: Christoph Kumpan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Manuskripte und redaktionelle Anfragen werden an einen der Herausgeber erbeten:– Prof. Dr. Reinhard Bork, Seminar für Zivilprozeß- und Allg. Prozeßrecht, Universität Hamburg,

Rothenbaumchaussee 33, 20148 Hamburg; [email protected]– Prof. Dr. Jochen Taupitz, Fakultät für Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre der Uni-

versität Mannheim, Schloß, 68131 Mannheim; [email protected]– Prof. Dr. Gerhard Wagner, Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Lehrstuhl

für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und Ökonomik, Unter den Linden 9, 10099 Berlin; [email protected]

Rezensionsexemplare werden an den Verlag erbeten.Übertragung der Rechte: Mit der Annahme zur Veröffentlichung überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht für die Publikation in gedruckter und elektronischer Form. Wei-tere Informationen dazu und zu den beim Autor verbleibenden Rechten finden Sie unter www.mohr.de/acpOhne Erlaubnis des Verlags ist eine Vervielfältigung oder Verbreitung der ganzen Zeitschrift oder von Teilen daraus in gedruckter oder elektronischer Form nicht gestattet. Bitte wenden Sie sich an [email protected]

Richtlinien für Manuskripte für das AcP finden Sie unter www.mohr.de/acp––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Erscheinungsweise: Bandweise, pro Jahr erscheint ein Band zu 6 Heften mit je etwa 150 Seiten.Online-Volltext: Im Abonnement für Institutionen und Privatpersonen ist der freie Zugang zum Online-Volltext enthalten. Institutionen mit mehr als 20.000 Nutzern bitten wir um Einholung eines Preisangebots direkt beim Verlag. Kontakt: [email protected]. Um den Online-Zugang für Institutionen / Bibliotheken einzurichten, gehen Sie bitte zur Seite: www.ingentaconnect.com/ register/institutional. Um den Online-Zugang für Privatpersonen einzurichten, gehen Sie bitte zur Seite: www.ingentaconnect.com/register/personal.Verlag: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG, Postfach 2040, 72010 Tübingen. www.mohr.de Vertrieb: erfolgt über den Buchhandel.

© 2014 Mohr Siebeck GmbH & Co. KG, Tübingen. – Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen einzelnen Bei träge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISSN 0003-8997

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AcP60 Hans-Peter Haferkamp

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AcP 214, 60–92 – DOI: 10.1628/000389914X13981553946570ISSN 0003-8997 – © Mohr Siebeck 2014

Zur Methodengeschichte unter dem BGB in fünf Systemen*

von Prof. Dr. Hans-Peter Haferkamp, Köln

Inhaltsübersicht

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

II. 1905: Emil Lask, Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

III. 1925: Julius Binder, Philosophie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

IV. 1933: Gründung der Akademie für Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

V. 1958: Das Lüth-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

VI. 1970: Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

VII. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

I. Einleitung

Wer die Symposien und Aufsätze zum 100-jährigen Bestehen des BGB 1996 und 20001 mit den Feiern zum Bicentenaire des Code civil im Jahr 2004 vergleicht, sieht sofort die Unterschiede: Französische Euphorie steht nüch-

* Schriftfassung des auf der Tagung der Zivilrechtslehrer in Würzburg 2013 ge-haltenen Vortrags. Die Vortragsform wurde beibehalten. Der Abschnitt V wurde aus Zeitgründen in Würzburg nicht vorgetragen. Ich danke Jan Schröder, Jan Thiessen, Michael Stolleis und Marju Luts-Sootak für ihre Hinweise, Joachim Rückert für die Überlassung seiner höchst instruktiven Vorlesungsmaterialien und Susanne K. Paas für ihre Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts.

1 Aufsätze: Schulte-Nölke NJW 1996, 1705 ff.; Schmoeckel NJW 1996, 1697 ff.; Stürner JZ 1996, 741 ff.; Wassermann DWW 1996, 270 ff.; Strätz FamRZ 1998, 1553 ff.; G. Wagner Jura 1999, 505 ff.; Horn NJW 2000, 40 ff.; Plett/Berghahn, in: Dickmann/Schöck-Quinteros (Hg.): Barrieren und Karrieren: Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland, 2000, 363 ff. sowie die Beiträge in AcP 200 (2000); Monographie: Knieper, Gesetz und Geschichte: Ein Beitrag zu Bestand und Veränderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 1996; Sammelbände: Willingmann et al. (Hg.), Das deutsche Zivilrecht 100 Jahre nach Verkündung des BGB: Erreichtes, Verfehltes, Übersehenes. Rostocker Tagung 11.-14. September 1996, 1997; Jayme/Mansel (Hg.), Auf dem Weg zu einem ge-meineuropäischen Privatrecht: 100 Jahre BGB und die lusophonen Länder: Symposium in Heidelberg 29.-30.11.1996, 1997; Martinek (Hg.), 100 Jahre BGB – 100 Jahre Stau-dinger: Beiträge zum Symposion vom 18.-20. Juni 1998 in München, 1999; Eisenhardt (Hg.), 100 Jahre BGB: Vortragsreihe der Juristischen Gesellschaft Hagen, 2001; Geiß/Lange (Hg.), 100 Jahre Bürgerliches Gesetzbuch – 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2001;

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Zur Methodengeschichte unter dem BGB in fünf Systemen 61214 (2014)

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terner deutscher Analyse gegenüber. Zu einer offiziellen Festschrift wie in Frankreich2 mochte man sich in Deutschland nicht entschließen, stattdes-sen gab die deutsche Rechtswissenschaft just im Jahr 2000 eine vierbändige Festgabe zum 50-jährigen Jubiläum des BGH heraus.3 Bereits mit dem Er-scheinen des Ersten Entwurfs eines BGB im Jahr 1888 hatte die zunächst so herbeigewünschte deutsche Kodifikation4 alle Hoffnungen in den Gesetz-geber zerstört, und diese Hoffnungen kehrten im 20. Jahrhundert eigentlich nie zurück.5 Das BGB ist seinen Ruf nie losgeworden, inhaltlich und metho-disch fehlkonstruiert zu sein.6 Dies zu ändern, traute man dem Gesetzgeber freilich auch später nicht zu, sondern setzte auf den durch die Rechtswissen-schaft angeleiteten Richter. Daher begann im Umfeld der Kodifikationsdebat-ten um 1900 die große Zeit der deutschen Methodenlehre.7 Ausgangspunkt war nicht zuletzt ein Minderwertigkeitsgefühl der Rechtswissenschaft. Mit dem von Rudolph von Jhering 1884 eingeleiteten Kampf gegen die Begriffs-jurisprudenz8 verlor die Privatrechtswissenschaft die Gewissheit, über ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren der Rechtsproduktion zu verfügen. Begriffliche Deduktion, syllogistische Subsumtion, formale Logik, Inversi-onsmethode und Begriffspyramide wurden zu Schlagwörtern verfehlten Me-thodendenkens.9 Damit wurde Rechtsdogmatik insgesamt zweifelhaft. Was

Walter (Hg.), 100 Jahre BGB: das Bürgerliche Recht – von der Vielfalt zur Einheit: Vor-tragsreihe anläßlich einer Sonderausstellung des Landgerichts Flensburg zum 100. Ge-burtstag des Bürgerlichen Gesetzbuches, 2000; Falk/Mohnhaupt (Hg.), Das BGB und seine Richter, 2000.

2 Association Henri Capitant/Cour de cassation/Grimaldi/Ordre des advocats du conseil d’Etat (Hg.), Code civil: Colloque du Bicentenaire, 2004.

3 Canaris et al. (Hg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof: Festgabe aus der Wissenschaft, München 2000.

4 Vgl. nur Windscheid, in: Oertmann (Hg.), Gesammelte Reden und Abhandlun-gen, 1904, 70 ff.; hierzu HKK/R. Zimmmermann, Bd. I, 2003, Vor § 1 Rn. 9.

5 Schulte-Nölke, in: Willingmann (Fn. 1), 9 ff.; HKK/Rückert, Bd. I, 2003, Vor § 1; auch die Debatte um das „Denkmal“ BGB während der Schuldrechtsreform war wohl weniger von der plötzlich erwachten Liebe zum BGB als eher davon angetrieben, dass man dem gegenwärtigen Gesetzgeber noch weniger zutraute als dem vergangenen, vgl. nur Jakobs JZ 2001, 27 ff.

6 Zusammenstellung der wichtigsten Bilder bei Thiessen, in: Peer/Faber (Hg.), Jahr-buch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2004, 29 ff.

7 Moderne Überblicke zur Methodengeschichte: J. Schröder, Recht als Wissen-schaft, 2. Aufl. 2012; Rückert, in: ders./Seinecke (Hg.), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 2. Aufl. 2012, 501 ff.

8 Terminus erstmals bei von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 1. Aufl. 1884, 330 f.

9 Das Bild einer Begriffsjurisprudenz hat eine eigene Geschichte, hierzu Hafer-kamp, in: Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie, <www.enzyklopaedie-rechtsphilo

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AcP62 Hans-Peter Haferkamp

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war die Alternative? Schon um 1900 kam die Angst auf, in richterliche Sub-jektivismen, in freies Richterrecht zu rutschen. Die Methodendebatte war der Versuch, dem an das Gesetz gebundenen Richter hinreichend Freiraum zu schaffen, um die geforderte Modernisierung des Zivilrechts zu ermöglichen. Zugleich musste aber ein Weg gefunden werden, ihn dabei an etwas anderes zu binden als nur an Logik. Was das sein sollte wurde im 20. Jahrhundert be-nannt als10 „Brauchbarkeit für das wirkliche Leben“,11 „Kulturentwicklung des Volks“,12 „soziales Ideal“,13 „die Wirklichkeit der Idee“,14 die „völkische Gesamtordnung“,15 die „obersten Grundsätze des Rechts“16 oder das „Rich-tige Recht“.17

Je sicherer man diese Werte des Rechtslebens selbst abbilden oder durch Methode dem Richter zur eigenen Lebensschau überlassen konnte, desto selbstbewusster konnte man gegenüber dem BGB Wahrheiten in Stellung bringen. Je unsicherer die Werterkenntnis war, desto näher lag es, sich dem Gesetzgeber enger zu unterwerfen und dem „Juristen als solchem“18 keine entscheidende Stimme einzuräumen. In diesem Spannungsfeld bewegen sich die Methodendebatten im Kaiserreich, in Weimar, während des Nationalso-zialismus und in der Bundesrepublik, nicht aber in der DDR. Hier passt die ganze Methodenperspektive schlecht. Spätestens19 seit der Babelsberger Kon-

sophie.net/inhaltsverzeichnis/19-beitraege/96-begriffsjurisprudenz> (abgerufen am 23.09.2013).

10 Zusammenstellung verschiedener entsprechender Schlagwörter um 1900 bei J. Schröder, in: FS für Eisenhardt, 2007, 125 ff., hier nach Wiederabdruck in: ders. (Hg.), Rechtswissenschaft in der Neuzeit, 2010, 591; zu verschiedenen Lebensbezugskonzep-tionen Haferkamp, in: Spomenica Valtazara Bogišica (Gedächtnisschrift für Valtazar Bogišic), 2011, 301 ff.

11 Zitelmann, Die Gefahren des Bürgerlichen Gesetzbuches für die Rechtswissen-schaft, 1896, 14, 19 f.

12 Heck DJZ 1903, 1461; hierzu Hofer JuS 1999, 113.13 Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 1911, 620 f.14 Binder Logos 19 (1929), 32.15 Larenz, Über Gegenstand und Methode völkischen Rechtsdenkens, 1938, 11.16 Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts. Ein Versuch zur Neubegründung

des Naturrechts, 1947.17 Larenz, Richtiges Recht: Grundzüge einer Rechtsethik, 1979 (Terminus in An-

lehnung an Stammler).18 Windscheid, Wiederabdruck in: Oertmann (Fn. 4), 111 f.; hierzu klärend Falk RJ

1993, 598 ff.19 Zur bereits vorher einsetzenden Abkehr von traditionellen Methodenkonzep-

ten und der Hinwendung zu offen politischer Judikatur gegen das BGB in der Recht-sprechung des OG Haferkamp, in: R. Schröder (Hg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. 2, 2000, 15 ff.; Knauf, Die Zivilentscheidungen des Obersten Gerichts der DDR von 1950–1958, 2007; dies betraf insbesondere die nunmehr abgelehnte Generalklau-selanwendung. Im Glauben, dies sei ein Ewigkeitsproblem „totalitärer“ Rechtsordnun-

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Zur Methodengeschichte unter dem BGB in fünf Systemen 63214 (2014)

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ferenz20 versuchte man in der DDR kaum noch, den Richter über Methoden-programme an den Staat zu binden.21 Im demokratischen Zentralismus ging es um direkte Justizsteuerung.22 Gegenüber der politisch richtigen Entscheidung hatten methodische Argumente keinen Legitimationswert.23 Gregor Gysis in-teressanter Versuch von 1975, in seiner Dissertation die westdeutsche Metho-denlehre in die DDR-Diskussion einzubringen, änderte daran nichts mehr.24

Um mich in diesem noch immer riesigen Erzählraum von vier verbleiben-den Systemen nicht in Abstraktionen und Modellen zu verlieren und eine sinnvolle Erzählbalance zwischen Ereignis und Struktur zu finden, möchte ich Sie einladen, mit mir eine kurze Reise durch die Methodengeschichte zu unternehmen, bei der wir nur ein paar Mal, sozusagen im hop on-/hop off-Ver-fahren, aussteigen, um einen Rundblick zu wagen. Stoppen werden wir 1905, 1925, 1933, 1958 und 1970, insgesamt also fünf Haltepunkte mit fünf Ereig-nissen im Zentrum.

gen, irrt daher die Dissertation von Wanner, Die Sittenwidrigkeit der Rechtsgeschäfte im totalitären Staate: Eine rechtshistorische Untersuchung zur Auslegung und Anwen-dung des § 138 Abs. 1 BGB im Nationalsozialismus und in der DDR, 1996; dazu bereits HKK/Haferkamp, Bd. I, 2003, § 138 Rn. 27 ff.; zum Gerichtsalltag unterer Gerichte, der sich politischer Steuerung durchaus in gewissen Grenzen entzog Markovits, Ge-rechtigkeit in Lüritz, 2006.

20 Zum Ablauf und auch zu den umstrittenen Interpretationen dieser Konferenz nach 1989 Bernhardt, Die Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“ 1948–1971, 1997, 118 ff., 142 ff.; zur Wirkung auch Stolleis, Ge-schichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4, 2012, 289 ff.

21 Mollnau, in: Bender/Falk (Hg.), Recht im Sozialismus, Bd. 3, 1999, 69: „In der juristischen Ausbildung war die Methodenlehre fortan kein ernsthaftes Thema mehr“.

22 Zu den Justizsteuerungstechniken in der DDR Rottleuthner, in: ders./Bundes-ministerium der Justiz (Hg.), Steuerung der Justiz in der DDR: Einflußnahme der Poli-tik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, 1994, 9 ff.; Markovits (Fn. 19); Schrö-der, Zivilrechtskultur der DDR, Bd. 4, 2008, 29 ff.

23 Die „sozialistische Gesetzlichkeit“ verlangte „Parteilichkeit“, was keineswegs Marx im Selbststudium bedeutete, sondern eben politische Richtigkeit der Entschei-dung. Einflussreich war Polaks Konzept der Rechtswissenschaft als politischer Wis-senschaft, vgl. hierzu Reichhelm, Die marxistisch-leninistische Staats- und Rechts-theorie Karl Polaks, 2002, 97 ff. und passim; Mollnau, in: Bender/Falk (Fn. 21), 59 ff.; Stolleis, Sozialistische Gesetzlichkeit: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR, 2009.

24 Gysi, Thesen zur Vervollkommnung des sozialistischen Rechts im Rechtsver-wirklichungsprozeß, 1975: Neben das „sozialistische Rechtsbewußtsein“ des Rechts-anwenders als Haltepunkt gegen das von Gysi ausgeschlossene Richterrecht tritt juris-tische Methode, gekennzeichnet insbesondere durch vier „Auslegungsebenen“: lexi-kalisch, systematisch, teleologisch und historisch; hinzu kommt noch die Analogie. Dabei wird westliche Literatur intensiv verwertet: Kriele und vor allem Esser, aber auch ältere Literatur wie Fuchs, Düringer, Manigk und Isay. Ich danke Karin Raude für ihre Hinweise.

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AcP64 Hans-Peter Haferkamp

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II. 1905: Emil Lask, Rechtsphilosophie

Ich möchte beginnen mit Emil Lask. In seiner Habilitation von 1905 zeigte Lask, die große Hoffnung des südwestdeutschen Neukantianismus, der Rechtswissenschaft ihre zeitgenössischen Möglichkeiten und Gren-zen auf. Der Windelband-Schüler machte das Dilemma klar, in dem sich die Rechtswissenschaft befand. Mit der Abkehr von der Pandektenwis-senschaft stellte sich die Frage nach einer neuen Methodologie. Ernst Zi-telmanns Irrtumsmonographie hatte 1879 eine Debatte um die Gefah-ren einer Anlehnung an die Naturwissenschaften ausgelöst.25 Zunehmend suchte die Rechtswissenschaft jenseits von Beobachtung, Hypothese und Kausalität nach einer Methode, sei es mit Dilthey als Geisteswissenschaft, mit Windelband als Kulturwissenschaft oder mit Stammler als Sozialwis-senschaft.26 Von Juristen sehr wahrgenommen, hielt Heinrich Rickert 1899 der sinnvollen Kultur die sinnfreie Natur entgegen. Kulturwissenschaf-ten wie die Rechtswissenschaft verfuhren wertbeziehend, Naturwissen-schaften wertindifferent.27 Lask machte nun deutlich, dass dieser Wertbe-zug aller juristischen Tätigkeit, ihr „teleologisches Gespinst“ 28, durch eine bloße Rechtswirklichkeitsbetrachtung nicht verstanden werden könne. Dies galt gleichermaßen für die in Lasks Methodendualismus als legitim angesehene „Jurisprudenz“, die sich mit den abstrakten „Normbedeutun-gen“ der Rechtssätze beschäftige, wie für eine „Sozialtheorie des Rechts“, die die faktische Realität des Rechtslebens untersuche.29 Er entlarvte die Vorstellung als naiv, „es könne die empirische Forschung durch bloße Steigerung und Generalisierung des Systematisierens plötzlich in ‚Philo-

25 Haferkamp, in: Schmoeckel (Hg.), Psychologie als Argument in der juristischen Literatur des Kaiserreichs, 2009, 215 ff.

26 Haferkamp, in: Senn/Puskás (Hg.), Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft?, Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 15. und 16. Juni 2007, Universität Zürich (= ARSP B 115), 2008, 105 ff.

27 Überblick bei Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, 5. Aufl. 1994, 219 ff.

28 Lask, Rechtsphilosophie, erstmals 1905, nachfolgend zitiert nach Herrigel (Hg.), Emil Lasks Gesammelte Schriften, 1923, 316; zum Streit um Teleologie und Kausalität: Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, hier nach 2. Aufl. 1913, 336 f. Später lehnte Rickert diese Terminologie freilich ab: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 3. Aufl. 1915, 101 ff.; Stammler sprach von „Zweckwissen-schaft“: Theorie der Rechtswissenschaft, 1911, 291.

29 Vgl. hierzu Bohlen, in: Alexy et al. (Hg.), Neukantianismus und Rechtsphiloso-phie, 2002, 286.

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Zur Methodengeschichte unter dem BGB in fünf Systemen 65214 (2014)

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sophie‘ umschlagen“.30 Die Allgemeinen Rechtslehren,31 aber auch Eugen Ehrlichs empirische Rechtssoziologie32 und Arthur Nußbaums Rechtstatsa-chenforschung33 waren in dieser Perspektive von Anfang an lediglich Hilfs-wissenschaften. Lask betonte, der Streit um die Methode empirischer Kultur-wissenschaften weise über die bloße Methodologie hinaus und suche in einem „System überempirischer Werte seine endgültige Entscheidung“.34 Hier lagen das Problem und zugleich der Reiz für eine Rechtswissenschaft, die sich nicht mit einer bloßen Unterwerfung unter die gesetzgeberische Prärogative begnü-gen wollte und ja schon lange zu diesem Zwecke Freiräume für den Richter geschaffen hatte.

Die 1885/86 aufkommende objektive Auslegungstheorie hatte einen objek-tiven Geist im Text betont, unabhängig vom Willen seiner Verfasser.35 Nun konnte der Richter unter den möglichen Gedanken des Gesetzes den wählen, so Josef Kohler, „bei welchem das Gesetz den vernünftigsten, heilsamsten Sinn hat und die wohltuendste Wirkung äußern wird“.36 Die dadurch erreichte Har-monisierung zwischen Anwendung und Fortbildung gab dem Richter größt-mögliche Freiheit, ohne das Gesetzbindungspostulat formal zu verletzen. Die vor allem von Philipp Heck vertretene subjektive Auslegung hatte den entschei-denden Nachteil, den Richter zum Bekenntnis der Rechtsfortbildung zwin-gen zu wollen, und musste ihm zu diesem Zwecke offen eine erstaunlich freie Rechtsfortbildungsbefugnis einräumen.37 Schon deshalb gelang es ihr nie, sich durchzusetzen.38 Flankierend zur objektiven Auslegungstheorie hatte Gustav Rümelin 1891 das Subsumtionsmodell verabschiedet und betont, dass es sich bei der juristischen Tätigkeit „nicht um rein logische Operationen, sondern

30 Lask (Fn. 28), 307.31 Überblick bei Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie,

2004, 126.32 Vogl, Soziale Gesetzgebungspolitik, freie Rechtsfindung und soziologische

Rechtswissenschaft bei Eugen Ehrlich, 2003; J. Schröder (Fn. 7), 341 m.w.N.33 Hierzu allgemein Rehbinder (Hg.), Arthur Nußbaum: Die Rechtstatsachenfor-

schung, 1968, 9 ff.; Emmert NDB 19, 377; Yashiki Hitotsubashi Journal of Law and Politics 2010, 13 ff.

34 Lask (Fn. 28), 277.35 Hierzu mit m.E. überzeugendem Hinweis auf den philosophischen Kontext

(Dilthey et al.) J. Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung, 1985, 49 ff., 93 ff.; teilweise anders nun ders., in: ders. (Fn. 10), 585 ff.

36 Kohler, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Bd. 1, 1904, 126.37 Zur bemerkenswerten Freiheit des Richters in diesen Fällen bei Heck Auer ZEuP

2008, 530.38 So die Auswertung bei J. Schröder (Fn. 7), 342; in jüngster Zeit wird die subjek-

tive Auslegung erneut intensiv diskutiert, vgl. die Beiträge in: Fleischer (Hg.), Mys-terium „Gesetzesmaterialien“, 2012; Baldus/Theisen/Vogel (Hg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung, 2013.

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AcP66 Hans-Peter Haferkamp

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um Zweckmäßigkeitserwägungen und sonstige Werturteile handelt“.39 Dieser Freiheit durch das positive Recht hindurch stand seit Eugen Ehrlichs Schrift von 188840 die freie Lückenfüllung durch den Richter an der Seite, die vor 1914 dann von fast allen Rechtswissenschaftlern vertreten wurde.41

Entscheidend für dieses Vertrauen in richterliche Freiheit war nun, dass der Richter seine Rolle als Medium bestehender Modernisierungsbedürfnisse erfüllte und nicht als politisch geprägtes Subjekt urteilte. Die Gefahren führte die sog. Vertrauenskrise der Justiz vor Augen, die in zwei Schüben, 1895–1897 und 1909–1913, ausbrach42 und in wenigen Jahren eine heute kaum noch zu überblickende Literaturflut zur Richterfrage hervorbrachte.43 Von links kri-tisierte man nun Klassenjustiz, von rechts forderte man spiegelbildlich ein po-litisch härteres Durchgreifen der Richter. Ganz zeittypisch war es auch, dass von vielen Seiten soziale und politische, nicht nur dogmatische Kompetenz der Richter eingefordert wurde.44 Vor diesem Hintergrund waren die häufi-gen Verweise auf das Kollegialprinzip oder den Richtereid45 kaum geeignet, die Vorbehalte gegen richterliche Standesideologien zu zerstreuen.46 Die Me-thodentexte vor 1914 liefen daher oft auf einen Ruf nach Justizreform hinaus, sei es, dass man eine lebensnahe Juristenausbildung erdachte,47 sei es, dass man eine andere Zusammensetzung der Richterschaft einforderte.48

39 G. Rümelin, Werturteile und Willensentscheidungen im Civilrecht, Rektorats-rede, 1891, 29. Der Jurist treffe also „Willensentscheidungen …, welche den Willens-akten nahestehen, durch welche der Gesetzgeber neues Recht schafft“. Rümelin be-grüßte im Ergebnis die daraus folgende richterliche Macht und plädierte dafür, diese dem Reichsgericht ausdrücklich zu verleihen (als Ausgleich für die von ihm befürch-tete Abschaffung des Gewohnheitsrechts als Rechtsquelle), wobei er auf das römische Vorbild des Prätors verwies und der „Steigerung der Parlamentsmacht“ (57) offenbar skeptisch gegenüberstand.

40 Ehrlich, in: Rehbinder (Hg.), Eugen Ehrlich: Recht und Leben, 1967, 80 ff.; die Lücke im Gesetz wurde dabei nicht „entdeckt“, sondern nur freier gefüllt, vgl. J. Schrö-der (Fn. 7), 373 ff.

41 J. Schröder, in: ders. (Fn. 10), 572 ff., der die Freirechtsbewegung daher auch nicht für sauber abtrennbar hält, vgl. ders. (Fn. 7), 338 ff.

42 Linnemann, Klassenjustiz und Weltfremdheit, Deutsche Justizkritik 1890–1914, 1989, 134 ff.; R. Schröder, in: FS für Gmür, 1983, 206 ff.

43 „Uferlos“, so R. Schröder Rechtstheorie 19 (1988), 322 Anm. 1, der die bisher wohl vollständigste Auswertung seit 1983 unternahm.

44 R. Schröder, in: FS für Gmür, 1983, 204 ff.45 So etwa Flavius (Kantorowicz), Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906,

hier nach Wiederabdruck in: ders., Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, 34.46 Vgl. noch Bendix, Die irrationalen Kräfte der zivilrechtlichen Urteilstätigkeit,

1927, 230 ff.47 Hierzu m.w.N. R. Schröder, in: FS für Gmür, 1983, 207 ff.; J. Schröder (Fn. 7), 378.48 R. Schröder, in: FS für Gmür, 1983, 212 ff.

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Zur Methodengeschichte unter dem BGB in fünf Systemen 67214 (2014)

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Die Alternative wäre gewesen, die Richter an eine Wertphilosophie der Rechtswissenschaft zu binden, was jedoch an der für Neukantianer unhinter-gehbaren Trennung zwischen Sein und Sollen, Wirklichkeit und Wert schei-terte. Dies galt gerade auch für Heck, der 1914 gegen Stammler betonte, das richtige Recht sei nicht „Gegenstand soziologischer Erkenntnis, sondern Ge-genstand sozialen Ringens“.49 Recht entstand für Heck gerade nicht als Aus-fluss irgendwelcher vorgegebener Sinnstrukturen, sondern als politischer Kompromiss.50 Nicht alle wollten sich freilich vor 1914 mit Hecks Vertrauen in die politischen Strukturen begnügen. Auch Lask verhehlte eine gewisse Sehnsucht nach Substanzen nicht und sprach dunkel von einer „überempiri-sche[n] Bedeutung des empirischen Rechts“.51 Das überzeugte aber wohl die wenigsten. Der Richter blieb mit dem BGB, mit seiner hermeneutischen Raf-finesse und seinem Leben vor 1914 weitgehend allein.52

III. 1925: Julius Binder, Philosophie des Rechts

Der nächste Haltepunkt ist das Erscheinen der „Philosophie des Rechts“ von Julius Binder im Jahr 1925. Binder,53 der persönlich stets Außenseiter blieb, wirkte vor allem über seine Schüler und Freunde aus der Weimarer Zeit, also über Karl Larenz, Gerhard Dulckeit, Martin Busse, Karl Michaelis oder

49 Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914, 13 Fn. 32; hierzu Auer ZEuP 2008, 524.

50 Vgl. J. Schröder, in: FS für Picker, 2010, 1315.51 Lask (Fn. 28), 280.52 Hier wie auch sonst im Text wird nicht von Methodenprogrammen der Rechts-

wissenschaft auf den Inhalt richterlicher Entscheidungen geschlossen. Alle Versuche („Gesetzespositivismus des Reichsgerichts vor 1914“ etc.), Judikatur als Umsetzung einer irgendwie einheitlichen Methode zu deuten, sind bisher gescheitert. Richter judi-zierten mal objektiv, mal subjektiv, bisweilen Normen schlicht aussparend, manchmal methodisch aufwändig begründet, mal „begriffsjuristisch“ verengt, mal „freirechtlich“ autonom, manchmal auch irgendwie einfach so. Hintergrund ist auch die Tatsache, dass seit den für sie abschreckenden Freirechtsdebatten Richter kaum noch aktiv an der Methodendiskussion teilnahmen. Die seltenen Methodenäußerungen von Richtern bis heute zeigen dabei, wie tief die Kluft zwischen einer wissenschaftstheoretisch ausdif-ferenzierten Methodenlehre der Rechtswissenschaft und dem Alltagsmethodendenken vieler Richter ist und wohl auch stets war. Zu diesem Problemfeld: H. Honsell, Histo-rische Argumente im Zivilrecht, 1982; Klemmer, Gesetzesbindung und Richterfreiheit, 1996; Rückert, in: Nörr et al. (Hg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, 1994, 267 ff., ders., in: FS für Gagnér, 1996, 203 ff.; Falk/Mohnhaupt (Fn. 1); J. Schröder, in: ders. (Fn. 10), 523 ff.; interessante Einblicke jüngst auch von Berndt, Richterbilder: Dimensionen richterlicher Selbsttypisierungen, 2010.

53 Zu Binder Dreier, in: Loos (Hg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, 1987, 435 ff.

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Walter Schönfeld.54 Larenz benannte Binder noch 1991 als entscheidenden Vorläufer seiner eigenen und damit der nach 1945 bekanntesten Methoden-lehre.55 Das macht Binder als Haltepunkt vorliegend interessant.

1925 hatte Binder sich vom Neukantianismus gelöst und damit begonnen, eine Brücke zwischen Wirklichkeit und Wert zu bauen. Dies fand im Um-feld der durch Erich Kaufmann 1921 eingeleiteten geisteswissenschaftlichen Wende der Rechtswissenschaft viele Parallelen.56 Überall fand man wieder Werte. Heck musste sich nun sagen lassen, mit seiner Interessenjurispru-denz57 die „kategorischen Imperative der Sittlichkeit, der religiösen und so-zialen Grundanschauungen“58 zu missachten. Sein Freund Max Rümelin59 griff in viel gelesenen Abhandlungen die zeitgenössischen Hoffnungsträger auf. 1918 schrieb er über das „Sittengesetz“60, 1920 über „Die Gerechtigkeit“61, 1921 über „Die Billigkeit im Recht“62, 1925 über „Rechtsgefühl und Rechts-bewußtsein“63, 1929 über „Die bindende Kraft des Gewohnheitsrechts“.64 Die Sehnsucht nach materialen Werten bedrängte in Weimar diejenigen Juristen, die den Glauben an die Leistungsfähigkeit dieser Legislative nicht aufbrin-gen konnten.65 In diesem Klima erwog auch Heck 1929 selbst, statt von In-teressenjurisprudenz besser von „wertender Jurisprudenz“ zu sprechen.66 Für

54 Zu Binders Anhängern und seiner zeitgenössischen Rezeption Dreier, in: Loos (Fn. 53), 440.

55 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 102 ff.56 Zusammenfassend Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts, Bd. 3, 1999,

171 ff.57 Alfred Manigk hielt Heck 1928 entgegen: „Das Recht ist nicht nur interessenge-

recht; es empfängt seine ihm für die Entscheidung von Interessenkonflikten erst die Richtung weisenden höheren Aufgaben aus dem Mandat der Sittlichkeit“, Manigk, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, 1928, 314.

58 Oertmann, Interesse und Begriff in der Rechtswissenschaft, 1931, 34; Oertmann war insgesamt freilich zurückhaltend gegenüber richterlicher Eigenwertung, vgl. Brod-hun, Paul Ernst Wilhelm Oertmann (1865–1938), 1999, 350 ff.

59 Hierzu in Kürze: Haßlinger, Max von Rümelin (1861–1931) und die juristische Methode, 2014.

60 M. Rümelin, Die Verweisungen des Bürgerlichen Rechts auf das Sittengesetz, 1920.

61 M. Rümelin, Die Gerechtigkeit, 1920. 62 M. Rümelin, Die Billigkeit im Recht, 1921.63 M. Rümelin, Rechtsgefühl und Rechtsbewusstsein, 1925.64 M. Rümelin, Die bindende Kraft des Gewohnheitsrechts und ihre Begründung,

1929. 65 O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1993; Sontheimer, Antide-

mokratisches Denken in der Weimarer Republik, 1962.66 Hierzu grundlegend Rückert ZRG GA 125 (2008), 199 ff.; Zitat Hecks bereits

bei Sessler, Die Lehre von den Leistungsstörungen: Heinrich Stolls Bedeutung für die Entwicklung des allgemeinen Schuldrechts, 1994, 92 Fn. 334.

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Heck wertete freilich der Gesetzgeber, der Richter sollte es im Regelfall gerade nicht, sein Verfahren war primär die Analyse dieser Wertung. Wertung traf für ihn daher den „Kern der neueren Methode“ nicht.67 Wenn sein Mitstreiter Heinrich Stoll 193168 gleichwohl dafür plädierte, statt von Interessenjurispru-denz besser von „Wertungsjurisprudenz“ zu sprechen,69 lag darin auch ein Zugeständnis an Hecks Gegner. Stoll gab Hecks materiale Zurückhaltung auf und benannte die „Idee der Gerechtigkeit“ als Orientierungspunkt des rich-terlichen Rechtsgefühls.70

Binder ging nun noch einen Schritt weiter und begründete ein politisches Konzept des Privatrechts durch Philosophie. Sein „Transpersonalismus“71 war Gegenmodell gegen das nun als liberalistisch-individualistisch apostro-phierte BGB. Das subjektive Recht sei „sozialer Vertrauensakt“ der „Gemein-schaft“72, also „Amt“73, und seine Ausübung eine „soziale und damit sittliche Aufgabe“.74 Eigentum stand „im Dienste der Gemeinschaft“75 und auch der Vertrag fußte auf dem „Boden der Gemeinschaft“.76 Das Individuum ging in der Gemeinschaft auf. Auch das war durchaus zeittypisch. In Weimar waren in sozialistischen77 wie auch in konservativen Kreisen gleichermaßen Theo-rien verbreitet,78 die das Konzept des Privatrechts als vorstaatlichen Freiheits-raum ablehnten und Privatautonomie als staatliche Zuweisung verstanden, die den Gemeinschaftsinteressen untergeordnet war.

67 Heck, Grundriß des Schuldrechts, 1929, 473 Fn. 1.68 Stoll, in: FS für Heck, 1931, 60 ff. hier zitiert nach Ellscheid/Hassemer, Interes-

senjurisprudenz, 1974, 153 ff.69 Stoll, in: FS für Heck, 1931, 60 Fn. 13, 68 Fn. 35.70 Stoll, in: FS für Heck, 1931, 67 f. (unter bemerkenswerter Berufung auf Walter

Schönfeld).71 Binder, Philosophie des Rechts, 1925, 282 f.; hierzu Jakob, Grundzüge der

Rechtsphilosophie Julius Binders, 1995, 40 ff.72 Binder (Fn. 71), 448.73 Zur zeitgenössischen Verbreitung ähnlicher Vorstellungen jenseits des Neuhege-

lianismus Stolleis, Gemeinwohlformeln im Nationalsozialistischen Recht, 1974, 50 ff.; J. Schröder, Kollektivistische Theorien und Privatrecht in der Weimarer Republik am Beispiel der Vertragsfreiheit, 1994, im Folgenden zitiert nach Wiederabdruck in: ders. (Fn. 10), 599 ff.

74 Binder (Fn. 71), 449.75 Binder (Fn. 71), 474.76 Binder (Fn. 71), 482.77 Bereits 1919, noch mit Blick auf den Kriegssozialismus, hatte der stets für die

Zeitläufte wachsame Justus Wilhelm Hedemann seiner Zeit eine „Niederdrückung des Individuums … unter einen unabänderlichen Gemeinschaftswillen“ attestiert, Hede-mann, Das bürgerliche Recht und die neue Zeit, 1919, 12.

78 Zum Ganzen J. Schröder (Fn. 73), 599.

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Zwei Besonderheiten machen Binder jedoch interessant: Typisch für sei-nen neuhegelianischen79 Ansatz war zunächst, dass er die Rechtsidee in der Geschichte suchte. Mit Binder begann der Aufstieg einer teleologischen Geis-tesgeschichte zum Lehrmeister der Privatrechtsmethode. Binder setzte der von ihm als „sinnlos und wertblind“80 angegriffenen älteren Geschichts-schreibung seine geisterfüllte Geschichte einer Entethisierung des Zivilrechts im 19. Jahrhundert entgegen, die von Kant über Savigny, Puchta und Wind-scheid in eine Begriffsjurisprudenz führte, der nun vor allem ein ethischer Nihilismus vorgehalten wurde.81 In der Weiterentwicklung durch Walther Schönfeld,82 Erik Wolf,83 Karl Larenz,84 Georg Dahm85 und Franz Wieacker86 entstand die große didaktische Erzählung vom Aufstieg und Fall des Posi-tivismus,87 Privatrechtsgeschichte als Methodengeschichte, also – zugespitzt – eine Privatrechtsgeschichte ohne Privatrecht. Die hier geprägten Bilder ha-ben sich bis in die Gegenwart eingebrannt:88 Hier die Positivisten des Seins, Naturalisten, Soziologisten, Empiriker: Ehrlich, Nussbaum, auch Heck und die Psychologisten Bierling und Zitelmann. Dort die Positivisten des Sollens, Normativisten, rechtswissenschaftliche Positivisten: Puchta, Windscheid, Laband, Bergbohm und Kelsen. Daneben gab es auch Hoffnungsträger: Die Neukantianer, die am naturalistischen Fehlschluss immerhin balancierten:

79 Zu den Stufen Dreier, in: Loos (Fn. 53).80 Binder (Fn. 71), 1014; das war gerichtet gegen Landsberg, Geschichte der Deut-

schen Rechtswissenschaft, bes. Bd. III/2, 1910.81 Zum Folgenden Haferkamp ZNR 2010, 61 ff.82 Schönfeld, in: Larenz (Hg.), Reich und Recht in der Deutschen Philosophie,

Bd. 2, 1943, 2. Aufl. dann unter dem Titel: Grundlegung der Rechtswissenschaft, 1951.83 E. Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 1. Aufl. 1939,

2. Aufl. 1944, 3. Aufl. 1951.84 Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, 1931; ders., Deutsche

Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie, 1934; ders., in: ders. (Hg.), Reich und Recht in der Deutschen Philosophie, Bd. 1, 1943; ders., Methodenlehre der Rechtswissen-schaft, 1. Aufl. 1960.

85 Dahm, Deutsches Recht, 1. Aufl. 1944; ders., Deutsches Recht: Die geschichtli-chen und dogmatischen Grundlagen des geltenden Rechts, 2. Aufl. 1951.

86 Wieacker Deutsches Recht 12 (1942), 1140 ff.; ders., Rudolf von Jhering. Eine Er-innerung zu seinem 50. Todestage, 1942 (beide in überarbeiteter Form zweitveröffent-licht in: ders., Gründer und Bewahrer: Rechtslehrer der Neueren Deutschen Privat-rechtsgeschichte, 1959); Wieacker, in: ders. (Hg.), Vom Römischen Recht: Wirklichkeit und Überlieferung, 1944; ders., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 1. Aufl. 1952, 2. Aufl. 1967; hierzu die Beiträge in: Behrends/Schumann (Hg.), Franz Wieacker – Historiker des modernen Privatrechts, 2010.

87 Zur verwirrenden Vielfalt der dabei behaupteten Positivismen Haferkamp, in: Behrends/Schumann (Fn. 86), 181 ff.

88 Gut ablesbar noch bei Larenz (Fn. 55), 11 ff.

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Stammler, Radbruch und vor allem Wertproduzenten: Hegel, Husserl, Rei-nach, Scheler, Hartmann.

Binder zog, dies ist seine zweite Besonderheit, als einer der ersten die kon-kreten methodischen Folgerungen für eine Privatrechtswissenschaft, die fragte: „Wie muss das empirische Recht gestaltet sein, damit es als Erfüllung der Aufgabe, die in der Idee ihm gestellt ist, angesehen werden kann“?89 In der Interpretation musste der Rechtssatz im BGB verschmolzen werden mit der Rechtsidee, die der als vernünftig begriffenen Rechtswirklichkeit90 zu ent-nehmen war. Der Richter sollte „die Rechtsnorm im Zusammenhang mit der lebendigen Wirklichkeit, mit den empirischen Verhältnissen und Zweckideen der unmittelbaren Gegenwart“91 interpretieren. Eine Lücke lag vor, wenn „wir einen Rechtssatz oder eine Rechtseinrichtung vermissen, die durch das Rechtsganze oder durch die wirtschaftlichen und sittlichen Verhältnisse der Gesellschaft gefordert wird, die also da sein sollte“.92 Nun trat die richter-liche Billigkeit93 ihre Aufgabe an, als „Trägerin der neuen Ideen … gegen das strenge, als veraltet und unerträglich“ empfundene Privatrecht94 anzukämp-fen. Richterliche Tätigkeit sei demnach „ihrem Wesen nach schöpferische Tätigkeit“ und bezwecke die „Umgestaltung ihres Materials“.95 Binder rief die Rechtswissenschaft als „interpretative Wissenschaft“96 dazu auf, seinen Transpersonalismus offensiv in das BGB hineinzulesen.

Auch von diesem Methodenprogramm führten viele Wege in die Zukunft. Die Vorstellung, dass es im „Leben“ Sinnstrukturen gibt, die der Jurist er-kennen und in der Rechtsanwendung auch gegen das BGB durchsetzen muss, durchzieht die institutionellen Rechtslehren, die nach 1933 gegen das BGB in Stellung gebracht wurden.97 Bei Larenz sollten 193898 „Gliederungen der Volksgemeinschaft“ die Kraft haben, „ihnen entgegenstehende abstrakt-ge-nerelle Gesetzesnormen insoweit zurückzudrängen, als ihre besondere Art und völkische Aufgabe das erfordert“.99 Josef Esser forderte vom Richter100

89 Binder Logos 19 (1929), 32. 90 So schon nah an Hegel Binder Logos 19 (1929), 30 ff. 91 Binder (Fn. 71), 977. 92 Binder (Fn. 71), 983. 93 Binder (Fn. 71), 406. 94 Binder (Fn. 71), 407. 95 Binder (Fn. 71), 994. 96 Binder (Fn. 71), 886. 97 Vgl. nur Rüthers, Wir denken die Rechtsbegriffe um …, 1987, 33 ff.; Rückert, in:

ders./Willoweit (Hg.), Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, 1995, 177 ff. 98 Larenz (Fn. 15), 33. 99 Larenz (Fn. 15), 29.100 Gegenbild war das Denken in „juristischen Tatsachen“, so Esser, Wert und Be-

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1941 daher die „Bewertung der Sozialwirklichkeit“101, Heinrich Lehmann sprach 1942 vom wertenden Blick in „soziale Tatbestände“.102 Heinrich Lange verdeutlichte 1941, das Besondere liege „nicht in der Erkenntnis dieses Seins allein, sondern in der Gestaltung des Seins durch das Sollen“.103 Bereits 1936 hatte Lange für dieses Verfahren wiederum von „Wertungsjurisprudenz“ ge-sprochen.104

IV. 1933: Gründung der Akademie für Deutsches Recht

Damit bin ich bereits beim nächsten Haltepunkt. Mit Gesetz vom 22. Sep-tember 1933 wurde die Akademie für Deutsches Recht gegründet.105 Bis zur Beendigung der Arbeit im Jahr 1944106 diskutierten nun weite Teile derjeni-gen deutschen Zivilrechtsprofessoren, die nicht vertrieben worden waren,107 über ein neues und nationalsozialistisches Privatrecht, in einer Grundsätz-lichkeit und Intensität, die im 20. Jahrhundert ihresgleichen sucht.108 Hier engagierten sich im Zivilrecht u.a. die Professoren Heinrich Stoll, Karl La-renz, Wolfgang Siebert, Franz Wieacker, Alfred Hueck, Hans Brand, Hein-rich Lehmann, Hans-Carl Nipperdey, Justus Wilhelm Hedemann, Heinrich Lange, Gustav Boehmer, Eugen Ulmer, Erik Wolf, Josef Esser,109 Walther

deutung der Rechtsfiktionen, 2. Aufl. 1969, 132 unter Berufung auf seinen Lehrer Fritz von Hippel.

101 Esser DRW 1942, 69; dies bedeute „inniges Durchspüren und Deuten der so-zialen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, Anschauungen und Urteile“: Esser, Re-zension Lange/Hedemann, in: Schmollers Jahrbuch 1942, 95.

102 So Lehmann JhJb 90 (1942), 144; hierzu Depping, Das BGB als Durchgangs-punkt: Privatrechtsmethode und Privatrechtsleitbilder bei Heinrich Lehmann (1876–1963), 2002, 170 ff.; Lambrecht, Die Lehre vom faktischen Vertragsverhältnis, 1994, 46 ff.

103 Lange, Die Entwicklung der Wissenschaft vom Bürgerlichen Recht seit 1933, 1941, 39.

104 Lange ZAkDR 1936, 924; Hinweis zuerst bei Rückert ZRG GA 125 (2008), 227.105 BayGVBl 1933, 277; vgl. Pichinot, Die Akademie für Deutsches Recht, 1981, 9 f.106 Pichinot (Fn. 105), 144 f.107 Vgl. Breunung/Walther, Die Emigration deutschsprachiger Rechtswissenschaft-

ler ab 1933, Bd. 1, 2013; Beatson/R. Zimmermann, Jurists uprooted: German-speaking Émigré Lawyers in Twentieth-century Britain, 2004.

108 Vorsichtiger W. Schubert, in: ders. (Hg.), Volksgesetzbuch: Teilentwürfe, Ar-beitsberichte und sonstige Materialien, 1988, 31: „Selten hat sich die deutsche Rechts-wissenschaft bisher so umfassend mit Fragen einer Reform des Zivilrechts und deren Systematik beschäftigt wie in den Jahren zwischen 1933 und 1942.“

109 Esser war nicht Mitglied der Akademie, diskutierte aber intensiv mit, vgl. ders. AcP 148 (1943), 121 ff.; ders. DRW 1942, 65 ff.; ders., in: Schmollers Jahrbuch 1942, 93 ff.

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Schönfeld, Gerhard Dulckeit, Hans Kreller, Wilhelm Felgentraeger, Arthur Nikisch, Hans Wüstendorfer, Hans Würdinger, Karl Blomeyer, Walter Wil-burg, Hermann Krause, Gerhard Luther und Walter Schmidt-Rimpler.110 Es wäre naiv zu glauben, dass diese 1933 oft noch ganz jungen Rechtswissen-schaftler nach 1945 einfach auf den Erkenntnisstand Weimars zurückgegan-gen wären.111 Die heutige Zivilrechtswissenschaft muss diese Epoche also viel stärker in den Blick nehmen, wenn sie die Genese vieler gegenwärtiger Denk-figuren verstehen will.112

Dass auch das Methodendenken nach 1945 von diesen Debatten beein-flusst wurde, soll nachfolgend kurz skizziert werden. In der ersten Phase der Methodendiskussion bis etwa 1938, die nur teilweise mit der Akademie ver-bunden ist, zerstörte man die dem Privatrecht gegen den Staat haltgebenden Strukturen des BGB. Eckbegriffe wie subjektives Recht, Rechtsfähigkeit, Vertrag und Eigentum wurden dem völkischen Gemeinschaftsvorrang unter-worfen.113 Die Studienreform zerschlug das Pandektensystem des BGB und setzte an die Stelle der gleichheitsbetonenden Klammer des Allgemeinen Teils politisierte Lebensordnungen, in denen Rechtspositionen jeweils zugewie-sen wurden.114 Man schuf durch die neue Generalklauseltheorie115 und Sie-berts Rechtsmissbrauchslehre116 „Einbruchstellen“117 nationalsozialistischen Rechtsdenkens innerhalb des BGB. Auch die Vorstellungen der Parteien setz-ten keine Eingriffsgrenze mehr. Man las Treuepflichten in Vereinbarungen,118 konstruierte faktische Verträge,119 bestimmte den Wegfall der Geschäfts-grundlage rein objektiv120 und unterstellte beim wucherähnlichen Geschäft subjektive Merkmale, statt sie beweisen zu müssen.121 Zusammengefasst mit

110 Zusammenstellung bei W. Schubert, in: ders. (Fn. 108), 33 ff.111 Hierzu die Analysen von Rückert NJW 1995, 2151 ff.; Kauhausen, Nach der

‚Stunde Null’, 2007 und Bedau, Entnazifizierung des Zivilrechts, 2004.112 Glänzend in diesem Sinne Thiessen, in: Görtemaker/Safferling (Hg.), Die Ro-

senburg: Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit – eine Be-standsaufnahme, 2013, 204 ff.

113 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 7. Aufl. 2012, 322 ff.114 Frassek ZRG GA 111 (1994), 564 ff.115 HKK/Haferkamp, Bd. II/1, 2007, § 242 Rn. 71 ff.; vgl. auch unten unter Kapitel V.116 Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialisti-

schen Rechtsdenkens?, 1994, 178 ff.117 Lange JW 1933, 2859.118 Hierzu Deyerling, Die Vertragslehre im Dritten Reich und in der DDR während

der Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuches, 1996. 119 Hierzu Lambrecht (Fn. 102).120 Zirker, Vertrag und Geschäftsgrundlage in der Zeit des Nationalsozialismus,

1996, 112 ff.; HKK/Meyer-Pritzl, Bd. II/2, 2007, §§ 313–314 Rn. 25 ff. 121 Thiessen, in: FS für J. Schröder, 2013, 187 ff.

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den Worten Heinrich Langes: „Die Durchführung des Pflicht- und Gemein-schaftsgedankens zerstört die Form des Rechts.“122

In die gewonnenen Freiräume sollte der Richter stoßen.123 Dies setzte er-neut voraus, dass er in der Lage war, objektive, nicht nur subjektive Wertun-gen zu treffen. Binder hatte 1925 zu diesem Zweck den Richter zur „Über-windung seines Subjektivismus“ aufgerufen: Der Richter müsse die objek-tive Vernunft in sich walten lassen.124 Was im politisch zerklüfteten Weimar kompliziert klang, hatte für Lange 1933 seinen Schrecken verloren. Die neue Zeit sei im Vorteil gegenüber der „weltanschaulichen Indifferenz des Libera-lismus“:

„Die weltanschauliche Gleichgültigkeit des früheren Staates ließ jeden nach seiner Fasson selig werden, konnte fast alles verstehen, fast alles verzeihen. Jeder Einzelne, jede Gruppe, Partei, Klasse hatte ihr eigenes autonomes Wertsystem, das des Staates aber wechselte mit dem seiner Beherrscher. … Hier hat der Nationalsozialismus eine wesentliche Vereinheitlichung und damit Vereinfachung gebracht.“125

Zweifel daran, dass richterliche Lebensschau die „Entfernung zwischen fachlichem Können und schlichtem Rechtsempfinden zu verringern“126 in der Lage sei, nahmen ab etwa 1938 jedoch zu. Lange betonte 1943 mit Blick auf die um Thierack inszenierte Justizkrise, die Achtung vor den Rechtswahrern sei „stark gesunken“.127 Im Hauptausschuss für das Volksgesetzbuch war bereits 1941 offen von einer „Vertrauenskrisis“ der Justiz gesprochen worden.128 Das Bedürfnis nach einer stärkeren Anleitung zum Werten wurde deutlicher.129 Da man mit dem Volksgesetzbuch die zentrale Einsicht nicht aufgeben wollte, dass die „billige Entscheidung des Einzelfalles über der logischen Ableitung von Entscheidungen aus Obersätzen“130 stehe, diskutierte man neue Kon-

122 Lange, Liberalismus, Nationalsozialismus und Bürgerliches Recht, 1933, 37.123 Es ging nicht einfach um freies Richterrecht, sondern im Spannungsfeld zwi-

schen völkischem Rechtsdenken und dem dies stets relativierenden Führerprinzip schlicht um politisch richtiges Entscheiden. Gut zu den Ambivalenzen im nationalsozi-alistischen Rechtsdenken: Rottleuthner ARSP Beiheft 18, 1983, 28 ff.; zu den Grenzen des Naturrechtsgedankens (Dietze et al.) auch Wittreck, Nationalsozialistische Rechts-lehre und Naturrecht, 2008.

124 Binder (Fn. 71), 993.125 Lange ZAkDR 1936, 924. 126 Lange ZgS 1943, 251.127 Lange ZgS 1943, 251; vgl. zu den Hintergründen Schädler, ‚Justizkrise‘ und ‚Jus-

tizreform‘ im Nationalsozialismus, 2009, 9 ff.; W. Schubert, in: FS für J. Schröder, 2013, 711 ff.; Willoweit ZNR 1994, 276 f., 286 f.

128 Protokoll der Sitzung vom 26./27. Mai 1941, bei W. Schubert (Fn. 108), 331. 129 Lange meinte 1943, es sei die „fachliche Schulung“, die das „unsichere Rechts-

gefühl in den sicheren Besitz des fachlichen Könnens“ erhebe, Lange ZgS 1943, 250.130 Lange ZgS 1943, 241 f.

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zepte.131 Bereits 1935 hatte Carl Schmitt deutlich gemacht, dass das „Verhältnis von Gesetz und Richter … wesentlich durch die Art des Gesetzes bestimmt“ werde.132 Als für den Nationalsozialismus „eigenen Stil der Gesetzgebung“ betonte er „Leitsätze“,133 die den neuen Gesetzen vorangestellt würden und dem Richter eine „neue Bindung und eine neue Freiheit“134 gäben, da sie „die Handhabung und Auslegung der ihnen nachfolgenden Normierungen, wie auch die geistige Haltung und Gesinnung des mit ihnen befaßten Juristen be-stimmen“.135 In den Vorarbeiten zum Volksgesetzbuch betonten 1941 auch Lehmann und Hedemann das Konzept der „Leitsätze“136, die dem Richter als „Brücke zwischen dem Volksleben und der Welt des Rechts“137 „Wert-ebene(n)“ als Anhalt für seine Wertung geben sollten. Nicht nur im Lücken-fall sollte der Richter nach den „Leitgedanken dieser Grundregelungen“ ent-scheiden,138 sondern generell seien sie „Richtschnur“139 bzw. „Rechtsanwen-dungsrichtlinien“ und „Wertmaßstäbe für die Interessenabwägung und den Interessenausgleich“140. Wertungsjuristen bekamen Wertungsrichtlinien. 1941, also im selben Jahr, schaltete sich Walter Wilburg in die Debatte ein, der bis dahin vor allem im Bereicherungsrecht der Akademie Zuarbeiten geliefert hatte.141 Er schlug sein bewegliches System des Schadensrechts als dogmati-sche Lösung und Gesetzestechnik vor.142 Lange meinte 1943, damit habe Wil-burg neben Esser143 wesentlichen Einfluss auf den Schadensersatzausschuss

131 Lediglich über ein paar „Grundwertungen“ eines nationalsozialistischen Zivil-rechts war man sich einig. Lange hatte 1936 (ZAkDR 1936, 924) aufgezählt: „Volk, Rasse, Gemeinschaft, Treue und Ehre und die Grundforderung des Rechtes – Gemein-nutz geht vor Eigennutz“.

132 Schmitt DJZ 1935, 920; hierzu auch Hattenhauer, in: FS für Gmür, 1983, 264 f. 133 Schmitt DJZ 1935, 922.134 Schmitt DJZ 1935, 923.135 Schmitt DJZ 1935, 922.136 Hedemann, in: W. Schubert (Fn. 108), 472 ff.; ders./Lehmann/Siebert, ebd.,

515 ff.; ders., ebd., 541 ff.; für Lehmann vgl. den Entwurf der Leitsätze bei Depping (Fn. 102), 347.

137 Hedemann, in: W. Schubert (Fn. 108), 541.138 Grundregel 22 S. 2, bei W. Schubert (Fn. 108), 517.139 Lehmann, zitiert bei Hedemann, in: W. Schubert (Fn. 108), 545. 140 Lange ZgS 1943, 208 f., 250, zitiert bei Lehmann, in: W. Schubert (Fn. 108), 662.141 Vgl. seinen Entwurf für den 7. Abschnitt des VGB zur Ungerechtfertigten Berei-

cherung, abgedruckt bei W. Schubert (Fn. 108), 150 ff.142 Wilburg war hier nicht ganz deutlich: ders., Elemente des Schadensrechts, 1941,

IX; ders., Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, 1950, 5 („in die Normen selbst und ihre Tatbestände verlegt“), 22 (Frage der Gesetzestechnik); vgl. auch Hücking, Der Systemversuch Wilburgs, 1982, 94; ich danke Susanne Paas für die-sen Hinweis.

143 Neben seinen Kommentaren zur Akademiearbeit (vgl. Fn. 109) wirkte Esser vor

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der Akademie gehabt.144 Wilburg begründete seinen Vorschlag damit, dass der „nationalsozialistische Staat mit dem Aufbau eines volksbürgerlichen Rechts auch die Grundsätze über den Schutz gegen Unrecht neu gestalten“ werde. Er hoffte sich als „nützlich“ zu erweisen, weil sein Konzept mit der „Idee der Gemeinschaft im Sinne des nationalsozialistischen Pflichtgedankens“ verbun-den sei.145 Konkret bedeutete dies vor allem eine stärkere Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Schadensverursachers, also eine Alternative zur Billigkeitshaftung, die in den damaligen Debatten um eine Schadensordnung eine große Rolle spielte,146 freilich bereits lange vor 1933 diskutiert worden war.147

Methodengeschichtlich sind diese Vorschläge nicht ganz leicht einzuord-nen. Von den Prinzipienkonzepten im 19. Jahrhundert,148 wie auch von Bier-lings Prinzipientheorie,149 führt kein Weg zu den Akademiedebatten um „Leit-sätze“, da in diesen Prinzipiendiskussionen durchweg induktiv vom positiven Recht, nicht von Rechtspolitik oder Philosophie her argumentiert wurde. Die Einführungsabschnitte der älteren Kodifikationen hatten gleichfalls nie ver-sucht, Leitgedanken des Gesetzes für den Richter voranzustellen. Das BGB wollte gerade nicht durch Prinzipiengesetzgebung steuern. Planck hatte 1897 betont, ein Gesetz dürfe sich nicht darauf beschränken, „die leitenden Rechts-gedanken auszusprechen“, sondern es müsse „die Rechtssätze finden, welche am besten geeignet sind, den leitenden Rechtsgedanken zu verwirklichen“.150 Auch in Weimar spielten Prinzipien in der Richterdebatte keine Rolle,151 wie

allem durch: Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung, 1941, ein Buch das ausdrücklich auf den „Neuaufbau unseres Privatrechts“ zielte, Vorbemerkung, 1, 4.

144 Lange ZgS 1943, 218. Wilburg war nach Veröffentlichung der Arbeit unmittel-bar in den Schadensersatzausschuss berufen worden, vgl. Mohnhaupt-Wolf, Delikts-recht und Rechtspolitik, 2004, 190; er war jedenfalls zeitgenössisch erfolgreicher als es F. Bydlinski darstellt, der zu den Jahren nach Rabel einzig ausführt: „Krieg und Nazi-herrschaft ließen den nicht anpaßbaren und daher mißliebigen Gelehrten ua Erfahrun-gen als einfacher Volkssturmsoldat machen“, JBl. 113, 1991, 776.

145 Wilburg, Schadensrecht (Fn. 142), VIII; damit ist über Wilburgs politische Ein-stellung nichts ausgesagt als dieses Zitat. Vorliegend geht es nur darum zu zeigen, dass sein Konzept in die damaligen Überlegungen passte.

146 Mohnhaupt-Wolf (Fn. 144), 195 f. 147 Mohnhaupt-Wolf (Fn. 144), 191 ff.148 Überblick bei J. Schröder (Fn. 7), 250 ff. 149 Vgl. Funke (Fn. 31).150 Planck, Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 1, 1897, 20 f.; hierzu HKK/Rückert (Fn. 5),

vor § 1 Rn. 16; Meder, Gottlieb Planck und die Kunst der Gesetzgebung, 2010, 37 ff. 151 Vgl. etwa Heck, der nach Konfliktentscheidungen systematisieren wollte und

den Ausdruck Prinzip vermied, da hier Normen und Wertideen vermischt würden; ders., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, 58; genau das wurde etwa

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ja auch die Verfassungsbindung von Privatrechtlern kaum diskutiert wurde.152 Die Akademiedebatten stehen jedenfalls am Anfang einer neuen Geschichte. Ohne die hier propagierte radikale Abkehr von den Strukturen des BGB ist es schwer erklärbar, dass bereits unmittelbar nach 1945, also lange bevor Esser mit „Grundsatz und Norm“ 1956 die angloamerikanische Prinzipiendebatte in Deutschland populär machte, etwa bei Larenz,153 Boehmer oder Coing154 dem Richter philosophisch-politische Prinzipien jenseits des BGB als Aus-legungshilfen angeboten wurden.155 Der Erfolg von Wilburgs Methode der Prinzipienabwägung156 ist ebenfalls in Weimar schwer vorstellbar. Auch der Aufstieg des Abwägungsparadigmas im Zivilrecht157 begann mit beweglichem

von Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, 38 auch kritisiert; vgl. hierzu Auer ZEuP 2008, 517 ff.; allgemein Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe: Leben, Wirken und Wirkungsgeschichte Philipp Hecks, 2001; nichts zu Prinzip in Weimar auch bei J. Schröder (Fn. 7).

152 Ansätze dazu sind freilich vorhanden, vgl. Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 1, 1929, Vorwort (in Anlehnung an seinen Lehrer Lehmann); dazu Hollstein, Die Verfassung als „Allgemeiner Teil“, 2006, 153 ff.; Stoll JherJb 76 (1926), 193 ff.; ders DJZ 1933, 278 ff.; das richterliche Prüfungsrecht wurde vor allem in der Staatsrechtslehre diskutiert (und Ende der 1920er Jahre über-wiegend bejaht) und ziemlich autonom vom Reichsgericht in den 1920er Jahren ausge-baut, vgl. J. Schröder (Fn. 7), 322 ff.

153 Larenz, Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 1967, V: Ziel sei es, das „positive Recht durch die Aufdeckung der ihm vorausliegenden Prinzipien besser verständlich, seine innere Struktur durchsichtig zu machen. Es ver-steht sich, daß es (sc. das Lehrbuch) dies nur vermag, wenn es seinen Ausgangspunkt nicht selbst wieder vom positiven Recht nimmt. Es bedarf einer rechtsphilosophischen Grundlage, muß aber zugleich auf das geltende Recht zurückführen“. Zu dem von La-renz nun in einem 80-seitigen philosophischen Vorspann begründeten ethischen Per-sonalismus: Kauhausen (Fn. 111), 113 ff.

154 Bei Coing finden sich sogar sprachlich starke Annäherungen an das Volksge-setzbuch, vgl. HKK/Haferkamp (Fn. 19), § 138 Rn. 279; Coing stand politisch dem Nationalsozialismus freilich eher fern und war auch nicht in der Akademie, Einzel-heiten bei Foljanty, Recht oder Gesetz, 2013, 176; vgl. aber auch Schmerbach, Das „Ge-meinschaftslager Hanns Kerrl“ für Rechtsreferendare in Jüterborg 1933–1939, 2008, 127; daneben: Mohnhaupt, in: Schröder/Simon (Hg.), Rechtsgeschichtswissenschaft in Deutschland 1945 bis 1952, 2001, 97 ff.; Kauhausen (Fn. 111), 28 ff.

155 Vgl. die vergleichende Auswertung bei Kauhausen (Fn. 111), 275 f.: „Freie Fahrt in Sachen Prinzip“.

156 Wilburg sprach nicht von Prinzip, das er wohl als gerade nicht abwägungs-orientiert verstand. Eine Gleichsetzung von Wilburgs Elementen mit Prinzipien da-gegen bei seinem Schüler F. Bydlinski, in: ders. et al. (Hg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, 32.

157 Hierzu Rückert, in: Jansen/Oestmann (Hg.), Gewohnheit. Gebot. Gesetz, 2011, 181 ff., mit einem Hinweis auf ein frühes Abwägungskonzept von Stampe aus 1905 (187 f.), das aber weitgehend folgenlos blieb.

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System und Interessenabwägung mittels Leitsätzen, also bereits 10 Jahre vor der Lüth-Entscheidung in der Akademie für Deutsches Recht.

V. 1958: Das Lüth-Urteil

Das am 15. Januar 1958 ergangene Lüth-Urteil steht gleichwohl am Anfang einer neuen Geschichte, der Geschichte der Konstitutionalisierung des Privat-rechts.158 Methode spielte dabei eine besondere Rolle. Ausgangspunkt war die in den 1950er Jahren vehement geführte Debatte um die Frage, ob aus Art. 3 II GG eine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsbehandlungspflicht von Frau und Mann folge.159 Gegen Nipperdeys These von einer unmittelbaren Dritt-wirkung der Grundrechte160 sprach sich Alfred Hueck aus, der § 138 und § 826 BGB als Mittler zwischen beiden Normordnungen vorschlug,161 was bei Zi-vilrechtlern viel Zustimmung fand.162 Von staatsrechtlicher Seite knüpfte hie-ran163 vor allem164 Günter Dürig an, der in den 1950er Jahren die Theorie von der mittelbaren Drittwirkung entwickelte.165 Sein methodisches Konzept wies bis in die Weimarer Republik zurück. In der Aufwertungskrise166 hatte der Vorstand des Richtervereins am Reichsgericht in einer öffentlichen Ein-gabe an die Reichsregierung167 behauptet, Treu und Glauben stehe „außer-halb eines einzelnen Gesetzes, außerhalb einer einzelnen positiv-rechtlichen Bestimmung. Keine Rechtsordnung, die diesen Ehrennamen verdient, kann

158 Henne/Riedlinger (Hg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, 2005; Stolleis (Fn. 20), 216 ff.; vgl. auch die Beiträge in Schuppert/Bumke (Hg.), Die Kon-stitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000; kritisch zur dabei vom BVerfG ange-wandten Methode etwa Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999; hierzu auch Vesting Der Staat 41 (2002), 73 ff.

159 Hierzu Franzius, Bonner Grundgesetz und Familienrecht, 2005, 66 ff., 140 ff.160 Hierzu Hollstein (Fn. 152), 305 ff.; ders., in: Henne/Riedlinger (Rn. 158), 249 ff.161 Hueck, Die Bedeutung des Art. 3 des Bonner Grundgesetzes für die Lohn- und

Arbeitsbedingungen der Frauen, 1951, 27.162 In der Diskussion nach Huecks Referat auf der Zivilrechtslehrertagung 1951

setzte sich gegen Nipperdey die Ansicht durch, „daß die Grundrechte auf privatrecht-liche Rechtsgeschäfte keine unmittelbare Anwendung finden, was nicht ausschließt, sie bei einer Wertung nach §§ 138, 242, 826 BGB heranzuziehen“, Bericht in JZ 1951, 734.

163 Vgl. erstmals unter Bezugnahme auf Hueck Dürig JR 1952, 262 Anm. 50.164 Zusammenstellung der vielen damaligen Stellungnahmen zu dieser Frage bei

Vogt, Die Drittwirkung der Grundrechte und Grundrechtsbestimmungen des Bonner Grundgesetzes, 1960, 6 ff.

165 Früh in: Dürig JZ 1953, 199; ders. ZgS 109, 1953, 341; dann vor allem ders., in: FS für Nawiasky, 1956, 157 ff.

166 Vgl. meine Auswertung in HKK/Haferkamp (Fn. 115), § 242 Rn. 57.167 Richterverein beim Reichsgericht JW 1924, 90.

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ohne jenen Grundsatz bestehen. Darum darf der Gesetzgeber nicht ein Ergeb-nis, das Treu und Glauben gebieterisch fordert, durch sein Machtwort verei-teln“.168 Der Richterverein machte aus § 242 BGB eine „Kontrollnorm“169 des Richters gegenüber dem Gesetzgeber. Dieser Gedanke wurde von Zeitgenos-sen als unerhört empfunden. Er hatte freilich keine praktischen Folgen, da so-fort die vereinigten Zivilsenate170 und der Präsident des Reichsgerichts klar-stellten, dass das Gericht es ablehne, „eine verfassungsmäßig zustande gekom-mene Norm unter dem Gesichtspunkt des richtigen Rechts zu kritisieren und sich damit über den souveränen Gesetzgeber zu stellen“.171 Der Richterauf-stand blieb bloße Ankündigung einer Minderheit der Reichsgerichtsräte.172 Dennoch war eine Idee in der Welt, die den Freirechtler Ernst Fuchs 1925 ju-beln ließ, Treu und Glauben sei „der archimedische Punkt, von dem aus die alte juristische Welt aus den Angeln gehoben“ werden könne.173 Solange frei-lich niemand ein konturiertes materiales Konzept mit Treu und Glauben ver-knüpfte, blieb die Vorschrift ein bloßes richterliches Überdruckventil, wie es die Rechtsprechung bereits vor dem ersten Weltkrieg genutzt hatte, um bin-dende Gesetze zu durchbrechen.174 Der weitergehende Schritt, Generalklau-seln mit der Verfassung zu verbinden, wurde in Weimar vom Reichsgericht in wenigen Fällen diskutiert.175 Eine klare Theorie der mittelbaren oder unmit-telbaren „Drittwirkung“176 oder gar eine generelle Unterordnung des Privat-rechts unter die Verfassung fehlte vor 1945 jedoch.177

168 AaO.169 J. Schröder (Fn. 7), 316.170 RGZ 107, 325.171 Simons DJZ 1924, 243.172 So im Ergebnis auch Nörr, Der Richter zwischen Gesetz und Wirklichkeit: Die

Reaktion des Reichsgerichts auf die Krisen von Weltkrieg und Inflation, und die Ent-faltung eines neuen richterlichen Selbstverständnisses (Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, 222), 1996, 30; Rückert KJ 30 (1997), 429 ff.

173 Fuchs Die Justiz 1 (1925/26), 349. 174 Fälle bei Klemmer (Fn. 52), 41, 429. Zur gemeinrechtlichen Konzeption der bona

fides auch gegen strengrechtliche Klagen: HKK/Haferkamp (Fn. 115), § 242 Rn. 29 ff. Insofern ist die Zunahme der Fälle inflationsbedingtes Krisensymptom und nicht Aus-druck eines „neuen“ § 242; hierzu auch Rückert (Fn. 172).

175 RG JW 1926, 980 f. mit kritischer Anmerkung Molitors (Art. 153 und 155 WRV werden für die Auslegung von §§ 242, 138, 226, 826 BGB herangezogen); RGZ 128, 95 (§ 138 BGB verlange, dass „diese Grundrecht im menschlichen Verkehr geachtet wer-den“); vgl. Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, 1988, 10 Fn. 42.

176 Terminus nach Ipsen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hg.), Die Grund-rechte, Bd. 2, 1954, 143.

177 Vgl. Stolleis (Fn. 56), 220 ff.; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, 285; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, 9 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, 1515 f.; histo-

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Zeitgenossen sahen früh das politisch gefährliche methodische Potential des neuen Generalklauselkonzepts. 1932 warnte Hedemann mit Blick auf Russland: „Wie wenn in einem Lande der Volkskörper in zwei Hälften zerris-sen ist. Klassen, Stände, Religionen, Weltanschauungen, und die eine Hälfte den Satz aufstellt: Wir sind die Hüter der guten Sitten, ihr anderen wißt nichts davon?“178 In Russland sah er die Nutzung von „Generalklauseln von ver-blüffender Tragweite“ zur Durchsetzung der Ansichten der „einen, der regie-renden Hälfte“, da nur „die eine (die herrschende) Klasse über den materiellen Gehalt dieser Generalklauseln zu befinden hat“.179 Als seine Kritik 1933 er-schien, verstanden nationalsozialistische Autoren Hedemanns Warnung frei-lich eher als Chance. Für Heinrich Lange waren Generalklauseln „Kuckucks-eier im liberalistischen Rechtssystem“,180 sozusagen ein Trick innerhalb der positivistischen Illusion der Gesetzesbindung. Lange unterwarf das Gesetz dem Recht. Der „Satz von Treu und Glauben ist deshalb das Grundgesetz des Gemeinschaftslebens, das die Einzelnormen nur auszumünzen versuchen“.181 Hedemanns Angst vor einer Instrumentalisierung der Generalklauseln ver-suchte Larenz mit den bereits bekannten Argumenten zu beschwichtigen. Während der Richter früher in der „Zeit der weltanschaulichen Zerrissenheit durch jede entschiedene Stellungnahme einen Teil des Volkes gegen sich auf-brachte, kann er sich heute auf eine in den entscheidenden Grundlagen ein-heitliche Rechts- und Staatsauffassung des ganzen Volkes stützen“.182 Carl Schmitt machte dagegen ungeschminkt deutlich, dass es nicht um Richter-freiheit ging, sondern um gezielte Umwertung: „Sobald Begriffe wie ‚Treu und Glauben‘ … nicht auf die individualistische bürgerliche Verkehrsgesell-schaft, sondern auf das Interesse des Volksganzen bezogen werden, ändert sich in der Tat das gesamte Recht, ohne daß ein einziges ‚positives‘ Gesetz ge-ändert zu werden bräuchte“.183 Treu und Glauben wurde zum methodischen Vehikel für Carl Schmitts „konkretes Ordnungs- und Gestaltungsdenken“.184 Die Folgen für den Richter hatte Schmitt bereits 1933 klargestellt. Er betonte,

risch zu weitgehend konstruiert Leiser eine Theorie der unmittelbaren Drittwirkung für Weimar: Grundrechte und Privatrecht, 1960, 52 ff., 223 ff.; vgl. bereits oben Fn. 152.

178 Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, 1933 (geschrieben 1932, vgl. Vor-wort), 72.

179 Hedemann (Fn. 178), 73. 180 Lange, Liberalismus, Nationalsozialismus und Bürgerliches Recht, 1933, 5.181 Lange (Fn. 180), 7.182 Larenz, Rezension Hedemann, ZHR 100 (1933), 378 ff.; hierzu Wegerich, Die

Flucht in die Grenzenlosigkeit: Justus Wilhelm Hedemann (1878–1963), 2004, 148 f. 183 Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, hier

nach 2. Aufl. 1993, 49.184 Schmitt (Fn. 183), 48.

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dass durch Generalklauseln „die Gebundenheit des Richters nicht berührt“ werde. „Herrschend, führend und maßgebend sind nicht Auffassungen und Anschauungen im allgemeinen, sondern die Anschauungen bestimmtgearte-ter Menschen. Im deutschen Staat der Gegenwart ist die nationalsozialistische Bewegung führend. Von ihren Grundsätzen aus muß daher bestimmt wer-den, was gute Sitten, Treu und Glauben … sind“.185 Hedemann hatte Recht behalten.186

Nach 1945 geriet dieses Konzept der Generalklauseln als Scharnier zu übergeordneten Rechtssätzen, die das BGB steuern sollten, nie aus dem Blick. Treu und Glauben blieb ein Maßstab, der nicht nur auf richterliche Einzelfall-wertung verwies, sondern „rechtsethische Durchbrüche durch das Gesetzes-recht“ ermöglichen sollte.187 Noch vor Gründung der Bundesrepublik waren es erneut Aufwertungsprobleme, welche die Diskussion um die „olympische Frage“ vorantrieben: „Wo ist die Grenze der Sittlichkeit, an der ein deutscher Gerichtshof auch höchsten politischen Mächten Einhalt gebieten muß?“188 Nachdem einige Gerichte wegen der Geldentwertung die Pflicht der Geld-gläubiger, Zahlungen zum Nennwert entgegenzunehmen, unter Berufung auf Treu und Glauben verneinten,189 erließ die Britische Militärregierung als „höchste politische Macht“ 1947 eine Verordnung, in der nicht nur den Ge-richten eine Aufwertung untersagt wurde, sondern ausdrücklich auch ausge-schlossen wurde, diese Verordnung unter Berufung auf die „§§ 157, 242 oder 607 des Bürgerlichen Gesetzbuches und der Bestimmungen irgendeines an-deren deutschen Gesetzes“ zu durchbrechen.190 Dennoch hielt der Präsident des Landgerichts Aschaffenburg daran fest, dass man Treu und Glauben nicht ausschließen dürfe: § 242 BGB sei „mehr als positives Recht“, nämlich „un-abdingbare Forderung des allgemeinen Sittengesetzes und als solche präemi-nent gegenüber jeder sonstigen positivrechtlichen Norm“. Koch verstieg sich dazu, „einem Gesetz der Militärregierung“ die „Gültigkeit“ abzusprechen, weil es „gegen Treu und Glauben verstößt“ bzw. „obwohl ordnungsmäßig er-lassen, mit dem allgemeinen Sittengesetz nicht übereinstimmt“.191 Auch Teile der Rechtswissenschaft hielten an einer Bedeutung von Treu und Glauben als

185 Schmitt JW 62 (1933), 2794. 186 Was ihn nicht daran hinderte, nun der nationalsozialistischen Konzeption zu-

zustimmen, vgl. Wegerich (Fn. 182), 146 ff.187 Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956, 36.188 Hedemann JR 1950, 131. 189 LG Kleve MDR 1947, 18; OLG Kiel MDR 1947, 15; LG Bonn MDR 1947, 53; ich

danke Kristina Busam für die Hinweise zu diesem Kontext.190 Verordnung Nr. 92. Änderung des Gesetzes Nr. 51 der Militärregierung (Wäh-

rung) vom 1. Juli 1947, MRABl Nr. 20, 567.191 F. Koch NJW 1947, 171.

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Ausdruck einer „Herrschaft der Rechtsethik“192 fest. Heinrich Vollmer hob hervor:

„Der Rechtssatz von Treu und Glauben ist also dem Rechte immanent und daher unabdingbar. Richter wie Gesetzgeber stehen unter der Idee des Rechts. Der Grund-satz von Treu und Glauben im Rechtsverkehr ist eine anders ausgedrückte Anweisung an alle, gerecht zu sein, eine Anweisung, die dem Amt des Richters und dem Recht als solchen denkgesetzlich innewohnt. Man kann daher den Grundsatz von Treu und Glauben nicht ausschließen, ohne das Recht als solches zu verneinen.“193

Wie zeittypisch diese Vorstellung war, zeigt die zeitgleich ablaufende De-batte um die richterliche Kontrolle von Verfassungsbestimmungen anhand ungeschriebener „höherrangiger Verfassungsnormen“.194 Indem man Treu und Glauben mit überpositivem Recht verband, blieb die nun bereits alte Frage, ob das richterliche Rechtsbewusstsein Medium oder Vorurteil war. Noch hielt sich Optimismus:

„Wenn nun auch die heutige Gesellschaft längst der weltanschaulichen Einheit ver-lustig gegangen ist, die einstmals allem Denken und Handeln Maß und Mitte gab, so ist doch noch die Gemeinsamkeit vieler Wertvorstellungen gegeben, die sich zu einem ob-jektiven Ordnungsbild zusammenfügen, das auch den Generalklauseln Richtung und Gehalt zu geben vermag.“195

Zunehmend machte sich jedoch Unruhe angesichts der immer unkon-trollierteren richterlichen Wertung breit. Wieacker fand in den auf General-klauseln basierenden Urteilen einen „allzu vereinfachten Begriff des Natur-rechts“,196 Esser eine „wissenschaftlich unkontrollierbare Vermengung von rechtlichen und ethischen Prinzipien und Wertmaßstäben“.197 Herbert Krü-ger war 1949 wohl der erste, der die Verfassung als Bindung der Zivilrecht-sprechung herausstellte. Er kritisierte198 die Tendenz der Rechtsprechung, „sich auf sich selbst zurückzuziehen“. Sich „an den geltenden Wertvorstel-lungen zu orientieren“199 bedeutete für ihn „nicht zuletzt die Verfassungen

192 Scholz NJW 1950, 81; auch Coing betonte die Fortgeltung von § 242, denn trotz des Gesetzes sei „der Richter noch nicht von seiner allgemeinen Verpflichtung auf die Gerechtigkeit entbunden“, Coing SJZ 1948, 132.

193 Vollmer, Die Einwirkung der Verordnung Nr. 98 der Britischen Militärregie-rung betr. „Änderung des Gesetzes Nr. 51 der Militärregierung (Währung)“ und des „Erstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes Nr. 51 der Militärregierung“ der Ameri-kanischen Militärregierung auf bestehende Grundschulden, insbesondere auf durch Goldklausel gesicherte Forderungen, Dissertation 1947, 88.

194 Vgl. Foljanty (Fn. 154), 88 ff.195 Herrmann JZ 1955, 184.196 Wieacker (Fn. 187), 10 f.197 Esser JZ 1953, 521.198 Krüger NJW 1949, 163 ff.199 Krüger NJW 1949, 165.

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zu befragen“, wenn man einen Verstoß gegen Treu und Glauben feststellen wolle:200 „Für das Zivilrecht ist die Verfassung die vornehmste Quelle, aus der es seine wertausfüllungsbedürftigen Begriffe und Generalklauseln aus-zufüllen hat“. Als Dürig nun seine Lehre der mittelbaren Drittwirkung vor-legte und damit das Lüth-Urteil prägte, zielte auch er auf die Einschränkung privatrechtlicher Sonderwege,201 indem er ein hinter dem Verfassungstext verortetes Werteprogramm des Grundgesetzes postulierte202 und damit die „Einheit des Gesamtrechts in der Rechtsmoral“203 sicherstellte. Die Verfas-sung sollte das wilde Werten eindämmen. Dürig nutzte das bereits erprobte Konzept der Generalklauseln als Ventil, füllte freilich die Pumpe mit neuem Inhalt, indem er an die Stelle des NS-Rechtsdenkens und des Nachkriegsna-turrechts die Verfassung setzte. Er nannte die Generalklauseln „Einbruch-stellen der Grundrechte in das Zivilrecht“204 und spielte damit vielleicht un-bewusst auf Heinrich Lange205 an, der 1933 von „Einbruchstellen, durch die das neue Rechtsdenken das alte überflutet“ gesprochen hatte. Indem nun die „objektive Wertordnung“ des Grundgesetzes an die Stelle der nach 1945 zu-nächst philosophisch frei konstruierten Gerechtigkeitskonzepte trat, war der zeitgenössische Gewinn an Rechtsstaatlichkeit freilich nicht zu verken-nen. Treu und Glauben sollten nun gerade durch ihre Anwendung domesti-ziert werden. Die gleiche Methode bewirkte 1933 und 1958 also ganz unter-schiedliche Rechtskonzepte. Eine „methodische Reprise der Umwertungen von 1933“206 stand jedenfalls erneut am Beginn einer ganz neuen Geschichte. Über die Generalklauseln begann das Gericht nun, aus den Grundrechten als Abwehrrechten gegen den Staat einen „gesamtgesellschaftlichen Verhaltens-kanon“207 durchzusetzen.

Damit verschob sich die Gesamttektonik des Rechts erheblich. Was im Zi-vilrecht zunächst einmal als Kompetenzverschiebung vom Bundesgerichtshof zum Bundesverfassungsgericht als „höchstem Zivilgericht“208 wahrgenom-men wurde, war zugleich der Beginn einer Entpolitisierung des Zivilrechts-

200 Krüger NJW 1949, 166.201 Dies betont zutreffend auch Hofmann, Rechtsphilosophie nach 1945, 2012, 22 ff.202 Graf Vitzthum, in: Henne/Riedinger (Fn. 158), 349 ff.; Hofmann, in: Appel/

Hermes (Hg.), Mensch – Staat – Umwelt, 2008, 51 ff.; klärend zu den oft behaupteten Einflüssen Smends Ruppert, in: Henne/Riedlinger (Fn. 158), 327 ff.

203 Dürig, in: FS für Nawiasky, 1956, 177.204 Dürig, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954,

525.205 Lange JW 1933, 2859.206 Stolleis (Fn. 56), 218.207 Stolleis (Fn. 56), 227.208 Kritisch Diederichsen AcP 198 (1998), 171 ff.

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denkens. Bis 1945 kreiste das Zivilrechtsdenken um das Verhältnis des Indi-viduums zum Staat. Nach 1945 wollten nur noch wenige und nicht zufällig unbelastete Professoren wie Walter Hallstein, Ludwig Raiser, Franz Böhm oder Werner Flume weiterhin über eine zeitgemäße Privatrechtskonzeption diskutieren.209 Demgegenüber vermied die Mehrzahl210 der nun ganz unpoli-tisch erscheinenden211 Zivilrechtsprofessoren prinzipielle Diskussionen. Die gleichwohl fortlebende antiliberale Grundstimmung212 spiegelte sich in einem stillschweigenden Abschied vom „subjektiven Recht“ als politischem Leitbe-griff213 und lebte in der Kontinuität dogmatischer Figuren versteckt fort.214

209 Flume, in: FS zum hundertjährigen Bestehen des deutschen Juristentages 1860–1960, Bd. 1, 1960, 135 ff.; zu den übrigen Autoren die Einzelauswertungen Kauhausen (Fn. 111), 206 ff., 217 ff.; Rückert NJW 1995, 2151 ff.

210 Eine Ausnahme bildet der nicht unbelastete Wieacker, vgl. die Beiträge in: ders., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974; bemerkenswert ist auch seine rückblickende Auseinandersetzung mit seiner Eigentumskonzeption im Nationalso-zialismus in: ders. Quaderni Fiorentini 5–6 (1976/77), 841 ff.; stark relativierend dage-gen ders., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, 486 f., 514 ff.

211 So erschienen etwa Hueck, Hefermehl und Schmidt-Rimpler ihren Schülern als dezidiert unpolitisch, vgl. die Auswertung bei Thiessen, in: Görtemaker/Safferling (Fn. 112), 287 Fn. 430.

212 Nörr, Die Republik der Wirtschaft. Teil I: Von der Besatzungszeit bis zur Großen Koalition, 1999, 5 ff. (organisierte Wirtschaftsverfassung) und passim; zur Rechtswissenschaft Foljanty (Fn. 154), 235 ff.

213 Kennzeichnend der „Rahmenbegriff“ bei Larenz, in: FS für Sontis, 1977, 129 ff.; vgl. dagegen noch ders., in: ders. (Hg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, 1935, 225 ff.

214 Ein Beispiel ist das Fortleben der Innentheorie innerhalb der Rechtsmiss-brauchslehre, die Siebert 1934 durchsetzte, vgl. ders., Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung, 1934 (zu den NS-Zielsetzungen der Lehre Haferkamp (Fn. 116), 210 ff.): Palandt/Grüneberg, 71. Aufl. 2012, § 242 Rn. 38: „Treu und Glauben bilden eine allen Rechten … immanente Inhaltsbegrenzung (‚Innentheorie‘) … Die gegen … (sc. Treu und Glauben) verstoßende ‚Rechts‘- Ausübung oder Ausnutzung einer ‚Rechts‘lage ist als Rechtsüberschreitung missbräuchlich und unzulässig. … Eine gegen (sc. Treu und Glauben) verstoßende Rechtsausübung kann bei Änderung der maßgeblichen Umstände wieder zulässig werden; umgekehrt kann eine Änderung der Verhältnisse dazu führen, dass die zunächst zulässige Rechtsausübung missbräuch-lich wird. § 242 ruft daher eine Relativität des Rechtsinhalts hervor.“ Was hier als eine eher technische, freilich fast uferlos weite richterliche Eingriffsbefugnis in subjektive Rechte erscheint, begründete Johannes Friesecke in der dritten Auflage 1940 (§ 242 Rn. 1, 193) noch in seiner ursprünglichen politischen Funktion: „Diese Rechtsbegren-zung ist eine Folge des Gedankens der jedem Recht innewohnenden Pflicht.“ Der In-halt dieser Begrenzung „bestimmt sich in erster Linie nicht nach den geltenden Wert-vorstellungen der beteiligten Vertragsgenossen …, sondern nach den geltenden Wert-vorstellungen der Volksgemeinschaft“. In der 9. Aufl. von 1951 übernahm Bernhard Danckelmann den Hinweis auf die jedem Recht innewohnende Pflicht und glättete lediglich sprachlich, indem aus den „Vertragsgenossen“ die „Vertragspartner“ und aus

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Für die Methodenlehre waren die Veränderungen grundlegend: Methoden-geschichtlich steht die Lüth-Entscheidung am Anfang einer Konstitutiona-lisierung der Methodenlehre. Erstmals in der Methodengeschichte setzte ein Gericht verbindlich die methodischen Anforderungen fest215 und füllte da-mit eine Lücke, die noch das BGB bewusst der Rechtswissenschaft überlassen hatte.216

VI. 1970: Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung

Der nächste Haltpunkt ist das Jahr 1970 und die Monografie „Vorverständ-nis und Methodenwahl in der Rechtsfindung“ von Josef Esser. Das Werk be-darf eines knappen Rückblicks. Nach 1945 formierte sich die Wertungsjuris-prudenz erneut.217 Nun ging es gegen Naturrechtsoptimismen von Helmut Coing, Erik Wolf, Hermann Weinkauff u.a.,218 was freilich keineswegs eine Rückkehr zu irgendeiner Art von Positivismus bedeuten sollte. Heck musste sich vielmehr weiterhin als Positivist beschimpfen lassen, bei dem man die

der „Volksgemeinschaft“ die „Wertvorstellungen der Allgemeinheit“ wurden. Klärend für die bloße Kosmetik fügte er hinzu, wenn das Reichsgericht im Jahr 1939 von Ge-meinschaftsgedanken und Volksgemeinschaft spreche, dann sei zwar die Termino-logie nationalsozialistisch beeinflusst, „der Sache nach ist aber dem Gedanken zu-zustimmen“ (§ 242 Rn. 1, 197). 1969, mit der 28. Auflage, verschwanden bei Helmut Heinrichs undiskutiert bis heute alle politischen Bezüge, die Lehre blieb in der Sache aber unverändert. Demgegenüber wird im Verfassungsrecht die Idee einer „Einheit von Recht und Pflicht“ als Angriff auf den negatorischen, staatsabwehrenden Frei-heitsbegriff des Grundgesetzes offen diskutiert, vgl. Depenheuer, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 1, Rn. 52.

215 Überblick bei Pieroth/Aubel JZ 2003, 504 ff.; Maunz/Dürig-Hillgruber, GG, 52. Lieferung 2008, Art. 95 Rn. 55 ff.

216 Gebhardt hatte in §§ 1–3 seines Vorentwurfs zum Allgemeinen Teil noch Ausle-gungsvorschriften vorgesehen, vgl. W. Schubert, Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches, Allgemeiner Teil I, 1981, 1. Die erste Kommission sprach sich dann jedoch gegen die „Zweckmäßigkeit der Aufnahme derartiger rechtswissenschaftlicher Sätze“ in einer Kodifikation aus, Jakobs/W. Schubert (Hg.), Die Beratung des Bürgerlichen Gesetz-buchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, Allge-meine Teil II, 1985, 1193.

217 Das war aber eben keine Geburt, so aber Schoppmeyer (Fn. 151), 232 ff. der inso-fern wohl der Legende von Larenz (Fn. 55), 119 ff. aufsitzt.

218 Hierzu die Auswertung bei Foljanty (Fn. 154), 189 ff.; Neumann, in: Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, 145 ff.; Hofmann (Fn. 201), 10 ff.; zu Weinkauff: Herbe, Hermann Weinkauff (1894–1981), 2008.

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Orientierung an „materialen Gerechtigkeitsanforderungen“,219 an den „tiefer-liegenden Schichten des Rechts“, seinem „ethischen Gehalt“220 oder der „Ge-rechtigkeitsidee“221 vermisste. Der wertende Richter blieb in Stellung. Einige betonten die gesetzgeberischen Wertungsvorgaben, seien es die des BGB, so Harry Westermann222 und der spätere Coing223, seien es die der Verfassung, so Nipperdey.224 Daneben blieben jedoch auch nach der Lüth-Entscheidung außergesetzliche Wertungsgrundlagen weit verbreitet, etwa bei Larenz, aber auch bei Lange, Lehmann oder Boehmer.225 Man war dabei weitgehend einig, dass „sachlogische Gesetzlichkeiten“ dem Richter einen „jeder Willkür entzo-genen Halt“226 gäben. Radbruch war freilich der Einzige, der die so benannte Natur der Sache nur als vorsichtige Orientierung an der Rechtswirklichkeit und ohne Geltungsanspruch nutzen wollte.227 Seine zivilrechtlichen Kollegen wie Coing228 glaubten demgegenüber in den fünfziger Jahren einen ontologi-schen Kern des Rechts identifiziert zu haben. Für Larenz wurde die Vorstel-lung, es gäbe „in den (menschlichen) Lebensverhältnissen als solchen schon angelegten und ausgedrückten Sinn“229 nach 1945230 zum Transportmittel sei-

219 Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und des Staates, 1949, 14. 220 Canaris (Fn. 151), 37, 39.221 H. Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im

Zivilrecht, 1955.222 H. Westermann, Interessenkollisionen und ihre richterliche Wertung bei den

Sicherungsrechten an Fahrnis und Forderungen, 1954 und dann vor allem in: ders. (Fn. 221).

223 Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950 bis 5. Aufl. 1993 im Schluss-abschnitt zu „Aufgaben und Methoden“, hierzu Rückert, in: ders./Seinecke (Fn. 7), Rn. 1438 ff.

224 Hollstein (Fn. 152), 305 ff.; zu den Hintergründen bereits oben unter V.225 Vgl. hierzu die vergleichende Auswertung bei Kauhausen (Fn. 111), 83. Auch

Einzelstudien zu Larenz (113 ff.), Boehmer (168 ff.). Zu Lange auch W. Wolf, Vom alten zum neuen Privatrecht: Das Konzept der normgestützten Kollektivierung in den zivil-rechtlichen Arbeiten Heinrich Langes (1900–1977), 1998, 288 ff.; zu Lehmann Depping (Fn. 102), 237 ff.

226 Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus, hier zitiert nach Nachdruck in: Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus, 1962, 337; hierzu Foljanty (Fn. 154), 196 ff.; Dreier, Zum Begriff der „Natur der Sache“, 1965, 35 ff.; zur langen Vorgeschichte dieses Arguments J. Schröder (Fn. 7), 64 f., 265 ff. (zum ganz ähnlichen Einsatz gegen systemableitende Rechtsfortbildung im 19. Jahrhundert), 336 f.

227 Radbruch, in: Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Bd. 3, 1990, 229 ff.; hierzu die vergleichende Analyse von Neumann, in: Graf Ballestrem (Hg.), Naturrecht und Poli-tik, 1993, 83 ff.; Foljanty (Fn. 154), 198.

228 Coing (Fn. 223), 92 f.; hierzu Foljanty (Fn. 154), 183 ff., 199.229 Larenz, Methodenlehre (Fn. 84), 309.230 Larenz, Zur Beurteilung des Naturrechts, 1947, 31 f.; hierzu Foljanty (Fn. 154),

200.

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ner 1938 entwickelten Typuskonzeption.231 Methodisch also viel Kontinuität: Weiterhin führte der Blick in die richtig verstandene Rechtswirklichkeit zu „übereinstimmende(n) Bewertungen und daher Bewertungsmaßstäben“ für die Richter.232

Während des Nationalsozialismus hatte auch Esser von totalitärer Werte-einheit geschwärmt: Der frühere Positivismus habe eine „rechtskritische Wer-tung der zu ordnenden Lebensverhältnisse“ deshalb nicht leisten können, weil er dazu mangels einer „fruchtbaren weltanschaulichen Basis unfähig war“.233 Heute, also 1941, gebe es stattdessen ein „höchstes materielles Rechtsgebot und einen daraus folgenden Wertmaßstab“,234 wie ihn „das völkische Rechts-denken anerkannt“ habe.235 Nach 1945 wurde Esser jedoch zunehmend nach-denklich. Seine „Bewertung der Sozialwirklichkeit“236 als juristische Me-thode hatte während des Nationalsozialismus ihre Tücken erwiesen. Günter Haupt hatte seinen faktischen Vertrag 1941237 methodisch ganz im Gewand der neuen Methodenehrlichkeit begründet: Man müsse „den Mut haben, die Dinge in ihrer Wirklichkeit zu sehen. Diese bestehe darin, daß … Vertrags-verhältnisse ohne Vertragsschluss anerkannt werden …“. In Haupts Argument „Das Leben selber ordnet zu“ sah Esser nun, 1958, „die Kapitulation normati-ven Rechtsdenkens vor dem politisch-sozialen Faktum“.238

Bereits 1949 hatte Esser das einheitliche Rechtsbewusstsein der Richter als ideologische Fiktion entlarvt und verabschiedet: Das Vertrauen auf „das einheitliche Rechtsbewußtsein des Richterstandes“ sei zwar theoretisch die vollkommenere Lösung. Praktisch bedeute es aber eine „starke Belastungs-probe des Richtertums, die zu seiner ‚weltanschaulichen‘ Erziehung ver-leitet“.239 Esser verzichtete auf Wertegewissheit. 1953 forderte er dazu auf,

231 Hierzu die Analyse von Kokert, Der Begriff des Typus bei Karl Larenz, 1995, 95 ff. (1938) bis 206 ff. (1983); kritisch Hüpers, Karl Larenz – Methodenlehre und Phi-losophie des Rechts in Geschichte und Gegenwart, 2010, 468 ff.; zur Nähe seiner Ty-puskonzeption zu Binders Denken (und damit zum ganz anderen Typusverständnis als Max Weber) Larenz, Methodenlehre (Fn. 84), 108.

232 Larenz, Methodenlehre (Fn. 84), 127.233 Esser (Fn. 100), 132.234 Esser (Fn. 100), 135.235 Esser (Fn. 100), 28.236 Esser DRW 1942, 69; Dies bedeute „inniges Durchspüren und Deuten der so-

zialen und wirtschaftlichen Zusammenhänge“, vgl. oben Fn. 101.237 Haupt, Über faktische Vertragsverhältnisse, 1941, hierzu Lambrecht (Fn. 102),

5 ff.238 Esser, Gedanken zur Dogmatik der „faktischen Schuldverhältnisse“, 1958, zi-

tiert nach Wiederabdruck in: Häberle/Leser (Hg.), Wege der Rechtsgewinnung, 1990, 51 ff., 56; anders noch ders., Rezension Haupt, in: Schmollers Jahrbuch 1942, 230 ff.

239 Esser (Fn. 219), 133.

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den Schritt in ein Richterrechtssystem offen zu wagen und die Vermengung mit ethischen Maßstäben aufzugeben.240 Nach einem Forschungsaufenthalt in Amerika241 veröffentlichte er 1956 „Grundsatz und Norm in der richter-lichen Fortbildung des Privatrechts“.242 Esser verarbeitete amerikanische Einflüsse zu einer eigenen, Ronald Dworkin in vielem vorwegnehmenden Theorie. Prinzipien fand der Richter nach Esser in Auseinandersetzung mit Sachverhalt, Norm und gesellschaftlicher Wirklichkeit, kasuistisch, am Fall. Angeregt auch durch die zeitgenössische Topikdiskussion243 rückte damit der Richter als rechtsbildender Faktor in den Vordergrund. Entscheidend war nicht mehr der Wahrheitsanspruch der Philosophie, sondern die institutio-nelle Wirksamkeit und Konsensfähigkeit im innerjuristischen Gespräch. Me-thodisch ging es nun um die Frage, inwieweit Richterrecht rationale Struktu-ren und Denktraditionen ausbilden und damit ein Rechtssystem als Diskurs-system stabilisieren könne.244

1970, nun sind wir endlich an unserem Haltepunkt, führte Esser diese Über-legungen bekanntlich in „Vorverständnis und Methodenwahl“245 fort und schob die individuellen Vorprägungen des Richters in den Vordergrund.246 Die Vorstellung, dass die Auslegung „das Ergebnis – ihres Ergebnisses“247 ist, war seit Radbruch 1906 oder auch Hermann Isay 1929248 wohlbekannt. Die Schärfe, mit der die Zivilrechtswissenschaft bis in die 1990er Jahre Esser gleichwohl als Vorkämpfer für einen „Rechtsprechungspositivismus ohne Le-gitimationskriterien“249 verketzerte, machte deutlich, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Seit den 1930er Jahren hatte die Wertungsjurisprudenz systematisch dogmatische Strukturen abgebaut, um dem Richter die Möglich-

240 Esser JZ 1953, 521 ff.; hierzu Kauhausen (Fn. 111), 266 ff. 241 Hierzu St. Vogel, Josef Esser – Brückenbauer zwischen Theorie und Praxis,

2009, 12; vgl. auch Köndgen, in: Grundmann/Riesenhuber (Hg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, Bd. 1, 2007, 103 ff.

242 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956; hierzu St. Vogel (Fn. 241), 65 ff.; Foljanty (Fn. 154), 216 f.; B. Schäfer, in: Rückert/Seinecke (Fn. 7), 261 ff.; Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 3, 1976, 411 ff.

243 Hierzu Foljanty (Fn. 154), 212 ff.244 Skeptisch Larenz, Methodenlehre (Fn. 84), 126.245 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung: Rationalitäts-

garantien der richterlichen Entscheidungspraxis, 1970.246 Hierzu St. Vogel (Fn. 241), 93 ff.; Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei

Karl Larenz und Josef Esser, 1981, 83 ff., 207 ff.247 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1929, hier nach 11. Aufl. 1964,

166, vgl. bereits ders. AfS 22 (1906) 355 ff.248 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, 177 ff.249 F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, 1991, 23 f.; sonstige kritische Stimmen

bei St. Vogel (Fn. 241), 116 ff.

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keit zu erleichtern, das völkische Gemeinschaftsdenken, den Geist der Rechts-ordnung, die Natur der Sache, die Bedürfnisse des Lebens wertend und ab-wägend auch gegen das BGB umzusetzen. Wenn in diesen Freiraum nun der Richter als Subjekt trat, dann kaschierte die ganze Materialisierungsfassade lediglich freies Richterrecht. Wenn, so Larenz 1991, die „Wendung zur ‚Wer-tungsjurisprudenz‘ … ihre volle Bedeutung erst dadurch [gewinnt], daß sie bei den meisten Autoren mit der Anerkennung ‚übergesetzlicher‘ oder ‚vorposi-tiver‘ Werte oder Wertungsmaßstäbe verbunden ist“,250 dann stand man bei freiem Richterrecht vor einem „Scherbenhaufen“.251 Konsequent verlagerte sich die Debatte – wie einst vor 1914 – auf den politischen Richter252 und die einstufige Juristenausbildung.253 Esser forcierte dabei eine Dynamik, die auch er selbst kaum kontrollieren konnte.254 Er hatte 1956 auf haltgebende richter-lich festzulegende Standards wie etwa den „des ordentlichen Kaufmanns“255 verwiesen. Um diese zu erkennen, genügte ihm „die Verantwortung des Rich-ters, sich davon zu überzeugen, dass seine Maßstäbe in der Tat einen ausrei-chenden Anerkennungsrahmen finden“.256 Hans Ryffel wies nun 1974 darauf hin, es sei widersprüchlich, dies zu fordern, empirische Erhebungen aber nicht in Betracht zu ziehen.257 Bereits 1968 hatte Wolfgang Birke aus dem Demo-kratiegebot gefolgert, dass der Richter das empirische Rechtsempfinden der Bevölkerung umzusetzen habe.258 Diese Problematik wurde im Privatrecht besonders für Generalklauseln diskutiert, die etwa in der Verkehrssitte auf gesellschaftliche Standards verwiesen. Nun rückte also die Demoskopie als Partner der Jurisprudenz in den Blick.259 Im darüber ausbrechenden Streit wurde von den Einen darauf verwiesen, dass man nicht von „allgemeinen Rechtsüberzeugungen“ sprechen könne, „ohne diese Allgemeinheit auch nur

250 Larenz (Fn. 55), 122.251 Larenz (Fn. 55), 121. 252 Zu Wiethölter Rohls, in: Rückert/Seinecke (Fn. 7), 309 ff.; Rückert, ebd.,

Rn. 1447 ff.253 Vgl. nur Rückert, in: ders./Seinecke (Fn. 7), Rn. 1452, und der dort auch zitierte

Rinken, Einführung in das juristische Studium, 2. Aufl. 1991, § 15.254 Hierzu pointiert Simon, in: Broszat (Hg.), Essays zur Periodisierung der deut-

schen Nachkriegsgeschichte, 1990, 160 ff. 255 Esser (Fn. 242), 97.256 Esser, in: ders./Stein, Werte und Wertewandel in der Gesetzgebung, 1966, 25 f.257 Ryffel, Rechtssoziologie, 1974, 212, Fn. 155.258 Birke, Richterliche Rechtsanwendung und gesellschaftliche Auffassungen, 1968. 259 Hierzu insbesondere die Beiträge von Teubner, Noelle-Neumann und Lüders-

sen, in: Lüderssen (Hg.), Generalklauseln als Gegenstand der Sozialwissenschaften, 1978. Die Demoskopie wollte sich von Juristen in ihrer „eigentümlichen Verachtung … für Methodenfragen und Forschungstechnik“ freilich keine Fragen diktieren lassen, so Noelle-Neumann PVS 1963, 168 ff.

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einmal auf den empirischen Prüfstand zu stellen“,260 während die Gegenseite stoisch das „plebiszitäre Missverständnis“261 betonte, „in demoskopisch er-mittelten Mehrheitsmeinungen eine für den Richter verbindliche Entschei-dungsgrundlage finden zu wollen“.262 Als Rüdiger Lautmann 1971 optimis-tisch die „Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz“263 verortete, drohte den Juristen das Recht aus der Hand genommen zu werden. Zugleich brachen der Wertungsjurisprudenz mit den materialen Gerechtigkeitstheorien die wis-senschaftstheoretischen Stützpfeiler weg.264 Sprachphilosophie, prozedurale Gerechtigkeitstheorien, analytische Rechtstheorie, aber auch Richtersoziolo-gie forderten dazu auf, das Verhältnis des Richters zum Gesetz völlig neu zu denken. Viele Zivilrechtswissenschaftler igelten sich nun in den alten Gewiss-heiten ein und nahmen an diesen Debatten kaum noch teil.265 Themen wie Ju-ristische Argumentationstheorie, Juristische Logik, Juristische Hermeneutik oder auch richterliche Entscheidungstheorien wurden maßgeblich im Verfas-sungs- und Strafrecht sowie der Rechtssoziologie entwickelt.266

Indem Essers Überlegungen von seinen vielen zivilrechtlichen Gegnern mit diesen abgelehnten Neuansätzen verschmolzen wurden, geriet aus dem Blick, dass gerade der hervorragende Dogmatiker Esser keineswegs vor dem poli-tischen Richter kapituliert hatte, sondern 1972 ein engagiertes Plädoyer für die haltgebenden und fachliche Vorverständnisse mitprägenden Denk regeln guter juristischer Dogmatik ablegte267 – in demselben Jahr, in dem Spiros Si-mitis schlicht feststellte, dass jeder, der noch dogmatisch argumentiere, sich permanent dem Verdacht ausgesetzt sehe, an der gesellschaftlichen Realität vorbeizuoperieren.268 Bereits 1956 hatte Esser Wilburg entgegengehalten:

260 AK/Damm, § 138, 1987, Rn. 58.261 Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln, 1971, 112.262 Staudinger/Sack, BGB, § 138, 12. Aufl. 2003, Rn. 47.263 Lautmann, Die Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz, 1971.264 G.-P. Calliess, in: Jud/Bachner (Hg.), Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaft-

ler, 2000, 87.265 Vgl. aber Canaris AcP 200 (2000), 282 ff., der eine gewisse Verschmelzung mate-

rialer und prozeduraler Gerechtigkeitstheorien versucht; daneben Fikentscher (Fn. 242) mit seiner Fallnormkonzeption.

266 Hier mögen einige Namen genügen: Klug, Perelmann, F. Müller, Alexy, Kriele, U. Neumann und als wichtige Anreger Dworkin, Luhmann und Habermas; vgl. zu den lebendigen aktuellen Debatten im Öffentlichen Recht etwa: Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, 2006; Funke/Lüdemann (Hg.), Öffentliches Recht und Wis-senschaftstheorie, 2009; Kirchhof/Magen/Schneider (Hg.), Was weiß Dogmatik?, 2011 sowie die Beiträge in: VVDStRL 71, 2012.

267 Esser, in: ders., Wege der Rechtsgewinnung, 1990, 363 ff.; ders., ebd., 328 ff.; ders., ebd., 420 ff.

268 Simitis AcP 172 (1972), 135.

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Zur Methodengeschichte unter dem BGB in fünf Systemen 91214 (2014)

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„Das erstarrte doktrinäre System mit seiner Begriffslogik erweist sich mehr und mehr als Hemmung der auf rechtsethische Problemerörterung und Grundsatzbildung angewiesenen modernen Jurisprudenz. Es fragt sich nur, ob nicht eben diese ‚Hem-mungen‘ unersetzliche Rechtsgarantien und wichtige Kon trollstationen bilden“.269

VII. Schluss

Damit komme ich zum Schluss. „Vestigia terrent“ rief Flume 1994 aus,270 als er den von ihm als nationalsozialistisch apostrophierten Pflichtverlet-zungsbegriff im damaligen Kommissionsentwurf zu einem neuen Schuld-recht entdeckte. Das Interessante an der Reaktion seiner Kollegen war nicht, dass man natürlich darüber streiten kann, ob diese Gedanken Stolls von 1936 nicht schon älter sind.271 Interessant war vielmehr, dass das Kommissions-mitglied Dieter Rabe betonte, man habe sich „mit der Akademie für Deut-sches Recht gar nicht befasst“ – obwohl die Denkschrift Stolls272 im Gutach-ten Ulrich Hubers intensiv, freilich unkommentiert verwendet worden war.273 Die in den letzten Jahren vehement geführte Debatte um Zivilrecht und Na-tionalsozialismus ist geprägt von dem Streit darum, wer Nationalsozialist war und wer nicht. Mit Blick auf das heutige Zivilrecht sind derartige Schuldde-batten posthume Sündenabrechnungen, die nur dann Auswirkungen haben, wenn sie den Blick auf das lenken, was von diesen Autoren noch lebt: ihre Ge-danken. Gerade mit Blick auf den Nationalsozialismus geht es nicht um die Aufstellung von Denkverboten, sondern darum, von jedem, der Konzepte aus dieser Zeit heute noch verwendet, zu verlangen, diese Verwendung als für uns unproblematisch nachzuweisen. Also gerade kein „undiscussable“, wie noch Flume meinte.274

Dogmatik und die sie flankierende Methode sind nicht nur abstrakte Prob-lemlösungstechniken, sondern immer auch ein Speicher unserer vergangenen

269 Esser (Fn. 242), 6 (unter Hinweis auf Wilburg).270 Flume ZIP 1994, 1497.271 Stoll, Die Lehre von den Leistungsstörungen. Denkschrift des Ausschusses für

Personen-, Vereins- und Schuldrecht, 1936, 31 ff.; hierzu Sessler (Fn. 66), 23 ff. (Stolls System vor 1933), 106 ff. (Stolls System nach 1933); zu den Debatten 1994 Thiessen, in: Görtemaker/Safferling (Fn. 112), 232 Fn. 135.

272 Rabe ZIP 1996, 1655; zu dieser Debatte bereits Thiessen, in: Görtemaker/Saffer-ling (Fn. 112), 232 f.

273 Huber, in: Bundesminister der Justiz (Hg.), Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. 1, Köln 1981, 699 ff., 705 ff., vgl. auch Literatur-verzeichnis 908 (zitiert als „Stoll, Denkschrift“, ohne Bezüge zum Nationalsozialis-mus).

274 Flume ZIP 1994, 1500.

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AcP92 Hans-Peter Haferkamp

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Rechtskultur. In ihnen schlafen sozusagen Prämissen der Vergangenheit, die man verstehen und diskutieren muss, will man nicht in den Marionettenfäden der alten Gedanken hängen.

Ich werte die große Ehre, in diesem Kreis sprechen zu dürfen, als ein Zei-chen dafür, dass Sie das wohl nicht anders sehen. Momentan scheint es, dass das einstmals so enge Gespräch zwischen der Privatrechtsdogmatik und der sie historisierenden Privatrechtsgeschichte nach Jahren einer gewissen Ent-fremdung sozusagen in einer anderen Fahrrinne wieder Fahrt aufnimmt. Da-rüber freue ich mich und danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.